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HEINZ STOLTE


Der Fiedler auf dem Dach
Gehalt und Gestalt des Romans ›»Weihnacht!«‹*



Als ich den Entschluß faßte, für den Vortrag dieses Abends vor allem den Roman ›Weihnacht‹ heranzuziehen, bewog mich dazu meine seit langem erhärtete Überzeugung, daß dieses Werk unseres Autors den Gipfel seiner Erzählkunst in der Reihe seiner speziellen Abenteuerbücher darstellt. Ich meine dies in einer zweifachen Hinsicht: einmal bezüglich der epischen Technik und Form, die Ausgewogenheit, Geschlossenheit und Einheitlichkeit in der aufbaustilistischen Konstruktion aufweisen; zum anderen aber auch, weil der Autor darin in bezug auf die Identifizierung seiner menschlichen Person mit seiner Phantasieschöpfung, dem omnipotenten ›Ich‹ seines Old Shatterhand, bis zur letzten, nicht mehr überbietbaren Konsequenz geschritten ist. Wenn also im Roman ›Weihnacht‹ einerseits die Kunstfertigkeit des Dichters zu der ihm möglichen Vollendung in diesem seinem besonderen literarischen Genre gelangt ist, so hat er sich damit aber zugleich in eine Gefährdung emporgewagt, die am Ende nichts anderes provozieren konnte als den Absturz, den Zusammenbruch seiner vor aller Öffentlichkeit zur Schau gestellten hybriden Camouflage. Und eben damit bildet der Roman ›Weihnacht‹ die äußerste Grenze, jenseits welcher diesem Menschen der Abgrund, das Nichts drohte oder eine Neuorientierung und -fundamentierung seines Schaffens abgenötigt war.

   Als ich mein Konzept plante, kannte ich noch nicht die mir inzwischen zugängliche literarische Untersuchung von Gerhard Neumann mit dem Titel ›Das erschriebene Ich - Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays‹.1 Neumann hat darin exakt dasjenige behandelt, dem auch ich mit meinen Untersuchungen auf der Spur war, nämlich - zu meiner Überraschung - ebenfalls den Roman ›Weihnacht‹, dessen epische Struktur und dessen biographische Kulminations- und Grenzfunktion, welch letzteres mit dem Terminus »das erschriebene Ich« in bezug auf Karl May durchaus treffend bezeichnet ist. Da ich (neben mir weniger überzeugend Erscheinendem) so viele richtige Beobachtun-


*Festvortrag, gehalten anläßlich der 8. Tagung der Karl-May-Gesellschaft am 28. 9. 1985 in Königswinter.


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gen in Neumanns Aufsatz gefunden habe, schwankte ich wohl, ob ich mein Thema ganz aufgeben sollte, meinte aber schließlich, daß es doch nicht schaden kann, wenn zwei in der gleichen Sache, aber aus anderen Perspektiven, zu übereinstimmenden Ergebnissen kommen -, etwa gemäß dem Wort Mephistos im ›Faust‹: »Durch zweier Zeugen Mund / wird allerwegs die Wahrheit kund.«

   Ich habe meinen Ausführungen mottohaft den Titel ›Der Fiedler auf dem Dach‹ vorangestellt. Das mag den einen oder anderen, der dies in unserer Ankündigung gelesen hat, einigermaßen verwundert haben. Man weiß aber vielleicht, daß sich auf manchen der traumhaft poetischen Bilder des kürzlich verstorbenen Malers Marc Chagall dieses auffällige Motiv findet: ein Geigenspieler, der oben auf dem First eines Daches steht oder sitzt und sein Lied fiedelt, während unten auf der Straße sich das Leben oder der Tod ereignet. Wie immer man folkloristisch oder psychoanalytisch dieses Motiv vom ›Fiedler auf dem Dach‹ zu deuten haben mag, mir jedenfalls scheint es gewiß, daß darin als in einem eindrucksvollen Gleichnis, einem Bildsymbol, die Stellung des Künstlers (sei es des Musikers oder des Dichters) zugleich in und über der Menschenwelt sehr treffend dargestellt ist.

   Da ist besonders eines der Bilder, betitelt ›Der Tod‹, höchst aussagekräftig. Auf der Straße liegt der Tote, daneben die wehklagende Frau in ekstatischer Gebärdung. Das so schwer Erdgebundene und Schmerzhafte menschlichen Schicksals vollzieht sich gerade in der Tiefe -, er aber, der Fiedler, dessen Geige in Töne verwandelt, was solches Geschick den Menschen auf den Straßen dieser Welt an Schrecken und Trauer gebracht hat -, er, der Künstler, sitzt hoch oben auf dem First des Daches mit dem Blick in eine jenseitige, unendliche Ferne.2

   Ich sage: dies ist ein Bildsymbol für die Stellung des Künstlers überhaupt: zwar mitten in dieser Welt und angerührt von den menschlich-gesellschaftlichen Geschehnissen, aber zugleich auch hoch darüber, in einer traumwandlerischen Gratsphäre, einer luftigen Einsamkeit. Wo die zwei schrägen Ebenen des Daches, aus der Tiefe heraufwachsend, zusammenstoßen, da sitzt  e r, da ist sein angemessener Platz. Da kann man ihn bewundern, ihn und seine Kunst, da steht er aber auch isoliert, da steht er als ein zugleich Erhobener und ins Verfremdende Ausgestoßener; und er wird nur so lange dort sicher sein, dieser Fiedler auf dem Dach, solange ihn die Schrecken der Welt, über die er sich auf den schmalen First in der Höhe kraft seiner kreativen Traumwandlerei gerettet hat, nicht einholen und schwindelnd hinabstürzen lassen.

   Versuchen wir nun, dieses Gleichnis auf unseren Fall Karl May zu übertragen, so gehört nicht viel Assoziation dazu, um zu bemerken,


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daß gerade dieser Autor, wenn ich so sagen darf, sich selbst im Laufe seines literarischen Schaffens in eine Position hineingesteuert und hinaufgeträumt hat, die der jenes Fiedlers auf dem Dach auf eine frappierende Weise gleichkommt. Es ist keine geradezu neue Feststellung wenn ich hier sage, daß der epochale Erfolg des Schriftstellers May zu seiner Zeit, das heißt von den siebziger Jahren bis zur Jahrhundertwende, einerseits auf der phantasiemächtigen Darstellung abenteuerlich-exotischer Begebenheiten beruhte, andererseits aber - und ohne dies wäre der Erfolg nicht annähernd so bedeutend geworden - auf dem eigentlich nur poetologisch-technischen Trick, sich dabei der Form eines fiktiven Ich-Erzählers zu bedienen.

   Ich behaupte nun, daß Karl May, als er mit seinem schriftstellerischen Schaffen begann, noch keineswegs etwa die Absicht verfolgte - wie sie sich dann später offenbart hat - sich selbst eine neue, eine andere Identität zu erschreiben, um die Realität und Wahrheit des Kriminellen und ehemaligen Zuchthäuslers gegen dieses Heldenbild einzutauschen. Vielmehr: die ›Erzgebirgischen Dorfgeschichten‹ wie auch die Dessauer-Schwänke, und natürlich auch die riesenhaften Kolportageromane für Münchmeyer ebenso wie die vorzüglich gestalteten Jugenderzählungen für den ›Guten Kameraden‹ -, sie alle enthalten nirgends auch nur eine Spur jener fragwürdigen Identifizierung des Helden mit einem Ich-Erzähler und etwa gar dieses Ich-Erzählers mit dem Autor selbst, d. h. mit dem bürgerlichen Schriftsteller Karl May. Summarisch ausgedrückt: weit mehr als die Hälfte des Gesamtwerkes, das er veröffentlicht hat, ist völlig frei von seiner fragwürdigen Ich-Camouflage, und der Autor gibt sich eben einfach als ein Schriftsteller wie jeder andere auch.

   Daß er dann allerdings daneben, mit kleinen Abenteuergeschichten beginnend, in einem weiteren Teil seines Schaffens, den Reiseerzählungen, einen Ich-Erzähler einführte, hatte - ich bin dessen gewiß - zunächst durchaus nicht das Ziel einer heroischen Stilisierung seiner selbst, sondern darf ganz einfach als ein erzähltechnischer Kunstgriff gewertet werden, wie er ja denn auch in der Literatur aller Zeiten vorkommt. Das ist also nichts Besonderes und Auffallendes, zeugt auch noch keineswegs für irgendwelche gleichsam hochstaplerischen Absichten, bedarf daher an sich keiner Exkulpierung des Autors Karl May, wie etwa mit dem Hinweis, auch Dante sei nicht in der Hölle gewesen, als er seine - sagen wir: ›Reiseerzählung‹ darüber, die ›Göttliche Komödie‹, schrieb.

   Nein, dieses Kunstmittel des fiktiven Ich-Erzählers ist in der Literatur so allgemein gebräuchlich, daß man, um Vergleichbares heranzu-


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ziehen, das Erzählen im Ich-Stil heute wie je in unzähligen der geläufigsten Krimi-Geschichten vorfindet, ohne daß wohl irgendein Leser deshalb auf die Idee kommt, dieses Ich solcher Geschichten sei mit dem Autor identisch, oder gar, das Erzählte sei im Sinne von wirklich Geschehenem ›wahr‹.

   Ich möchte erläutern, wie sich mir heute das Phänomen Karl May in der mittleren Periode seines Lebens darstellt; das heißt: von seiner Entlassung aus dem Zuchthaus Waldheim 1874 bis etwa kurz vor der Jahrhundertwende. Der Roman ›Weihnacht‹ ist im Jahre 1897 erschienen, und in ihm kulminiert der Teil seines Schaffens, der ihn eigentlich berühmt gemacht hat, eben als den Autor seiner ›Reiseerzählungen‹. In diesem - rund gerechnet - Vierteljahrhundert, von seinem 32. bis zu seinem 57. Lebensjahr, den sicherlich kraftvoll-produktivsten Jahren eines Menschenlebens, hat Karl May als Autor wie als Mensch eine entscheidende Entwicklung durchlaufen.

   Es mag vielleicht oberflächlicher Betrachtung so scheinen, als sei der »Reiseerzähler« im Gegenteil sich vielmehr allzu gleich geblieben -, und was Thematik und Motivstruktur, das heißt das Inhaltliche seiner Erzählungen betrifft, mag das bis zu einem gewissen Grade auch so sein. Jedoch genauer gesehen, handelt es sich doch um einen stetig fortschreitenden Vorgang: ›fortschreitend‹ hier durchaus im Sinne von Fortschritt gemeint. Oder, um dafür eine Lieblingsmetapher dieses Schriftstellers zu benutzen, um eine Entwicklung ›empor‹. Zwar gewiß noch nicht geradezu empor ins Reich der Edelmenschen, aber immerhin doch empor zu jener schon erwähnten Kulmination seiner Erzählkunst, wie sie sich uns eben in ›Weihnacht‹ präsentiert, und zugleich empor zu Ruhm und einer gesellschaftlichen Geltung, die ihn, der lange genug als Outsider hatte vegetieren müssen, zu den euphorischsten Exzessen seiner Selbstdarstellung als Privatperson beflügelte.

   Es handelt sich also, wie ich besonders klarstellen möchte, um zwei gleichzeitige Entwicklungen, die zweieinhalb Jahrzehnte lang bis zum Ineinandertreffen aufeinander zulaufen, wie etwa, und hier bediene ich mich wieder des Chagall-Gleichnisses vom Fiedler auf dem Dach, sich zwei schräg nach oben gestellte Flächen im Dachfirst vereinigen. Und um im Bilde zu bleiben: dieser Dachfirst, auf dem er nach allem mühsamen ›Empor‹ schließlich angelangt ist, ist in seinem Falle der Roman ›Weihnacht‹, Gipfel, auf dem er nun steht, und zugleich die Stelle seines Absturzes.

   Ich will versuchen, die beiden Entwicklungslinien, eine nach der anderen, in gebotener Kürze zu skizzieren.

Zunächst hier das, was ich seine Entwicklung als Künstler, sein Fort-


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schreiten in der Technik des Erzählens zu einer Art Meisterschaft in dem von ihm gewählten poetologischen Genre genannt habe. Der Befund, den die Gesamtheit seiner Texte dokumentiert, zeigt uns freilich deutlich, daß es sich bei diesem Autor von allem Anfang an um ein begnadetes Naturtalent gehandelt hatte. Er war ein Erzähler aus Trieb und Leidenschaft, aus sprudelndem Überschuß an Phantasie. In seiner geistigen Anlage war ein spürbares Unvermögen zu abstrakt-logischem Begriffsdenken mehr als überkompensiert durch die Fähigkeit einer nahezu eidetisch zu nennenden inneren Anschauungskraft und visionären Plastizität seiner Vorstellungen. Und während ihm in seinem täglichen, bürgerlichen Dasein seit jeher ein Manko an nüchternem »gesunden Menschenverstand« zu schaffen machte, war es ihm offenbar ein Leichtes, am Faden einer vorgegebenen Fiktion die buntesten Geschichten auszuspinnen, so kurz oder so lang man sie von ihm hören wollte. Diese Fähigkeit, Figuren, Begebenheiten, Räume, en gros und en detail, spielen zu lassen -, dieses verbunden mit einer skriptomanen Behendigkeit war bereits genügend, um dem Autor Karl May, als er sich nur erst zur Schriftstellerei als dem ihm angemessenen Handwerk durchgefunden hatte, den Erfolg zu sichern.

   Da entstanden dann solche Roman-Ungeheuer, wie er sie für Münchmeyer geschrieben hat. Natürlicherweise verlangte es das Genre der Kolportage, daß es auf die gehörige Länge mehr ankam als auf die Struktur einer stringenten Fabel. Diese vielmehr konnte und mußte ins nahezu Beliebige und Uferlose ausschweifen, und so hat man denn auch den Eindruck etwa beim ›Waldröschen‹ oder beim ›Verlorenen Sohn‹, daß es statt der sechs dicken Bände ebensogut wohl auch sechzig hätten werden können. Das ist die Primitivstruktur der einfachen Reihung, die Episode an Episode baut, beliebig zahlreich, um irgendwann einmal mit einem manchmal schon vorgefertigten Endstück das Ganze abzuschließen.

   Nun ist sehr wohl zu bemerken, daß Karl May in den ja fast gleichzeitig geschriebenen Reiseerzählungen für den Hausschatz, die jetzt die ersten sechs Bände der Gesammelten Werke bilden, mit bedeutend mehr Sorgfalt in allen Einzelheiten gearbeitet hat, zwang ihn doch schon der hier eingeführte Ich-Erzähler durch die Fiktion, daß es sich um die von diesem persönlich erlebten Abenteuer handele, zu mehr Engagement des Autors und sorgfältigsten Studien über die Geographie und die Staats- und Gesellschaftsformen exotischer Schauplätze. Und seine eigentliche geniale Begabung, nämlich aus Büchern angelesene Geographie in lebendige Geschichten umzusetzen, gewissermaßen Geographie in Poesie zu verwandeln, zeigte sich in diesem Erzähl-


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komplex auf eine Weise, daß damit sein Ruhm bei einer wachsenden Leserschaft begründet war.

   Betrachtet man jedoch die Reiseerzählungen der ersten sechs Bände, die eigentliche Orientserie, die ja ein Ganzes bilden soll, in bezug auf ihre architektonische Struktur, so wird man bemerken, daß es sich auch hier nicht um einen aus einer Grundidee und einem motivischen Grundthema zur Einheit gerundeten Romankomplex handelt, sondern um eben jene primitive Reihen-Technik noch wie in den Kolportageromanen. Episode reiht sich an Episode, eine in beliebige Länge ausdehnbare Abfolge, nicht von der Stringenz einer einheitlichen Fabel, sondern nur vom dünnen Faden eines durch die Geographie gezogenen Reiseweges zusammengehalten. Dennoch in eine gewisse verklammernde Spannung gebracht durch das erzählende ›Ich‹ und seinen ständigen Begleiter Halef, eben einfach nach dem bekannten Schema: »Wenn jemand eine Reise tut, dann kann er was erzählen.«

   Interessanterweise kann man nun zeigen, daß sich die epische Technik Karl Mays entscheidend artifiziert, das heißt auf eine höhere Stufe der Erzählkunst erhoben hat, seit er die Aufgabe übernommen hatte, eine Reihe von romanhaften Jugendschriften für den ›Guten Kameraden‹ zu verfassen. Hierbei, so hat auch schon Wollschläger in seiner Biographie konstatiert, sah sich der Autor offensichtlich ganz besonders in die Pflicht genommen und verwandte all sein Können darauf, in dieser besonderen Gattung etwas Meisterhaftes, gewissermaßen Klassisches zu vollbringen. Die Fiktion des erzählenden ›Ich‹ wurde fallen gelassen. Und nun ward die lose Reihentechnik ersetzt durch eine straffe Einheit und Geschlossenheit, die es vermochte, über fünfhundert und mehr Druckseiten hinweg einen Spannungsbogen zu ziehen und eine stringente Fabel überzeugend von einem erregenden Moment als Einleitungsmotiv bis zu einem logisch sich ergebenden endgültigen Abschluß zu bringen. Ich erwähne hier nur als Beispiel den ›Blauroten Methusalem‹, den ›Schatz im Silbersee‹ und ›Die Sklavenkarawane‹. Der zuletzt genannten möchte ich, was die darin offenbarte Meisterschaft in der architektonischen Bewältigung epischer Episodenmassen, ihre Bezwingung zu überzeugender Einheit betrifft, den höchsten Preis erteilen, und ich habe schon bei früherer Gelegenheit in unserem Jahrbuch ausführlich dargestellt, wie zum Beispiel das Kunstmittel des Motivreims als aufbaustilistisches Element planvoll eingesetzt worden ist. In der ›Sklavenkarawane‹ ebenso wie in den anderen Jugendschriften zeigt sich ihr Autor nicht mehr nur als das darauflos fabulierende Naturtalent, sondern als der seine Mittel bewußt und gekonnt einsetzende Künstler. Ich scheue mich nicht zu sagen: als Meister in diesem seinem Fach.


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   Dieses allmähliche Heranreifen zu bewußt gestalteten Aufbaustrukturen mit zur Einheit abrundenden Spannungsbögen ist gemeint, wenn ich von einem Fortschritt des Epikers Karl May in dem von uns betrachteten Vierteljahrhundert gesprochen habe. Und die Entwicklung kulminiert sichtlich - wie schon behauptet - in Mays Reiseerzählung ›Weihnacht‹. Dieses hier in einigen Grundzügen nachzuweisen will ich im folgenden versuchen.

   Von dem epischen Kunstmittel des Motivreims3, wie ich es in der Analyse der ›Sklavenkarawane‹ (Jb-KMG 1975) am Beispiel des Leitmotivs von den Vögeln ausführlich belegt habe, war soeben die Rede. Der von mir so genannte ›Motivreim‹ ist dann gegeben, wenn im weit ausgesponnenen Komplex einer Großerzählung, wie etwa des Romans, auffällig hervorgehobene Handlungsteile, episodische Szenen, eindrucksvolle Begebenheiten oder etwa ein schon einmal formulierter Text - das heißt eben: poetische Motive - vom Erzähler gleichlautend oder in leichter Variante auf eine Art wiederholt werden, daß der Leser sich jeweils des vorangegangenen, gewissermaßen darauf ›reimenden‹ Motivs erinnern muß. Hierdurch wird dann, wie immer die eigentliche Handlung, das Stoffliche der Erzählung, ins Fabulistische ausufern mag, doch die Einheit in der Vielfalt betont. Der erzählte Stoff erhält dadurch seine formale Struktur, ein rhythmischer Aufbau hebt sich hervor, und der Leser wird der einheitlich geplanten ›Architektur‹ inne. Das heißt mit anderen Worten: erst durch das Mittel des Motivreims wird aus dem an sich formlosen Stoff ein episches Kunstwerk. Denn die planvolle Wiederholung des Gleichen oder Ähnlichen gliedert die Stoffmasse, vergleichsweise wie an der Fassade eines Kunstbaues die Wiederkehr gleicher Säulen oder Strebepfeiler den künstlerischen Charakter dieser Steinmasse manifestiert. Daran erinnert sei auch, daß der Gebrauch aufeinander eingestimmter Leitmotive in der Musik seit jeher ganz selbstverständlich zum Handwerk des Komponisten gehört, was man in neuerer Zeit insbesondere an der Musik Richard Wagners hat studieren können. Daß es sich in der Literatur, vor allem aber in der Erzählkunst, ganz ebenso verhält, ist weniger bekannt und bis heute nur selten einmal wissenschaftlich untersucht worden.

   Da bietet sich uns Karl Mays Roman ›Weihnacht‹ geradezu als ein Musterbeispiel für eine solche Untersuchung an. Der Autor hat seinem Werk den Titel »Weihnacht!« gegeben, und geschrieben hat er dieses Wort mit einem Ausrufungszeichen und in Anführungsstriche eingerahmt. Was soll das bedeuten? fragt man sich wohl. Der Autor will das Wort ganz offenbar nicht bloß als einen Buchtitel wie andere auch be-


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wertet haben, sondern gewissermaßen als einen Ausruf mit aller emotionalen Geladenheit, die man dem Wort verleihen kann. Und da ist einer - darauf deuten die Anführungsstriche wie bei einer direkten Rede hin - der dieses Wort mit all seiner Gefühlsbeladenheit spricht, oder vielmehr aus seinem Innersten herausstößt. Und so emotional beginnt denn auch sogleich das erste Kapitel: Weihnacht! Welch ein liebes, liebes, inhaltsreiches Wort!4

   Ein inhaltsreiches Wort! Das ist es in der Tat, in diesem Falle sogar weit über das hinaus, was der Autor noch einleitend, gewissermaßen bekenntnishaft, von dessen religiöser Bedeutsamkeit an Erbaulichem ausgeführt hat; woraus ich aber, weil er wohl tatsächlich Kernvorstellungen seiner weltanschaulich-religiösen Überzeugung wiedergibt, einen kurzen Abschnitt herausheben möchte:

   Zwei Bibelworte sind es vorzugsweise, welche, als ich noch ein kleiner Knabe war, aus dem Munde der alten, frommen Großmutter einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf mich machten. Lag es an der Erzählerin oder an dem Inhalte dieser Worte selbst, ich weiß es nicht, aber Thatsache ist, daß diese Verse noch heut zu meinen Lieblingsbibelsprüchen zählen. Der eine Spruch lautet Hiob 19,25: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und er wird mich aus dem Grabe auferwecken«, und der zweite ist eben die Verkündigung des Engels: »Siehe, ich verkündige Euch große Freude - - - denn Euch ist heute der Heiland geboren - - -«.5

   Leid und Freude, Tod und Erlösung -, mit diesen Stichworten, in denen sich die gehaltliche Polarität der ganzen Erzählung mottohaft ankündigt, ist der Autor fast unmerklich bereits aus dem erbaulichen Traktat mitten hinein in seine Erzählung und zu deren Hauptmotiv fortgeschritten, wenn es gleich anschließend heißt:

   Der Eindruck dieser Stellen auf mich war ein solcher, daß ich - in noch ganz unreifem Alter - beide komponiert und über die zweite auch noch ein Gedicht - - - fast möchte ich sagen, verbrochen habe.

   ›Weihnacht‹ ist also das Hauptmotiv, und es zeigt sich, daß Karl May aus diesem einen inhaltsreichen Wort, das er als Romantitel vorangestellt hat, mit geradezu listiger Kunstfertigkeit den ganzen großen Komplex seiner Episoden herausgesponnen und vom ersten bis zum letzten Wort das Ganze zu einer in sich abgeschlossenen Einheit zusammengeklammert hat. Ich brauche hier die Handlung, die den meisten meiner Zuhörer doch schon bekannt ist, nicht im einzelnen wiederzugeben. Werfen wir vielmehr, wie beabsichtigt, einen die Erzählung umfassenden Blick auf die Struktur, d. h. den Aufbau, die Gliederung des Ganzen.

Karl May hat seine Erzählung in fünf große Kapitel eingeteilt, und


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fast möchte man von einer Dramaturgie des Epischen sprechen, indem diese Fünfzahl und der darin enthaltene weite Spannungsbogen den Betrachter unmittelbar an die Technik des fünfaktigen klassischen Dramas erinnern. Es ist der Spannungsbogen von der ›Exposition‹ oder ›Einleitung‹ bis zur ›Lösung‹ bzw. der ›Katastrophe‹. Und wenn der Dichter auch bei seinem Versuch eines Dramas späterhin nicht gerade mit einem Meisterwerk brillierte, hier jedenfalls, in dieser Erzählung, hat er sich als eine Art verkappter Dramatiker erwiesen. Daß ihm in der Tat selbst sehr bewußt so etwas wie ein dramatischer Aufbau und Ablauf seiner Handlung vorschwebte, darauf scheint mir der bei ihm auffallende Umstand hinzuweisen, daß er dem ersten Kapitel die Überschrift Einleitung gegeben hat.

   Die strenge Einheit der Konzeption zeigt sich deutlich darin, daß das erste Kapitel und das fünfte im Motivreim einander entsprechen, bis in wörtliche Übereinstimmung, denn wenn am Anfang des ersten Kapitels, und gleich zweimal wörtlich, das Bibelzitat steht: Siehe, ich verkündige Euch große Freude, so endet das letzte Kapitel und damit der ganze Roman mit dem Vierzeiler:

»Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!«
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In beiden Kapiteln ist Winter und Weihnachtszeit, ist die Szenerie eine Gebirgslandschaft in hohem Schnee, und wenn im ersten Kapitel das Freundespaar mit den Spitznamen Sappho und Carpio eine Ferienwanderung durchs deutsche Mittelgebirge macht, als halbwüchsige Gymnasiasten, so reiten dieselben, nach jahrzehntelanger Trennung, im letzten Kapitel als erwachsene Männer unter vielen unerhörten Abenteuern durchs nordamerikanische Felsengebirge und verleben ein Weihnachten in einer Höhlenzuflucht, rings umgeben von Schnee, bedroht von Bären und Banditen. Während im ersten Kapitel die beiden fröhlichen Gymnasiasten konfrontiert sind mit dem schrecklichsten Elend dreier Flüchtlinge, wobei Sappho, der Ich-Erzähler, der fremden Frau und ihrem Kinde mit einem kargen Geldgeschenk helfen kann, jedoch der kranke, gebrechliche Großvater stirbt, so bringt das letzte Kapitel, im Motivreim dazu, den Tod des krank und gebrechlich gewordenen früheren Schulfreundes Carpio, ebenfalls inmitten weihnachtlicher Feststimmung.

   Aber die architektonische Verklammerung des letzten mit dem ersten Kapitel verlangt auch, um den Handlungsbogen, der Katastrophe des armen Carpio ungeachtet, positiv und endgültig abzuschließen, ei-


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ne Umkehrung der wichtigsten einander entsprechenden Motive. Während im ersten Kapitel Großvater, Mutter und Kind der Flüchtlingsfamilie in ihrem größten Elend erscheinen, die Frau von ihrem Gatten, der nach Amerika ausgewandert ist, noch hoffnungslos getrennt ist, die bösen Intriganten und Feinde, die sie unverdient ins Elend gestürzt haben, unerreichbar irgendwo der Gerechtigkeit entzogen sind, findet sich dies alles im letzten Kapitel zur Zufriedenheit gelöst: Über die »Bösen« bricht, noch zu Weihnachten und im Hochgebirge, ein Gottesgericht in Gestalt einer Lawine herein, Frau Hiller ist wieder mit ihrem Gatten vereint, und in Deutschland wird ihr inzwischen erwachsener Sohn die Verderber seiner Familie alsbald juristisch zur Rechenschaft ziehen. Wie sehr aber Karl May noch einmal ausdrücklich auf die Verklammerung des ersten und des letzten Kapitels durch solchen ›kontrastierenden Motivreim‹ aufmerksam machen will, bezeugt er im letzten Abschnitt seiner Erzählung:

   Und Hiller?

   Er ist wieder alles, was er vor seiner Flucht nach Amerika war, alles und noch mehr, denn er hat seinen Gott wiedergefunden und mit ihm das einzig wahre Glück im Erdenleben. Sein Glaube wurzelt in den harten Leiden der Vergangenheit wie eine starke Wettertanne, die ihre Wurzeln tief in die Felsenritzen senkt und darum Halt für jeden Sturm besitzt. Sein Sohn bekleidet eine hervorragende juristische Stellung. Die Frau, welche einst in der verfallenen Gebirgsmühle der Verzweiflung nahe war, die Aermste der Armen in Hunger und Kälte, sie ist jetzt ein Engel der Bedürftigen, eine Retterin der Elenden, ein Trost für alle, die sich um Schutz und Hilfe an sie wenden, und besonders zur heiligen Weihnachtszeit sendet sie ihre Boten aus nach denen, welche »mühselig und beladen sind«, um sie zu erquicken. Dann kommen sie herbei, die Greise, die Siechen, die Armen, die Leidtragenden. Jedem klingt ein freundliches Willkommen entgegen; für jeden liegt ein Geschenk unter dem strahlenden Lichterbaume. Die köstlichste der Gaben aber, welche sie verteilt, ist die gnadenbringende Weihnachtsverkündigung, daß für alle, welche sich nach Erlösung aus der Not der Seele sehnen, der rettende Erlöser gekommen sei. Und das thut sie im Rückblick auf die eigene Not und die eigene Erlösung . . .7

   Hier wird also, wie man bemerkt, vom Ende der Geschichte her ausdrücklich auf den Anfang zurückgewiesen, und der Bogen der epischen Spannung vom Negativen zum Positiven in der seelischen und materiellen Entwicklung der betroffenen Personen verdeutlicht. Hält man noch hinzu, daß der Roman den Ich-Erzähler am Anfang als noch unreifen Gymnasiasten und am Ende als den hochberühmten Weltreisenden,


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Westmann und Schriftsteller, am Anfang als Freund des fahrigen Carpio und am Ende als den Freund des Halbgottes Winnetou zeigt, auch die Wandlungen vieler anderer Personen ins Heilsame oder ins Verderben beachtet, so wird uns offenbar, daß der Autor seine abenteuerliche Reiseerzählung diesmal zugleich als eine Art Entwicklungs- und Bildungsroman konzipiert hat. In keiner anderen Wildwest- oder Orientgeschichte noch hat er bisher bis in die Kindheit im Sächsischen zurückgegriffen.

   Allerdings springt die Erzählung im zweiten Kapitel gleich über eine Reihe von Jahren, in denen, wie es heißt, das Leben in einer harten Schule aus dem unerfahrenen Knaben einen Mann gemacht hatte. Man trifft ihn jetzt wieder schon als den berühmten Old Shatterhand und Freund Winnetous, und zwar als Reisenden in Weston in den USA. Doch sogleich wird das zweite Kapitel vom Autor mit dem ersten durch Motivreim verklammert, indem Old Shatterhand wieder auf jene Frau und ihren Sohn trifft, um die er sich vor Jahren in der alten Schneidemühle so verdient gemacht hatte. Und bei aller Veränderung in den materiellen Verhältnissen, die die Auswandererfamilie erfahren hat, das Motiv aus dem ersten Kapitel ist dennoch insofern genau verdoppelt, als auch diesmal der Gatte der Frau Hiller im ferneren Wilden Westen unter den Indianern verschollen ist und sich der Held veranlaßt sieht, wiederum als Retter tätig zu werden, was allerdings nun nur durch eine abenteuerliche Expedition zu bewältigen sein wird. Diese selbst mit ihren zahlreichen ineinandergreifenden Episoden, in denen alle auch sonst in den Wildwest-Geschichten Mays bewährten Erzähltechniken wiederkehren, kann ich hier nicht im einzelnen skizzieren. Der ganze Abenteuerkomplex mit seiner überaus komplizierten Struktur wird aber nicht nur durch Logik und Kausalität der einander bedingenden Ereignisse folgerichtig zusammengehalten, sondern der Autor hat hier noch ein besonderes Kunstmittel des Epischen eingebracht, sein ›Weihnachtsgedicht‹, dessen einzelne Strophen als Leitmotiv immer wieder einmal auftauchen.

   Ein Gedicht über das Weihnachtsfest von 32 Strophen Länge, so berichtet uns der Ich-Erzähler im ersten Kapitel, hat er als unmündiger Gymnasiast einst anläßlich eines Preisausschreibens gedichtet und dafür von der ausschreibenden Zeitung den ersten Preis errungen. Es ward gedruckt und großzügig honoriert. Der erste Erfolg also des später so berühmten Schriftstellers! Auch sein Freund Carpio hat es aus Begeisterung für seinen »Sappho« sogleich auswendig gelernt. Und da nun bei jener Weihnachtswanderung der beiden Knaben auch die ins Elend geratene Frau Wagner alias Hiller dieses Gedicht, das ihr in ihrer


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Verzweiflung soviel Trost gespendet hat, mit sich nimmt, gerät das Poem, durch sie und durch Carpio, gleich zweifach aus der Alten in die Neue Welt, wo dann der Autor später wieder darauf stoßen wird.

   Es ist ja über dieses Weihnachtsgedicht und seine Entstehung von Lesern und May-Experten mancherlei gemutmaßt worden, vor allem des Umstandes wegen, daß wir von den behaupteten 32 Strophen im Roman ›Weihnacht‹ nur 11 zitiert bekommen, und so hat man sich auch auf die Suche gemacht, die übrigen 21 irgendwo aufzufinden. Nun, May hat uns auch in diesem Falle mit einer Mystifikation genasführt. 32 Strophen sind es nie gewesen; aber alles was sich in dieser Sache überhaupt eruieren ließ, hat neuerdings abschließend Roland Schmid im Kommentar seiner Reprint-Ausgabe berichtet.8

   Wesentlich für die Erzählung sind vor allem die öfter wiederkehrenden Strophen des Anfangs und des Endes. Die Anfangsstrophen lauten:

»›Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!‹
Jubelnd tönt es durch die Sphären,
Sonnen künden's jedem Stern;
Weihrauch duftet von Altären,
Beter knieen nah und fern
Horch, da schallt vom nahen Dome
Feierlich der Glocken Klang,
Und im majestätschen Strome
Schwingt sich auf der Chorgesang:
›Herr, nun lässest du in Frieden
Deinen Diener zu dir gehn,
Denn sein Auge hat hienieden
Deinen Heiland noch gesehn!‹«
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   Der weitere Inhalt besagten Gedichts wird ja im Roman nicht recht deutlich, doch aus einem erhalten gebliebenen Manuskript ergibt sich, daß May von einem Strafgefangenen in der Gefängniszelle berichtet, der als Schwerkranker noch im Sterben seine Schuld bereut und sich zum Glauben an den Erlöser bekehrt. Die in ›Weihnacht‹ enthaltenen Strophen haben freilich die genaue Beziehung auf eine Gefängniszelle und einen Sträfling ganz ausgespart, und so lassen sich die Schlußstrophen neutraler auf einen mit dem Tode ringenden und zum Glauben hinfindenden Menschen deuten:


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»Und der Priester legt die Hände
Segnend auf des Toten Haupt:
›Selig, wer bis an das Ende
An die ewge Liebe glaubt!
Selig, wer aus Herzensgrunde
Nach der Lebensquelle strebt
Und noch in der letzten Stunde
Seinen Blick zum Himmel hebt!
Suchtest du noch im Verscheiden
Droben den Erlösungsstern,
Wird er dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn
Darum gilt auch dir die Freude,
Die uns widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Auch dein Heiland Jesus Christ!‹«
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   Die Verse als solche zeugen keineswegs von einem meisterhaften poeta laureatus, und die Penetranz solchen Frommseins, in zum Teil unreine sächselnde Reime gegossen, mag uns wohl davon überzeugen, wie recht der Autor es getroffen hat, wenn er die Meinung äußerte, er habe das Gedicht eher »verbrochen« als verfaßt. Hier dienen die einzelnen Strophen und Strophenfolgen jedoch als Mittel der Erzähltechnik, um durch den Ablauf der Episoden motivreimartig die Einheit der Konzeption zu betonen. Sie tauchen auf, diese Strophen, wenn Situationen oder Personen es ermöglichen. Roland Schmid hat es in seinem Kommentar genau aufgelistet: auf insgesamt 18 Seiten finden sich solche Zitate, und zwar im ersten, zweiten und letzten Kapitel. Insbesondere aber verklammern Rezitationen aus dem Gedicht wieder das letzte mit dem ersten, das Ende mit dem Anfang, indem genau wie beim Tode des Großvaters in Böhmen in der alten Schneidemühle auch beim Sterben des alten Schulfreundes Carpio die Strophen von der Weihnachtsbotschaft eine Rolle spielen. Um zu zeigen, was ein Motivreim ist und wie er in dieser Erzählung als technisches Mittel erscheint, stelle ich hier die beiden Sterbeszenen nebeneinander.


1.) Der Tod des Großvaters:

Der Knabe schluchzte zum Erbarmen; seine Mutter regte sich nicht; sie blieb stumm, stumm, wie der Schmerz in seiner größten Tiefe immer ist. Man hörte das Knistern der Flamme, weiter nichts. Nach einer längeren Weile begann der Alte wieder: »Selig - - selig ist, wer bis ans Ende - - -


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an die - - - die ewge Liebe glaubt - - - ! Suchen - - suchen - - - im Verscheiden - - - Erlösungsstern - - - - zur Herrlichkeit des Herrn - - - !« usw.11


2.) Der Tod des Freundes Carpio:

Bei der Stelle

»Und der Priester legt die Hände
Segnend auf des Toten Haupt«

breitete er die Arme aus und fuhr mit erhobener Stimme fort:

»Selig, wer bis an das Ende
An die ew'ge Liebe glaubt!«

Damit war aber seine Kraft erschöpft, denn nun klang es leiser, immer leiser nach und nach ersterbend:

»Selig, wer aus Herzensgrunde
Nach der - - Lebensquelle - - strebt
Und - - noch in der - - letzten - Stunde
Seinen - - Blick -­zum Himmel - - - -«

und das letzte Wort »hebt« verhauchte in einem fast unhörbaren Seufzer. Carpio war tot. Der Himmel hatte nicht nur seinen letzten Blick, sondern ihn selbst emporgezogen.12

   Die Beispiele ließen sich vermehren. Aber schon diese hier aufgeführten dürften genügen, um die These, die wir aufgestellt haben, zu stützen, daß der Autor May in seiner späteren Entwicklung sich durchaus kunstvoller Formgebung befleißigt hat, im Gegensatz übrigens zu seiner eigenen Behauptung in ›Leben und Streben‹: Die künstlerische Kritik braucht sich also mit meinen Reiseerzählungen nicht zu befassen, weil es gar nicht meine Absicht ist, ihnen eine künstlerische Form oder gar Vollendung zu geben.13 Und ich möchte auch nicht unerwähnt lassen, daß ich mit diesen meinen Ausführungen zur ›künstlerischen Form‹ bei Karl May meine eigene Meinung darüber in meiner Dissertation von 1936 nicht unbeträchtlich differenziere.14

   Damit komme ich nun zum zweiten Teil unserer Betrachtungen, meiner These nämlich, daß der Roman ›Weihnacht‹ auch in bezug auf die menschlich-persönliche Entwicklung Karl Mays eine Kulmination, und diesmal eine recht bedenkliche, dokumentiert.

   Es geht dabei um das, was Gerhard Neumann so treffend das ›erschriebene Ich‹ genannt hat. Ich bin ja, wie schon angedeutet, dessen ganz gewiß, daß Karl May, als er die Form der fiktiven Ich-Erzählung wählte, anfänglich dies sozusagen ›in aller Unschuld‹ getan hat. Aller-


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dings ist ohne Zweifel alles, was ein Dichter erdichtet, in irgendeiner, oft vertrackten Weise, auch aus dem Eigenen, Bewußten oder Unbewußten, geflossen. Doch ist in diesem Falle die ganz ungeheuerliche Versuchung, der er allmählich verfiel, sicherlich von außen, nämlich aus den Reihen seiner Leser oder auch seiner Verleger an ihn herangetreten: zu behaupten nämlich, dieses sein rein fiktives, erträumtes »Ich« sei mit ihm selbst, dem ganz wirklichen Menschen und Schriftsteller Karl May identisch. Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi -: er wurde dafür gehalten, und so konnte er nicht widerstehen. Denn das Gift war zu süß, das man ihm hier bot, als daß er es hätte zurückweisen können. Ja, welche Wonnen gewährte ihm doch ein solches Rollenspiel, die wirkliche Vergangenheit mit ihren entsetzlichen Leiden und Erniedrigungen abzustreifen und einzutauschen gegen eine Wunschtraum-Existenz und sich ein anderes, besseres Ich einfach zu erschreiben.

   Hochstapelei wie zu seinen Inferno-Zeiten und nun nur ins Literarische versetzt? Oder die Unfähigkeit des Pseudologen, der die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit überhaupt nicht scharf zu ziehen vermag? Oder gar -, unheimlicher noch uns anmutend, schizoider Größenwahn eines Psychopathen? Oder ganz einfach die Scham des Erniedrigten und Entehrten, der seine Blöße bedeckt halten will? Es war wohl von allem etwas mit im Spiele. Sicher aber ist, daß die Fiktion, selber zu sein, was er sich erschrieb, ihn in eine Euphorie versetzte, einer Droge gleich, die nicht zuletzt die unaufhörlich antreibende Kraft gewesen ist, ihn zum Erschaffen eines so gigantischen Erzählwerkes zu ermächtigen.

   Nun - man müßte im einzelnen genauer untersuchen, wo und wie sich in seinen Reiseerzählungen die Spuren solcher Identifizierung zeigen. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, so hat er die Behauptung, das »Ich« seiner Erzählungen sei der Schriftsteller Karl May in Dresden oder Radebeul selber, lange Zeit in seinen Büchern, zum Beispiel in der Orient-Reise, im ›Winnetou‹ und vielen anderen nicht expressis verbis ausgesprochen (wie er es wohl in Briefen und anderswo auf Anfragen getan hat). Es bleibt doch meist bei vagen Anspielungen, so wenn im Orient das Ich den Kriegsnamen Kara trägt und Winnetou seinen Blutsbruder Schar-lih nennt.

   Aber da tickte eine Zeitbombe! Die Anspielungen wurden immer durchsichtiger, und am Ende, auf dem Zenith seiner Erfolge, streifte der Autor die letzte Scheu, die letzte Verhüllung ab und trat aus dem Nebel des Zweideutigen nun eindeutig auch im literarischen Werk als Karl May hervor. Die trügerische Camouflage war zu ihrer letztmög-


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lichen Konsequenz emporgediehen, auf den First des Daches, von dem der Fiedler alsbald in den Abgrund stürzen wird.

   Der »sächsische Lügenbold«, wie Hermann Kant ihn nahezu zärtlich genannt hat, spielte sein Spiel zu Ende. Ein Spiel übrigens, das ja nicht eines gewissen kriminellen Einschlags entbehrte. Und daß dies ausgerechnet in dem wohl frömmsten und christlichsten seiner bis dahin veröffentlichten Werke geschah, eben im Roman ›Weihnacht‹ -, das ist wieder einmal einer der fast unbegreiflichen Widersprüche, die ja auch sonst das OEuvre Karl Mays durchwirken.

   Schon im ersten Kapitel, der sogenannten Einleitung, ist alles klar. Bereits bei Gelegenheit der Zitierung des Schülers vor den Direktor der Schule wird es uns auf das eindrücklichste vorgeführt,  w e r  der Ich-Erzähler wirklich und wahrhaftig ist: gleich dreimal wird uns der Name unmißverständlich gewissermaßen eingehämmert, wenn es da heißt:

   Es vergingen einige Augenblicke; der Nebel teilte sich, ich sah den Gewaltigen mit Augen, als ob er mich durchbohren wolle, vor mir stehen.

   »May!« erklang es in seinem tiefsten Baß.

   lch verbeugte mich. Was ich für ein Gesicht gemacht habe, das weiß ich nicht, denn nur er hat es gesehen und mir nichts darnber angedeutet.

   »May!!«

   Ich verbeugte mich wieder.

   »May!!!«

   Dritte Verbeugung; aber nun war ich entschlossen, mich nicht mehr zu bücken.

   »Sie - - sind - - ja - - ein - - ganz - - -«15

Nebenbei nur sei zu dieser Textstelle bemerkt, welche echte biographische Situation aus dem Leben des Autors hier ihren verfremdeten Niederschlag gefunden hat: nämlich die Zitierung des Seminaristen May vor den Direktor in Waldenburg, der ihm wohl auf eine ähnliche Weise seine Relegierung aus der Anstalt eröffnet hatte. Und jener Direktor könnte da, wo Karl May ihn nach den Worten »Sie sind ja ein ganz -« nicht weiter wörtlich zitiert, etwa sehr wohl gesagt haben:  . . . ein ganz infernalischer Charakter! Nicht so natürlich hier im Roman, hier gibt es die froheste Botschaft zu verkünden, daß nämlich das von diesem Schüler verbrochene Gedicht von der Zeitung angenommen, bereits in Druck befördert und mit dreißig Thalern honoriert worden ist. Hier faßt man am konkretesten Beispiel, das man sich denken kann, wie in der psychischen ›Werkstatt‹ eines Dichters, dieses Dichters, das gegebene biographische Material in einer Art Raffinerie des Schöpferischen gereinigt, geklärt und umgestülpt werden kann, um als poetisches Motiv eingesetzt zu werden.


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   Nicht genug damit: der Autor hat das Motiv vom großen Erfolgserlebnis auch noch genußvoll verdoppelt. Nicht nur sein Gedicht wird gedruckt und honoriert, sondern von seinem Musiklehrer erfährt er auch, daß die Partitur der von ihm, dem Knaben Karl, komponierten Motette bereits gedruckt und mit fünfundzwanzig Thalern honoriert worden ist. Gewiß, das waren wohl einst so die Wunschträume des Seminaristen May, und hier nun, wo doch zugleich durch die ausdrückliche Nennung des Namens Karl May dem Leser aufs bestimmteste suggeriert wird, daß es sich um authentische Darstellung von Jugenderinnerungen handle, wird dennoch der Wunschtraum an die Stelle der Wirklichkeit untergeschoben. Hierzu gehört auch bereits das kleine ›corriger la fortune‹, daß es sich im Roman bei den Knaben Sappho und Carpio um Gymnasiasten handelt, wo wir doch wissen, daß der Besuch eines Gymnasiums eben auch zu den unerfüllten Wünschen des Arme-Leute-Kindes aus Hohenstein-Ernstthal gehörte.

   Man wird gar nicht einmal bestreiten wollen, daß der wirkliche Karl May mit einem Freunde eine solche Winterwanderung um die Weihnachtszeit gemacht hat. Und das klingt auch ganz ehrlich und echt und verrät viel von dem wirklichen Karl May und den Anregungen seiner Phantasie, wenn man bei dieser Gelegenheit liest:

   Gewöhnlich marschierten wir auf dem Gebirge zwischen Sachsen und Böhmen hin. Wir konnten uns da einbilden, die Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien oder gar den Himalaya zwischen Tibet und Indien zu durchwandern. Wir hatten da Städte und Dörfer, Berge und Thäler, Felsen und Wiesen, Flüsse und Bäche, Sonnenschein und Regen, kurz, alles, was unser Herz begehrte. Mehr konnten wir nicht verlangen und auch in keiner andern Gegend finden. Dieser Schauplatz unserer Weltreisen war uns lieb geworden . . . 16

   Das also, so wird man, und ganz zu Recht, eine solche Stelle kommentieren, das war in der Tat der Schauplatz seiner Weltreisen, und hier hat unser sächsischer Lügenbold, mitten in seinem Selbstgesponnenen, eine verräterische Wahrheit entschlüpfen lassen. Aber sonst ist eben alles, was die eigentliche Handlung des Romans ausmacht, genau so aus dem Wunderhorn seiner reinen Phantasie geflossen wie die aller anderen Reiseerzählungen auch. Das würde uns nicht betrüben, wenn nicht einleitend und immer wieder im weiteren Verlauf der Handlung betont darauf hingewiesen würde, daß dies alles dem Schriftsteller Karl May selbst zugestoßene und von ihm bestandene Abenteuer seien. Selbst dann noch, als dieser Held im wilden Westen sich einen Decknamen zulegt, um nicht gleich als der berühmte Old Shatterhand Aufse-


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hen zu erregen, macht er es jedenfalls seinen Lesern ganz deutlich. Das liest sich dann so17:

   »Davon haben wir gar keine Ahnung gehabt,« gestand der Wirt. Und indem er mich mit erstaunten Augen musterte, fuhr er fort: »Sie zeigen da Kenntnisse, die man bei Ihnen gar nicht vermuten konnte. . . . Wahrscheinlich gehören Sie dem studierenden Stande an?«

   »Sie haben recht; ich bin ein Federfuchser.«

   »Und, bitte, wie heißen Sie? Sie entschuldigen diese Frage. Man muß doch wissen, wie man Sie zu nennen hat.«

   Da ich verschweigen wollte, wer ich war, und mein richtiger Name möglicherweise auch hier als derjenige Old Shatterhands bekannt sein konnte, legte ich mir in der Schnelligkeit einen ähnlich klingenden bei, indem ich antwortete:

   »Mein Name ist ein so seltener, daß Sie ihn wahrscheinlich noch niemals gehört haben; ich heiße nämlich Meier.«

   »Meier?« lachte er. »Allerdings höchst selten! Aber kennen thue ich ihn doch, denn ich muß Ihnen sagen, daß ich auch so heiße . . . «

   Man bemerkt es: höchst lustig geht es hier zu und ist doch der Gipfel der Fahrlässigkeit! Hatte er denn so gar keine Ahnung, dieser May alias Meier, was ihn dies, einmal gedruckt einer hämischen Öffentlichkeit überantwortet, irgendwann kosten könnte? Denn eben mit dieser Versicherung der Identität des Federfuchsers von Radebeul mit dem göttlichen Old Shatterhand gerät ihm doch seine frisch-fröhliche Fabelei aus einem literarischen Genre in ein ganz anderes, nämlich in das höchst bedenkliche einer gefälschten Autobiographie. Später wird er schreiben: Das ›Ich‹, in dem ich schreibe, das bin doch nicht ich selbst, sondern das ist die Menschheitsfrage . . . 18 Aber vergeblich, denn seine hohnlachenden Kritiker hatten es ja gedruckt in ihren Händen, daß er eben dieses behauptet hatte. Der fröhliche Fiedler auf dem Dach bemerkte es noch nicht, daß er alsbald abstürzen würde.

   Und nun stelle man sich das auch einmal vor, den Federfuchser von Radebeul: er hatte ein Vierteljahrhundert an seinem Schreibtisch gesessen, tage- und nächtelang, ein Bücher- und Stubenmensch durch und durch. Da ist es denn eine tragikomische Groteske, ihn sich zu denken, wie er zu Weston in Amerika (um von größeren Heldentaten ganz zu schweigen) mit dem bigotten Prayerman, der ihm sein eigenes Weihnachtsgedicht verkaufen will, auf Wildwestmanier abrechnet19:

   Jetzt war es mit meiner Zurückhaltung zu Ende. Ich prasselte ihn förmlich an:

   »Schwindler, der Sie sind! Sie sagten vorhin, ich hätte in meinen Busen gegriffen; ich aber sage Ihnen, daß ich Ihretwegen weder in meinen Bu-


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sen noch in meinen Beutel greife! Sie wären der Kerl dazu, meine arme Seele vom ewigen Tode zu erretten! Bekümmern Sie sich um Ihre eigene Serle, die Ihnen wohl noch genug zu schaffen machen wird! Der Dichter dieser Strophen soll ein Pferdedieb gewesen sein, der an seinem Stricke selig in das Jenseits hinübergeschieden ist, weil Sie, Sie unverschämter Lügner, ihn durch Ihre Schriften von der ewigen Verdammnis errettet haben? Sie wagen, mir zu sagen, daß ein Irländer ein solches Gedicht in deutscher Sprache schreiben kann? Sie wagen es, auch mir die in Ihren Druckwerken enthaltene Seligkeit für zwei und einen halben Dollar anzubieten? Hier haben Sie den Rummel. Lesen Sie ihn selbst, denn Sie bedürfen der Reue und Buße mehr als selbst der allerschlimmste Pferdedieb!«

   Bei diesen Worten warf ich ihm die Schriften ins Gesicht. Er stand vor Erstaunen und Zorn eine ganze Minute bewegungslos, dann trat er hart an mich heran, hielt mir die geballten Fäuste vor das Gesicht und rief:

   »Was haben Sie gethan?! Und wie haben Sie mich genannt?! Einen Schwindler und einen unverschämten Lügner! Ich soll schlimmer sein als ein Pferdedieb! Sagen Sie nur noch ein solches Wort, so haue ich Sie zu Staub!«

   Er that, als ob er ausholen wolle.

   »Nieder mit den Händen!« befahl ich ihm. »Weil Sie auch einer sind, schäme ich mich in meinem Leben zum erstenmal, ein Deutscher zu sein! Der Dichter dieser Strophen soll gehängt worden sein! Wissen Sie, wer es ist? Er steht hier vor Ihnen, und Sie werden mir den Vorrat, den Sie haben, ausliefern, damit ich ihn verbrennen lasse!«

   »Sie - Sie - - Sie wollen der Dichter sein?« lachte er höhnisch auf. »Ihr Gesicht ist ja ein solches Schafs - - - «

   Weiter kam er in seiner Rede nicht, denn ich gab ihm eine solche Ohrfeige, daß er, zwei Stühle mit sich niederreißend, zu Boden stürzte. Er sprang aber schnell wieder auf, riß ein langes Messer aus der Tasche und drang damit, vor Wut keine Worte findend, auf mich ein. Ich empfing ihn mit dem emporgehobenen Fuß und versetzte ihm einen so kräftigen Tritt gegen den Leib, daß er wieder niederstürzte. Noch hatte er sich nicht halb aufgerafft, so stand ich bei ihm, nahm ihn mit der linken Hand beim Genick, riß ihn vollends empor, schlug ihm mit der Rechten das Messer aus der Hand, gab ihm noch zwei schallende Ohrfeigen, schleifte ihn zu seinem Koffer und befahl ihm dort:

   »Heraus mit den Gedichten, die verbrannt werden müssen! Wenn du nicht sofort gehorchst, helfe ich nach!«

   Der fromme Mann hatte mehr als genug. Er schien sich zwar weigern zu wollen, aber ein vermehrter Druck an seinem Halse brachte ihn zum Gehorsam.


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   Der Prayerman liefert also ihm, Karl May alias Meier alias Old Shatterhand, die Gedichtexemplare aus, und sie werden verbrannt. Zum Schluß aber fügt der triumphierende Sieger noch die besondere Pointe hinzu:

   »Man kommt nicht immer so gut aus meinen Händen, wie ich dich jetzt aus ihnen entkommen lasse. Merk dir das, frommer Augenverdreher!«

   Ich habe diese Textstelle hier als exemplarisch herausgegriffen aus mehr als einem Grunde. Sie gehört, betrachtet man sie genauer, zu denjenigen Stellen des literarischen Werkes, deren Transparenz uns einen genaueren Blick in die Verfassung des Seelenlebens ihres Schöpfers freigeben. Als erstes dokumentiert sie die ungehemmte Euphorie des Schreibenden, das extreme Machtgefühl, das ihn auf der Höhe seiner Erfolge bis zum Bersten erfüllte. Eine Seelenverfassung am Rande dessen, was derjenige nüchterne Leser, der um den wirklichen Karl May Bescheid weiß, noch nachzuvollziehen vermag: wie sehr also der Schreibende vom heißen Aufwind der ihn dazumal umqualmenden Verehrung seiner zwei Millionen Leser in abnormen Realitätsverlust emporgetrieben worden war. Sodann ermessen wir, wie sehr eben dieses ­ wie vieles andere Ähnliche in unserem Roman ­ ins Groteske abgleitet und einer Selbstkarikatur gleichkommt. Und halten wir nur die Wendung vom frommen Augenverdreher fest, so werden wir sogleich sehen, daß genau dieser Vorwurf auf ihn selber zurückschlagen wird. Ein besonderes Element der zitierten Episode hat aber vor allem meine Aufmerksamkeit erregt. Es geht ja darum, daß der Schriftsteller Karl May hier im Roman so gewaltig gegen einen Menschen vorgeht, der widerrechtlich sein, Karl Mays eigenes Werk verkaufen will, und daß er verlangt, jene Hefte müßten ihm ausgeliefert werden und ganz verschwinden. Der Kenner der Biographie Karl Mays denkt dabei natürlicherweise, daß sich da in verfremdeter Form ein Stück Leben gespiegelt habe: nämlich der Kampf, den der Autor gegen die Witwe Münchmeyer und den Verleger Adalbert Fischer um die Rechte an seinen Kolportageromanen auszufechten hatte. Nun erschien »Weihnacht!« 1897 und jener Streit begann erst ernsthaft 1899. Das scheint die These von der Spiegelung zu widerlegen. Ich meine aber, daß, da Münchmeyer schon 1892 verstorben war, die Zukunftspläne seiner Witwe und entsprechende Verkaufsabsichten May doch wohl schon früher, also vor der Abfassung seines Weihnachts-Romans zur Kenntnis gekommen sein könnten. Das ließe sich vielleicht noch dokumentarisch verifizieren.19a

Ich füge zur Illustrierung hier nur noch eine Textstelle hinzu, die ihn,


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Karl May, in seiner Omnipotenz auch gegenüber der Justizgewalt, die ihm in seinem Leben so furchtbar mitgespielt hatte und ja auch noch weiterhin mitspielen würde, vorführt20:

   ›lch bin bekleidet mit der Staatsgewalt!« (sagt da der Richter zu ihm) . . . »Ich habe Euch also zu vernehmen und werde Euch arretieren wenn es mir beliebt!«

   »Das werdet Ihr nun freilich nicht!«

   »Wer will es mir verwehren?«

   »Ich!«

   Er trat einen Schritt zurück, unterwarf mich wieder einer höchst ironischen Betrachtung und antwortete lachend:

   »Ihr? Mir verwehren? Sagt mir doch einmal gütigst, wie Ihr das anfangen würdet!«

   »Soll ich es Euch nicht lieber zeigen?«

   »Well,« nickte er. »Bin sehr neugierig darauf; also zeigt es einmal!«

   Ich packte ihn sofort an der Brust und am Oberschenkel, hob ihn hoch empor, trug ihn nach dem offenen Fenster und sagte:

   »Hier hinaus würde ich Euch werfen, Sir! Da Ihr mir aber die Arretur bis jetzt noch nicht angekündigt habt, so werde ich Euch einstweilen wieder dahin setzen, wo ich Euch weggenommen habe. So, da steht Ihr wieder!«

   Ich hatte ihn wieder zurückgetragen und vor meinen Tisch gestellt.

   Wir wissen ja, meine sehr verehrten Zuhörer, welche alte Rechnung zwischen ihm und der juristischen Staatsgewalt hier wieder einmal im Wunschmotiv korrigiert, welcher Komplex hier abreagiert worden ist. Nur daß es eben nicht mehr ein fiktiver Old Shatterhand, sondern der leibhaftige Karl May gewesen sein soll, der diesmal einem Richter oder Polizisten gezeigt haben will, was Sache ist.

   Ach, und wir wissen auch, wie es zuging, als später Richter und Staatsanwaltschaft in sein Haus eindrangen, um gegen ihn wegen Meineides zu ermitteln: in welche Panik, welchen Nervenzusammenbruch ihn dieses Ereignis versetzte! Nein, er hatte ganz offensichtlich allen Sinn für die Realität verloren, als er seinen Weihnachtsroman schrieb, und auch jegliche Ahnung davon, in welchen Abgrund der Lächerlichkeit er sich damit stürzte. Oder vielmehr: Er  w u r d e  gestürzt. Hans Wollschläger hat die Situation Karl Mays kurz vor der Jahrhundertwende, um die es hier geht, die Hybris des vom Ruhm Berauschten, anschaulich beschrieben.21 »Ein solcher König kann nicht einfach mehr zurücktreten; . . . Karl May: wird gestürzt.«

   Und der Sturz ließ nicht lange mehr auf sich warten. Für den Weihnachts-Büchermarkt 1897 hatte er sein Buch geschrieben, und schon


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zur Weihnachtszeit desselben Jahres traf ihn das erste Verdikt: die ›Frankfurter Zeitung‹ hatte geschrieben, »daß Karl May auf den Index gehöre«.22 Das war das erste Grollen eines furchtbaren Ungewitters, das den fröhlichen Fiedler von seiner luftigen Höhe fegen würde. Die Frankfurter Zeitung gab den Anstoß, und es ist höchst beachtenswert und noch heute von Interesse, wo und wie ihn der achtbarste seiner journalistischen Kritiker, Fedor Mamroth, Feuilletonredakteur der ›Frankfurter Zeitung‹, angriff. Scharfsinnig und sicher traf er die Stelle, an der May verwundbar war, die Achillesferse. Er traf den Kern, wenn er in aller Sachlichkeit sein Plädoyer gegen May wie folgt zusammenfaßte: »Nochmals: wir anerkennen sein Talent; er ist ein Fabulist von Begabung und beherrscht die Technik der spannenden Erzählweise. Der ethnographische Untergrund speziell seiner afrikanischen und asiatischen Geschichten ist nicht ohne Reiz und nicht ohne Verdienst. Sogar die Ungeheuerlichkeit der aufgetischten Abenteuer . . . würden wir hinnehmen. Die Jugend liebt Abenteuer, und wie wir Älteren uns einstmals am seligen Lederstrumpf ergötzten, so wollen wir dem heranwachsenden Geschlecht von heute die Lust an ungewöhnlichen Begebenheiten nicht verkümmern. Die süßlich-frömmelnde Propaganda für den wahren Glauben ist uns widerwärtig . . . Das aber, was wir unter gar keinen Umständen schweigend ertragen können, das, was alle sonstigen Eigenschaften des Erzählers Karl May in unseren Augen total entwertet, - das ist der Kultus der Unwahrheit, der in diesen für die deutsche Jugend bestimmten Geschichten betrieben wird. Man verstehe wohl: Würde Karl May die Abenteuer, die er schildert, von Anderen erzählen, oder würde er selbst die Ich-Form, die er wählt, derart begründen, daß sich supponieren ließe, er erzählte bloß wieder, was ein anderer ihm erzählt hat, so könnte man sagen, er ist ein Autor von überreizter Phantasie, aber immerhin ein Autor von Phantasie. Indem er jedoch auch im bürgerlichen Leben die Fiktion festhält und bestärkt, er selber habe das, was er darstellt, erlebt und vollbracht, werden seine Phantasmen zu Unwahrheiten, werden seine Erzählungen unmoralisch im strengsten Sinne dieses vielmißbrauchten Wortes.«23

   Fedor Mamroth traf den Kern. Der Roman ›Weihnacht‹ ist das schlagendste Argument für das, was er hier ausgeführt hat. Es war der erste Schlag gegen Karl May, und nichts, was an unerhörten Pressehetzen gegen ihn das nächste Jahrzehnt ausfüllte, war so von der Sache her unwiderleglich wie diese Kritik Mamroths.

   Was da gekommen war, mußte kommen, und er selbst, Karl May, hatte es provoziert. Wir Heutigen, im Abstand fast eines Jahrhunderts, können dies alles mit Gelassenheit als eines der interessantesten Kapi-


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tel unserer Literaturgeschichte betrachten und analysieren, ja, sogar Lust am Schauspiel von Ereignissen empfinden, die für den Beteiligten schmerzvoller Kampf ums Überleben gewesen sind; vor allem auch deshalb, weil er diese fast vernichtenden Schläge dennoch zu überspielen gewußt hat, indem er sich, Aviatiker, der er immer sein wollte, ins Mystisch-Allegorisch-Symbolistische hinwegzuheben gewußt hat: ins sternenferne Exil von Ardistan und Dschinnistan.

   Damit komme ich zum Schloß meiner Betrachtungen. Aber ich will nicht schließen, ohne eine bemerkenswerte, gewissermaßen versöhnliche Begebenheit in Erinnerung zu rufen. Hansotto Hatzig hat verdienstvollerweise Fedor Mamroth in seinem Aufsatz ›Mamroth gegen May‹ ausführlicher gewürdigt. Mamroth starb schon vor May, im Jahre 1907, und zwar an einem qualvollen Krebsleiden, das ihn ein Jahr lang peinigte. Und da haben wir nun den Bericht seines Sohnes über die letzte schwere Zeit des Vaters. Der Lehrer Heinrich Zirm, der mit Mamroths Sohn zusammen Soldat gewesen war, hat Klara May darüber geschrieben: »Auf dem Exerzierplatz fragte ich ihn einmal während der Rast, warum sein Vater ein solch heftiger May-Gegner gewesen sei. Er gab mir die Gründe an, die ich - es war vor 8 Jahren - meist leider vergessen habe . . . und dann sagte er noch ungefähr: ›Gegen Karl Mays Schriften war ja eigentlich mein inzwischen verstorbener Vater nicht, und er selbst ­ er litt an einem Krebsleiden ­ las eifrig auf dem Sterbebett besonders die ersten May-Bände gern und äußerte sich oft, so eine leichte und angenehme Lektüre helfe ihm über viele qualvolle Stunden hinweg . . . !‹«24

Vergangene Zeiten, vergangenes Leid!



1 Gerhard Neumann, Das erschriebene Ich. In: Germanistik in Erlangen, hrsg. v. Dietmar Peschel = Erlanger Forschungen, Reihe A, Geisteswissenschaften Bd. 31, Erlangen 1983, 335-363

2 Marc Chagall, ›Der Tod‹ (Le mort), Privatbesitz; ferner: ›Der Fiedler‹ (Le violoniste) 1912/13, Stedelijk Museum Amsterdam, und öfter.

3 Den Terminus ›Motivreim‹ habe ich zuerst geprägt und in die theoretische Poetik eingefÜhrt in meiner Habilitationsschrift ›Eilhart und Gottfried - Studie über Motivreim und Aufbaustil‹, Halle 1941.

4 Karl May, »Weihnacht!«, Freiburg 1897, S. 1. Zitiert wird hier und bei allen folgenden Textwiedergaben nach dem Reprint der ›Freiburger Erstausgaben‹, hrsg. v. Roland Schmid, Bd. 24, Karl-May-Verlag Bamberg 1984, weiterhin zitiert mit dem Kürzel »W«.

5 W, 2f. - Im Zusammenhang mit der von May hier angezogenen Bibelstelle Hiob 19,24, die abermals bezeugt, wie vertraut er mit dieser Gestalt des Hiob und der von ihr repräsentierten religiösen Problematik (Mays Menschheitsfrage) gewesen ist, vgl. man meinen Aufsatz ›Hiob May‹, in: Jb-KMG 1985, 63-84.

6 W, 623

7 W, 622f.


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8 W, A1 - 23

9 W, 10f.

10 W, 51

11 W, 112

12 W, 616

13 Karl May, Mein Leben und Streben, Bd. 1, Freiburg 1910, 151 (hier zitiert nach der Reprintausgabe, hrsg. und kommentiert v. Hainer Plaul, Hildesheim-New York 1975. Gleichlautend: »Ich«, Bamberger Ausgabe Bd. 34, 186. Tsd., 169). Ausführlicher erklärt Karl May an dieser Stelle: Ich kann und will und darf kein kunstvollendeter Panl Heyse sein, sondern meine Aufgabe ist, aus hochgelegenen Marmor- und Alabasterbrüchen die Blöcke für spätere Kunstwerke zu brechen, deren Form ich höchstens andeuten kann, weil mir die Zeit zur Ausführung nicht zur Verfügung steht. - Man bemerkt: die Begründung mit der ihm fehlenden Zeit wird man natürlich vom Standpunkt der Poetik und Ästhetik nicht gelten lassen können. Umso mehr sagt sie aus über seine tatsächlich jahrelang ertragenen Lebensumstände als von Termin zu Termin gehetzter Vielschreiber ums tägliche Brot.

14 Der Volksschriftsteller Karl May, Beitrag zur literarischen Volkskunde, Reprint der Erstausgabe von 1936 mit einem Vorwort des Verfassers, Bamberg 1979, 105 - 115

15 W, 7

16 W, 20

17 W, 152

18 Karl May, Meine Beichte, in: »Ich«, Bamberger Ausgabe Bd. 34,186. Tsd., 18

19 W, 147- 149

19a Hartmut Vollmer hat den Verf. dankenswerterweise darauf aufmerksam gemacht, daß er in seinem Aufsatz ›»Weihnacht!« - ein »Erlösungswerk« Karl Mays‹ (M-KMG 1980 Nr. 46, S. 3 - 13) die bezüglich der Prayerman-Episode hier geäußerte Vermutung, sie spiegele bereits 1897 den Münchmeyer-Konflikt, in seinen Ausführungen S. 5/6 insofern bestätigt hat, als er darauf hinweist, der Verleger Pustet habe von der Kolportage-Vergangenheit seines Autors vermutlich schon 1897 gewußt und auf dessen Anfrage von May die Antwort erhalten (am 16. 7. 1897): Ich werde die Münchmeyer'sche Verlagshandlung gerichtlich belangen und Ihnen das Resultat mitteilen. Vollmer schreibt weiter dazu: »Einen Prozeß kann er sich 1897 nicht leisten, denn das hätte großes Aufsehen gefordert . . . Die Gefahr der Demaskierung, der Desillusionierung steht ihm unmittelbar bevor.«

20 W, 264f.

21 Hans Wollschläger, Karl May, Grundriß eines gebrochenen Lebens, Zürich 1976, 93

22 Jb-KMG 1974, 140

23 Ebd. 122f.

24 Ebd. 128f.




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