//389//

KLAUS LÜDERSSEN

Landschaften mit Moral
›Der Schatz im Silbersee‹ – eine erste Welt



Wenn der arme Joseph Haller über die Prärie marschiert und auf den betrügerischen Wunderdoktor trifft, so passiert das immer am gleichen Ort: rotsandige Wege, die, von verschiedenen Höhen kommend, in einem Tal zusammenlaufen, an dessen einem Saume eine in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts gebaute Jagdvilla steht, während nach der anderen Seite hin, etwa in der Mitte, ein kleinerer Bau aufgeführt ist, der dem Besitzer – einem Architekten seinerzeit – als Atelier mit allerlei zusätzlichen Werkräumen diente. Ich lese das nicht, sondern ich bin dabei, ein paar Schritte entfernt, auch ein wenig in den Lüften. In dieser Jagdvilla ist die Eisenbahnverwaltung von Sheridan, auf dem Dach liegt Old Firehand, um die Tramps zu belauschen, die am offenen Fenster Botschaften austauschen. Weiter hinten im Tal, schon am westlichen Ausläufer des M..., ist der Tunnel, in den die räuberischen Tramps später gelockt und dort gefangen genommen werden. Der Rote Cornel entkommt – wieder – und wird später auf einer Waldlichtung, die schon tief im Gebirge liegt, am Marterpfahl nachts ertastet, erkaltet, verstümmelt; er hat den Silbersee, das ist der Frau-Holle-Teich auf dem M..., nicht mehr erreicht, dessen Wassermassen über die Öffnung im unteren Teil des über den See sich erhebenden Turmes in einen Stollen stürzen und dort Hunderte von Utahs ertränken, ein Unglücksfall zwar, aber auch nicht ganz ohne Sinn für Gerechtigkeit. Das Forstamt in G. ist zu Butlers Farm ausgebaut, und die Maschinen des Steamers, auf dem alles anfängt, mit dem schwarzen Panther und – schon – dem Roten Cornel und seiner Bande, sowie Old Firehand, dem Schwarzen Tom, dem Großen und dem Kleinen Bären, Tante Droll und dem schwarzen Feuermann – stampfen in der Mitte der W., nicht weit entfernt von den Ufern, an denen die Rafters in den Wäldern hausen.

   Viel Literatur ist seitdem dazu gekommen, am Anger in G. ist die Woldensteinsche Bürgermeisterwohnung von Mathilde Möhring und Hugo Großmann, und Silbersteins haben ihr Geschäft schräg gegenüber zusammen mit dem Kaufmann Weißhaar aus G. Ein paar hundert Meter weiter in der alten, vor Jahrhunderten aufgegebenen Klosteranlage ist Stendhals Kartause von Parma untergebracht, und weiter oben die Wiese, über die Frederic und de Laurien zu dem Haus mit den Roten Ampeln gehen. Andere Plätze – andere Bücher, übereinander-


//390//

gehäuft, dicht beieinander, auch durcheinander. Ich weiß das jetzt und wußte es natürlich auch damals, vor bald sechzig Jahren, als ich den ›Schatz im Silbersee‹ auf dem Weihnachtstisch fand, mein erstes größeres Buch – bis dahin hatte es nur die schmalen Bände aus dem Franz-Schneider-Verlag gegeben mit Ausflügen Münchner Knaben zu einem Bauern an den Tegernsee oder dem Referendar Spitz, der entsprungene Aale einzufangen vorgibt, in Wahrheit sie aber auf dem Markt gekauft und damit einen häuslichen Skandal verhindert hat – aber die Suggestion der ersten Plätze bleibt, auch wenn es ein paar mehr geworden sind mit den Jahren, und sie sind in erster Linie besetzt mit den Osagen, dem Humply-Bill und dem Gunstick-Uncle, der Old-Shatterhand-Gruppe, diesmal bestehend aus Hobble-Frank, dem Langen Davy und dem Dicken Jemmy, die es mit dem Großen Wolf der Utahs zu tun bekommen und an dem See, der für mich später dann auch der Silbersee ist, und um ihn herum die unfairen Wettkämpfe bestehen müssen, die ihnen die Utahs aufzwingen. Landschaften mit Moral, denn das ist es, was in ihnen vor sich geht, und es sind meine Landschaften, in ihnen wird abgewogen, ohne Ende, mit ungelösten Resten, die in neuen Abwägungen mitverwaltet werden.


I

Der Große Bär tritt mit seiner Rache hinter der älteren und massiveren des Missouri-Blenters zurück, will sich aber die Ohren des Cornel nehmen. Old Firehand hält ihn davon zunächst ab. Als aber der Diebstahl aufkommt – die neuntausend Dollar des Ingenieurs Butler im Griff des Messers – wird er ganz gelassen und sagt: »Der Große Bär mag thun, was ihm beliebt«.(1) Undenkbar, daß Old Shatterhand so entschieden haben würde. Er hätte auf Versöhnung und Verzeihung gedrungen oder, wenn das nicht durchsetzbar gewesen wäre, auf resignierenden Verzicht, vielleicht sogar unter Inkaufnahme starken Grolls und feindseliger Verbitterung. Jedenfalls wäre viel länger verhandelt worden. Old Firehand genügt das Gesetz der Savanne, obwohl – wegen der Abwesenheit des Bestohlenen (was für eine merkwürdige, ganz ernsthaft in das jugendliche Gemüt sinkende Einschränkung) – eine sofortige Verurteilung wegen Diebstahls nicht in Betracht kam. Old Shatterhand hätte wesentlich mehr ›Theorie‹ aufgeboten. Freilich, als Kara Ben Nemsi gestattet er Omar den Zweikampf mit Hamd el Amasat, der mit dessen Blendung endet(2) – an Stelle der Tötung – aber was folgt dem an Erörterung und wie unglücklich ist er danach, während Old Firehand die Gruppe fröhlich zur Teilnahme an seiner Bergbauunternehmung am Silbersee auffordert.

   Diese Unterschiede waren wichtig für den achtjährigen Leser. Ist das selbstverständlich? Wenn ich mit anderen Lesern darüber spreche, ha-


//391//

be ich nicht diesen Eindruck. Woran hat es also gelegen? Ich glaube, es hat gerade mit dem zu tun, was Karl May immer wieder vorgeworfen wird: seine Sprache ist seltsam. Die kleinbürgerlich-kurialen Wendungen, die in fast allen Unterhaltungen der Westmänner auftauchen und erst beim Wiederlesen – nach vielen Jahren – sich in einem grotesken Mißverhältnis zu Personen und Situationen bewegen, schmiegen sich ins Gemüt, etwa dort, wo es um ganz praktische Entscheidungen geht. Die Risiken des Messerdiebstahls auf dem Schiff werden erörtert. Es geht darum, wie man schnell wegkommt. Der Plan des Cornels ist, sicherzustellen, daß das Schiff nah ans Ufer kommt. Und dann heißt es: »So meinst du, daß wir uns eines der beiden Boote bemächtigen?« »Auch das nicht. Unmöglich wäre es zwar nicht, dies zu thun, ohne daß es gesehen wird, aber ich will lieber mit Umständen rechnen, welche mir bekannt sind, als mit solchen, die ganz unerwartet eintreten und die Ausführung meines Plans unmöglich machen können.«(3) Zwei Tramps sprechen niemals so. Ein mir befreundeter, sehr kluger und gebildeter Rechtsanwalt sagte mir einmal, er habe nie Karl May gelesen, nachdem ihm sein Vater, ebenfalls sehr gebildet, ein paar Sätze vorgelesen habe. Ich denke, es sind Sätze von dieser Art gewesen. In der Tat, völlig unmöglich. Das ist eindeutig das reifere Urteil. Aber ich erinnere mich noch, wie ich diese oder ähnliche Sätze damals las, sie schoben mit ihrer absurden Abstraktheit den eigentlich langweiligen Vorgang des Diebstahls auf eine Ebene, die der fehlenden Phantasie ein argumentatives Gerüst gab, das seinerseits wieder zu einer an anschaulichen Einzelheiten reichen Subsumtion einlud. Ich konnte nicht mit Holzeisenbahnen oder jenen, wie in glänzendes Marzipan gegossenen, unbeweglichen Tieren spielen, die uns Stück für Stück mitgebracht wurden; morgens am Bett fanden wir sie vor. Aber ich konnte mit diesen Sätzen etwas anfangen.

   Vielleicht geht diese Erklärung zu weit, vielleicht habe ich nur naiv genossen, was jetzt so sehr der Analyse bedürftig erscheint: dieser groteske Gegensatz zwischen Realität und Sprache. Ist es – damals und jetzt – schlechter Geschmack, wenn man angesichts der Frage, ob es zweckmäßig ist, zu fliehen, sich freut zu hören, wie Winnetou von einem Fluchtweg sagt: »Er ist nicht ungefährlich; aber wenn es gilt, zwischen ihm und dem Tode zu wählen, so kann die Wahl doch wohl nicht zweifelhaft sein«(4)? Die studienrätlichen Umständlichkeiten der Praxis. Der rührende Versuch des armen Karl May, in seiner erdachten Welt anzubringen, was im bürgerlichen Leben niemand von ihm hören wollte, denke ich jetzt. Aber als ich es, ohne irgend etwas von seinem problematischem Leben zu wissen, las, hatte es einen unwiderstehlichen Reiz. Das Exotische im Biederen – nicht im Vertrauten, denn so wie Karl May schreibt, sprach natürlich niemand. Das Biedere beruhigte, so wie das auf die eigene Bequemlichkeit achtende Spießige das Chaos und die Angst vor einer ständig drohenden Katastrophe des Alltags bannt.


//392//

   Manchmal glaube ich freilich, die unbeabsichtigte Selbstironie hat den Ausschlag gegeben, so wie bei James Bond, dem Film ›High Noon‹ oder den Comedian Harmonists. Parodie würde hier alles verderben. Die Handelnden müssen es glauben und ernst nehmen, was sie tun; allenfalls darf man James Bond einen kleinen privaten Sarkasmus erlauben (aber so, daß man erkennt, daß er das nur für sich ganz allein tut), und Leschnikow, der hohe Tenor der Comedian Harmonists, darf ein wenig übertreiben. Sentimental bleiben müssen beide. Ironische Distanzierung ist dem Betrachter oder Zuhörer vorbehalten. Bei Karl May ist diese vom Leser entlarvte Unschuld vollkommen.

   Ist das die Verfremdung im impliziten Leser und bietet Karl May dem jugendlichen Leser die frühe Chance für diese avancierte Attitüde? Nichts dergleichen hätte mir damals in den Sinn kommen können, und heute bin ich eigentlich weitab von jeder Erklärung, wenn ich lese, nein höre, »Der Osage war im Vorrüberreiten hier ...«,(5) die Leute auf Butlers Farm also schon vor Eintreffen Old Firehands nach dem Parforce-Ritt – was für ein wunderbarer Ausdruck – gewarnt waren. Die amerikanischen Siedler mit den Indianern gegen die Tramps, unterstützt durch die sich frei bewegenden Westmänner, die gerade zur Hand sind. Zwei Dutzend vielleicht, wenn man die anderen Bücher dazu nimmt, sind es insgesamt, untereinander vertraut und mit dem Leser intim durch das Band der Tugenden des Westmanns zusammengehalten, und doch gibt es feine Rangabstufungen – »Als Fallensteller besitzt er sogar einen ganz außerordentlichen Ruf«(6), das ist auf die Tante Droll gemünzt und gilt für den Humply-Bill keineswegs, auch wenn dessen Umsicht und Scharfsinn natürlich im übrigen überhaupt nicht zweifelhaft sind und er als Freund der Guten Sonne darüber wohlinformiert ist, daß die Cheyenne und Arapahoes das Kriegsbeil seit langem nicht ausgegraben haben. Das sind Indianerstämme, die »herabgekommen« und nur begrenzt einsatzfähig sind, die aber auch zu der großen Familie gehören, an deren Spitze Old Shatterhand und Winnetou stehen, unorganisiert und über das ganze Land verstreut – Tausende von Kilometern sind es von Arkansas bis Frisco – jahrelang sehen sie sich nicht, denken aber aneinander, spekulieren über ihre Schicksale.

   Man tritt ein, als Leser, nimmt staunend zur Kenntnis, daß es eine Dame des Hauses,(7) Frau Butler, gibt, später auch Mrs. Butler genannt, die Old Firehand allein empfängt, während die Gruppe um Tante Droll, den Schwarzen Tom, Humply-Bill und Gunstick-Uncle und auch der dazugekommene Lord Castlepool nicht zugelassen ist, ihrerseits aber wiederum abgesondert Platz nimmt von den zwanzig Rafters. Die Vorbereitungen zur Verteidigung werden getroffen, Kundschafter ausgesandt. Während die anderen schlafen, hat Old Firehand schon diverse ›Befehle‹ erteilt. Aber dann: Später saß Old Firehand mit Frau Butler auf der Plattform des Hauses ...;(8) (welche Ruhe ging für mich davon aus).


//393//

Die anderen haben ihre Scherze miteinander; endloses Palaver über den sächsischen Dialekt von Tante Droll, Kraftmeiereien: Er ... ergriff den Lord bei den Achseln. Dieser flog so schnell, daß er gar nicht bemerken konnte, in welcher Weise es geschah, empor, hoch über den Tisch hinauf, und hing einen Augenblick später mit dem bereits erwähnten Hüftriemen an dem Haken. Droll aber sprang herab und fragte lachend ...(9) d i e s e Sachen haben mir schon damals nicht gefallen, und ich überblättere sie jetzt. Auch die nicht endenden Verächtlichkeits-Zeremonien, die Old Firehand mit den Tramps abhält – sie wollen ihn wegen der Gefangenen, die sie inzwischen gemacht haben, erpressen. Allerdings wird alles aufgewogen durch jenes überwältigende »Pshaw«, das, wenn es nur die Einleitung ist zu einer beiläufigen Wissensmitteilung, die ein kurzfristig entstandenes Problem erledigt, unbedingt zur Nachahmung reizt. Eigenartigerweise gibt es eine kleine Durststrecke im Roman. Sie beginnt im Grunde schon mit dem Verlassen des Schiffs und endet erst bei der Ankunft auf Butlers Farm, so wichtig für den Fortgang der Handlung dieses Zwischenstück ist. Unter dieser Devise hat es seine Funktion; man trauert der wunderbaren Atmosphäre auf dem Schiff nach und freut sich schon auf Butlers Farm und nachher auf den Eagle-tail, sieht ein, daß es da irgendeine, keineswegs ja spannungslose Überbrückung geben muß. Ich denke mir den Eagle-tail – und gar erst den Silbersee – ganz weit weg, fast schon bis nahe an das sagenhafte Frisco heran; aber so, wie alle diese Entfernungen in den Freundschaften der nach und nach auftretenden Personen verschwinden, bleiben eben auch die Schauplätze zusammen; ich muß ja nur um die Kurve des nächsten Weges gehen, um das Gebäude der Eisenbahnverwaltung vor mir zu haben. In die beiden rechtwinklig zueinander verlaufenden roten Wege ist die Prärie eingelassen, mit kleinen Waldstückchen, in deren eines Hartley, von den Tramps verwundet, sich geflüchtet hat und von Winnetou, der inzwischen den Mord an Haller und das, was ihm vorausgegangen ist, aus den Fährten rekonstruiert hat, aufgespürt wird.

   Wie immer ist der Nennung seines Namens die Beschreibung der Person vorausgegangen. Es ist die erste Beschreibung Winnetous, die ich lese; das Prinzip dieser Reihenfolge bleibt und ermüdet nie. Hier ist er zunächst der kundige Samariter und bleibt es auch, nachdem er schnell herausgefunden hat, welche dubiose Rolle Hartley gespielt hat. »... mein Auge kann nicht in dein Inneres dringen. Könnte es das, so würdest du dich vielleicht vor mir schämen müssen; ich will schweigen ...«(10) Welch ein Abstand zu den wackeren Osagen, die eigentlich kaum an Sympathie verlieren, wenn man erfährt, daß sie sich – mit völlig gleichmütiger Billigung Old Firehands (»Und was geschieht mit den verwundeten Tramps und den ledig herumlaufenden Pferden?« »Wir müssen sie den Indianern überlassen.«(11)) über die verwundeten Tramps hermachen werden – und man weiß durchaus schon, was das bedeutet. Mit dem


//394//

Auftreten Winnetous beginnt die Ära eines höherstufigen und sehr viel feiner gesponnenen Systems der Abwägungen. Old Firehand, über der Gruppe der vier, fünf ihm attachierten Westmänner agierend und natürlich turmhoch über den Rafters, wird jetzt bald zum zweiten Mann, verkörpert im Vergleich zu der sublimen Tönung Winnetous eher das Zuverlässig-Handwerkliche. Später, wenn Old Shatterhand dazukommt, verändert sich die Hierarchie noch einmal; Old Firehand sinkt zu einer Art Zwischenmeister herab, vermittelt zwischen den Spitzenkräften Winnetou und Old Shatterhand einerseits und jenen – sehr guten – Westmännern andererseits. Am Silbersee schließlich geht er mit diesen eine leicht resignative Verbindung ein – zusammen hängen sie doch alle am Geld, hier an der Förderung der Minen, während Old Shatterhand und Winnetou zweckfrei entschweben.

   Was Old Firehand strategisch bei der Verteidigung von Butlers Farm leistet, ist großartig, entbehrt jedoch der Kunst, auch wenn es zunächst noch im Leinenanzug geschieht, so daß einige nach wie vor nicht begreifen, wen sie vor sich haben, ehe er in seinen Jagdkleidern auftaucht ... eine Weste von weichem, weißgegerbtem Rehleder, eine kurze hirschlederne Jagdjacke und darüber einen starken Rock von Büffelbauch ...(12) Das ist umwerfend, und doch war und bin ich enttäuscht über das Verschwinden des Leinenanzuges; aber vielleicht bezieht er seine Interessantheit nur aus der geheimnisvollen Erwartung des ganz anderen Anzuges, der von Ferne angekündigt wird.


II

Also: die Gemütlichkeit, jenes lockere »Mesch'schurs ...« und auch beschaulich-skurrile Sätze ... weil dies diejenige Art und Weise war, bei welcher man sich nicht den Kugeln der Feinde bloßzugeben brauchte(13) – damit ist es jetzt vorbei, der Text wird dichter, strenger, und auch die Schlußfolgerungen sind es, die Winnetou im Gespräch mit Hartley auf den Plan der Tramps bringen, das bei Haller gefundene Empfehlungsschreiben betrügerisch zu verwenden. Dabei ist es keineswegs so, daß nunmehr alles auf Winnetou zuläuft. In dem Kapitel ›Bei den Utahindianern‹ tritt gleichberechtigt Old Shatterhand auf, und ab dem Kapitel ›Eine Indianerschlacht‹ muß Winnetou sich mit ihm die höchste Autorität teilen. Hier sind sie ganz au pair; das kleine Surplus, das Old Shatterhand vom Autor zugestanden wird, kann man allenfalls zwischen den Zeilen registrieren (erst nachdem ich gelesen hatte, wie Winnetou einen Fliehenden, über dessen Schicksal noch nicht endgültig entschieden war, plötzlich von hinten erschießt und Old Shatterhand, zunächst betroffen und dann ins Nachdenken versunken, schmerzlich


//395//

doch gewisse Grenzen der Übereinstimmung registriert – »Ich wollte dem Urteil widersprechen, das mir zu hart erschien«(14), hatte er gegen das Votum der anderen, auch Winnetous, das auf Tod lautete, kurz zuvor gesagt –, verlor sich diese Wahrnehmung nicht mehr).

   Aber der Abstand ist ganz klein – am Ende; die Begründungsstrukturen allerdings sind sehr unterschiedlich. Was bei Winnetou subtile, nach den Sachverhalten sorgfältig differenzierende Intuition ist, beginnt bei Old Shatterhand mit umfassenden Überlegungen, manchmal durchaus zögernd, das moralisch Richtige und strategisch Zweckmäßige wird nicht immer sofort fixiert, während Winnetou jeweils gleich alles weiß. Kurz, das Zusammenspiel der beiden kompliziert die Entscheidungsprozesse und nimmt den Ergebnissen auch die vollkommene Eindeutigkeit. Die äußeren und inneren Auseinandersetzungen mit dem Großen Wolf, dem Utah-Häuptling, offenbaren das nach mehreren Seiten hin. Das Schlechte ist nicht perfekt sozusagen, und mit kleiner Münze wird man darauf vorbereitet durch den ›Yankee‹ Hartley, sieht die Ambivalenz der Situation, mit einem scharfen Akzent gleichsam zu Lasten Hartleys. Aber Winnetou weiß gar nicht, daß Hartley vorher eine Kalkulation angestellt hat, die im Strafrecht zu dem Ensemble der gelegentlich als Lehrbuchkriminalität belächelten Beispiele gehört: von zwei Bergsteigern ist einer unrettbar verloren; der andere kann nur mit ihm in die Tiefe sinken oder sich noch von ihm befreien. Indem er das tut, greift er dann doch handelnd in das Schicksal des eigentlich schon Verlorenen ein. Hartley vermutet, daß sie beide, Haller und er, getötet werden; wenn die zurückkehrenden Tramps sie finden, kann er Haller also gar nicht retten, meint er, wohl aber sich selbst, denn die Tramps werden nach ihm nicht mehr suchen, wenn sie Haller erwischen. Ganz wohl ist ihm dabei – zu Recht – nicht, und am Grabe Hallers – er ist beiläufig der erste der vielen Toten, die es im Laufe der Geschichte schon gibt, der begraben wird – spricht er auf Anregung Winnetous – ein Gebet.

   Das sind freilich nur leichte Irritationen in einem Schema insgesamt doch klarer Rollenverteilungen. Die von Winnetou ersonnene Aktion verläuft reibungslos. Die betrügerischen Tramps werden in Old Firehands Verhören kunstgerecht entlarvt und der Zug, den die große Menge der anderen Tramps schließlich besteigt, hält im Tunnel wie geplant an. Feuer von allen Seiten, Rauch und Verdammnis, und dann die – in einem doppelten Sinne – befreiende Tat Old Firehands. Er gibt dem wackeren Vorarbeiter, der sich darüber freut, wie die verzweifelten Eingeschlossenen einander selbst vernichten, zu bedenken: »Ja ... Aber sie sind Menschen ...«,(15) und leitet die zivile Gefangennahme ein. Stunden davor hat es übrigens wieder diese ganz gelösten, mit vielen Dialekteinschüben und langweilender Komik vermischten Erzählrunden gegeben; das Mysterium des Silbersees wird durch eine neue Gestalt,


//396//

Watson, der die Geschichte mit der verschwundenen Zeichnung über die Lage des Schatzes erzählt, so weit aufklärt, daß die Tante Droll nunmehr auch ihr Geheimnis lüften kann und sich als der Detektiv offenbart, der mit der Suche nach dem Mörder – es ist kein anderer natürlich als der Rote Cornel – jenes Mannes beauftragt ist, dem die Zeichnung seinerzeit von dem uralten Indianer anvertraut worden war. Auf der untersten Ebene also Mord und Geldgier, auf der mittleren Gerechtigkeit und Rache, die in erbarmungslose Selbstjustiz mündet und Schadenfreude, und auf der höheren zwar kein Verzeihen, aber Etablierung von Mindeststandards auch für die Schlimmsten, ordnende Verfahren.

   Ist damit die Endstufe der kindlichen Moralentwicklung etabliert? Sie ist komplizierter, als es die Kohlbergschen Schemata suggerieren. Das lehrt der Fortgang der Geschichte, die uns nun durch Schlangenhöhlen nicht endender, mit hinzukommenden Prämissen immer spannender und quälender zugleich werdender Abwägungen führt. Kann sein, daß das Wechselbad von Vertrauen und Mißtrauen, das Kara Ben Nemsi hinter sich bringen muß, ehe er endlich von der Schurkenhaftigkeit des Abd Asl überzeugt ist,(16) oder die durch gemeinsames halbes Comanchentum, aber unterschiedliches Aufwachsen geprägten Charaktere von Old Surehand und Apanatschka(17) ebenso viel angestrengte Nachdenklichkeit produziert haben, wie das, was Old Shatterhand mit dem Großen Wolf der Utahs erlebt – es ist doch der erste Auftritt, der für ein ganzes Leseleben entscheidet und alle späteren Erinnerungen dominiert.


III

Da, wo jenseits des Cumison River sich die Elk Mountains erheben, ritten vier Männer über ein Hochplateau ...(18) Warum sie da ritten, habe ich mich, als ich diesen Satz zum ersten Mal las, und auch später nicht gefragt. Aber der ältere Leser will es auf einmal wissen, lebt nicht mehr in der schlafwandlerischen Teleologik der Savanne, ist hochgradig irritiert, wenn es heißt: »Aber wo wollt ihr dann weiter hin?« »Das ist noch unbestimmt. Vielleicht nach dem Greenriver hinüber, um nach Bibern zu suchen«.(19) Oder: »Winnetou befand sich auf einem Ritte nach Norden. Er hatte keine Zeit, sich wochenlang mit mir zu befassen«.(20) Ein merkwürdiger Wunsch nach – wenigstens nachträglich fixierbarer – Geordnetheit und Sinnhaftigkeit des Daseins scheint mir in diesen Sätzen zum Ausdruck zu kommen. Das Leben i s t völlig ungeordnet, aber s o l l eine Struktur haben; man könnte eine Sammlung solcher Fiktionen allein aus dem ›Schatz im Silbersee‹ zusammenstellen. Im motivlosen Leben des Kindes befriedigen solche Sätze vollkommen, erzeugen darüber hinaus Respekt vor so viel Weitsicht und höherer Ordnung, und es hat wirklich lange gedauert, bis sie mir nicht mehr genügt haben. Damals


//397//

fast zuviel, später zu wenig, so hat man auch an diesem farbigen Abglanze das eigene Leben.

   Die Reiter werden, wie üblich, genau beschrieben. Diesmal ist die Amplitude der Phänomene, die gleichermaßen ästhethische und soziale Anerkennung erheischen, besonders groß. Old Shatterhand – schlechthin vollkommen in Erscheinung und Ausstattung – edel, abgemessen, erhaben, auch im scheinbar Unscheinbaren, immer wieder die Assoziation seiner zu den hervorragenden körperlichen Fähigkeiten nicht ganz passenden, nur eben über das Mittelmaß hinausgehenden Körpergröße – es gibt mehrere Stellen in diesem Roman und auch in anderen, in denen das ein Thema ist. Aber gerade diese mittlere, keineswegs ins Groteske gehende Diskrepanz ist die Pointe. Und nun die anderen: der Hobble-Frank in seinem blauen Frack mit gelben Knöpfen, der Lange Davy in dem zerschlissenen Büffelfellhemd mit zu kurzen Hosen, der Dicke Jemmy in dem Pelz ohne Haare, von den Kopfbedeckungen ganz zu schweigen – komisch, listig, gutmütig oder verschlafen-träge, aber natürlich immer auf der Hut und genauso wie die anderen Westmänner der ›upper middle class‹ auf dem Niveau des gehobenen Scharfsinns und jener unbefangenen Gerechtigkeitsstufe, noch ungetrübt durch die Konzessionen, welche sich nur die äußerste Aristokratie ihres Genres leistet: teils direkt christlich, teils aber auch – in ihrer Begründung zurückgenommen – weltläufig, unaufwendig. Der Snobismus der Schäbigkeit und auch des Lächerlichen zusammen – aber eben nicht in denselben Figuren –, mit den höchsten Kompetenzen und Prinzipien, breitgestreut – ist das nicht zuviel für den Großen Wolf in seiner schwierigen Lage? Die Tramps haben seine Leute überfallen, diese habe sich einerseits wehren können, andererseits mit wenig oder gar keinem Erfolg um die Hilfe der herrschenden Weißen, zentriert in einem militärischen Fort, nachgesucht. Also werden jetzt nicht nur die Täter verfolgt, sondern jeder Weiße, fällt er in die Hände der Utahs, muß sterben. Das ist ein Schwur, mit dem sich der Große Wolf aber schwertut, als er – prima vista (später weiß man es besser) ein kluger und gerechter Krieger – auf die Logik Old Shatterhands trifft, welche die Relevanz des Schwurs pragmatisch mindern, die Lösung des Problems auf den Ausgangskonflikt zurückführen möchte.

   Die schnell aufeinanderfolgenden Vorgänge sind analytisch nicht leicht auseinanderzuhalten. Die Begrifflichkeiten des älter gewordenen, zumal juristischen Lesers könnten hilfreich sein. Intensiver ist die Erinnerung, daß gerade die Unwägbarkeiten der ebenso kommunikationsstrategisch geführten wie moralische Regeln erst vorweisenden und dann wieder auch relativierenden Gespräche damals so stark gewirkt haben. Selbstsorgende Vorsicht und ad hoc arrondierte normative Standards ergeben jene Klugheit, nach der dann alles verläuft. Sie ist durch das Zusammentreffen sehr verschiedener Traditionen gekenn-


//398//

zeichnet. Der Große Wolf würde nichts dabei finden, im Gegenteil stolz darauf sein, nur Old Shatterhand schwören zu lassen und sich selbst dann aus der Verpflichtung ganz heraushalten. Old Shatterhand durchschaut diese Absicht – mit der Überlegenheit dessen, der es auf so etwas nicht ankommen läßt, aber doch verständnisbereit, nicht nur, weil das zweckmäßig ist.

   So entsteht allmählich das Bild des Großen Wolfs, er ist weit entfernt von dem Edelmut Winnetous und der wackeren Anständigkeit der Guten Sonne, des Osagen-Häuptlings, aber auch keineswegs so eindeutig verschlagen und undurchdringlich böse wie Tangua, den Old Shatterhand in ›Winnetou I‹ schon durch beide Kniee schießt und Jahrzehnte später in ›Winnetou IV‹ noch einmal sieht, lahm und verlassen, in trostloser Bosheit.

   Gut und Böse, die Worte für das, was man nicht versteht, sind übrigens keineswegs die letzten Auskünfte bei Karl May, wie man gerade am Schicksal Tanguas erkennen kann. Dieser ist ganz und gar gefangen in der Vorstellung, daß der Rote Mann angesichts des Unrechts, das die Weißen ihm angetan haben, zu allem und jedem berechtigt sei, und sein Haß ist ebenso grenzenlos wie das Parallelogramm der Kräfte, das ihn hervorgebracht hat. Auch der Große Wolf steht in dieser Tradition, überläßt sich ihr jedoch nicht blind, sondern benutzt sie zur Entfaltung einer raffinierten terroristischen Strategie, für die Old Shatterhand nicht ganz unempfänglich ist. Er hat schon vorher bei der Auseinandersetzung mit den Soldaten deutlich gemacht, wie sehr er die Indianer verstehen kann, die »sich bis zum Aeußersten getrieben fühlen«(21) müssen wegen der ›Rechtsverweigerung‹ und jener zusätzlichen besonderen Niederträchtigkeit, die darin besteht, daß die Navajos – mit der Aussicht auf die Beute – von den Weißen auf die Utahs gehetzt werden. Eine reich begabte Nation müsse zu Grunde gehen, »weil man ihr keine Zeit« lasse, »sich nach den Gesetzen menschlicher Kultur natürlich zu entwickeln«, sondern von ihr verlange, »sich nur so im Handumdrehen aus einem Jägervolke in eine moderne Staatsgemeinschaft zu verwandeln«.(22) Und dann sagt er: »Mit ganz demselben Rechte kann man einen Schulknaben umbringen, weil er noch nicht das Geschick und die Kenntnisse besitzt, General oder Professor der Astronomie zu sein. Good b'ye, Sir!«(23)

   Wer so redet – übrigens knapp und klar, die bürokratische Sprache scheint Karl May anderen Figuren zu überlassen – hat es nicht leicht mit dem folgenden Argument des Großen Wolf: »Wenn die ungerechten Bleichgesichter, welche unsre Klagen nicht berücksichtigen, erfahren, daß sie durch ihr Verhalten den Tod vieler Gerechter, sogar Old Shatterhands verschuldet haben, so werden sie sich dies zur Lehre dienen lassen und in Zukunft klüger und einsichtsvoller handeln.«(24) Im modernen, sozialrevolutionär motivierten Terrorismus ist es interessanterweise nur relativ selten zu dieser Zuspitzung gekommen, zu dieser Umkehrung der Solida-


//399//

ritätslogik; die Regel ist vielmehr, daß bei der Tötung der nicht direkt der Unterdrückung beschuldigten Personen doch eher auf das Kalkül einer allgemeinen Antipathie gesetzt wird; daß es gerade besonders effektvoll sein könnte, die Freunde der Unterdrückten umzubringen, ist doch zu fein gesponnen. Nicht jedoch für Old Shatterhand: Das klang gefährlich. Der Indianer sprach im vollsten Ernste und die Folgerung, welche er zog, war gar nicht unlogisch entstanden.(25) Er tut daher das, was alle Juristen tun, wenn ihnen eine Folgenkalkulation vorgehalten wird. Sie übertrumpfen den Gegner mit einer noch weitergehenden Folgenkalkulation: »... Tausende von Bleichgesichtern werden sich gegen euch aufmachen, um unsern Tod zu rächen. Diese Rache wird um so strenger sein, als wir stets die Freunde der roten Männer waren.«(26) Das ist das Ende der Fahnenstange, und nun muß man sich entscheiden. Der Große Wolf geht deshalb auch auf die Erwiderung Old Shatterhands nicht mehr ein, sondern arbeitet sich von Situation zu Situation. Es kommt zu jener Vereinbarung, daß die vier Weißen mit den Utahs in das Lager reiten und sich dem Ergebnis der Beratung unterwerfen. Sie haben ihre Pferde und Waffen behalten, indessen versprochen, wenn der Spruch gegen sie ausgeht, keine ›Gegenwehr‹ zu üben. Dieser Begriff wird zum Angelpunkt von Abgrenzungen, die beispielsweise Flucht nicht unter das vereinbarte Verbot fallen lassen und deshalb eine durch die Flucht bedingte Abwehr von Verfolgern einschließlich ihrer Tötung ebenfalls erlauben. Die Gratwanderungen der Interpretation setzen sich fort in der kleinen Mogelei Old Shatterhands mit dem Grashalm. Sie verschafft dem Langen Davy, der dem ihm gegenübergestellten Roten Fisch an Schwimmkünsten weit unterlegen ist, jene Seite des Sees für seinen Schwimmpart zu wählen, die ihn in den Genuß der Strömung gelangen läßt. Old Shatterhand rechtfertigt das mit der Bemerkung: »Es war eine kleine Künstelei, die aber kein Betrug zu nennen ist, da es die Rettung deines Lebens galt, ohne daß die Roten einen Schaden davon haben.«(27)

   Diese von der Vereinbarung eigentlich nicht mehr gedeckte angestrengte Konstruktion wäre natürlich überflüssig, wenn man sich von vornherein auf den Standpunkt stellen könnte, in einer solchen Situation zu jedem Mittel greifen zu dürfen. Ich weiß nicht, ob ich schon damals das Spiel im Rahmen eines abgenötigten Versprechens, das Äußerste für sich selbst herauszuholen, von der Entscheidung für das blanke Überleben getrennt habe. Ich glaube allerdings, daß mir der Unterschied bewußt war. Aber anders als heute hätte ich wohl eher die Neigung gehabt, das Versprechen ernst zu nehmen. Ob das wirklich nur ein künstlicher, der wahren Sachlage doch gar nicht entsprechender Standpunkt gewesen sein würde – will man als Erwachsener das wirklich mit Sicherheit behaupten?

   Gleichviel, diese Kriegslisten setzen sich dann fort zunächst im Kampf des Großen Fußes mit dem Dicken Jemmy. Dieser will das Las-


//400//

so vorzeitig öffnen, das ihn an seinen Gegner bindet. Da passiert es nun, daß jener selbst eine unzulässige Manipulation vornimmt, was in der Schlußdiskussion von Old Shatterhand und dem Dicken Jemmy natürlich sofort benutzt wird, um den eigenen Plan, auf dessen Ausführung es gar nicht mehr ankam, zu verschleiern. Im Kampf zwischen dem Springenden Hirsch und Hobble-Frank schließlich ist das Interessante, daß dieser seine im Grunde ja ebenfalls auf Täuschung angelegte Strategie, nämlich den Springenden Hirsch in die falsche Richtung zu dirigieren, nicht verbirgt, sondern durch Sprache und Interpretation von ihr ablenkt; der Zuruf »Intsch ovomb ... – nach jener Fichte ...«(28) wird vom Hobble- Frank nachträglich nicht so präsentiert, wie der Springende Hirsch sie verstehen sollte, sondern als Mitteilung über die eigene Richtung, die zu erfragen der Springende Hirsch durchaus Veranlassung hatte; der Rest ist eine Reihe kleinerer, rhetorischer Tricks, welche die Position des Hobble-Frank endgültig festigen. Der Große Wolf operiert seinerseits ebenfalls am Detail, aber die Überzeugungskraft, auf die er setzt, hat eine andere Grundlage. Er hält es für in Ordnung, daß die Bedingungen ausschließlich den Wünschen der Utahs entsprechen. Seine Meinung ist, daß sie das Recht haben, Vorteile zu verlangen, weil sie – ohnehin – schon im Vorteil sind. Eine fremde Welt. Old Shatterhand macht nicht den Versuch, sie in Frage zu stellen, sondern greift das Argument des Großen Wolfs mit einer beiden gemeinsamen Prämisse an, indem er sagt: »Wenn ein schlechter Läufer mit einem bessern um die Wette läuft, so pflegt er eine Vorgabe zu begehren. Indem du uns in das [!] Nachteil versetzest, gibst du mir das Recht zu der Ansicht, daß du uns für bessere Krieger hältst, als ihr seid. Und das würde ich als Häuptling der Utahs nicht thun.«(29) Das Argument sitzt. Der Große Wolf blickte eine ganze Weile vor sich nieder. Er konnte dem Jäger nicht unrecht geben, mußte sich aber hüten, ihm beizupflichten ...(30) Old Shatterhand erreicht also zwar keine Änderung der Bedingungen, bleibt aber moralisch im Recht, nicht weil er seine Moral gegen die des Großen Wolfs setzt, sondern weil er die Implikate der gegnerischen Moral bloßlegt. Es gehört durchaus zur Abwicklung der einander gegenüberstehenden Konzeptionen, daß der Große Wolf sich von einem Einwand auch dann nicht bestimmen läßt, wenn er ihn für sich genommen akzeptiert. Beide Seiten müssen sich behaupten und können den eigenen Standpunkt nicht rein durchhalten, wie man sieht. Was hinter den Argumenten steht, ist viel einfacher und elementarer; daß sie gleichwohl eine so große Rolle spielen, ist ganz offensichtlich das Zugeständnis an das wechselseitige Bedürfnis nach einer Trennung von ›Darstellung‹ und ›Herstellung‹ ihrer Begründung, wobei die Frage, weshalb jeder Seite so viel an Darstellung liegt, hier ebenso offen bleibt wie in der alltäglichen Jurisprudenz u n d Sozialmoral zu allen Zeiten und überall.


//401//

   Mehr wäre also wirklich nicht zu verlangen; aber der Text erschöpft sich nicht darin, denn es gibt da noch die Parallelhandlung, die sich auf Knox und Hilton bezieht. Sie sind zum Marterpfahl verurteilt, und ehe die Kämpfe zwischen den Weißen und den Indianern beginnen, soll das noch kurz erledigt werden. Old Shatterhand und die Seinen wollen es nicht mit ansehen, aber auch nicht intervenieren. Während Knox, der zuvor schon wegen voreiliger Dreistigkeit vom Großen Wolf skalpiert wurde, zu keiner Meinungsäußerung mehr fähig ist, fleht Hilton das Christentum von Old Shatterhand an. Das geschieht, nachdem Old Shatterhand dem Vorwurf des Großen Wolfs, er sei zu feige, die Marter mit anzusehen, zunächst nicht anders entgehen kann, als daß er insofern nachgibt. Außerdem muß er erleben, daß seine schließlich doch vorgebrachte Bitte um Schonung der beiden die ganze Abmachung in Gefahr zu bringen droht. Das ist eine Niederlage. Aber es versucht zu haben zählt, schließt das System der erwarteten Argumentation.

   Über sie hinaus geht die Schonung des Hundes, der sich losreißt und auf Old Shatterhand zurast. Ich habe mir seitdem zu merken versucht, wie man das macht. Der Kopf des angreifenden Hundes wird so eng an die eigene Brust gepreßt, daß der Rachen sich nicht mehr zum Bisse öffnen kann; dann ist noch ein Würgevorgang zu absolvieren und ein Betäubungsschlag anzubringen. Old Shatterhand gelingt beides. Er erreicht damit ganz bewußt zwei Ziele: das ›wertvolle Tier‹ bleibt den Utahs erhalten; weiter liefert er einen neuen Beweis seiner Kraft und Geschicklichkeit. Diesen Erfolg kann er voll verbuchen, obwohl eine direkte Kompensation – etwa nun doch fairere Kampfesbedingungen – nicht erfolgt. Womit er gar nichts bewirkt, ist die Tatsache, daß in der Wahl des milderen Mittels, zumal mit Inkaufnahme persönlicher Gefahr verbunden, ein zusätzliches Vorbild ethischen Handelns in Szene gesetzt wird und daß es ja auch für den Hund selbst etwas bedeutet, am Leben zu bleiben. Aber der jugendliche Leser registriert das und mehr: Verachtung der Indianer, als die jeweiligen Sieger nicht von dem vorher zugestandenen Recht, die besiegten Gegner zu töten, Gebrauch machen – versus Erleichterung und Bewunderung dafür, daß sogar in dieser angespannten Situation des Überlebens großmütig verfahren wird. Das ist keine Selbstverständlichkeit im normalen Westmannsbetrieb. Mit Schaudern erinnere ich mich daran, wie der Indianer Büffelstirn, eine würdige und respektable Figur, als es die Situation gebietet – ehe Sternau es verhindern konnte(31) – drei Gefangene, die sogar auch noch gefesselt sind, umstandslos absticht. Der indianische Mann also versteht den Verzicht auf die Tötung nicht; wohl aber die Frau des Begnadigten. Diese Squaw kommt mit den beiden Kindern und bedankt sich bei dem Langen Davy.

   Daß sie die indianische Regel durchbricht, bedeutet freilich so wenig, wie sie selbst etwas bedeutet – in der Sicht der Indianer: Die am Mar-


//402//

terpfahl jammernden Knox und Hilton werden alsbald den Frauen und danach – in einem Atemzuge – den Hunden überlassen, ohne daß dies Anlaß für kritische Kommentare ist. Aber daß die Frau des Roten Fisches sich bedankt, hat dann doch etwas zu sagen, denn der Lange Davy ist gerührt. Der in rauhen Zeiten des Krieges lebende, bereits mit ungewöhnlichen Nachrichten belastete kindliche Leser begreift diesen Brückenschlag und ist glücklich.


IV

So war es damals, denke ich. Mit dem Kapitel ›Bei den Utahindianern‹ hatte das Buch für mich den Höhepunkt erreicht. Was nun folgt – ›Eine Indianerschlacht‹ und ›Am Silbersee‹ – ist spannend und voller wiederkehrender Muster, ansonsten aber doch eher schicksalhaft und gruppenbezogen, also weniger interessant. Die psychologische Höhe wird nicht mehr erreicht, am Ende beherrscht wieder der etwas bescheidenere Old Firehand die Szene mit seiner aufrichtigen und tatkräftigen Inangriffnahme des Silberabbaus. Allerdings ist auch ihm zuviel, was mit den letzten Tramps und dem Roten Cornel geschehen ist: Er hing verkehrt am Marterpfahle, mit dem Kopf nach unten. Er war, ganz wie seine Gefährten, von allen Kleidern entblößt ... »... Hätten wir doch eher kommen können, um die Ermordung dieser Leute zu verhindern«, meint Old Firehand, aber der Missouri-Blenter antwortet: »Pshaw! ... Habt Ihr etwa auch noch Mitleid mit diesen Kerls? Und wenn wir zur rechten Zeit gekommen und es Euch gelungen wäre, ihnen das Leben zu retten, der Cornel hätte doch sterben müssen. Mein Messer hätte auf alle Fälle ein Wort mit ihm gesprochen.«(32) Daraufhin relativiert Old Firehand sein Bedauern, er wünscht lediglich, daß der Tod etwas weniger grausam hätte sein mögen, und beklagt vor allem den Verlust des Papiers (der Zeichnung für den Schatz im Silbersee), während Old Shatterhand stöhnt: »Entsetzlich!«(33). Da flammt die Hierarchie noch einmal auf.

   Der Schatz aber ist fort; daraus konnte nichts werden. Die Utahs sind im doppelten Sinne gewissermaßen untergegangen, gescheitert an ihrem indianisch-mythischen Dasein, das mit dem nüchternen Pragmatismus der Fairneß und erst recht mit funktionsloser christlicher Selbstaufgabe nichts anzufangen weiß. Old Shatterhand und Winnetou als Sachwalter der komplizierten ethischen Grenzgänge verschwinden schnell. Das Leben – ein Traum? Was sonst, könnte Old Firehand jetzt getrost sagen, ein enttäuschendes Ende zwar; aber gerade deshalb vielleicht steckt der Stachel im Fleisch.

   Süchtig geworden, erwartet man vergleichbare Leseerlebnisse in anderen Büchern. Sie stellen sich ein, Jahr für Jahr. Aber das erste Muster wird doch nicht ganz erreicht, und so sucht man es immer wieder auf. Es


//403//

ist ja keineswegs abstrakt vor einen hingetreten, sondern eingebettet in Anschauungen und Sinnlichkeiten, die zwischen den Parteien oszillieren. Der Brandy, der in der Runde der Tramps auf dem Steamer kreist, ist genauso begehrenswert, wie es die riesigen Büffelfleischstücke sind, die im Kessel der – freilich auch nicht so ganz intakten – Rafters schmoren. Und wenn es um Spurensuche und Anschleichen geht, so ist man für Momente auch bei den Schurken, wenn sie sich gut darauf verstehen, was Karl May gerechterweise zugesteht. Die ledernen Halbschuhe, in denen die bloßen Füße stecken, teilen sich Gerechte und Ungerechte ebenfalls.


V

Über die Jahrzehnte zwischen der ersten und – vorläufig – letzten Lektüre des ›Schatz im Silbersee‹ verteilen sich einige Lesefrüchte aus dem Sammelbecken der Karl-May-Kritik: zu konservativ, zu national, auch rassistisch, Lieblingsautor von Hitler (von Klaus Mann schon früh beschworen) und er selbst aus zweifelhafter Jugend aufgestiegen, bis zum Schluß in problematischen Verhältnissen, von der Vergangenheit eingeholt, bestenfalls alles pathologisierbar.

   Was soll der Nicht-Karl-May-Philologe, der dies mehr oder weniger mitbekommen hat, dazu sagen? Die Erinnerung an seine erste Lektüre berührt es nur an den Rändern. Soll er darauf verweisen, daß auch Ernst Bloch und andere Widersacher Hitlers den Autor geschätzt haben? Soll er gegen den Vorwurf des Konservativen die Rechnung aufmachen, daß durch das ganze Werk sich ein Sinn für die ›kleinen Leute‹ zieht, bis hin zu dramatischen, an Gerhart Hauptmann erinnernden Anklagen, wie im ›Verlornen Sohn‹, daß es eindrucksvolle Skizzen gibt von ›Bürgertum gegen Adel‹, etwa die Großmut des Leutnants Helmers gegen seinen unfairen adligen Duellgegner im ›Waldröschen‹? Und was das Nationale angeht, so war es vorimperial, wenn auch bei Karl May nicht gleichzeitig mit Freiheit und Revolution verbunden, wie die Klekih-petra-Thematik in ›Winnetou I‹ zeigt.

   Schließlich das ›Rassistische‹. War es mehr als die etwas irritiert-romantische Vorstellung vom Anderen, noch nicht Zivilisierten? ›Die Wilden‹ – in der Tat gibt es am Schluß des ›Silbersee‹ die Assoziation – beim Kampfe der Navajos gegen die Utahs: Wilde gegen Wilde in der wildesten Manier! Hier kämpften zwei unter brutalstem Geheul; dort schlachteten sich einige in teuflischer Lautlosigkeit ab.(34) Aber an der Moralisierung fehlt es hier ebenso wenig – im Sinne einer Verdammung dieser Grausamkeiten – wie bei den weißen Banditen, die man einem moderneren soziologischen Sprachgebrauch folgend ›White Trash‹ nennen könnte. Selbst das filzige Gemeinschaftsdenken der National-


//404//

sozialisten, das die Seele des Zwölfjährigen hätte vergiften können, wäre der Krieg für ihn dann nicht doch rechtzeitig zu Ende gewesen und damit der Weg frei in eine Kollektivallergie, die auch durch (um das Neueste zu nehmen) andächtige Hinweise auf ›Communitarianism‹ nicht beseitigt werden kann – selbst dieses, die kleinbürgerliche Seite des Nationalsozialismus (die bis zum Schluß die stärkere gewesen ist, trotz der großen Schuld und Verantwortung der Hochfinanz, der Bürokratie und des Militärs) ausfüllende Milieu ist keineswegs typisch für die Karl-May-Erzählungen. Gerade im ›Schatz im Silbersee‹ ist die äußerste Individualität bis hin zum Skurrilen die Hauptsache. Daß es Deutsche sind, die hier exzellieren – noch einmal am Schluß des ›Silbersees‹: das Zusammentreffen von Hobble-Frank und Tante Droll, ihre sich im Sächsischen überbietenden Dialoge, die übrigens bei allem Abstand manchmal Nestroysche Züge gewinnen –, unterstreicht noch einmal, daß hier (wenn überhaupt) ein Nationalismus kultiviert wird, der in die Vergangenheit zurückweist, als die Deutschen in der Welt Sympathie fanden, weil sie so gutmütig und merkwürdig waren. Freilich, es bleibt nicht bei den Deutschen.

   Die ›Yankees‹ werden ein bißchen zum Gegenbild heraufstilisiert, etwa in der Person Hartleys. Aber das hält sich in Grenzen, wird auch mit Tugenden untermischt, wenn es beispielsweise an einer anderen Stelle mit deutlich positivem Unterton heißt, daß es für den Yankee gar keine Schande sei, im Laufe des Berufslebens immer wieder nach etwas anderem zu greifen.

   Aber das ist alles schon zuviel, mischt sich in die gelehrte Erforschung des Werks von Karl May, an der ich keinen Anteil habe. Fast alles ist da gesagt, und wenn man es gelesen hat, schließt man die Augen, vergißt es, denkt daran, wie Watson, der Schichtmeister, in völlig unpassender Manier auf Winnetou, nachdem er ihn erkannt hat, losstürzt: »Er ist da, er ist hier! Welch ein Glück! ...«,(35) und ist überwältigt davon, daß der Apache nicht unnahbar ist, sondern ganz warmherzig reagiert: Der Apache blickte ihm ins Angesicht, und seine Züge legten sich in ein weiches, freundliches Lächeln, als er antwortete: »Mein weißer Bruder Watson!« ...(36), und ist wiederum auf seiner Seite, wenn er später als vorübergehender Gefangener der Utahs die widerlichen, trotz unendlich geduldiger Abmahnungen nicht endenden Beleidigungen des alten Utah-Häuptlings Nanap neav mit dessen Tötung beendet: Die Hirnschale war ihm an der rechten Seite des Kopfes eingetreten und ebenso ein Teil des Brustkastens. Er war tot,(37) auch wenn man weiß, daß Old Shatterhand das nicht gemacht hätte, und ihn dafür um so mehr respektiert.

   Vielleicht irrt man sich in der Jugend weniger, als allgemein angenommen wird. Die Wahrheit ist, daß ich an die Leihbibliothek denke, aus der ich Jahr für Jahr die Bände geholt habe, an den Geruch, der von den durch viele andere bereits umgeblätterten Seiten ausging, kein gu-


//405//

ter Geruch eigentlich, aber das untrügliche Zeichen dafür, dort zu sein, wo man allmählich auch in die entlegeneren Teile dieser Welt abtaucht, eines Tages die in der Rangfolge der Westmänner ziemlich weit unten stehenden Sans-ear oder Old Death kennenlernt, mit Erschrecken, aber doch sich dazugehörig fühlend erfährt, daß Will Parker und Dick Stone ausgelöscht sein sollen, und mit diesen Büchern in der Mappe gehe ich die Breite Straße hinauf, die wie üblich von dem feuchtkalten Wind, der vom Brocken herunterkommt, durchpeitscht ist und die Sehnsucht nach einem anderen Geruch – dem der Braunkohle aus dem undichten Kachelofen zu Hause – eröffnet, und dann werde ich inmitten dieser beiden Gerüche lesen: »Meine Brüder mögen mir folgen, denn hier beginnt ein Weg, auf welchem wir eine große Strecke abschneiden werden. Auch ist er für die Pferde viel bequemer als der Geröllboden des Cañons«(38), und selbst dieser Vorgang ist nicht ohne Abwägung.



1 Karl May: Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 4: Der Schatz im Silbersee. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 117

2 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VI: Der Schut. Freiburg 1892, S. 525

3 May: Schatz im Silbersee, wie Anm. 1, S. 63

4 Ebd., S. 538

5 Ebd., S. 193

6 Ebd., S. 192

7 Ebd., S. 194

8 Ebd., S. 203

9 Ebd., S. 197f.

10 Ebd., S. 270

11 Ebd., S. 215

12 Ebd., S. 195

13 Ebd., S. 230

14 Karl May's Gesammelte Werke Bd. IX: Winnetou III. Bamberg 1951 (555. – 574. Tsd.), S. 155 – Wie mir von Mayexperten mitgeteilt wurde, ist das Zitat kein originaler Maytext, sondern wurde von einem Bearbeiter eingefügt; das ändert aber nichts an meiner Lese-Erinnerung.

15 May, Schatz im Silbersee, wie Anm. 1, S. 344

16 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVI: Im Lande des Mahdi I. Freiburg 1896.

17 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896.

18 May: Schatz im Silbersee, wie Anm. 1, S. 350

19 Ebd., S. 374

20 Ebd., S. 309

21 Ebd., S. 364

22 Ebd., S. 365

23 Ebd.

24 Ebd., S. 386

25 Ebd.

26 Ebd., S. 387

27 Ebd., S. 444

28 Ebd., S. 456

29 Ebd., S. 429

30 Ebd.


//406//

31 Karl May: Das Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde: Dresden 1882/84, S. 1072; Reprint Leipzig 1988

32 Ebd., S. 573

33 Ebd., S. 557

34 Ebd., S. 561

35 Ebd., S. 326

36 Ebd., S. 327

37 Ebd., S. 523f.

38 Ebd., S. 577


Inhaltsverzeichnis

Alle Jahrbücher

Titelseite

Impressum Datenschutz