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Anhang 1: Zur Entwicklung von Mays Sprache

Vergleich

Von zwei Fassungen

Der Beschreibung der Todeskarawane

Von Bagdad nach Stambul.
Reiseerlebnisse von Carl May. Freiburg i.B.: Fehsenfeld o.J. <1892> (=Carl May´s gesammelte Reiseromane Bd. III), S. 286-290; 304-306.
<S. 286:>
Im Reiche des silbernen Löwen. 2. Band
Reiseerlebnisse von Karl May. 1.-15. Tsd. Freiburg i.Br.: Fehsenfeld 1898 (=Karl May´s gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVII) S. 2 - 19.
<S. 2:>
Schon jetzt passierten viele Pilger die Stadt Bagdad, um sich ohne Aufenthalt nach Westen zu wenden; aber erst am fünften Muharrem vernahmen wir die Kunde, daß sich die eigentliche T o d e s k a r a w a n e der Stadt nähere. Sofort stieg ich mit dem Engländer und meinem kleinen Halef zu Pferde, um den Anblick dieses Schauspieles zu genießen.

Genießen? - Nun, dieser Genuß war freilich ein höchst zweifelhafter!

<Erinnerung an das frühere Erlebnis>

Wir hatten bis hierher keinen einzigen schiitischen Pilger und keinen einzigen Leichentransport gesehen; dennoch sagte Halef, als wir uns nebeneinander niedergesetzt hatten:

»Sihdi, riechst du nichts? Mir ist ganz so, als ob wir uns im Pesthauche der Todeskarawane befänden. Geht es dir nicht auch so?«

»Ja, ganz genau wie dir,« antwortete ich. »Die Erinnerung wirkt auf unsere Geruchsnerven. Ich sehe die Todeskarawane nicht bloß an mir vorüberziehen, sondern ich rieche sie auch. Es war entsetzlich damals, ganz entsetzlich, und es ist kein Wunder, daß unsere Nasen den Leichenduft, welcher ihnen damals so grausam mitspielte, heut noch nicht vergessen haben.«

< S. 3: >

<Rhetorische Frage als Einleitung>

Todeskarawane, Karwan el Amwat, wie der Beduine sagt, was ist das ?

Ich glaube, diese Frage am besten und kürzesten mit einer bereits schon früher gegeben Antwort zu erledigen:

Der Schiit glaubt, daß ein jeder Moslem, dessen Leiche in Kerbela oder Nedschef Ali begraben wird, ohne alle weiteren Hindernisse sofort in das Paradies komme. Der Mohammedaner schiitischen Glaubens ist überzeugt, daß ein jeder Moslem dieser Sekte, dessen Leiche in Kerbela ader Nedschef Ali begraben wird, ohne alle weiteren Hindernisse sofort in das Paradies komme.
<lexographische Differenzierung: "Sunna" und "Schia"> Bekanntlich zerfallen die Anhänger des Islam in die beiden Abteilungen der Sunniten und Schiiten. Das Wort Sunna, zu deutsch »Weg« oder »Richtung«, bezeichnet alle auf eine That oder einen Ausspruch Muhammeds bezüglichen Traditionen, welche für solche Fälle, in denen der Kuran sich entweder gar nicht oder undeutlich ausspricht, als Gesetze Geltung haben. Die Sunna bildet also für den Anhänger derselben neben dem Kuran die hauptsächlichste Quelle der Religions- und Lebensvorschriften. Nebenbei, doch ebenso hauptsächlicherweise unterscheiden sich die Sunniten von den andersgläubigen Muhammedanern auch dadurch, daß sie die drei Kalifen Abu Bekr, Omar und Othman als rechtmäßige Nachfolger des Propheten anerkennen. Zu ihnen gehören fast alle Moslemin in Afrika, auch Aegypten, in der Türkei, in Syrien, Arabien und in der Tatarei. - Schia heißt


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 soviel wie Partei. Die Schiiten verwerfen die genannten drei Kalifen und behaupten, nur Ali und seinen Nachkommen habe die Kalifenwürde gebührt. Sie sind meist über Persien und Indien verbreitet, während sie in andern Ländern nur vereinzelt vorkommen. Man schätzt sie zu zwanzig Millionen, während es über zweihundert Millionen Sunniten giebt.

Die Schiiten widmen Ali und seinen Nachkommen, besonders aber seinen Söhnen Hassan und Hussein, eine

<S.4:> so übertriebene und dabei leidenschaftliche Verehrung, daß er und alle zu seiner Nachfolge berechtigten Nachkömmlinge von einigen extremen Parteien sogar für Inkarnationen Gottes gehalten werden. Sie haben, obgleich sie das nicht zugeben, die ursprüngliche Lehre durch mystische und pantheistische Hineinlegungen verfälscht und stellen die Behauptung auf, daß die Sunniten zu vernichten oder doch noch viel mehr als die Juden, Christen und Heiden zu hassen und zu verfolgen seien. Daher die Jahrhunderte alten, erbitterten und blutigen Kämpfe zwischen diesen beiden Richtungen. Es ist Blut, sehr viel Blut geflossen; es sind Grausamkeiten verübt worden, welche niederzuschreiben sich die Feder sträubt, und noch heut ist dieser Haß nicht verlöscht.
<'Feuer'-Metapher> Er glimmt fort und fort und bricht bei jeder Veranlassung in helle, vernichtende Flammen aus. Es versteht sich ganz von selbst, daß diese Erbitterung ihre meisten Opfer in den Gegenden sucht und findet, wo Sunniten und Schiiten vermischt wohnen oder aber öfters aufeinander stoßen, und das findet ganz besonders statt in der Grenzprovinz Irak Arabi mit den beiden nicht weit von Bagdad liegenden heiligen schiitischen Städten Nedschef Ali und Kerbela.
<Die schiitischen Wallfahrtsorte:

(1) Nedschef Ali>

Die erstere Stadt hat ihren Namen von dem in der Nähe liegenden Nedschef-See erhalten und wird auch Meschhed Ali, d. h. Grabmal Alis, genannt, weil dieser da begraben worden ist. Sie ist ungefähr fünfzig Kilometer südlich von den Ruinen von Babylon gelegen, auf welchem Wege man auch über das Dorf Kefil kommt, wo sich die Ruhestätte des Propheten Hesekiel befindet.
(2) Kerbela> Kerbela, auch Meschhed Hussein, d. i. Grabmal Husseins, genannt, ist die Hauptstadt eines Sandschak, zählt über sechzigtausend Einwohner und soll an Reichtum Bagdad weit übertreffen. Sie wird durch einen Kanal
<S.5> mit dem rechten Euphratufer verbunden und bildet den hervorragendsten Wallfahrtsort der Schiiten, von denen es noch heiliger als Nedschef Ali gehalten wird.

Es ist nicht meine Absicht, auf die ersten Kämpfe zwischen den Sunniten und Schiiten und den Tod Alis und seiner Söhne Hassan und Hussein einzugehen. Es genügt, zu sagen, daß, wie wir auch noch sehen werden, die Gedenkzeit an Husseins Tod von den Schiiten mit

<Religiöse Voraussetzungen der Todeskarawane> größter Leidenschaft begangen wird, und zu wiederholen, daß die Bekenner der Schia die Ueberzeugung hegen, ein jeder ihrer Anhänger gehe sofort in den Himmel ein, falls er in einer der beiden Städte begraben werde.


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Darum ist es der heißeste Wunsch eines jeden, an einem dieser beiden Orte begraben zu sein. Da der Transport der Leichen per Karawane ein sehr kostspieliger ist, so kann er nur von den Reichen ermöglicht werden; der Arme aber, wenn er an so heiliger Stelle begraben sein will, nimmt Abschied von den Seinen und

1)
<S. 287:>

bettelt sich durch weite Länderstrecken bis zu der Grabstelle Alis oder Hosseïns, um dort seinen Tod zu erwarten.

Aus diesem Grunde ist es der heißeste Wunsch eines jeden Schiiten, in dieser heiligen Erde ruhen zu dürfen; aber da die meisten Schiiten in Persien und gar Indien leben und der weite Transport der Leichen also ein außerordentlich kostspieliger ist, so ist es nur dem Reichen möglich, nach seinem Tode nach Kerbela oder Nedschef Ali geschafft und dort beerdigt zu werden; der Arme aber muß sich selbst transportieren, d. h. er nimmt von seinen Angehörigen für immer Abschied und bettelt sich unter allen möglichen Anstrengungen und Leiden durch die weiten Länderstrecken nach dem fernen Ziele seiner Wanderungen und seines Lebens, um dort dann seinen Tod zu erwarten.
<Metaphorische Weitung anstelle der denotativen Mitteilung ---> Mehrdeutigkeit>

<Wege=Flußsystem>

Diese Wanderungen kommen zu jeder Jahreszeit vor und erstrecken sich meist auf ganz bestimmte Wege, welche gebräuchlich geworden sind, weil sie sich als die besten und kürzesten erwiesen haben; auch sind gewisse Strecken, Richtungen oder Abweichungen von den Behörden vorgeschrieben. Diese Wege gleichen einem Flußsysteme: Das Gebiet der Quellen, Bäche und einzelnen Wasserläufe ist weit ausgebreitet; dann nähern sich die Zuflüsse
<S.6> einander nach und nach, um die Nebenarme zu bilden, welche sich später zu dem Hauptstrome vereinigen. je weiter entfernt, desto unbedeutender, aber zahlreicher sind die Wasser; je näher dem Ziele, desto geringer wird zwar ihre Zahl, aber desto bedeutender sind sie geworden, bis sie endlich, alle vereinigt, im Hauptbette als mächtiger Fluß der Mündung entgegenrauschen.
<Menschenstrom: 'Strom' - Metapher> Ebenso ist es auch mit dem Menschenstrome, den diese Pilgerwanderungen bilden: Die einzelnen schiitischen Wanderer, denen man in den fernliegenden Gegenden begegnet, finden sich an gewissen Vereinigungspunkten zusammen und bilden da Gesellschaften, die sich an weiterliegenden Knotenpunkten vereinigen, um dann von rechts und links immer neue Zuflüsse aufzunehmen, bis sie zu bedeutenden Zügen anwachsen und schließlich die großen, gefürchteten Todeskarawanen ergeben, gefürchtet deshalb, weil sie nicht nur aus dem verkommensten, zu allen Schandthaten fähigen Menschenmateriale, sondern auch aus den zahlreichen Leichentransporten bestehen, die sich ihnen angeschlossen haben. Man denke sich Hunderte und Hunderte von toten Menschenkörpern, welche nur in dünne Decken gewickelt sind oder in längst zerbrochenen Särgen liegen; seit Monaten unterwegs, sind sie dem glühenden Sonnenbrande und allen Einwirkungen der langen Reise und des Wetters ausgesetzt gewesen; sie befinden sich also in allen möglichen Graden der Verwesung und verbreiten einen Gestank, den jeder Windhauch stundenweit verbreitet.
<Metapher: Pest als Gespenst> Da ist es wahrlich kein Wunder, daß das hohl- und triefäugige Gespenst der Pest diesen Karawanen auf dem Fuße folgt! Diese Pilgerzüge führen zahllose Leichen mit sich und den Tod hinter sich; darum wird jeder solche
2) Zug mit dem sehr bezeichneten Namen Karwan el Amwat, d. i. Todeskarawane, benannt.



1) DH (S. 562): nach seinem Tod in Kerbela oder Nedschef Ali beerdigt zu werden;
2) DH (S. 563): bezeichneten] bezeichnenden


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Jahr für Jahr schlagen Hunderttausende von Pilgern den Weg nach jenen Stätten ein, aber diese Zuzüge sind am stärksten, wenn der zehnte Muharrem, der Todestag Hosseïns, naht. Dann steigen die Leichenkarawanen der schiitischen Perser, Afghanen, Beludschen, Indier etc. vom iranischen Tafellande herab; von allen Seiten werden Tote herbeigeschleppt, und sogar auf Schiffen führt man sie auf dem Euphrat herbei. <S.7)> Diese Zuzüge der Pilger und Leichentransporteure werden am stärksten, wenn der zehnte Muharrem, der Todestag Husseins, nahe ist. Da kommen die Karawanen der Inder, Afghanen, Beludschen und Perser vom iranischen Tafellande herab; von allen Seiten nahen sie, und sogar auf Schiffen werden Pilger und Leichen herbeigeschleppt, denn von Indien her ist der Seeweg kürzer als der beschwerliche Weg über Land. Man versuche es aber einmal, ein solches den Schatt el Arab *), heraufkommendes Schiff zu besteigen! Wegen des von ihm verbreiteten Gestankes weicht ihm jedes andere Fahrzeug schon von weitem aus, und einer europäischen Nase würde es vollständig unmöglich sein, sich ihm ohne ein eisernes Muß bis auf Kiellänge zu nähern. Und dabei behaupten die Menschen, welche die Leichen zu begleiten und zu bewachen haben, diese mephitischen Ausdünstungen seien
1)nicht Gestank, sondern Hawa es Sema und Rawaji ed Dschani!***)
Die Leichen liegen oft schon monatelang vor dem Aufbruche bereit; der Weg der Karawane ist ein weiter und höchst langsamer; die Hitze des Südens brütet mit fürchterlicher Glut auf die Strecke hernieder, welche durchzogen werden muß, und so gehört keine übermäßige Anstrengung der Phantasie dazu, sich den entsetzlichen Geruch zu denken, den eine solche Karawane verbreitet. Die Toten liegen in leichten Särgen, welche in der Hitze zerspringen, oder sie sind in Filzdecken gehüllt, die von den Produkten der Verwesung zerstört oder doch durchdrungen werden; und so ist es denn kein Wunder, daß das hohläugige Gespenst der Pest auf ha- Wenn ein Schiit gestorben ist und nach der heiligen Begräbnisstätte geschafft werden soll, so bleibt seine Leiche vielleicht monatelang liegen, ehe die Reise beginnen kann. Hat dann der Aufbruch endlich stattgefunden, so ist ein weiter, weiter Weg in qualhaft langsamer Weise zurückzulegen. Die Hitze des Südens brütet mit entsetzlicher Glut auf die Strecken hernieder, welche zurückgelegt werden müssen; die Särge zerplatzen, und die Decken, in denen die Leichen sich befinden, werden von Produkten der Zersetzung durchdrungen oder gar zerstört. Der ehrliche Mann, welcher den Zug kommen sieht, weicht entsetzt zur Seite aus, und nur der Schakal und der räube-
<S.8:>rische Beduine schleichen sich herbei, der eine, angezogen
gerem Klepper jenen Todeszügen auf dem Fuße folgt. Wer ihnen begegnet, weicht weit zur Seite aus, und nur der Schakal und der Beduine schleichen herbei: der eine, angezogen von dem Geruche der Verwesung, und der andere, herbei¦gelockt von den Schätzen, welche die Karawane mit sich führt, um sie am Ende der Wallfahrt den Händen der Grabeshüter zu übergeben. Diamantenbesetzte Gefäße, perlenbesäte Stoffe, kostbare Waffen und Geräte, gewaltige Mengen voll¦wichtiger Goldstücke, unschätzbare Amulette etc¨ werden nach Kerbela und Nedschef Ali gebracht, wo sie in den unterirdischen Schatzkellern verschwinden. Diese Schätze werden, um die beduinischen Räuber von dem Geruche der Verwesung, und der andere, herbeigelockt von den Schätzen, welche die Karawane mit sich führt, um sie am Ende der Wallfahrt den Hütern des heiligen Grabes zu übergeben. Da werden diamantenbesetzte Gefäße, perlenbesäte Stoffe, kostbare Waffen und Geräte, gewaltige Mengen vollwichtiger Gold- und Silberstücke, unschätzbare Amulette, aus edlem Metall hergestellte und mit herrlichen Steinen geschmückte Nachbildungen kranker Gliedmaßen, für welche der Spender Heilung sucht, kurz, alle möglichen Gaben und Schätze nach Kerbela und Nedschef Ali gebracht, wo sie in den unterirdischen Kellern verschwinden. Diese Gegenstände werden, um die Räuber zu täuschen, in sargähnlichen Verpackungen

<S.288:>

Räuber zu täuschen, in sargähnlicher Verpackung verborgen, aber die Erfahrung hat die unternehmenden arabischen Stämme gelehrt, diese Vorsicht unnütz zu machen. Sie öffnen bei einem Überfalle sämtliche Särge und kommen so ganz sicher zu den Schätzen, welche sie suchen. Der Kampfplatz bietet danach ein wüstes Bild von gefällten Tieren, getöteten Menschen, zerstreuten Leichenresten und zerschmetterten Sargtrümmern, und der einsame Wanderer lenkt sein Pferd von ihnen ab, um dem Hauche der Pest und Ansteckung zu entgehen.

verborgen; aber die durch die Erfahrung klug gewordenen Beduinen lassen sich durch diese Vorsicht schon längst nicht mehr täuschen. Sie kommen ganz sicher zu den gesuchten Schätzen, indem sie bei ihren Ueberfällen alle Särge öffnen. Später bietet dann der Kampfplatz ein wüstes Durcheinander von gefällten Tieren, ermordeten Menschen, umhergeworfenen Leichenresten und zerstreuten Sargtrümmern, und der einsame Reiter, welcher zufälligerweise an diese Stätte des Todes und der Zerstörung kommt, lenkt sein Pferd von ihr ab, um dem Hauche der Pest und Ansteckung zu entgehen, und ruft aus: »Allah ia Allah, schi bikab'bib schar irrahs - Gott, o Gott, da steigen einem die Haare zu Berge!«


1) DH (S.563): Rawajih
*) Vereinigung von Euphrat und Tigris
**) Himmelsluft ***) Gerüche des Paradiese


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<Weg der Leichen und Überfälle als Gefahr> Und auf dem Wasserwege befinden sich die Pilger und Transporteure in ganz derselben Gefahr. Die Pilgerschiffe kommen aus dem Schatt el Arab in den Euphrat,
1) dann durch den Arm von Semawat und durch den Arm von Bahr-i-Nedschef herauf, oft zu Flotten vereinigt. Auf den Decks und in den Unterräumen lagern Lebende und Tote bunt durch- und nebeneinander, und sogar die Schiffsränder sind oft nach außen und innen mit Särgen behangen. Welch eine infernalische Luft da herrschen muß, kann man sich denken! An dem erwähnten Kanale lauern die Beduinen vom mächtigen Stamme der Elbu-Thefir, um die Schiffe abzufangen; jedes muß ihnen den Wert von tausend und noch mehr Mark bezahlen, sonst wird es ausgeplündert und jeder Lebende niedergemetzelt.
<Äußerer Ruin der Pilger und Moralischer Zerfall der religiösen Einrichtungen an den Wallfahrtstätten> Man denke aber ja nicht, daß mit der Ankunft an den heiligen Stätten alle Widerwärtigkeiten zu Ende seien! Nun beginnen die ebenso schwierigen wie langwierigen Unterhandlungen mit der bei der Moschee angestellten Geistlichkeit, welche die höchstmöglichen Forderungen stellt und das Wort Nachgiebigkeit weder im Herzen noch auf der Zunge kennt. Je reicher der Tote war und je näher dem Heiligtume er begraben werden soll, desto höher steigt die Summe, welche dafür gefordert wird, und man muß schließlich jeden Betrag zahlen, um nur die Leiche endlich einmal loszuwerden. Auch den armen Pilgern wird es nicht leicht gemacht, in heiliger Erde Ruhe zu finden. Was sie noch besitzen, wird ihnen abgepreßt. Körperlich und geistig und nicht zum wenigsten auch moralisch ganz heruntergekommen, an allen möglichen Krankheiten leidend, irren sie hungernd und dürstend umher, und nur wenigen gelingt es, in einer der zwar viel gelobten, aber doch fast gar nichts leistenden Wohlthätigkeitsanstalten für kurze Zeit Aufnahme zu finden. Da
<Schiller-Zitat> kann es freilich nicht ausbleiben, daß folgt, was Schiller, wenn auch aus anderer Veranlassung, sagt: »Da werden Weiber zu Hyänen.« Von allem entblößt und mit dem Tode des Verschmachtens kämpfend, sind sie auch zu allem fähig, um diesem Tode zu entgehen oder ihn doch so weit wie möglich hinauszuschieben. Diebstahl und Erpressung,
<S.10:> Raub und Mord müssen ihnen liefern, was ihnen die Gerechtigkeit oder Menschlichkeit versagt, und so kommt es, daß die heiligen Städte und ihre Umgebungen sich keineswegs der Sicherheit erfreuen, welche ihrer Berühmtheit angemessen wäre. Und wer sich vor diesen Verzweifelten sicher fühlen darf, den muß schon der Anblick der Kranken und Sterbenden empören, welche allerorts herum-
2)
<Reichtum der Wallfahrtsorte:
(1)Nedschef Ali>
liegen und auf ihr Ende warten, weil es niemand giebt, der sich ihrer erbarmen will. Wenn von den Abertausenden der herbeigekommenen Pilger nur ein Viertel stirbt, so nennt man das ein ausnahmsweise sehr gesundes Jahr. Das ist jedenfalls mehr als genug gesagt!

3)
Zufolge der großartigen Spenden und der ebenso großen Erpressungen besitzen Nedschef Ali und Kerbela mehr Reichtümer als wohl irgend eine andere Stadt des Orientes. Die Kuppel über Alis Grabmoschee wird Kuh-i-Sär' genannt; der Boden des Innern soll aus reingoldenen Platten bestehen, und wenn man der Beschreibung der unterirdischen Gewölbe traut, so müssen diese Schätze enthalten, gegen welche alle Reichtümer von Golkonda keines Vergleiches würdig sind.


1) DH (S.563): durch den Bahr - i- Nedschef herauf
2) DH (S.577): gibt
3) DH /ebd.): Erpressung


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(2) Kerbela> In Kerbela sollen noch mehr Reichtümer als in Nedschef Ali liegen. Ein mit gediegenem Golde gedeckter Dom leuchtet den nahenden Pilgern entgegen. Wer dort ein Grab findet, dem werden selbst die schwersten Sünden vergeben und alle Thore des Himmels, selbst das siebente, sofort geöffnet. Es werden also wohl nicht die tugendhaftesten Schiiten sein, welche die größten irdischen Opfer bringen, um nach ihrem Tode hierhergebracht zu werden. Aber Kerbela wird auch von lebenden Missethätern aufgesucht. Vornehme Sünder geistlichen und weltlichen Stan-
<S.11:>
<Endpunkt der Darstellung: die heiligen Orte = "Ansammlungsstätten für körperlich und ethisch Tote">

<Die neuere Zeit: die Begegnung mit der Karawane>

des fliehen, um der Hinrichtung zu entgehen, nach dieser Stätte, deren Asylrecht sie vor allen Verfolgungen schützt, und bleiben, nachdem sie sich die Erlaubnis dazu mit dem größten Teile ihres Vermögens erkauft haben, bis zu ihrem Ende da. Irdische Schätze und moralische Verworfenheit sind hier an einer und derselben Stelle aufgehäuft; man hat die "heiligen" Orte zu Ansammlungsstätten für körperlich und ethisch Tote gemacht, und nicht der große, Pestgestank verbreitende Pilgerzug allein, sondern auch jeder kleine Reisetrupp, welcher solche moralische Leichen nach dem ihnen einzig nur noch offenen Asyl bringt, müßte eigentlich als "Todeskarawane" bezeichnet werden.
Es versteht sich ganz von selbst, daß die Todeskarawane während ihrer Reise keine eng bewohnte Stadt berühren darf. Früher durfte sie ihren Weg mitten durch Bagdad nehmen. Sie zog durch Schedt Omer, das östliche Tor, ein; kaum jedoch hatte sie im Westen die Stadt verlassen, so verbreitete sich der Pesthauch über die Kalifen- In neuerer Zeit ist es der Karwan el Amwat verboten, ihren Weg durch eng bewohnte Ortschaften zu nehmen; früher aber durfte sie mitten durch Bagdad ziehen. Sie kam durch Schedt Omer, das östliche Thor, herein und verließ, die Schiffbrücke benützend, die Stadt auf demselben Wege, den auch ich mit Halef damals und jetzt geritten war. Kaum war sie verschwunden, so ging der
stadt; die Seuche begann zu wüten, und Tausende fielen der mohammedanischen Gleichgültigkeit zum Opfer, die sich mit dem schlechten Troste behilft, daß ‚alles im Buche verzeichnet stehe'.1) Pesthauch über die Kalifenstadt; die Seuche begann zu wüten, und Tausende fielen der muhammedanischen Gleichgültigkeit zum Opfer, welche sich mit der Ausrede behilft, daß "alles im Buche des Lebens verzeichnet stehe".
<Binnenerzählung: die Folgen der Pest in Bagdad 1831> Im Jahre 1831 hatte die Stadt weit über hunderttausend Einwohner. Als die große Schiiten-Karawane sich näherte, welche diesmal weit größer und also auch gefährlicher als gewöhnlich war, begaben sich die hervorragendsten der dort wohnenden Europäer zum Pascha, um ihn zu bitten, ihr den Durchzug zu verweigern; aber alle ihre Bemühungen und Vorstellungen waren vergeblich. Das einzige, was sie erreichen konnten, war, daß
<S.12:>
<m>*) Hohe Geistlichkeit</m>
die Mullahs*), gefragt werden sollten. Diese entschieden: »Das Verlangen der Christen ist eine Versündigung gegen den Kuran. Wenn die Pest diese Ungläubigen tötet, so geschieht ihnen recht, weil sie die heilige Lehre des Islam verwerfen. Sollten aber auch Gläubige sterben, so hat es Allah gewollt, welcher die Todesstunde jedes seiner Anbeter kennt, und sie gehen alle in den Himmel ein. Es darf also der Karawane nicht verboten werden, durch die Stadt zu ziehen.« Nach dieser Entscheidung wurde gehandelt, und die Folge war, daß die Seuche sich in einer noch nie dagewesenen Weise über die Stadt verbreitete. Es fielen ihr täglich Tausende zum Opfer; es half nichts, daß man sich vollständig abschloß und verkroch. Die Leichen konnten schließlich nicht mehr begraben werden; sie lagen verwesend auf den Gassen und in den



1) DH (S.577): Khalifenstadt


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Häuserwinkeln und verbreiteten Miasmen, welche durch die Mauern zu dringen schienen und täglich neue Opfer forderten. Die Stille des Grabes lag auf der unglücklichen Stadt; es gab sogar keinen Mueddin mehr, dessen Ruf zum Gebete vom Minareh herniederklang. Es gab weder Handel noch Wandel, weder Kauf noch Verkauf.
**)Wasserträger. Die Bäcker waren verschwunden, die Sakka'in**) dahingerafft; man konnte selbst für viel Geld nichts Eßbares erhalten - das Gespenst des Hungers ging von Straße zu Straße, von Haus zu Haus, um hinter der Seuche grausige Nachlese zu halten. Unglücklicherweise gesellte sich zu diesem Unheile eine beispiellose Ueberschwemmung des Tigris, welcher die aus Erde bestehenden Mauern durchweichte und die ganze Stadt überflutet. In einer einzigen Nacht versanken fünftausend Häuser in seinen gierigen Wogen. Als sich die Wasser zurückgezogen
<S.13:> hatten, bildete der durchtränkte Boden einen einzigen, großen Seuchenherd; das Sterben dauerte noch lange und als es endlich, endlich vorüber war, hatten zwei Drittel der Einwohnerschaft den Bescheid der Mullahs mit dem Tode bezahlt.
In neuerer Zeit ist das anders geworden, und besonders hat der so viel bewunderte und ebensoviel angefochtene Midhat Pascha unter den alten Vorurteilen und Herkömmlichkeiten aufgeräumt. Die Leichenkarawane darf jetzt nur die nördliche Grenze des Stadtbezirks berühren, um dann auf der oberen Schiffbrücke über den Tigris zu gehen. Und dort war es, wo wir sie trafen.

Ein unerträglicher Pesthauch wehte uns entgegen, als wir uns der Stelle näherten. Der Kopf des langen Zuges war bereits angekommen und traf Anstalt, sich zu lagern. Eine hohe Fahne mit dem persischen Wappen (ein Löwe mit der hinter ihm aufsteigenden Sonne) war in die Erde gesteckt; sie sollte den Mittelpunkt des Lagers bilden.

<S.289>

Die Fußgänger saßen auf der Erde; die Reiter hatten ihre Pferde und Kamele verlassen; aber die mit den Särgen beladenen Maultiere blieben bepackt, zum Zeichen, daß der Aufenthalt nur ein vorübergehender sein werde. Nach ihnen zog sich der lange, unabsehbare Zug wie eine Schnecke herbei, welche in gerader Richtung über den Boden kriecht. Es waren braune, von der Sonnenglut eingedörrte Gestalten, die in müder Haltung auf ihren Tieren hingen oder mit abgematteten Füßen sich über den Boden schoben; aber in ihren dunkeln Augen glühte der Fanatismus, und unbeirrt durch die zahlreich anwesenden Zuschauer sangen sie ihren monotonen Pilgergesang:

"Allah, hesti dschihandar, <S.14:>
Allah, hestem asman pejwend,
Hosseïn, hesti chun alud,
Hosseïn, hestem eschk riz!"*)



*) Persisch, zu deutsch:
Allah, du bist weltbesitzend,
Allah, ich bin den Himmel erreichend,
Hosseïn, du bist blutbespritzt,
Hosseïn, ich bin Thränen vergießend

Später ist das anders geworden. Besonders hat der so viel gepriesene und ebensoviel angefochtene Midhat Pascha unter den alten, unglücklichen Vorurteilen und Gepflogenheiten aufgeräumt. Die Leichenkarawane darf nur die Grenze des nördlichen Stadtbezirkes berühren, um mit möglichster Schnelligkeit über die Brücke zu gehen.

Gewöhnlich wird ihr eine hohe Fahne mit dem persischen Wappen, ein Löwe, hinter dem die Sonne aufsteigt, vorangetragen. Dann folgen diejenigen Pilger, welche noch gut bei Kräften sind, hagere Gestalten mit sonnverbrannten Gesichtern, aus deren dunklen Augen die stolzeste religiöse Selbstüberschätzung spricht, Reiter auf Kamelen und Pferden, deren Sättel und Decken mit allerlei gleißendern Schmuck behangen sind, Fußgänger mit eingelegten Waffen, eintönige Gebetsformeln vor sich hinschnarrend und dabei mit haßerfüllten Blicken unter den Zuschauern nach Andersgläubigen suchend, um sie anzuspucken oder mit Schimpfworten zu bewerfen. Schwerbeladene Maultiere oder Esel tragen die Särge, in denen die "Gäste des siebenten Himmels" der islamischen Seligkeit entgegengetragen werden, einstweilen aber eine faulende Gallerte bilden, deren fürchterlicher Duft das Holz durchdringt und nichts weniger als himmlisch ist. Meist sind die kräftigeren Maultiere in der Weise beladen, daß rechts und links je ein Sarg hängt und der Reiter mit hoch emporgezogenen Beinen auf dem Sattel hockt. Die schwächeren Esel pflegen nur eine Leiche zu tragen, die sich entweder in einem Sarge befindet oder in eine Decke geschnürt ist. Man erblickt Fußgänger, welche zu zweien eine Leiche tragen, dazwischen oft auch einen einzelnen, der einen Toten mühsam auf dem Rücken schleppt. Indem man für die übermäßig bepackten, unbarmherzig geschlagenen und mißhandelten, wund und blutig geriebenen oder gedrückten Tiere tiefes Mitleid hegt, fragt man sich, ob diese vom fanatischen Uebermute aufgeblähten,


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im Vorüberpassieren auf uns schimpfenden und fluchenden Menschen eines ähnlichen Gefühls wert seien. Sie sind geradezu in Verachtung alles dessen, was nicht schiitisch ist, eingehüllt, und jede Miene ihres Gesichtes, jede Bewegung ihres Körpers oder auch nur ihrer Hand ist eine Beleidigung für den, den sie für andersgläubig halten.
<Antiklimax: immer größere Fragwürdigkeit der Vorbeipassierenden> 1) Je weiter der Zug vorübergeht, desto fragwürdiger werden die Figuren, die ihn bilden. Es kommen die Aermeren, die ganz Armen, die Bettler und schließlich die Marodeure, das Gesindel. Sie gehen barfuß; ihre Kleidung ist zerrissen; oft besitzen sie nur einen einzigen Fetzen, um ihre größte Blöße zu verhüllen; an Stöcken und Knütteln, alten Gewehrschäften und Lanzenstücken humpeln oder schwanken sie vorbei; aber ihre Augen blicken stolz, und Verachtung wohnt selbst zwischen den häßlichen Runzeln ihrer Gesichter. Sie sind die von Allah allein Begnadeten, die von ihm für die Seligkeit Auserwählten, die bevorzugten Besitzer des Himmels, und wer nicht mit ihnen humpelt, nicht mit ihnen höhnt und speit, der ist ein verdammter Sohn des Teufels, ein verfluchter Erbe der tiefsten Höllenqualen. Sie haben sich wie indische Fakirs verunstaltet, sich Wunden beigebracht,
2) mit Kamel-, Pferde- und noch anderem Mist beschmiert, als ob der Gestank der Leichen noch keine genügende Wonne für sie sei, und aus diesem Unflate heraus lassen
<S.15:> sie für Allah ihre Gebete und für die Menschen, an denen sie als Scheusale vorüberschwanken, ihre spott- und hohnvollen Schimpfreden schallen.
<...> <Einzelanekdote><...>

<S.16:>
<S.304:>

Ich hatte die Empfindung, als befände ich mich in einem ungelüfteten Krankensaale, welcher von Pockenbehafteten angefüllt ist. Und das war nicht etwa Einbildung, sondern auch Halef machte diese Bemerkung, und der Engländer schnüffelte mit seiner Beulennase höchst übelwollend in der stagnierenden Atmosphäre umher.

Hier oder da überholten wir einen alten Pilger, welcher sich in Kerbela begraben lassen wollte und ermüdet zurückgeblieben war, oder eine Gruppe von Aliisten, welche einem armen Maultiere mehrere Tote aufgebürdet hatten; das Tier keuchte schwitzend vorwärts, die Männer schritten mit zugehaltenen Nasen zur Seite, und hinter ihnen strömte der Todeshauch der Verwesung auf uns ein.

Am Wege saß ein Bettler; er war vollständig nackt - bis auf einen schmalen Schurz, welcher um seine Lenden gegürtet war. Er hatte seinem Leide um den ermordeten Hosseïn in höchst widerlicher Weise Ausdruck gegeben: die Schenkel und Oberarme waren mit spitzigen Messern durchstochen, und in die Unterarme, Waden, in den Hals, durch Nase, Kinn und Lippen hatte er von Zoll zu Zoll lange Nägel getrieben; an den Hüften und im Unterleibe bis herauf zu den Hüften hingen, in das Fleisch eingebohrt, eiserne Haken, an denen schwere Gewichte befestigt waren; alle andern Teile seines Körpers

Ich will noch ein zweites Beispiel dieses fanatischen Hasses erwähnen. Wir, nämlich der Engländer Lindsay, der persische Prinz Hassan Ardschir Mirza, Halef und ich, folgten nebst noch anderen Personen damals der uns vorangezogenen Todeskarawane, deren Gestank noch auf dem Wege lag, obgleich inzwischen ein Tag vergangen war. Es schien uns ganz so, als ob wir uns in einem ungelüfteten, mit Pockenkranken angefüllten Spital befänden. Zuweilen überholten wir einen Pilger, welcher sich in Kerbela begraben lassen wollte, oder eine Gruppe von Schiiten, welche einem armen, abgetriebenen Tiere mehrere Leichen aufgebürdet hatten, die es schwitzend, keuchend und vielfach strauchelnd weiterschleppte, während hinter ihm die Luft durch den Todeshauch der Verwesung so verschlechtert wurde, daß sie fast nicht zu atmen war.

Da saß am Wege ein Bettler, vollständig nackt, bis auf einen schmalen, um seine Lenden gegürteten Schurz. Er hatte seinem Schmerze um den ermordeten Hussein in folgender, höchst widerlichen Weise Ausdruck gegeben: die Oberarme und Schenkel waren mit spitzigen Messern durchstochen, und in die Unterarme, die Waden, in den Hals, durch die Nase, das Kinn und die Lippen hatte er von Zoll zu Zoll lange Nägel getrieben; im Unterleibe und in den Hüften hingen, in das Fleisch eingebohrt, eiserne Haken, an denen schwere Gewichte befestigt waren; alle anderen Teile seines Körpers waren mit



1) DH (S. 578): Aermeren, die Armen
2) DH (ebd): Kameel-,


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waren mit Nadeln bespickt, und in die nackt rasierte Kopfhaut hatte er lange Streifen geschnitten; durch jede Zehe und jedes Fingerglied war ein Holzpflock getrieben, und es gab an seinem ganzen Körper keine pfenniggroße Stelle, welche nicht eine dieser schmerzhaften Verwundungen aufzuweisen hatte. Nadeln gespickt, und in die nackt rasierte Kopfhaut hatte er lange Streifen geschnitten. Durch jede Zehe und jeden Finger war ein Holzpflock getrieben, und es gab an seinem ganzen Körper keine Stelle, welche nicht eine dieser schmerzhaften Verwundungen aufzuweisen hatte.
<Selbstdarstellug des Ich-Erzählers: Beglaubigung des Realitätsanspruchs der Weltläuferpose> Ich selbst bin ein durch und durch gesunder, überaus kräftiger Mann, dessen Natur - eine wahre Hippopotamusnatur - weder durch Hunger und Durst, Hitze und Kälte, Nachtwachen oder andere Anstrengungen so leicht angegriffen wird, aber einer solchen Mißhandlung meines Körpers würde ich wohl sehr bald erliegen. Zwar habe ich bei indischen Fakirs oft noch größere Verwundungen gesehen und weiß wohl, daß der religiöse Fanatismus über manchen Schmerz hinweghilft und daß ein Anhänger dieser neuen Lehren hier von Suggestion oder Hypnose sprechen würde, muß aber mein Erstaunen darüber ausdrücken, daß dieser Mensch so und überhaupt noch leben konnte. Es kam mir nicht bei, hier irgend einen Heroismus zu bewundern, sondern ich fühlte mich im Gegenteile und im höchsten Grade angewidert.
Bei unserm Nahen erhob er sich und mit ihm ein ganzer Schwarm von Fliegen und Mücken, welche den über und über blutrünstigen Menschen bedeckten. Der Kerl war entsetzlich anzusehen.

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»Dirigha Allah, waj Mohammed! Dirigha Hassan, Hosseïn!« kreischte er mit widerlicher Stimme und streckte bettelnd uns beide Hände entgegen.

Ich hatte in Indien Büßer gesehen, welche sich auf die fabelhaftesten Weisen Schmerzen verursachten, und mit ihnen immer Mitleid gefühlt; diesem fanatisch dummen Menschen aber hätte ich wahrhaftig lieber eine Ohrfeige als ein Almosen gegeben, denn neben dem Grauen, welches sein ekelhafter Anblick erweckte, konnte ich auch den Un-

Gern wäre ich mit abgewendeten Augen an dem blutrünstigen, von einem ganzen Schwarm von Fliegen und Mücken bedeckten Kerl vorübergeritten; aber er erhob sich bei unserem Nahen, streckt, uns die Hände entgegen und rief uns an:

»Dirigha Allah, wai Mohammedl Dirigha Hassan, Hossein!« Er war entsetzlich anzusehen; aber ich fühlte von Mitleid keine Spur in mir, sondern hätte ihm lieber eine Ohrfeige anstatt eines Almosens gegeben. Welch eine Dummheit, welch ein Unverstand, sich wegen des Todes eines Menschen - denn etwas anderes ist Hussein doch nicht gewesen - so scheußliche Martern zuzufügen! Und

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verstand nicht ertragen, welcher so scheußliche Martern ersinnt, um den Todestag eines doch nur sündhaften Menschen zu begehen. Und dabei hält sich ein solcher Mensch für einen Heiligen, dem nach dem Tode der oberste Rang des Paradieses sicher ist, und der auch bereits hier auf der Erde neben reichlichen Almosen die demütigste Verehrung zu beanspruchen hat.

Hassan Ardschir-Mirza warf ihm einen goldenen Doman zu. »Hasgadag Allah - Gott segne dich!« rief der Kerl, die Arme wie ein Priester erhebend.

Lindsay griff in die Tasche und gab ihm einen Gersch zu zehn Piaster.

»Subhalan Allah - gnädiger Gott!« sagte der Unhold schon weniger höflich, denn er stellte Allah und nicht Lindsay als Geber hin.

Ich zog einen Piaster hervor und warf ihm denselben vor die Füße. Der schiitische »Heilige« machte zuerst ein erstauntes Gesicht, dann aber ein sehr zorniges.

»Azdar - Geizhals!« rief er, und dann fügte er mit der Gebärde des Abscheues und mit außerordentlicher Schnelligkeit hinzu: »Azdari, pendsch Azdarani, deh Azdarani, hezar Azdarani, lek Azdarani - du bist ein Geizhals, du bist fünf Geizhälse, du bist zehn Geizhälse, du bist hundert Geizhälse, du bist tausend Geizhälse, du bist hunderttausend Geizhälse!«

dabei hielt sich dieser ekelhafte Kerl für einen Heiligen, dem nach dem Tode der oberste Rang des Paradieses sicher ist und der auch bereits hier auf der Erde neben reichlichen Almosen die demütigste Verehrung aller Menschen zu beanspruchen hat!

Der Prinz, als reicher Perser und Schiit, warf ihm einen goldenen Tuman zu.

»Hasgadag Allah - Gott segne dich!« belohnte ihn der Bettler für diese reiche Gabe.

Lindsay griff in die Tasche und gab ihm einen Gersch zu zehn Piastern*).

»Subhalan Allah - gnädiger Gott!« erklang es jetzt schon weit weniger belobend, denn nicht Lindsay, sondern Allah wurde als Geber bezeichnet.

Ich gab nur einen Piaster. Der »Heilige« machte erst ein höchst erstauntes, dann aber ein sehr zorniges Gesicht und schrie mich an:

»Azdar - Geizhals!« Dann fuhr er mit der Gebärde des Abscheues und immer steigender Schnelligkeit fort: »Azdari, pendsch Azdarani, deh Azdarani, hezar Azdarani, lek Azdarani - du bist ein Geizhals, du bist fünf Geizhälse, du bist zehn Geizhälse, du bist hundert Geizhälse, du bist tausend Geizhälse, du bist hunderttausend Geizhälse!«

*) ca. 1 Mark 80 Pfennige


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Er trat meinen Piaster mit Füßen, spie darauf und zeigte eine Wut, vor welcher man sich unter andern Umständen hätte fürchten müssen.

»Sihdi, was heißt Azdar?« fragte mich Halef.

»Geizhals.«

»Allah 'l Allah! Und wie heißt ein recht dummer, alberner Mensch?«

Er trat meinen Piaster unter die Füße, spie darauf und zeigte eine Wut, von welcher man nicht wußte, ob man über sie lachen oder sich vor ihr fürchten solle. Das war meinem kleinen, wackeren Halef denn doch zuviel; er duldete niemals eine Beleidigung, mochte sie nun gegen ihn oder gegen mich gerichtet sein; darum fragte er mich:

»Sihdi, ich verstehe ihn nicht. Was heißt Azdar

»Bisaman.«<S.19:>»Geizhals,« antwortete ich ihm.
»Und ein recht grober Flegel?«

»Dschaf.«

Da drehte sich der kleine Hadschi zu dem Perser hin, hielt ihm die flache Hand emporgerichtet entgegen, wischte sie am Beine ab, eine Gebärde, welche für die größte Beleidigung gilt, und rief: »Bisaman, Dschaf, Dschaf!«

Auf diese Worte öffneten sich die rhetorischen Schleusen des Schiiten auf eine Art und Weise, daß wir alle Reißaus nahmen. Der »heilige Märtyrer« befand sich im Besitze von Schimpfwörtern und Drastika, welche man unmöglich wiedergeben kann. Wir beugten uns vor seiner Überlegenheit und ritten weiter.

»Allah'l Allah! Und wie heißt ein recht dummer, alberner Mensch auf persisch?«

»Bisaman.«

»Und ein recht grober Flegel?«

»Dschaf.«

»Ich danke dir, Sihdi!«

Dann drehte er sich dem Schiiten zu, hielt ihm die flache Hand emporgerichtet entgegen, wischte sie am Beine ab, welche Gebärde als größte Beleidigung gilt, und rief-

"Bisaman, Bisaman, Dschaf, Dschaf, Dschaff!",

Was hierauf erfolgte, spottet jeder Beschreibung. Der »heilige Märtyrer« öffnete die Schleusen seiner Beredsamkeit und zeigte sich im Besitze von Schimpfwörtern und Drastika, welche unmöglich wiederzugeben sind. Wir beugten uns vor seiner Ueberlegenheit in dieser Beziehung, verzichteten auf die Fortsetzung dieser interessanten Unterhaltung mit ihm und ritten weiter.

Was wir dann bei und mit der Todeskarawane erlebten, ist bereits erzählt worden und bedarf der Wiederholung nicht; es ging aber an unserem geistigen Auge vorüber, als wir nun jetzt nach Jahren in tiefer, nächtlicher Einsamkeit an demselben Wege Saßen, den wir damals geritten waren. Das Gedächtnis brachte uns die damaligen Begebenheiten mit vollster Deutlichkeit und Schärfe zurück, und so kam es, daß wir auch jene entsetzlichen »Wohlgerüche des Paradieses« in unseren Nasen zu spüren schienen.


Unterstreichungen : wörtliche Übereinstimmung zwischen beiden Fassungen

< > : erläuternde Zusätze

DH : Fassung im "Deutschen Hausschatz", XXIV. Jg. (1897/98), S. 561-563, 577-579 (=Reprint der KMG "Im Reiche des silbernen Löwen" (1981), S. 156-161)


Karl Mays Werk 1895-1905

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