Biarritz.
Von
Sir John Retcliffe.
(Verfasser des Romans Sebastopol.)
Erste Abtheilung:
Gaëta - Warschau - Düppel.
Zweiter Band.


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Up ewig ungedeelt!

(Fortsetzung.)
Einen Augenblick stand der junge Kapitain bei diesem so unerwarteten und seltsamen Anblick, und wollte seinen Augen nicht trauen - und dennoch, jemehr er dies blasse ernste Gesicht ansah, desto mehr drängte sich ihm die Ueberzeugung auf, denn Zug für Zug war es dasselbe!
Und wiederum - es war ja unmöglich!
»Goddory, Kaptein Hansen - Jü steiht ja sau unbeweglich wie de Fockmast von Jur Brigg! Wat is Juck, Mann?«
Der junge Mann fuhr empor und mit der Hand über die Stirn. »Nichts, Kapitain Dreyer[Dreier]! Kommen Sie, Fräulein, Sie dürfen hier nicht zurückbleiben!«
Sie hatte die Trümmer ihrer Harfe in ihr großes, grobes Umschlagetuch gebunden. Ohne ein Wort zu sagen, zog sie zwischen den Männern her, deren feste und strenge Haltung die Schmähreden der Gegner und die rohen Späße der eigenen Partei in Schranken hielt. Selbst die beiden
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musikalischen Genossen der jungen Sängerin thaten keinen Einspruch gegen deren Entfernung, da sie begriffen, welches Vergehens sie sich in den Augen der Polizei schuldig gemacht, die ihre Spione überall hatte, und nicht als ihre Mitschuldigen bei dieser großen »Mißliebigkeit« angesehen sein wollten.
Als die vier Personen aus der Gasse auf den Platz traten, fanden sie, daß das Volksgewühl sich eher noch vermehrt als abgenommen. Große Haufen trunkenen Pöbels, Männer, Weiber und Kinder wogten, vom Strand her über die Brücken des Frederiksholms- und Holmenskanals ziehend, auf dem Schloßplatz umher, lärmten und tobten und prallten oft dicht bis an die Schildwachen der Eingänge. Einige Theile des Schlosses waren glänzend erleuchtet und der Pöbel wußte sehr gut, daß dort die sehr unbeliebte Gräfin wohnte. Leierkasten spielten an allen Ecken die Nationalmelodieen und Männer und Weiber zogen mit Soldaten und Matrosen Arm in Arm umher.
Der junge Friese wußte in der That nicht, was er von dem Benehmen des Mädchens an seiner Seite denken sollte. Er hatte wiederholt den Versuch gemacht, sie anzusprechen und zu einer Auskunft zu veranlassen, um über seine Zweifel in's Klare zu kommen; aber ihre Antworten waren kurz und ausweichend, auch hatte sie sein Anerbieten, die schwere Last ihr abzunehmen, zurückgewiesen. Er entschloß sich endlich zu einer ganz direkten Frage. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie damit beleidige, Fräulein Edda,« sagte er, »und wenn ich mich getäuscht habe, aber die Aehnlichkeit ist zu groß. Ich weiß in der That nicht, ob Sie
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Sie selbst oder Ihre Doppelgängerin sind? Im erstern Falle will ich nicht wissen, was Sie zu dieser Maskerade veranlaßt hat, aber Sie werden mir wenigstens erlauben, Sie nach Hause oder an den Ort zu bringen, wo Ihre Freunde Sie erwarten.«
»Ich habe keine Freunde!«
»Aber Ihr Vater - mein Bruder!«
»Was kümmert mich Ihr Bruder?«
»Wenig allerdings, wie es scheint,« bemerkte mit einiger Bitterkeit der Friese. »Nur weiß ich mir dann nicht recht zu erklären, warum Sie auf so schwere Gefahr hin noch vor wenigen Minuten Ihre Sympathieen für uns Deutsche bekundeten.«
Sie wendete sich langsam nach ihm um und sah ihn mit großen starren Augen in's Gesicht. Jetzt, im Licht der Gaslaterne, unter der sie eben vorübergingen, kam es ihm zum ersten Mal vor, als ob dies Antlitz doch ein ganz anderes wäre, wie dasjenige, welches er am Nachmittag gesehen, - zwar ganz dieselben Züge, Augen, Mund - Haar - nur daß der Ausdruck ein anderer war, noch ernster, strenger - ja gewissermaßen drohend!
»Welche Sympathieen?« frug sie kurz.
»Mein Gott - der Gesang unseres Nationalliedes unter solchen Umständen!«
»Ich hätte ebenso gern ihren Landsoldaten gesungen,« sagte sie höhnisch. »Ich habe eben so wenig Sympathieen für Deutsche, wie für Dänen! ich hasse sie beide, und hoffte nur, sie aneinander zu bringen. Warum mischten
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Sie sich hinein, wenn Sie nicht den Muth hatten, zuzuschlagen?«
»Fräulein Edda!« stammelte er bestürzt.
»Ich heiße nicht Edda - selbst der Name ist mir verhaßt! - der meine ist Adda! - Aber -« sie blieb stehen - »hier haben Sie mich weit genug gebracht, - ich bin genügend vertraut mit dem Weg, um allein weiter zu gehen und danke Ihnen für das, was Sie glaubten, zu meiner Sicherheit thun zu müssen!«
Die letzten Worte waren an die beiden anderen Seeleute gerichtet, die vor dem Paar hergegangen waren und nicht gehört haben konnten, was sie vorher gesprochen.
»Kind,« sagte der alte Kapitain, »wenn Sie glauben, in Sicherheit zu sein, wollen wir uns allerdings Ihnen nicht länger aufdrängen. Gehen Sie so eilig als möglich nach Hause, denn es ist heute kein passender Aufenthalt auf den Straßen für junge Mädchen - selbst Ihres Standes. Aber noch Eins! - Sie scheinen eine Deutsche zu sein, - jenes Lied hat Ihnen Ihren Erwerb gekostet. Ich bin nicht reich, aber nehmen Sie diese zwei Speciesthaler als Beitrag zum Ersatz Ihrer armen Harfe oder, lieber noch - zum Beginn einer würdigeren Beschäftigung.«
Er reichte dem Mädchen die Münzen. Auch der Portugiese, ein Mann von mittleren Jahren, der mehrmals auf dem Wege nicht ohne Wohlgefallen nach der seltsamen Sängerin sich umgesehen hatte, zog seine Börse, nahm ein Geldstück heraus und reichte es ihr.
Das Gold funkelte in der Börse in dem hellen
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Gaslicht - die Sängerin warf einen Blick auf dasselbe, der dem glich, den vorher der lange Isländer gierig danach gethan, und ihr Gesicht röthete sich leicht.
»Da Filhinha!1 nehmen Sie! Diabo - es ist schade, daß wir uns schon trennen müssen!«
Das Mädchen hatte ruhig die Geldstücke genommen und wandte sich dann zu dem Friesen.
»Und Sie, Herr? - geben Sie mir Nichts?«
Was es auch sein mochte, Frechheit oder Spott - die Frage widerte ihn an und er sagte streng: »Nein - ich will erst wissen, wer Sie sind und was mit Ihnen ist!?«
Die Bänkelsängerin machte ihm eine kurze höhnische Verneigung. »Auch gut,« sagte sie, »stets Worte und keine Thaten, ächt deutsch! - Gute Nacht, meine Herren!«
Sie ging die Straße hinunter und bog in die nächste Querstraße ein. Der altonaer Kapitain sah ihr kopfschüttelnd, der Portugiese mit Interesse nach.
»Ein seltsames Frauenzimmer,« meinte der Erstere. »Aber es reut mich doch nicht, daß ich ihr die Paar Spezies geschenkt; denn um das Lied mitten zwischen den dänischen Trunkenbolden zu singen, dazu gehörte in der That nicht wenig Muth. - Aber was machen wir nun, meine Herren? - Es ist sehr unruhig in der Stadt und die Danske's scheinen mir die größte Lust zu haben, Unfug zu treiben und uns Deutschen Etwas anzuhängen. Wissen Sie, Kapitain Hansen, wen ich vorhin im Gedränge bemerkt habe?«
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»Wen?«
»Den Herzog von Noer!«
»Aber der ist in Amerika, so viel ich weiß! Er würde nicht wagen, sich in Kopenhagen zu zeigen!«
»Ich weiß nicht, warum es geschieht - aber ich denke, wir werden von den Augustenburgern noch Einiges erleben. Amerika ist nicht so weit, und ich müßte mich vorhin sehr getäuscht haben, als der Wind den Mantelkragen von seinem Gesicht riß, wenn er's nicht gewesen wäre. Glauben Sie mir, es sitzt Sturm in der Luft und der kopenhagener Pöbel ist zu Allem fähig. Ich werde nach meinem Schiff gehn, das drüben in Christianshavn ankert und rathe Ihnen, dasselbe zu thun!«
»Ich danke Ihnen für den Rath, Kapitain Dreyer[Dreier], und hoffe, Sie morgen wieder zu sehen. Gehen wir zusammen, Senhor?«
»Wenn es Ihnen beliebt. Die Santa Lucia liegt an der Zollbude!«
»Mein Schiff desgleichen. Ich kann dann in dem Haus, wo ich Wohnung genommen, meinem Stewart das Nöthige sagen. Gute Nacht denn, Kapitain und auf Wiedersehen!«
Sie schüttelten einander die Hände, dann setzten der junge Friese und der portugiesische Schiffer ihren Weg fort, während der Altonaer zurückging nach dem Strand. -
Kapitain Hansen schritt in tiefen Gedanken neben seinem Gefährten her und antwortete nur kurz und zerstreut auf dessen Gespräch. An einer der Straßenecken der Altstadt, ehe sie den Königs-Neumarkt erreichten, war
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ein Gedränge durch zwei Wagen entstanden, die an einander gestoßen waren, und die Kutscher fluchten und schimpften einander, während der Pöbel Partei für das schlechtere Fuhrwerk gegen die herrschaftliche Equipage nahm, deren Halten die Passage in der engen Straße versperrt hatte. Durch die Menschenwoge wurde er selbst von seinem Begleiter getrennt und hatte es nicht bemerkt, daß dieser plötzlich sich nach einer andern Richtung wandte und einer Frauengestalt folgte, die schon zwei Mal an ihnen vorbeigestrichen, ohne daß der junge Mann darauf geachtet hatte. Als dieser seinen Gefährten jetzt suchte, war nirgends mehr etwas von ihm zu erblicken, und Klaus Hansen setzte daher nicht unzufrieden darüber, allein zu sein, seinen Weg fort.
Um dem Streit an dem Wagen auszuweichen und mit seinen Gedanken allein zu sein, bog er links in die Gassen ein, die nördlich von dem großen Platz von Gothers Gade durchschnitten werden und noch zur Altstadt gehören; aber es schien, daß seine Abenteuer in dieser Nacht noch keineswegs zu Ende sein sollten, denn eben als er an einem ziemlich dunklen - einen Durchgang bildenden - Seitengäßchen vorüber ging, hörte er den Hilferuf einer weiblichen Stimme in demselben, dann laufende Schritte und rohes Gelächter.
Er blieb von dem ihm innewohnenden ritterlichen Gefühl getrieben einen Augenblick stehen, und im nächsten stürzte eine in einen weiten Mantel, in Capotte und Schleier gehüllte, offenbar den höhern Ständen angehörige Dame aus der engen Gasse heraus, sah sich einen Augenblick wie nach Schutz in der breiteren, besser erleuchteten
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Straße um, eilte dann, da dieselbe an dieser Stelle sonst fast leer war, auf ihn zu und faßte seinen Arm.
»Um Gotteswillen, mein Herr,« bat sie hastig, »schützen Sie mich vor diesen rohen Menschen, und bringen Sie mich zurück zu meinem Wagen!«
Hinter der Dame drein sprangen jetzt aus der Gasse zwei Männer - an der langen Gestalt des einen erkannte der junge Mann sofort den Isländer.
»Gottes Blut will ich trinken, wenn es nicht die Dirne ist! Wir schleppen sie auf's Schiff, Maat, und dann soll sie für einen Nigger zu schlecht werden! D'rauf Langer, faß das Weibsstück!«
Es bedurfte der Anreizung nicht erst, denn mit einem Ruf, der mehr dem Schrei eines wilden Thieres glich, als der Stimme eines Menschen, sprang der wilde Seemann vorwärts und faßte nach der bebenden Frau, die sich an den Friesen drängte.
Eine eigenthümliche Ahnung durchzuckte den jungen Kapitain bei den ihm deutlich hörbaren Worten des portugiesischen Steuermanns. Er warf einen Blick auf die Dame, die sich an seinen linken Arm klammerte und konnte voll ihr Gesicht erkennen, da der Schleier von der rohen Hand eines der beiden Strolche zerrissen worden war.
Es gehörte dem Mädchen, das er vorhin erst verlassen, - nur war es jetzt von Angst entstellt, während früher es selbst in der größten Gefahr so unbeweglich und trotzig geblieben.
»Adda - Sie wieder?«
Das Erkennen schien gegenseitig, denn als das Mädchen
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zu ihm aufblickte, schien sofort ihre Angst beruhigt. »Kapitain Hansen!« rief sie erfreut. »Gott sei Dank, daß Sie es sind, Sie werden mich schützen vor diesen frechen Menschen!«
Der Isländer legte eben die Hand an sie. Ein Fauststoß des Friesen, boxermäßig auf seine Magengrube mit gewaltiger Kraft geführt, machte ihn mehre Schritte zurücktaumeln.
»Putão!« fluchte der Portugiese - »es ist der Bursche von vorhin! Nieder mit dem Schurken, Jökul! für was trägst Du Dein Messer, Memme?«
Der riesige Seemann hatte sich wieder aufgerafft. Er warf aus seinen kleinen rothen Augen einen wilden blutdürstigen Blick auf seinen Gegner, dann griff er nach seinem Messer, lehnte den Oberkörper weit zurück und wog es auf der flachen Hand.
Der junge Friese hatte das Mädchen hinter sich gedrängt und mit Blitzesschnelle gleichfalls sein Einschlagmesser gezogen, das er in der Tasche seiner Beinkleider trug. Als er aber das ihm glücklicher Weise wohlbekannte, namentlich bei holländischen und chinesischen Seeleuten beliebte Manövre des Messerwurfs sah, begriff er, daß er nicht mehr Zeit haben würde, es aufzuklappen. Er ließ es fallen, warf sich vor das Mädchen und deckte sich mit dem linken Arm, die rechte Hand zum Griff halb vorstreckend.
Die Fertigkeit, die er sich während seines Aufenthalts in Canton und Schang-hai in dem gefährlichen Spiel erworben, war seine Rettung, denn der wilde Isländer schleuderte
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mit furchtbarer Kraft und Sicherheit in diesem Augenblick die gefährliche Waffe. Die zischende Klinge verletzte leicht die Hand des Kapitains, aber es gelang ihm glücklich, den Griff im Fluge zu fassen, und ohne das geringste Zögern vorwärts springend, führte er mit dem eisernen Knopf des Messers einen so furchtbaren Hieb gegen die Stirn des Isländers, daß dieser lang auf das Steinpflaster stürzte.
»Brav gemacht, Schiffsmaat!« sagte eine harte Stimme hinter ihm. »Bei allen tausend Teufeln, ich sah noch nie einen bessern Schlag und dem Lümmel dort ist ganz Recht geschehn! - Wenn Sie auf meiner Corvette eintreten wollen, Mann, soll sich ein guter Platz für Sie finden!«
Der Friese hatte sich überrascht umgedreht - sein vom Zorn über den mörderischen Ueberfall geröthetes Gesicht wurde jedoch bleich von einer heftigeren inneren Bewegung, als er den Sprecher, einen Marine-Offizier erkannte, der mit mehreren anderen Personen bei dem entstandenen Streit stehen geblieben war.«
»Ich danke für Ihr Anerbieten, Kapitain-Lieutenant Hammer,« sagte er, sich gewaltsam fassend - »ich bin ein Friese von den Inseln und Sie werden wissen, wie diese über Ihr Kommando denken! - Kommen Sie, Fräulein!«
Er reichte dem Mädchen, das sich tief in ihre Capotte und die Reste des Schleiers vermummt hatte, den Arm und führte sie festen Schrittes fort, ohne sich weder um den zu Boden Geschlagenen noch um die Zuschauer des Auftritts zu kümmern.
Der Marine-Offizier lachte. »Der Bursche scheint
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mich gut genug zu kennen!« sagte er zu einem Freund, mit dem er eben stehn geblieben war. - »Diese Friesen sind Dickköpfe und es gehört wahrhaftig ein Regiment, wie ich es auf den Inseln führte, dazu, sie zahm zu machen.«
Der, von dem die Rede war, führte unterdeß stumm seine Begleiterin weiter, bis sie in die Gothers Gade einbogen. Dann blieb er stehen:
»Wohin soll ich Sie bringen, Mademoiselle Adda?«
»Unser Wagen, den ich thörichter Weise verließ, um unbemerkt einen Gang zu thun, wartet meiner vor der Akademie2. Aber warum nennen Sie mich Adda, Herr Kapitain?«
Erst jetzt that er einen genaueren Blick auf sie und es fiel ihm auf, daß sie eine so andere Kleidung hatte, als vorhin, ja unter dem sich öffnenden Mantel glaubte er das lichtblaue Gesellschaftskleid zu erkennen, das am Nachmittag die Braut seines Bruders getragen.
»In der That, Fräulein,« sagte er ernst, »ich bin ein einfacher Seemann und nicht vertraut mit den kleinen Launen und Maskeraden der Damen der vornehmen Welt. Aber ob Sie sich Edda oder Adda nennen, - ich fürchte, daß die Braut Johannes Hansen's unter beiden Namen nicht an ihrem Platze war!«
Sie standen jetzt unter den hellen Gaslaternen am Denkmal König Christian's V. und das Licht fiel hell auf die schönen Züge der jungen Dame, die den Ausdruck des
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Schreckens jetzt verloren hatten und die frühere stolze und strenge Miene wieder annahmen, die er bei der ersten Begegnung an ihr gefunden.
»Der Dienst, den Sie einer Dame geleistet haben,« sprach Sie stolz, »giebt Ihnen keineswegs das Recht, mein Herr, mich zu beleidigen, indem Sie meine Handlungsweise mißdeuten, auch wenn dieselbe Ihnen auffallend erschien. Setzen Sie meinetwegen Ihren Bruder davon in Kenntniß, daß Sie mich allein auf der Straße gehend und dadurch den Insulten trunkener Matrosen ausgesetzt gefunden haben - ich bin zu stolz, um mich zu verantworten!«
»Ich weiß, Sie sind nicht schuld daran,« sagte er verwirrt - »die Unverschämten haben wahrscheinlich auf Sie gelauert, als wir die Taverne am Strande verließen! Aber warum wagten Sie sich dorthin - Sie unter das rohe Volk!«
»Was reden Sie von einer Taverne - was soll das heißen?«
»Nun - bin ich denn verwirrt, oder hab' ich meine fünf Sinne nicht zusammen? Das Schänkhaus in der Nähe des Strand's, wo Sie so muthig unser Lied sangen und der wilde rohe Bursche Ihre Harfe zertrümmerte!«
»Meine Harfe - ich in einem Matrosenwirthshaus?« Sie brach in ein heiteres Lachen aus, - wurde aber plötzlich wieder sehr ernst.
»Sagen Sie, mein Herr Kapitain, auf Ihr Manneswort, haben Sie mich wirklich dort gesehen?«
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»Sie selbst oder Ihre Doppelgängerin! - Freilich, - Sie trugen eine andere Kleidung - -«
»Und deshalb nannten Sie mich Adda?«
»Sie selbst - oder das Wesen, das Ihnen gleicht, wie ein Auge dem andern, wollten nur diesen Namen führen!«
Die junge Dame sah starr vor sich nieder - sie rang krampfhaft ihre schlanken Finger in einander, wie er bemerken konnte.
»Die Unglückliche!« sagte sie endlich leise - »es ist kein Zweifel, sie muß es gewesen sein. Gott sei Dank wenigstens, daß ich ihre Spur wieder gefunden! - Herr Kapitain,« wandte sie sich zu diesem, »der Zufall hat Sie zum Mitwisser eines Geheimnisses gemacht, das schwer auf mir lastet. Ich muß Ihnen deshalb vertrauen und rechne auf Ihre Ehre und Ihr unverbrüchliches Schweigen dabei, da Sie mir in der That nützlich sein und noch in diesem Augenblick mir beistehen können!«
»Sie haben über mich zu befehlen, Fräulein Halsteen,« erwiderte der junge Mann nicht ohne eine gewisse Erleichterung, »aber - verzeihen Sie die Bemerkung, - sollte nicht mein Bruder als Ihr Verlobter die geeignete Person sein?«
»Nein Herr,« sagte sie kurz - »Johann liebt und bewundert mich, ich weiß es, aber er ist ein Bureaukrat, ein Hofmann, wenn Sie wollen, und hat für außergewöhnliche Verhältnisse und Handlungsweise keinen Sinn! Sie sind ein Mann von Entschlossenheit und Thatkraft, und Ihr offenes Wesen flößte mir Vertrauen ein vom
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ersten Augenblick unserer Bekanntschaft an. - Ich habe noch mehr als eine Stunde Zeit, ehe mein Vater und Ihr Bruder das Kabinet der Gräfin verlassen können, und ich muß diese Zeit benutzen, um jenes Weib aufzusuchen, das Sie für mich hielten. Ich muß sie sehen und sprechen - und das war eben der Zweck meines unvorsichtigen Ganges. Wollen Sie jetzt mein Ritter und Begleiter sein bei der Erneuerung meiner Nachforschung?«
»Ich stehe zu Ihrem Befehl!«
»Und Sie wollen nicht fragen und forschen - oder falsch über mich urtheilen, bis ich selbst Ihnen den Schleier lüfte, so weit es geschehen darf, von Allem, was Ihnen räthselhaft und seltsam vorkommt?«
»Mein Ehrenwort darauf!«
»Dann, mein tapferer Nordlandsrecke, geben Sie mir Ihren Arm und lassen Sie uns umdrehen!«
Das Paar verlor sich auf's Neue in die Gassen der Altstadt.


Es war am andern Vormittag gegen 9 Uhr, als der Legationssecretair Hansen in das Zimmer trat, das er seinem Bruder eingeräumt hatte, und diesen noch bei seiner einfachen Toilette traf. Su[c]ky, der Laskare, ging ab und zu.
»Schau mir Jemand den Faulenzer,« sagte er lachend - »ich bin seit zwei Stunden aus den Federn und an der Arbeit, und mein verehrter Bruder Seemann, der ein Muster von Wachsamkeit und Thätigkeit ist, hat sogar die Frühstückszeit verschlafen. Das kommt vom Nachtschwärmen,
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denn ich habs schon gehört, daß Du keine Ausnahme von dem Ruf machst, der Euch Seeleuten am Lande ein etwas schlimmes Leben nachsagt, und erst spät in der Nacht, oder besser am Morgen nach Hause gekommen bist!«
»Du irrst!« meinte der Kapitain - »die vergangene Nacht gehörte nicht dem Vergnügen, sondern der Erfüllung meiner Pflichten. Ich habe einen Theil derselben an Bord meines Schiffes zugebracht, da wir Deutschen gestern Abend besorgt sein mußten, der ehrenwerthe Pöbel von Kopenhagen dürfte sich in seinem nationalen Eifer ein Vergnügen daraus machen, zur Nachfeier der Eröffnung des Reichstags das Eigenthum anders redender Unterthanen seines Monarchen anzuzünden.«
Der Legationssecretair erröthete leicht. »Du sprichst etwas unbesonnen,« sagte er. »Zunächst redest Du von uns Deutschen, als ob wir nicht geborene Dänen wären!«
Der Kapitain sah ihn erstaunt an. »Wir - Dänen? aber in welcher Sprache reden wir denn eben mit einander?«
»Nun - es ist unser friesisch Platt,« meinte nicht ohne einige Verlegenheit der Diplomat, »aber ich bemerkte Dir schon gestern, daß Professor Allen zur Genüge nachgewiesen, daß das Altfriesische gleichen Stamm mit der dänischen, nicht mit der deutschen Sprache hat.«
»Dann ist der Kerl ein Dummkopf oder ein Ignorant! Hol's der Henker, Bruder Jan, - die Luft in Kopenhagen scheint Dich seltsam verändert zu haben und läßt mich den Sohn unsers seeligen Vaters, des Prediger Johannes Hansen auf den Inseln, kaum noch erkennen!«
»Weil ich nicht mehr einer albernen Phantasterei
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huldige, sondern verständig erkannt habe, was recht ist und uns noth thut, dem Ausland gegenüber, deshalb schiltst Du mich,« sagte mit Heftigkeit der junge Beamte. »Ich erkenne darin den Einfluß unsers Oheims Barthelsen, auch wenn Du mir nicht gesagt hättest, daß Du Dich bei ihm aufgehalten, und jener ganzen Clicque von Revolutionairen, die den besten Absichten der Regierung für die Eiderprovinzen negirend entgegentritt und das Land nicht zur Ruhe kommen läßt!«
»Zur Ruhe des Todes, das heißt zur Vernichtung seiner Selbstständigkeit und seines deutschen Charakters!«
»Ich bin nicht herüber gekommen, um mit Dir über eine längst entschiedene Frage zu streiten,« fuhr der Legationssecretair erregt fort, »sondern um Dich zu bitten, daß Du während meiner Abwesenheit, - ich muß Dir nämlich leider sagen, daß ich durch den Dienst gezwungen bin, schon heute Mittag mit dem Dampfer über Kiel nach Berlin abzureisen - -«
»Ich hörte davon!«
»Es versteht sich von selbst, daß, auch wenn ich nicht hier bin, Du meine Wohnung benutzest und mein Gast bist. Auch mein Schwiegervater wünscht dies und meine Braut hat Dich bereits in so lebhafte Affection genommen, daß ich fast eifersüchtig darüber werden könnte! - also, um Dich in Deinem eigenen Interesse zu bitten, während Deines Aufenthalts in Kopenhagen und selbst später vorsichtig in Deinen Reden zu sein, und die falschen politischen Ansichten, die Du leider angenommen zu haben scheinst, nicht laut werden zu lassen. Sie könnten Dir
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nur unangenehme Verwickelungen bereiten, die Du schon aus Liebe zu mir vermeiden wirst, da mein Vorgesetzter und künftiger Schwiegervater, wenn auch ein vorurtheilsfreier verständiger Mann, doch ein treuer Anhänger unsers angestammten Monarchen ist und ein strenger Gegner all' der revolutionairen Agitationen, die leider noch in den Eiderprovinzen ihr Wesen treiben!«
Der Seemann hatte seine Toilette beendet und trat jetzt auf seinen Bruder zu, dem er traulich die Hand auf die Schulter legte.
»Bruder Jan,« sagte er, ihm herzlich in's Auge blickend, »haben die schönen Augen Fräulein Edda's denn wirklich eine so große Macht über einen ehrlichen Burschen aus altem friesischem Blut erlangt, oder hat Dich der Teufel des Ehrgeizes wirklich schon so sehr verblendet, daß Du nicht einmal mehr den Namen Deines Vaterlandes kennen magst, und von Schleswig-Holstein nur als von den Eiderprovinzen sprichst? Hast Du so ganz die Gefühle unsers ehrwürdigen Vaters vergessen, der als wackerer Patriot lebte, lehrte und starb, und seinen Seegen, als Du selbst als Jüngling von 18 Jahren die Schwelle des väterlichen Hauses verließest, um Dich in die Reihen der Männer zu stellen, die für das deutsche Recht der unterdrückten Herzogthümer ihr Blut und Leben ließen - einen Seegen, um den ich, der vierzehnjährige Junge, Dich damals so sehr beneidete!?«
»Es war das Dümmste, was ich je in meinem Leben gethan,« antwortete störrisch der Beamte. »Es hat mich schwer in meiner Karriere aufgehalten und ich habe Mühe
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genug gehabt, das Andenken an den thörichten Jugendstreich vergessen zu machen, obschon ich zum Glück bald genug vom Schicksal durch den Tod unsers Vaters und die Aufgabe, für mich selbst zu sorgen, zu Verstande gebracht wurde. Es war ein Glück, daß ich Freunde gewann, die mich auf bessere Wege brachten und mir möglich machten, in Kopenhagen weiter zu studiren.«
Der junge Kapitain sah finster zu Boden. »Das war, was uns zuerst trennte! Die Mutter bedauert es noch heute. Der deutsche Student gehörte nach Kiel, nicht in das Heerlager unserer Unterdrücker!«
»Ich bitte Dich ernstlich, laß mich nicht solche Worte hören,« sagte der Legationssecretair gereizt. »Du bist wirklich noch zu jung und zu lange und oft von der Heimath entfernt gewesen, um Dir ein richtiges Urtheil über so schwierige Verhältnisse bilden zu können. Ich liebe unsere Heimathprovinz so gut wie Du, aber eben darum wünsche ich sie als ein wirkliches und nützliches, nicht als ein abgesondertes Glied des Großen und Ganzen zu sehen. Schleswig gehört ein für allemal zu Dänemark und muß um seines eigenen Vortheils willen aus dieser unglückseligen Zwitterstellung zu Holstein erlöst werden, das wirst Du selbst nicht leugnen! Die Regierung meint es aufrichtig und will Nichts, als die garantirte Gleichstellung der beiden Nationalitäten zur Wahrheit machen. Bisher war aber die dänische, unsere eigene und mächtigere, schwer unterdrückt.«
Der Seemann blieb vor dem Sprecher, der sich auf das Sopha niedergelassen, stehen.
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»Nennst Du das eine Unterdrückung der dänischen oder der deutschen Nationalität, wenn von 571 weltlichen Beamten in einem historisch deutschen Land bereits 540 geborne Dänen sind? wenn den tüchtigsten jungen eingebornen Männern ganz offenkundig die Anstellung in der Heimath verweigert wird, blos weil sie in Kiel und nicht in Kopenhagen studirt haben?«
»Sie finden stets Anstellung auf den Inseln, wie Du an mir selbst siehst,« wandte der Legationssecretair ein. »Es ist natürlich, daß der Staat die Kenntniß seiner besonderen Gesetze und Einrichtungen verlangt und - da wir einmal leider ein getheiltes Volk bilden - auch genügende Uebung im Dänischen.«
»Oder vielmehr gänzliches Vergessen des Deutschen! Oder ist es etwas anders, daß man die Jugend mit Gewalt zwingt, die ehrliche deutsche Sprache zu vergessen und nur dänisch zu denken und zu sprechen?«
»Du übertreibst, Klaus!«
»Nein, es ist Wahrheit, was ich sage, und Dein ehrlich friesisches Herz muß es Dir selbst sagen. Oder ist es nicht wahr, daß seit acht Jahren systematisch das Unerhörteste geschehn, die deutsche Nationalität in dem deutschen Herzogthum Schleswig auszurotten? Daß von den vier deutschen Gelehrtenschulen, welche das Herzogthum in Hadersleben, Husum, Flensburg und Schleswig besaß, drei gegen alle Bestimmungen der Stifter, in dänische Real- und Bürgerschulen verwandelt worden sind? - ist es nicht wahr, daß an der letzten, unserer berühmten Domschule in Schleswig, mit dem Direktor von 13 Lehrern bereits neun
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geborne Dänen sind, die wenig oder gar kein Deutsch sprechen? Ist es Dir unbekannt, daß der Collaborator Helms, der Poet des tappern Landsoldaten, den ich Dir gestern Abend gewünscht hätte, singen zu hören, wo ich ihn hörte, - zum Hohn unsers Vaterlandes, Lehrer an der deutschen Domschule in Schleswig ist? Ist es nicht wahr, daß in den meisten Distrikten des Herzogthums bereits die albernsten ungebildetsten dänischen Pfaffen unsere würdigen deutschen Geistlichen verdrängt haben, daß von 52 Sonntagen deutsche Christen nur an sechsundzwanzig noch eine deutsche Predigt jämmerlich aus dem Munde eines Dänen, der nicht einmal der Sprache ordentlich mächtig ist, hören können? daß die Landschullehrer sämtlich unwissende Dänen sind, welche die deutsche Sprache nur in Ausnahmestunden deutschen Kindern lehren? daß die Eltern mit schweren Strafen gezwungen werden, ihre Kinder in dänische Schulen zu schicken, daß ihnen mit harter Pön verboten ist, deutsche Hauslehrer und Lehrerinnen zu halten?«
»Du redest von den gemischten Distrikten! Es ist die Pflicht der Regierung, dort auch den Unterthanen dänischer Nationalität gerecht zu werden.«
Der Kapitain legte die Hand schwer auf den Tisch. »Gemischte Distrikte? Ja, das ist auch eine Eurer tyrannischen kopenhagener Erfindungen wie das Vergehen der Mißlichkeit! In drei Vierteln dieser sogenannten gemischten Distrikte, in Angeln, Schwansen, auf den friesischen Inseln, leben außer den jetzigen Beamten, den neuen Predigern und Lehrern, kaum einzelne Leute, alte Invaliden, die das Dänische verstehen, die ganze Bevölkerung
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ist ehrlich deutsch, und dennoch zwingt man die deutschen Grundbesitzer, die Schreiben der dänischen Geistlichen und Beamten nur dänisch zu beantworten, dennoch zwingt man den deutschen Kindern in Kopenhagen gefertigte Schulbücher auf, die der dümmste Quartaner in Deutschland sich schämen würde, für seine Arbeit auszugeben!«
Der Legationssecretair schwieg finster. Er wie der kühne Redner überhörten im Eifer des Gesprächs das leichte Geräusch in dem anstoßenden Besuchzimmer des jungen Diplomaten, dessen Thür halb geöffnet stand.
Der ehrliche offenherzige Seemann hatte sich selbst in vollen Eifer hinein gesprochen.
Energisch fuhr er fort.
»Willst Du noch mehr? Soll ich Dich daran erinnern, daß Deine gnädigen Herrn von Kopenhagen uns Deutschen im Herzogthum nicht einmal mehr erlauben wollen, in deutscher Weise gesund und krank zu sein, daß man die Familien mit der Androhung der Entziehung jeder geschäftlichen Concession zwingt, ihre gebildeten deutschen Hausärzte zu entlassen und dafür dänische Ignoranten anzunehmen, die meist sich nicht einmal mit ihren Patienten verständigen können!? daß nur Dänen oder Renegaten noch die Conzession zu Apotheken erhalten?! Soll ich Dich daran erinnern, daß bereits der Frevel so weit gegangen, daß man die deutsche Irren- und die Taubstummen-Anstalt des Landes zu danisiren sucht, und die Unglücklichen nicht mehr die angeborene Sprache ihrer Heimath vernehmen dürfen?!«
»Du gehst zu weit Klaus, ich darf als königlicher
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Beamter nicht ruhig diese Sprache hören. Etatsrath Regenburg, der sonst hochverdiente Chef des Kirchen- und Schulwesens, mag vielleicht in einigen Maßregeln zu weit gegangen, zu rasch verfahren sein, - aber der böse Wille, der oppositionelle Geist der deutschen Bevölkerung sind so offenkundig, daß die Regierung für alle politischen Freiheiten, die sie gewähren will, nur Hohn und Undank erndtet!«
Der Seemann lachte bitter. »Politische Freiheiten? Verstehst Du vielleicht darunter, daß bei den Ständewahlen in der Stadt Schleswig allein vierhundert unbescholtene deutsche Bürger von dem Wahlrecht ausgeschlossen wurden, blos weil sie von dem Petitionsrecht einen sehr bescheidenen Gebrauch gemacht hatten? daß dieser tyrannische Schuft Jörrissen mit Polizeidienern und Gensd'armen, mit Drohungen und Versprechungen die Bürger zur Wahl eines Dänen zwingen und trotzdem mit dem lächerlichen Resultate von 22 gegen 232 Stimmen sich geschlagen sehen mußte? daß seitdem jeder Wohlstand der Stadt mit Gewalt untergraben ist, ehrenwerthe Bürger wegen Unterschrift einer Petition an ihre eigene Ständeversammlung mißhandelt und eingesperrt werden! daß man in der widriglächerlichen Wuth, die Herzogthümer zu trennen, selbst in den Schulen die Kinder mißhandelt, welche sagen, daß Schleswig in Schleswig, nicht in Südjütland liegt! die deutschen Namen von den Wegweisern streicht, den Gebrauch von Landkarten mit deutschen Namen mit schweren Geldstrafen ahndet, die Landleute an Holstein's Gränze selbst verhindert, ihr Vieh auf die Kieler Ausstellung zu
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schicken und die gemeinnützigen Vereine verbietet, blos weil sie für Schleswiger wie Holsteiner gemeinsam sein wollen!«
Der Legationssecretair war aufgestanden. »Ich sehe,« sagte er bitter, »man hat Dir die Lektion bei Onkel Barthelsen recht geläufig eingelernt!«
»Ich brauchte dazu keinen Lehrmeister, sondern nur Augen und Ohren offen zu halten. Was unsern alten ehrenhaften Oheim betrifft, so hat man gegen ihn auf das Schmachvollste gehandelt. Weil er auf das, was jedem Schleswiger theuer, auf die Zusammengehörigkeit der beiden deutschen Herzogthümer bei öffentlicher Gelegenheit angestoßen, hat die Polizei gewagt, selbst gegen richterliches Urtheil ihn vierzig Tage lang im Gefängniß zu halten. Eine solche Willkür ist unerhört, und ich bin hier, um Alles zu thun, was ich vermag, ihm Genugthuung zu verschaffen. Noch heute werde ich den Baron von Scheel-Plessen aufsuchen und ihm die Beschwerde vorlegen. Wenn er auch ein Aristokrat und Regierungsmann ist, so ist er doch ein geborner Deutscher aus den Herzogthümern, und kann nicht dulden, daß solche Willkür geschieht. - Von Dir aber - ich sage es Dir offen in's Gesicht, Bruder, hätte Oheim Barthelsen mit Recht erwarten können, daß Du Dich der Noth seiner Familie angenommen, und Deinen Einfluß hier geltend gemacht, das Unrecht zu beseitigen, statt ihn feig zu verleugnen!«
»Du wirst beleidigend, Klaus!« sagte unwillig der Legationssecretair, »und selbst dem Vorrecht Deines Standes, täppisch und ungeschliffen zu sein, darf ich das nicht
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länger nachsehen. Ich handle nach meiner Ueberzeugung, indem ich auf Seiten der Regierung stehe, und bin aus Erfahrung und Grundsatz ein Feind aller dieser demokratischen Opposition. Meinetwegen magst Du in China oder New-Orleans Deine liberalen Sympathieen zum Besten geben, hier aber ist kein Boden dafür und ich muß Dich ernstlich warnen, Dich nicht in Dinge zu mischen, denen Du nicht gewachsen bist. Schon um meinetwillen aber muß ich erwarten, daß Du im Hause meiner Braut, einer dänischen Dame, Dich enthälst, solche Aeußerungen zu wiederholen.«
»Ich glaube nicht,« erwiederte der Seemann gelassen, »daß Fräulein Edda, so viel ich bis jetzt von ihr gesehen, einem ehrlichen Mann es verargen würde, seine Meinung zu vertheidigen, und denke, daß sie einen offenen Gegner vielleicht mehr achten dürfte, als ...«
Er brach seine Rede ab und wandte sich um.
»Klaus!«
»Laß uns dies Gespräch enden,« fuhr der Kapitain fort. »Es thut nicht gut und erhitzt uns Beide. Ich sehe mit Schmerzen, daß unsere Wege auseinander gehen und ich unserer ehrwürdigen Mutter keine Widerlegung der Befürchtungen, die sie in Folge verschiedener Winke bereits zu haben beginnt, nach Hause bringen kann! -Nur das Eine möchte ich Dir noch warnend sagen - treibt es nicht zu arg mit dem Volk in Schleswig! Was Eure Zeitungen todt schweigen, findet doch seinen Weg nach Deutschland hinein, und so schwerfällig man auch dort ist, endlich wird man den Schmerzensschrei eines mißhandelten
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Bruderstammes doch hören müssen. Hat doch selbst der Führer der preußischen Reaktionspartei, die doch sonst gerade nicht Euch widerwillig ist, Professor Stahl im Herrenhause ausgerufen: Es fehlt nur noch, daß man den Deutschen in Schleswig die Zunge aus dem Halse schneidet! und Preußen hat eine Sühne an der Eider zu leisten, die es früher oder später einlösen muß!«
»Das gränzt an Hochverrath!«
»Ich bin weder ein Hochverräther, noch ein Rebell. Ich bin ein Unterthan König Friedrich's VII. von Dänemark, aber ein Sohn Schleswig's und seiner alt verbrieften Rechte. Im Uebrigen danke ich Gott, daß mein Beruf auf freier See mich fern hält von Euren politischen Intriguen und Streitigkeiten. Und damit Basta und kein Wort weiter über die leidige Politik, die wenigstens nicht unsere brüderliche Liebe schädigen soll, wenn auch auf dem Mast des einen Fahrzeugs der alte Dannebrog, auf der Gaffel des andern die blau-weiß-rothe Flagge weht! Darum Bruder Jan für uns, wie für Schleswig-Holstein: up ewig ungedeelt!«
Er bot ihm herzlich die Hand, - während der Legationssecretair aber noch mit sich kämpfte, ob er einschlagen sollte, erwies sich, wie gut es war, daß das Gespräch geendet; denn als ein Räuspern sie aufmerksam machte und dem Diplomaten zu Hilfe kam, sahen sie auf der Schwelle des Nebenzimmers den Conferenzrath Halsteen, der unbemerkt eingetreten sein mußte.
Der hohe dänische Beamte musterte mit kaltem lauerndem Blick die Brüder und ihre Umgebung. Vergebens
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suchte der Legationssecretair an irgend einem Zeichen zu entdecken, ob er etwas mehr von der eben gepflogenen Unterredung gehört hätte, als die letzten Worte beim Eintritt, - aber das Gesicht des Conferenzraths hatte die ihm wohlbekannte diplomatische Maske angenommen, und nur der fest gekniffene Mund machte ihn bedenklich.
»Verzeihung, wenn ich die Herren vielleicht in einer Familien-Expectoration störe,« sagte der Rath, - »es ist so angenehm selbst für einen alten verstaubten Aktenmenschen, wie ich bin, das frische Leben in zwei so kräftigen Sprossen pulsiren und zwei Brüder innig verbunden zu sehen! Warum ich komme, lieber Hansen ist, Ihnen zu sagen, daß Edda die Herren in einer Stunde mit dem Lunch erwartet. Ich muß nach dem Ministerium, der Minister hat nach mir geschickt, und ich werde vielleicht kaum Zeit behalten, Sie vor der Abreise noch einen Augenblick zu sehen, oder Sie abzuholen zum Abfahrtsplatz der Dampfschiffe. Wenn nicht, so bedienen Sie sich meines Wagens, Sie wissen, der Dampfer nach Kiel geht um ein Uhr und darf nicht versäumt werden.«
»Ich werde pünktlich sein, verlassen Sie sich darauf!«
»Noch Eins - Sie wissen wegen der Angelegenheit aus London. Haben Sie mir die kleine Vollmacht ausgestellt?«
»Ich werde es sogleich thun!«
»Bitte, bitte. Haben Sie Ihrem Herrn Bruder vielleicht davon gesprochen?«
»Noch nicht. Der Schwärmer ist spät nach Hause gekommen und ein Langschläfer gewesen. Wir haben noch
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nicht Zeit gehabt, davon zu reden. Aber ich erinnere mich eben, daß Klaus sich stets weit mehr mit den Familien-Angelegenheiten beschäftigt hat, als ich. Unterdeß ich das Papier ausfülle, fragen Sie ihn vielleicht!«
Der Conferenzrath machte eine zustimmende Geberde und der ältere Hansen verließ das Zimmer.
Herr Halsteen ließ unterdeß seine Augen im Zimmer umherspazieren und sie auf dem Toilettentisch haften, wo noch das Waschbecken stand.
»Sieh, sieh - der Herr Kapitain haben wahrscheinlich Nasenbluten gehabt! Das kommt vom Nachtschwärmen der jungen Herrn! In meinem Alter ist man solider.«
»Ich leide niemals daran! - ich habe mich gestern Abend zufällig an einem Messer verwundet und im Dunkel nicht weiter auf die kleinen Schnitte geachtet. Suky - nimm das Wasser dort weg und gieße es aus! - Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Halsteen?«
Der Conferenzrath setzte sich in die Ecke des Sopha's, lehnte aber die angebotene Cigarre ab. »Ich bin kein Raucher,« sagte er, »schnupfe nur zuweilen. Es ist für uns Diplomaten eine angenehmere Leidenschaft und schärft das Denkvermögen. Apropos - Ihr verstorbener Herr Vater war ja wohl auf den Inseln geboren?«
»In Amrum, Herr Rath!«
»Richtig, so sagte mir Ihr Herr Bruder. - Und der Vater Ihres Herrn Vaters, also Ihr Großvater, stand damals, als Kopenhagen von den Engländern bombardirt wurde, also im Sommer 1807, in englischem Seedienst?«
»Er diente gegen die Franzosen. Aber das war nicht
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mein Großvater, der ein einfacher Schiffer auf den Inseln blieb, sondern sein älterer Bruder, der wie ich hieß, Claus Hansen!«
»So, so! Und hat Ihre werthe Familie nie wieder von diesem Ausreißer und Feinde seines Vaterlandes gehört?«
»Verzeihen Sie, Herr Conferenzrath,« sagte der junge Friese ernst, »mein Großoheim war weder ein Ausreißer noch ein Feind seines Vaterlandes. Er diente vielmehr gegen den Erbfeind desselben.«
»Möglich! nur waren die Ansichten über Feind und Freund damals etwas abweichend. Aber ich wiederhole die Frage, haben Sie niemals wieder von diesem Bruder Ihres Großvaters gehört?«
»Wie mein Vater mir erzählte, ging später, im Jahr 1808 oder 9 das Gerücht, er sei in Ostindien. Die Continentalsperre und die Kriege mit England erschwerten damals wohl alle Nachrichten. Aber darf ich fragen, warum von dem längst Verschollenen jetzt wieder die Rede ist?«
»O - durch Zufall. Es kam neulich in englischen Berichten der Namen Hansen vor und ich interessirte mich dafür und werde bei Gelegenheit weitere Nachfrage halten. Doch da kommt Ihr Bruder und ich muß mich jetzt wirklich verabschieden!«
Er steckte das Papier, das ihm der Legationssecretair brachte, in die Tasche und ging von diesem begleitet.
Der Laskare benutzte die Gelegenheit, daß sein Herr allein war, allerlei anzubringen, was ihm auf dem Herzen lag.
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»Ser unrecht von Sahib Kapitain,« meinte er, »gestern fortzugehn ohne Su[c]ky mitzunehmen! Ist hier bös Volk, fast so schlimm wie Malaye, der Amok läuft und hat Messer gleich bei der Hand!«
»Das erinnert mich,« sagte der Kapitain lächelnd, »daß ich einem der Kunststücke, die Du mich gelehrt, wahrscheinlich das Leben danke. Es wurde von einem Kerl ein Messer nach mir geworfen und ich fing es auf. Dort unter dem Spiegel liegt es! Hättest Du mich auf den Kunstgriff nicht geübt, fuhr mir die Klinge sicher drei Zoll durch den Hals oder in die Brust!«
»Ein Malakka-Mann ist sehr geschickt,« meinte der Laskare. »Aber warum hat Sahib Kapitain nicht geworfen sein Messer zuerst? man muß nie schonen einen Feind!«
»Wenn ich diesem Prinzip gefolgt wäre,« lachte der junge Mann, »hättest Du wahrscheinlich an einer Rae der Clary gebaumelt oder könntest Deine Knochen auf dem Grunde des indischen Meeres suchen, guter Freund!«
»Dann hätten Sahib Kapitain nicht so guten Steward,« erwiderte mit großer Selbstgenügsamkeit der Indier. »Aber ich habe nicht gefunden in der Tasche das Messer von Sahib!«
»Es ist wahr - ich erinnere mich jetzt! Ich hatte es zu meiner Vertheidigung gezogen und muß es bei dem Streit haben fallen lassen, ohne später daran wieder zu denken. Es ist mir ein unangenehmer Verlust; denn es war eine gute Klinge und das Geschenk eines alten Freundes, mit meinem Namen auf dem Griff eingravirt!«
»Sahib Kapitain muß ein anderes kaufen,« tröstete
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philosophisch der Laskare. »Giebt es viele schöne Messer hier und schöne Frauen, Frauen besser als Männer! Missis Edda ser schön, ser weißen Haut und ser gut für Malakka-Mann!«
»So - also Miß Edda gefällt Dir?«
Der Indier zeigte seine Zähne von einem Ohr zum andern. »Ist so schlank wie die Kokospalme und so weiß wie Taube! Kein Sultan in meiner Heimath hat eine Missis wie diese! Aber was nützen Sahib Bruder, wenn er auch kriegen viel Lak Rupien aus Indien, wenn er nicht ist glücklich in seinem Haus!«
Der junge Kapitain, der bisher nur en passant die Unterhaltung geführt, sah erstaunt auf bei diesen Bemerkungen. Er kannte aus Erfahrung die scharfe Beobachtungsgabe des Indiers.
»Was willst Du damit sagen, Bursche? was hat mein Bruder mit den indischen Rupien zu thun?«
»Weiß ich nicht! aber sagen doch die Diener in der Kambüs, daß er macht eine große Erbschaft aus Indien, und daß weiß dies ser gut alter Sahib mit dem glatten Kopf, sonst würd' er nicht geben Missis ihm zur Frau!«
»Was Du nicht Alles weißt,« meinte kopfschüttelnd der Kapitain und doch fuhren ihm unwillkürlich die Fragen des Conferenzraths von vorhin durch den Sinn und seine ausweichende Antwort. »Aber warum sollte mein Bruder nicht glücklich sein, wenn er eine so schöne Dame, wie Miß Edda heirathet?«
»Missis sein eine Sultanin, Missis lieben einen Mann, der ist ein Held, nicht sein ihr Sclave. Sahib
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Kapitain müßten heirathen Missis Edda, er sein der rechte Mann und würden sein ser glücklich, wenn erst ist verbannt schwarzer Dämon, vor dem sich fürchten Alle im Haus!«
»Du bist ein Narr, Su[c]ky,« sagte halb unwillig der Kapitain. »Wie kann ein Bursche wie Du auf dummes Küchengeschwätz achten? Ich werde Dich zurückschicken an Bord, wenn ich noch einmal solche einfältigen Worte höre.«
Der Eintritt des Legationssecretairs unterbrach die weiteren Expektorationen und der Indier fand für gut, sich davon zu machen.
Die Brüder besprachen jetzt noch verschiedene Dinge und Nachrichten aus der Heimath, ohne daß, von Beiden vermieden, das Gespräch noch einmal auf die Politik und die Tagesfragen gebracht wurde. Klaus erwartete vielleicht, daß der Bruder etwas von der durch das Dienergeschwätz angedeuteten indischen Angelegenheit sagen würde; da der Legationssecretair aber Nichts erwähnte, hielt er es eben für ein durch zufällige Umstände entstandenes Gerücht und dachte nicht weiter daran. So verging rasch die Zeit, bis Fräulein Halsteen die Herren einladen ließ, den Lunch mit ihr einzunehmen.
Sie fanden die junge Dame bereits im Speisesalon an dem wohlbesetzten Dejeunertisch ihrer warten, und während der Legationssecretair seiner schönen Verlobten die Hand küßte, begegnete über ihn hinweg ihr ernster bedeutungsvoller Blick dem Auge des Kapitains und ihr zarter schlanker Finger legte sich nochmals bezeichnend auf die Lippen.
Er neigte zustimmend den Kopf und unwillkürlich
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kamen bei der kleinen Scene ihm wieder die Worte des Malayen in den Sinn.
Fräulein Halsteen erinnerte aber von diesem Augenblick ab nicht mehr durch das geringste Zeichen oder die kleinste Anspielung an die Vorgänge des vergangenen Abends, ja schien jede Bezugnahme darauf sorgfältig zu vermeiden. Sie machte ganz die feine liebenswürdige Wirthin des Hauses, ohne daß ihr Wesen dabei die ihr eigene aristokratische und ernste Haltung aufgab. Mit Feinheit wußte sie den jungen Seemann die Kosten der Unterhaltung tragen zu lassen und ihn von seinen Reisen und Abenteuern erzählen zu machen, so daß er darüber ganz vergaß, was er sich doch eigentlich vorgenommen, das Verhältniß zwischen den beiden Verlobten näher zu beobachten.
So ging die Zeit rasch vorüber, bis der Konferenzrath eintrat und zugleich der Bediente die Meldung machte, daß der Wagen bereit stände, sie nach dem Abfahrtsplatz der Dampfschiffe am Ausgang der Esplanade jenseits der Zollbude zu bringen, wohin das Gepäck des Abreisenden bereits vorausgeschafft war.
Auf seine Bitte hatte Fräulein Edda sich bewegen lassen, mit dem Vater und künftigen Schwager den Legationssecretair zum Dampfboot zu begleiten, und erbot sich, alsdann - da der Herbsttag prächtig war - dem jungen Kapitain verschiedene der neuen Anlagen der Hauptstadt zu zeigen, die er noch nicht kannte oder vergessen haben mochte.
Unter der Bewegung des jetzt drängenden Aufbruchs
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hatte das Benehmen des Conferenzraths weniger Aufmerksamkeit und Beachtung gefunden, als es wohl sonst der Fall gewesen wäre. Eine gewisse finstere Zurückhaltung lag in seinem Wesen schon beim Eintritt, und wiederholt hatte er - wenn er sich unbeobachtet glaubte, - seine Blicke forschend und lauernd auf Kapitain Hansen gerichtet. Dabei trieb er selbst dringend zum Aufbruch.
Erst als die Gesellschaft im Wagen saß, fiel der jungen Dame die ungewohnte Schweigsamkeit ihres Vaters auf und sie frug ihn, ob er unwohl sei oder Unangenehmes auf dem Ministerium gehört habe.
»Das nicht,« erwiederte der Rath - »die politischen Nachrichten sind die besten und wie wir sie nicht willkommener wünschen können. Aber ich gestehe, daß die Nachricht von einem diese Nacht in der Stadt begangenen schändlichen Verbrechen auch mich etwas alterirt hat!«
»Ein Verbrechen?«
»Ja. Ein fremder Schiffskapitain ist diese Nacht ermordet worden!«
»Mein Gott,« sagte die Dame, »das ist traurig! Aber ich muß gestehen, daß ich Unheil fürchtete. Schon als ich gestern Abend vom Schloß nach Hause fuhr, konnte ich bemerken, daß der Pöbel sehr unruhig und zu allerlei Excessen und Uebelthaten geneigt war. Die Partei der Bauernfreunde ist schuld daran durch ihre ewigen Aufhetzereien!«
Der Conferenzrath verneinte durch ein Zeichen. »Nicht das Volk ist es, das bei einem nationalen Streit vielleicht sich von der Hitze und Leidenschaft hat hinreißen lassen, -
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die That ist ein gemeiner Mord, offenbar aus Habgier, denn es ist eine bedeutende Summe Geldes dabei geraubt worden.«
»Schrecklich! - Und wie geschah es?«
»Man hat den Ermordeten diesen Morgen an Bord seines eigenen Schiffes auf seinem Lager mit durchschnittenem Halse gefunden und einer bedeutenden Baarschaft beraubt, von der man weiß, daß er sie gestern Abend noch besaß.«
»Kennen Sie den Namen des Kapitains und des Schiffes?« frug der Seemann.
»Leider kann ich Ihnen nicht dienen, Herr Hansen,« sagte der Conferenzrath und seine Augen ruhten fest auf dem Gesicht des Andern, - »ich weiß nur, daß es ein Ausländer ist!«
»Und hat man den Mörder bereits entdeckt? Die kopenhagener Polizei wird doch als vortrefflich gerühmt.«
»Er ist noch nicht verhaftet, so viel ich weiß, aber man ist ihm auf der Spur, denn es liegen sichere Indizien vor. Ich hoffe, daß es noch heute geschieht. Jedenfalls soll er keine Gelegenheit haben, zu entkommen!«
Der Wagen rollte weiter durch die Zollbuden-Straße und kam auf dem Anlegeplatz der Dampfer an.
Die Scene dort war sehr belebt - Reisende, ihre Begleiter und Flaneurs, die blos zum Zeitvertreib da waren, füllten den Platz und das Deck des Dampfers »Aurora«, von dessen Mast lustig der Dannebrog im frischen Seewind wehte.
Es war übrigens Zeit, daß sie gekommen. Schon während sie die Equipage verließen, läutete die Glocke des
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Schiffs zum ersten Mal, und der Legationssecretair hatte Mühe, unter der Menge der Lastträger und Schiffsleute seinen Bedienten zu finden und sich davon zu überzeugen, daß sein Gepäck richtig untergebracht war.
Während der Zeit bemerkte Edda, daß ihr Vater einem Mann in Civil, den sie als einen Beamten der Polizeidirektion kannte, da er öfter in dienstlichen Angelegenheiten in ihr Haus gekommen, winkte, mit ihm zur Seite trat und mit ihm sprach.
Oben kam der Legationssecretair vom Bord zurück und näherte sich ihr, um Abschied zu nehmen. Er flüsterte Worte der ehrerbietigsten Zärtlichkeit zu seiner Verlobten, die ihn zerstreut anhörte und ihm ihre Hand überließ.
»So leben Sie denn wohl, Edda, und möge mir, wenn ich zurückkehre, Ihre Güte das süße Glück gewähren, das ich mit allen Kräften erstreben will. Wenn bester Wille und Eifer den Erfolg sichern kann, soll er meiner Mission nicht fehlen. Bis dahin empfehle ich, so lange er sich hier aufhält, meinen Bruder Ihrer freundlichen Protektion.«
»Ohne Sorgen - er soll sich nicht über Mangel an Freundschaft zu beklagen haben!«
Die Glocke läutete zum zweiten Mal.
»An Bord, an Bord, lieber Hansen!« drängte der Conferenzrath. »Auf glückliches Wiedersehen, Herr Legationsrath! - Es ist unnöthig, daß Sie Ihren Bruder noch begleiten, Herr Kapitain - das Schiff wird sogleich abgehen!«
Klaus Hansen ging, den Arm in den seines Bruders
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geschlungen, bis an die Uebergangsplanken. Dort drückte er ihm herzlich die Hand.
»Leb wohl Bruder Jan! vielleicht treffen wir uns noch hier, wenn Du Dich sputest, denn unter vierzehn Tagen werd' ich schwerlich meine Ladung bekommen. Grüß mir die Deutschen in Berlin und sage ihnen: Auf hoher Wacht!«
»Du bist unverbesserlich!« zürnte der Diplomat. »Hoffentlich bekehrt Dich Edda!«
»Wenigstens will ich nach Kräften für Dein Glück sorgen! Adieu denn und gute Fahrt!«
Der Legationssecretair sprang über die Planken und wehte gleich darauf von der Galerie her zum Abschied mit dem Tuch.
Die Glocke gab das letzte Zeichen - die Brücke wurde abgeschoben, der Pfiff der Maschine ertönte und die Räder schlugen. Langsam löste sich das mächtige Schiff und trieb in die Fluth, bis es dem Steuer gehorchte und sich zu wenden begann.
Ein »Farvel!« »Levvel!« tönte aus hundert Kehlen, während Schlag auf Schlag sich der Dampfer entfernte und dichte Rauchsäulen dem Schlot entquollen.
Der friesische Kapitain hatte einige Minuten dem Dampfer nachgesehen, dann wandte er sich um, nach seiner Gesellschaft zurückzukehren.
Als er um sich blickte, bemerkte er in seiner Umgebung mehrere Gensdarmen und Polizeibeamten. Er beachtete die sehr erklärliche Versammlung jedoch wenig, sondern ging auf den Conferenzrath zu, der bereits in der Nähe seiner
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Equipage stand und den Arm seiner Tochter durch den seinen gezogen hatte.
»Nun mein gnädiges Fräulein bin ich zu Ihrer ...«
Eine strenge abweisende Bewegung des Conferenzraths unterbrach ihn, der Blick desselben war hart und hochfahrend.
»Wir haben Nichts mehr zu schaffen, mein Herr, mit Ihnen!«
In diesem Augenblick legte sich eine Hand schwer auf die Schulter des friesischen Kapitains.
»Sind Sie der Kapitain Klaus Hansen von dem Barkschiff Schleswig?«
»Der bin ich. Was steht zu Diensten?«
Der Mann, welcher ihn angehalten, und der derselbe war, mit dem vorhin der Conferenzrath gesprochen, winkte, und sogleich sprangen zwei in der Nähe stehende Gens'darmen herbei und faßten die Arme des Friesen.
»Dann verhafte ich Sie, Klaus Hansen, im Namen des Königs!«
»Mich? - und weshalb?«
»Wegen Hochverraths und Raubmords, begangen an der Person des portugiesischen Kapitains Sylvio Macinhos! Legt dem Mörder Handschellen an, Leute, und schafft ihn fort!«
Ein leiser Schrei ertönte - Fräulein Hal[l]steen lag ohnmächtig in dem Arm ihres Vaters.
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Faust!

Der Anblick, der sich dem Gelehrten auf seiner Flucht vom Kirchhof in dem schmuzigen uralten Hause der prager Judenstadt bot, war allerdings so seltsam, so überraschend, daß sein staunendes Zögern, näher zu treten, wohl erklärlich war.
Das Zimmer vor ihm war durch eine in silbernen Ketten hängende Lampe von mattgeschliffenem Glase mit halbgedämpftem magischem Licht beleuchtet. Dieses Licht fiel ringsum auf Wände, die mit seidenen Tapeten von meergrüner Farbe bedeckt waren. Von gleichem Stoff waren die Möbel, die orientalisch kein Holz zeigten, sondern in breiten Divans und niedern Sesseln bestanden. Ein dicker smyrniotischer Teppich von vorherrschend rother Farbe bedeckte weich den Boden, schwere Gobelins von ähnlichem Muster verhingen die Thür, unter welcher der Lauscher stand, links anscheinend ein Fenster und an der Hand gegenüber breit aufgeschlagen einen Alkoven, in
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dessen gedunkeltem Raum sich der rothe Seidenpfühl und das kostbare weiße Linnen eines Bettes zeigten.
Wie wenig auch der Doktor, - der aus Neigung nur selten die Salons der Vornehmen und Reichen besuchte, - den Luxus derselben zu würdigen verstand, so viel sah er doch mit einem Blick, daß in der Ausstattung dieses Boudoirs ein großer Reichthum und zwar mit weniger Ueberladung entwickelt war, als gewöhnlich in dem Geschmack der orientalischen Racen sich zeigt.
Vor dem Divan an der Wand - der gewöhnlich durch den Schrank an der Kammerseite verborgenen Eingangsthür gegenüber - stand ein ovaler Tisch von polirtem Ebenholz, das gleich dem unnachahmlichen Schwarz der chinesischen Papiermaché-Arbeiten glänzte. Ein kleines Tuch von ungebleichtem Damast war im verschobenen Quadrat darüber gedeckt und darauf standen auf breitem silbernen Tablet Karaffen mit Wein, silbervergoldete Schaalen von kostbarer Arbeit mit seltenen Früchten, orientalischem Backwerk und den duftigen Gelee's von Chios: Mastix, Rosenblättern und Orangeblüthen.
Wir haben bereits am Schluß des betreffenden Kapitels angedeutet, daß dieses so seltsam und prächtig ausgeschmückte Gemach nicht ohne lebende Bewohnerin war.
Auf dem breiten Divan von meergrüner persischer Seide lag ein schlafendes Mädchen, dessen Aeußeres nicht minder seltsam und poetisch erschien, als ihre ganze Umgebung.
Es war ein Kind von kaum sechszehn Jahren, aber mit jener raschen üppigen Entwickelung der Formen, welche
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meist die Frauen des jüdischen Stammes so frühzeitig reifen und reizend macht und im späten Alter, wo die germanische Race noch in voller Frische prangt, schon so plump und überfüllt oder welk erscheinen läßt.
Das Gesicht der Schlafenden war eben so ausdrucksvoll als schön, ein regelmäßiges volles Oval mit fein gebogener Nase, dunklen dichten Brauen und langen Wimpern; die zum Kusse schwellenden Lippen waren im Schlaf halb geöffnet, als wollten sie einen Namen rufen, und die Brauen waren über der Nasenwurzel in einer leichten Falte zusammengezogen, als bange sie, daß der Gegenstand ihres süßen Traumes ihr entfliehen möchte.
Denn süß und sehnsüchtig mußte derselbe sein, das bewies die fliegende Röthe der vollen Schläfe, der still lächelnde Ausdruck des schönen verlangenden Gesichts und der unter seiner Spitzenhülle heftig wogende Busen.
Den schlanken und doch so vollen in üppigen Linien gerundeten Körper der jungen Schläferin umschloß, von einer goldenen Schnur um die Hüften zusammen gehalten, nur ein weiter Schlafrock von dunklem Purpursammet, aus dessen weiten Halbärmeln sich der nackte Vorderarm des Mädchens mit der leise zuckenden kleinen und fleischigen Hand hervorstahl, während ein überaus zarter entblößter Fuß in einem gelben Saffianpantoffel unter dem Gewand hervor über den Rand des Divans hing. Schwarze Haare, die in dem matten Licht der Lampe einen fast blauen Reflex warfen, umrahmten in schweren breiten Flechten die weiße etwas niedere Stirn und wurden auf dem Kopf durch eine schmale goldene Spange zusammengehalten. Das Haupt der
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süßen Schläferin ruhte rückwärts gebogen auf weichen Kissen, als brauchten sich die großen mandelartig geschlitzten Augen nur zu öffnen, die Arme nur zu erheben, um den Bräutigam zu umfangen.
Der Doktor blieb wohl fünf Minuten lang auf der Schwelle des Gemachs stehn im Anblick dieses überraschenden Bildes versunken, das nach der schauerlichen Scene des Kirchhofs und seiner Flucht durch die schmuzigen Irrgänge der Judenstadt einen um so größeren Eindruck auf ihn machte. Erst als die Schläferin sich nicht regte, wagte er, den Fuß vorzusetzen und aus der Portière heraus zu treten.
Der dicke weiche Teppich hinderte jeden Wiederhall seiner Schritte.
Doktor Faust fühlte sich tief erschöpft und wie von Fieberfrost geschüttelt. Er hatte seit dem Mittag Nichts genossen, und das Lager auf dem kalten Boden zwischen den Gräbern und Grabsteinen hatte ihn bis in's Innerste erstarrt, die rasche Bewegung der Flucht nur kurze Zeit dies Gefühl verscheucht.
Jetzt bei dem ängstlichen Tasten und Suchen nach einem Ausweg war es wiedergekehrt; nach kurzem Zögern trat er näher zu dem Tisch, nahm eine der Weinkaraffen und schänkte ein großes Wasserglas voll des dunkelgelben Feuertranks. Er hob das Glas an den Mund und trank in langen Zügen den schweren spanischen Wein. Er fühlte, wie eine belebende Gluth seine Adern durchströmte.
Als er das geleerte Glas niedersetzte, klang es hell an den Karaffen wieder.
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Er fuhr erschrocken zusammen und richtete seine Augen auf die Schläferin.
Die ihren standen groß offen und waren, nicht mit Staunen, sondern mit einer gewissen Neugier und Begeisterung auf ihn gerichtet. Diese Augen waren schwarz und glänzend. Die dunkle Pupille schien wie ein schwarzer funkelnder Diamant auf einem matten aber reinen Glase zu ruhen - ein unbeschreiblicher Ausdruck von schwärmerischer Hingebung, von Sehnsucht und jungfräulichem Bangen leuchtete aus diesem großen Spiegel der Seele.
Die Augen mit diesem Ausdruck zu ihm erhoben, unverwandt an seinem Gesicht hangend, glitt das Mädchen von dem Divan nieder zu den Füßen des erstaunten Mannes und kreuzte die Arme über die Brust.
»Gegrüßt seist Du, Verkündeter, und der Herr segne Deinen Eingang über die Schwelle Deiner Magd! Sie ist bereit Deinem Willen!«
Der Gelehrte war betroffen zurückgetreten; als das Mädchen vor ihm niedergesunken, hatte sich der Sammetrock geöffnet und ihm den zwischen Spitzen emporquellenden Busen gezeigt - dessen wogender Schnee die Fibern seines Körpers erbeben machte.
»Fräulein,« sagte er stotternd, »vergeben Sie, daß ich hier eingedrungen, aber ...«
»Du bist der Herr hier und ich Deine Magd! Die Weisen zweier Völker haben Dich mir verkündet und Esther auserwählt, Dich zu empfangen. Der König von Zion wird auf Libussa's Erde erstehen und an den Wässern der
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Moldau das neue Jerusalem erwachsen! Sieh mich gnädig an, Du Hoher und verschmähe nicht Deine Magd!«
Er glaubte eine Geistesgestörte vor sich zu haben, so unerklärlich waren ihm dies Benehmen und diese Worte, während doch von dem feurigen Wein und von den Reizen, die sich mit jeder Bewegung der Jüdin seinen Augen hingebend enthüllten, sein Blut zu wallen begann.
Zweimal strich er mit der Hand über die Stirn - er hatte es nicht beachtet, daß der Hut ihm entfallen - um Fassung und Ruhe zu gewinnen.
»Stehen Sie auf, Fräulein, und hören Sie mich an,« sagte er endlich. »Ich bin ein Fremder, ein Flüchtling, der verfolgt wird, und der um Ihren Schutz bittet!«
»Er wird kommen im Kleid der Verworfenen und die Feinde werden hinter ihm sein!« also lautet die Prophezeihung. »Sind es nicht von jeher die Besten und Edelsten gewesen, die sie verfolgen? Die Stimme meines Vaters hat mir verheißen den Bräutigam in dieser Nacht und Esther hat sich geschmückt, ihn zu empfangen. Hat nicht auch Martha, meine Amme, mir verkündet Dein Erscheinen und der Traum Dich mir gezeigt?«
Er zuckte die Achseln und hob sie empor. Die Bewegung, wie sich der weiche warme Körper an ihn schmiegte, wirkte elektrisch auf ihn und unwillkürlich drückte er sie an sich.
Sie folgte hingebend dem Druck. Dann wie in scheuer Schaam erzitternd und doch mit den Augen voll Verlangen, entschlüpfte sie seinem Arm und glitt zu dem
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Tisch, wo sie mit einem silbernen Stäbchen an eine Glocke schlug.
Eine bisher von dem Verfolgten nicht bemerkte Tapetenthür öffnete sich und eine Frau trat ein.
Sie mochte wohl einige sechszig Jahr zählen, doch war ihre Haltung noch ungebeugt, ihr dunkles Auge scharf und glänzend. Sie trug das rothe Kopftuch der böhmischen Frauen niedern Standes und ihre Kleidung entsprach dieser Stellung. In dem finstern faltigen Gesicht lag eine große Energie, ihre Züge hatten jedoch Nichts, was sie als Jüdin verrathen hätte.
Das junge Mädchen eilte ihr entgegen und warf sich an ihren Hals.
»Amme! Amme! Er ist da!«
Die alte Frau konnte unmöglich die Amme dieses jungen Geschöpfes sein, aber sie hatte jedenfalls die Zärtlichkeit einer solchen für das Mädchen, das sie auf die Stirn küßte.
»Hast Du gezweifelt an meinen Worten, Kind meiner Seele?« frug sie in böhmischer Sprache. »Stamme ich nicht aus dem Blute der Zauberin Wlaska selber und hat mein Orakel Dich je getäuscht? Czernebogk hat dem Gott der Christen und Juden weichen müssen und seine Steinaltäre sind von den Priestern des Gekreuzigten zerschlagen. Aber seine Macht ist noch groß genug, um den Frauen meines Stammes die Macht zu geben, aus den Linien der Hand, aus den Sternen und den Gestalten des Blutes die Zukunft zu verkünden!«
Sie faßte die Hand des Mädchens und führte sie zu
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dem Fremden. »Sei gegrüßt, Martha, der Zigeunerin, der letzten ihres Stammes,« sagte sie böhmisch.
»Ich verstehe Ihre Sprache nicht, gute Frau, aber wenn Sie die meine reden, so bitte ich Sie, mir das Räthsel zu lösen, das mich umgiebt.«
Die alte Zigeunerin senkte traurig den Kopf. »Also dennoch keiner aus dem Blute Czechs,« murmelte sie - »nur Einer von dem verhaßten Stamm, der gleich dem Juda's die Welt überfluthet und die alten Völker sich dienstbar macht! Aber was kümmert's im Grunde mich, - die Geister haben's so bestimmt und ihr Blut möge sich vermischen!«
Sie wandte sich deutsch zu dem Fremden.
»Wie ist Dein Name - Dein Vorname?«
»Johannes!«
»Ha - das ist gut! Der Name Johannes hat viel Blut fließen machen in diesem Lande. Die Wässer der Moldau ersäuften den falschen Priester - der Vater des Kelchs starb auf dem Scheiterhaufen draußen im Reich und die Keule Ziska's schmetterte die Feinde Böhmens zu Boden! Der Name ist gut und ich gebe Dir willig das Kind, das die Milch meiner Tochter getrunken, die voran gegangen ist in das Nichts!«
Der Doktor war einen Schritt zurückgetreten. »Hören Sie mich einen Augenblick an, gute Frau,« sagte er. »Wen Sie und diese junge Dame auch erwartet haben mögen, - ich bin nur durch Zufall in dieses Haus gekommen. Ich tappte im Finstern umher und fand dieses Zimmer. Frauen sind gutherzig - ich gestehe deshalb, daß ich Ihre Güte
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in Anspruch nehmen muß, indem ich Sie bitte, mich eine Stunde ohne Aufsehen hier verweilen zu lassen, oder - wenn Sie mir dies verweigern, - mir wenigstens einen unbemerkten Ausgang wieder auf die Straße zu verschaffen, wo mich allerdings Gefahr erwartet. Ich bin ein Fremder, der erst gestern hier eingetroffen ist.«
»So sagte es das Orakel - über Berg und Wasser her! - Ich habe die Hand, die Sterne und die Tropfen ihres Blutes drei Mal geprüft, und jedes Mal stand es geschrieben, daß ihr Schicksal in dieser Nacht erfüllt werden sollte. Das Schicksal des Weibes ist der Mann! Nimm sie - dort ist Euer Lager - ich werde für Euch wachen!«
Sie nahm ihm, fast mit Gewalt, der er nicht zu widerstreben wagte, den dunklen Paletot, den er trug, und begann ihn zu entkleiden, während das Mädchen sich schaamhaft abwandte.
»Aber Frau ...«
»Still! Es ist ein seltsames Verhängniß, daß eine Prophezeiung ihres Stammes, - das Wort des alten Rabbi, der drüben auf dem Kirchhof begraben liegt, - die Frauen ihres alten Blutes in dieser Nacht des Jahres den Bräutigam erwarten heißt, damit ein anderer Messias ihrem Volke komme und es herrschend mache über die Welt!«
»Ich bin ein Christ, Weib! laßt mich fort von hier!«
»Christ oder Heide, Jude oder Hussit - was die Sterne gesagt, muß erfüllt werden. Bist Du ein Mann, sie zu verschmähn? - Reiche ihm den Wein, Kind, damit
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Blut durch seine Adern rollt! Dein König von Zion ist da, den Du begehrt!«
Sie hatte ihn zu dem Vorhang geführt, der halb aufgeschlagen den Alkoven schloß - fast ohne Willen folgte er ihrem Drängen, denn in diesem Augenblick hörte sein Ohr draußen ein Geräusch.
»Um Himmelswillen - es sind meine Verfolger! Weib - man darf mich hier so nicht finden!«
Die alte Zigeunerhexe schoß mit der Sprungkraft eines Panthers nach der Thür und schloß den dichten Vorhang.
»Was wollt Ihr so spät in der Nacht?«
»Ich bin es doch, Martha - ich wollte sehen, ob Esther, mein Kind, noch wach ist, und ihr sagen frohe Botschaft, denn Ihr Bräutigam ist gekommen in unser Haus - ich werde ihr geben morgen meinen Segen, ihm und ihr!«
»Es ist gut, Rabbi! ich werde es ihr sagen!«
»Martha, Du bist eine gute Dienerin, obschon Du bist von einem verachteten Volk, schlimmer gehaßt noch, als die Kinder Israels. Du sollst haben morgen ein schönes Geschenk, weil Du so treu bewachst mein Kind! - Habt Ihr nicht gehört einen Lärmen auf der Straße vorhin?«
»Wie sollen wir in diesem Winkel hören, was draußen auf der Straße vorgeht, Rabbi?!«
»Es ist wahr - ich habe gut verborgen meinen kostbarsten Schatz! So schlaft denn wohl und der Engel möge ihr süße Träume schenken! Gutenacht einer glücklichen Braut!«
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Und eine zweite Stimme draußen wiederholte: »Gute Nacht der süßen Braut!«
Der Gelehrte hinter der Portière des Alkovens erbebte, - er glaubte diese Stimme gehört zu haben gleich der des Alten, - vor einer Stunde noch - drüben zwischen den tausendjährigen Gräbern - -
Die Thür wurde in ihre Fugen gedrückt, er war eingeschlossen mit den beiden Frauen.
Der Gelehrte zitterte - er wußte nicht, ob vor Furcht, ob von der seltsamen Aufregung seiner bis dahin ungeschwächten Jugendkraft.
Martha, die Zigeunerin, war zurückgekommen zu dem seidenen Lagerpfühl, auf dem er saß.
»Den Wein, Esther, mein Kind!«
Das Mädchen, von tiefer Gluth überzogen, schritt langsam mit bloßen Füßen über den Teppich daher, in ihrer zitternden Hand eine antik geformte silberne Schaale mit dem feurigen Rebensaft.
»Trinke zuerst!«
Die Jüdin setzte ihre rothen Lippen an den Rand der Schaale, ihre träumerisch schmachtenden Augen hoben sich darüber hin so bang' auf den fremden Mann, wie die einer Taube, wenn sie vor dem Falken zu Nest flüchtet, - und doch wieder glühte ein seltsames Feuer darin!
»Trinke, Fremdling, den Brauttrunk!«
Er hatte nicht die Gewalt, die Schaale zurück zu weisen, obschon er fühlte, was kommen mußte, wenn er noch einmal die flüssige Gluth einsog - er setzte den Mund an den Becher, genau an dieselbe Stelle, die noch
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warm war von den Lippen der Jungfrau, - und trank den feurigen Wein bis zum letzten Tropfen.
Seine Hand ließ die silberne Schaale niederfallen auf den Boden - die sonst so ernsten stillen Augen begannen zu funkeln.
Noch einmal versuchte er, sich zu erheben, - noch einmal bäumte das Gefühl der Ehre, der Entsagung sich empor.
»Ich darf nicht - ich kann nicht, laßt mich fort!«
Die Zigeunerin schob ihn heftig zurück. »Bist Du ein Mann?« frug sie nochmals - »nur ein Thor widersteht diesem Glück!«
Ihre hagern Finger hatten an der Hüftschnur des Mädchens genestelt, das schluchzend das schöne Antlitz in die Hände barg - jetzt fiel die Schnur, ein Griff der knöchernen Hand riß die Spange aus dem Haar, daß es in dunklen duftigen Strömen wie ein Mantel um die zarten Schultern sank - ein zweiter, und das Gewand fiel zu Boden, erschaudernd in der einzigen Hülle von Spitzenlinnen stand das warme, süße volle Leben vor ihm, die ganze jugendliche Schönheit der Formen seinem flammenden Auge preisgegeben. -
Die Zigeunerhexe stieß die Jungfrau in seine umfangenden Arme - »Möge der Geist des Glückes Euer Lager beschatten - möge aus Euch der Rächer aller Zertretenen entstammen!«
Der matte Schein der Ampel verlosch - auf dem Teppich kauerte, Sprüche murmelnd, das Weib - nur
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das Stöhnen wilder Küsse drang an das Ohr der unheimlichen Lauscherin und kündete das Leben!


Eine welke kalte Hand legte sich auf seine Schulter und weckte ihn aus Traum und Wirklichkeit.
»Es ist Zeit,« sagte die Zigeunerin. »Der Morgenstern erbleicht und der Tag zieht herauf. Der Tod würde Dein Loos sein, wenn man Dich hier fände!«
Der Doktor schreckte empor. Vor ihm stand die Alte mit dem welken Gesicht und dem funkelnden Blick, in der Hand eine silberne Lampe, deren Licht auf das weiche üppige Lager und die süße Schläferin an seiner Seite fiel.
Wie sie dalag, das geröthete Antlitz ihm zugekehrt auf dem irdischen Heiligenschein der weit gelösten schwarzen Locken, den weißen Arm noch auf dem Kissen gebogen, ihn zu umfangen, die rothen Lippen geöffnet, als wollten sie mit dem warmen Odem zugleich das Wort der Liebe ausströmen.
Als er so auf den Arm zurückgestützt sie ansah, gedachte er seines vergangenen Daseins, der grauen kalten Theorie gegenüber dem ewig grünen Baum des frischen Lebens, und ein tiefer Schmerz, eine unbefriedigte Sehnsucht trotz des Besitzes überkam ihn, daß er von diesem lebensfrischen Baum wieder scheiden sollte, nachdem er kaum die ersten Blüthen gepflückt!
»Mein Gott,« sagte er dumpf, »was habe ich gethan, wie kann ich wieder gut machen, zu was mich die seltsame Lage, in der ich mich befand, die Aufregung meiner Sinne
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hingerissen! - ich, der Christ - sie, die Jüdin - - sprechen Sie Frau, wer ist dies Mädchen?«
»Erhebe Dich, Blanker, und kümmere Dich nicht um sie! Was in den Sternen geschrieben steht, muß erfüllt werden. Sobald Du die Schwelle dieses Zimmers überschritten, ist es so gut, als hättet Ihr Euch nie gesehn!«
Er hatte sich erhoben, - ihm war, als jagten ihn die Furien, der Engel mit dem Flammenschwert aus dem verbotenen Eden, das er genossen! So warf er sich hastig in die Kleider.
»Weib,« sagte er, »ich darf so nicht fort - ich muß wissen, wer dies Mädchen ist, das ich vielleicht unglücklich gemacht habe! Ich muß wissen, ob ich sie wiedersehen werde?«
»Wir fragen nicht nach Deinem Namen, - forsche nicht nach dem ihren! für sie bist Du der verheißene Bräutigam, dessen Blut wieder Israel groß machen soll über die Völker! - für mich - Deren einer, die rächen werden Krok's3 Königsstamm und die Altäre Czernebogs, des schwarzen Gottes, an ihren Unterdrückern. Aber Berge und Thäler kommen zusammen, wenn die Hand des großen Geistes sie schüttelt, warum nicht die Menschen? Reiche mir Deine Hand, damit ich aus ihren Linien wahrsage, ob Eure Wege sich auf's Neue kreuzen werden!«
Er reichte ihr unwillkürlich die Hand, deren Fläche sie an dem Licht der Lampe prüfte.
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»Starker Geist! starker Geist! Du wirst ihn nöthig haben auf dem Wege, den Du gehst, denn viele Feinde werden um Dich sein, und Dich zu Boden drücken. Noch einmal kreuzen sich die Pfade Der da mit den Deinen, wenn Dein Stern am Tiefsten und der ihre am Höchsten steht. -
»Eine Mutter - keinen Vater! - Viel Unglück und Kummer. Im Buch der Sterne steht Dein Schicksal, im Buch auf Erden Dein Glück! Suche! suche! Hüte Dich vor dem, mit dem Du die Aufgabe Deines Lebens theilst, oder Du wirst blutig enden, wie er! - Hüte Dich vor Steinen im Sonnenstrahl! - Jetzt komm!«
»Wenn es denn sein muß,« sagte der Gelehrte entschlossen, »so gehe voran! Aber ich muß Dir sagen, Frau, ich besorge, man wird mir auf der Gasse auflauern.«
»Nicht auf dem Wege, den ich Dich führe! - Nimm Abschied von ihr, ohne sie zu wecken, und - hast Du ein Andenken, so laß es ihr zum Trost!«
Er suchte in seine Tasche, fand aber nichts, als einen kleinen silbernen Bleistifthalter. »Ich liebe nicht äußern Schmuck,« sprach er - »aber dies ist ein Geschenk meiner fernen Mutter, möge es sie an einen Neuigen erinnern, der an ihr gefrevelt - sage ihr dies!« Er schlang eine ihrer langen schwarzen Locken um die kleine Gabe, kniete an ihrer Seite und küßte noch einmal den schwellenden Mund!
Im Schlaf hob sich ihr Arm, sich um seinen Nacken zu schlingen. »Johannes!«
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Mit einem Stöhnen sprang er empor. »Fort! fort! oder der Satan ist wieder mächtig in mir!«
Die Alte stand bereits mit ihrer von der knöchrigen Hand verdeckten Lampe an der Tapetenthür, durch die sie am Abend erschienen.
»Komm!«
Er folgte ihr. Als die Thür hinter ihm unhörbar sich schloß, glaubte er noch einmal den sehnsüchtigen Hauch der rothen Lippen: »Johannes!« zu hören.
Die Zigeunerin führte ihn durch eine Kammer und zwei dunkle, so viel er sehen konnte, mit altem Gerümpel aller Art gefüllte große Stuben; dann betraten sie einen Gang und am Ende desselben eine enge feuchte Stiege, die zu einem kleinen schmuzigen Hofraum führte.
Ueber diesen hinweg, das Licht ausblasend und seine fieberisch heiße Hand mit ihren kalten magern Fingern erfassend, führte sie ihn und dann durch den stinkenden Gang eines Hinterhauses zu einem zweiten Hofe, den gegenüber eine hohe Mauer schloß.
»Du bist an der Moldau,« flüsterte sie - »kein Auge wird Dich hier suchen. Wenn die Feinde Deines Gekreuzigten auch die Deinen sind, dann möge Astaroth, der Geist der Nacht, Deine Spur im Wasser oder in der Luft verbergen, denn sie sind wie die Jagdhunde auf der Fährte des Wildes! - Geh und vergiß!«
Mit dem letzten Wort hatte sie eine niedere enge Pforte in der Mauer geschlossen und stieß ihn hinaus.
Als er - willenlos - fast ohne rechtes Bewußtsein einige Minuten vorwärts gegangen, kühlte ein frischer
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Luftzug seine brennende Stirn, - Wasser rauschte durch den dämmernden Morgen - er war am Quai der Moldau!


Auf dem Bahnhof in Prag kreuzen sich des Morgens um 8 Uhr die Züge, welche die Reisenden in nördlicher und südlicher Richtung, nach Dresden und Wien, führen.
Der Gelehrte begriff, daß er sobald als möglich Prag verlassen müsse, so gern er auch in der alten Königs- und Kaiserstadt noch geblieben wäre. Nachdem er sich nach seinem Gasthof, dem »Stern« zurück gefunden und sein Zimmer erreicht hatte, - das Nachtschwärmen ist in Prag sehr gewöhnlich, und die Portiers der Hôtels sind an Ausbleiben der Reisenden gewöhnt, denn außer in Pesth öffnen sich diesen wohl an keinem Ort so viele liebende Arme! - brachte er zunächst den etwas derangirten und von dem Lager zwischen den Gräbern schmuzigen Zustand seiner Kleidung selbst in Ordnung, kühlte das Gesicht im Wasser und packte dann seine wenigen Sachen in die Reisetasche, mit der er sich allein beschwert hatte.
Nachdem er seine Rechnung bezahlt, ging er gegen 8 Uhr, selbst sein kleines Gepäck tragend, nach dem Bahnhof.
Ein Fiakre rollte an ihm vorüber - er sah Lasali darin sitzen, der bedeutungsvoll den Finger auf die schmalen Lippen drückte.
Also auch dieser hatte die Nothwendigkeit gefühlt, so bald als möglich die Nähe des unheimlichen Judenkirchhofs zu verlassen.
Als er auf dem Bahnhof ankam, sah er seinen
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Gefährten von dieser Nacht mit der Uebergabe seines Koffers beschäftigt. Da der Zug nach Dresden und Berlin zuerst abgeht, wollte er sich eben zum Schalter drängen, als er von einem Knaben am Arm berührt wurde.
»Haben der Herr vielleicht verloren den Handschuh hier?« frug der Junge, einen grauen wildledernen Handschuh empor haltend.
»Ah, es ist wahr - richtig, hier in der Tasche ist der linke. Ich muß ihn mit dem Tuch heraus gezogen haben. Da Bursche, ist ein kleines Trinkgeld!«
Der Italiener beobachtete den an sich so unscheinbaren kleinen Vorgang und zuckte die Achseln, während der deutsche Gelehrte sich zu dem Schalter drängte. Jener sah, wie der Junge auf der anderen Seite der Billethalle zu zwei Männern trat, - von denen der ältere, fast ein Greis, den Talar der polnischen Juden trug, der andere zwar elegante feine Kleidung auf der behäbigen Gestalt, aber auch unverkennbar die orientalische Abstammung verrieth, - und mit ihnen flüsterte. Sogleich reichte der alte Jude seinem jüngeren Gefährten mit einigen Worten die Hand und dieser ging eilig nach dem Schalter.
»Nach Berlin, zweite Klasse!« sagte der Doktor, als die Reihe an ihn kam.
»Geben Sie mir auch nach Berlin, zweite Klasse, Herr Kassirer,« rief eine Stimme hinter ihm und eine beringte Hand streckte sich vor mit dem Geld. »Da können wir ja fahren zusammen!«
Der Doktor sah sich um und in ein breites sinnlich schlaues Gesicht.
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Ohne sich mit einer Antwort zu bemühen, nahm er sein Billet und ging nach dem Perron.
Wie zufällig strich der Italiener an ihm dort vorüber. »Unvorsichtiger!« flüsterte er - »man ist auf Ihrer Spur! der Handschuh -« er ging weiter.
Wie ein Blitzstrahl traf es den Zerstreuten. Er mußte, in seiner leidigen Gewohnheit, nur den einen anzuziehen, den Handschuh auf dem Kirchhof oder auf der Flucht verloren haben!
Er wußte im ersten Augenblick nicht, was er thun, wie er die Aufmerksamkeit seiner Verfolger von sich ablenken sollte; der Ruf der Schaffners zum »Einsteigen!« kam ihm daher sehr gelegen und er sprang in das nächste offene Coupé, das bereits von drei von weiter her gekommenen Personen besetzt war.
»Einsteigen! einsteigen!« mahnten nochmals die Beamten, denn das zweite Glockensignal war bereits gegeben. Doktor Faust war mit der Unterbringung seiner Reisetasche beschäftigt und achtete es daher nicht, als der Schaffner eine vierte Person in's Coupé schob. Erst als der Neugekommene im scharfen jüdischen Jargon grüßte: »Guten Morgen, meine Herrschaften, ich hoffe, wir werden haben eine gute Fahrt, aber wir wollen schließen die Thür, damit wir sitzen bequem!« wandte er sich um und sah dieselbe Person, die mit ihm zusammen das Billet am Schalter gelöst hatte.
Obschon er nicht die geringste Ursach hatte, dem ihm gänzlich Fremden zu mißtrauen, war ihm die Person selbst doch unangenehm und er würde gern das Coupé gewechselt
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haben, wenn es möglich gewesen wäre. So beschloß er, sich wenigstens möglichst theilnahmlos an der Gesellschaft zu halten und drückte sich in die Ecke, die er eingenommen.
Die Lokomotive pfiff und der Zug brauste aus dem Bahnhof. -
Der Doktor benutzte die erste Unruhe, sich durch die halbgeschlossenen Augenlider die Gesellschaft des Waggons zu betrachten.
Die Abtheilungen der anderen Seite nahmen im Fonds ein junger österreichischer Offizier in Interims-Uniform mit gebräuntem aristokratischen, aber etwas verlebten Gesicht ein, der wiederholt bemüht war, die Enden seines zierlichen Schnurbarts zu kräuseln; - auf dem Rücksitz eine Dame von hoher Figur im zweifelhaften Alter des weiblichen Geschlechts zwischen 30 und 35 Jahren, mit klugem, offenem Gesicht und schönen Augen, in eleganter Reisetoilette, die Armgelenke mit kostbaren Bracelets geschmückt. Die matte Farbe der Haut hätte trotz des kurzen Halbschleiers, der ihr Gesicht beschattete, ein kundigeres Auge, als das des Gelehrten, schließen lassen, daß sie die ursprüngliche Frische wohl durch die vielfache Anwendung von Hilfsmitteln zur Erhöhung der Reize verloren haben dürfte.
Ihm gegenüber an der Rückwand des Coupés hatte der mit ihm in Prag Eingestiegene Platz genommen, wahrscheinlich, weil er in der nebensitzenden Person einen Stammesgenossen erkannt hatte. Was der Vertreter des prager Judenthums jedoch an süffisanter Breitheit und Dreistigkeit zeigte, war an jenem als aalglattes feines Raffinement der geschliffenen Formen ausgeprägt. Das schwarze
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beobachtende Auge über der schmalen stark gebogenen Nase und das scharf her[v]ortretende Kinn mit dem gekniffenen Mund hätten mehr auf einen Diplomaten, als einen Börsenmann schließen lassen.
Der Doktor brauchte auch nicht lange auf die Bestätigung zu warten, daß die beiden Herren sich wenigstens oberflächlich kannten, denn der Zug war kaum aus dem Bahnhof, als der Prager bereits seinen Nachbar bekomplimentirte.
»Gottes Wunder, welches Glück Herr Baron, daß wir die Ehre haben, einander zu treffen. Hätte ich mir's doch sicher nicht vermuthet, zu haben eine so angenehme Fahrt. Es sind gerade sechs Monate, seit ich zuletzt die Ehre gehabt habe, Sie zu sehen auf der Börse in Wien. Wissen Sie ä schönes Gebäude, die Börse in Wien, - sie werden in Berlin nicht kommen dagegen auf, obschon sind recht anständige Häuser am Platz. Gehen Sie in Geschäften nach Dresden oder Berlin. Herr Baron? in Merkantilischen oder diplomatisch, ich weiß, Sie machen in beiden! Sie haben ä schöne Stellung in Wien. Gott - bei uns in Prag fehlt doch der Hof! S'is doch nischt, wo nicht is der Hof, schon wegen des Umgangs! Wie stehen die Sechsziger Anleihe in Wien, haben Sie Vertrauen zu dem Papier?«
»Sechsundachtzig, dreißig Herr von Rosenberg!«
»Es ist gut, daß Sie mir erinnern an meinen Namen. Ich bitte, Herr Baron, stellen Sie mir vor den andern Herrschaften im Coupé, mit denen Sie doch gewiß sind gekommen schon von Wien her. Ich liebe es, daß mer
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sich kennt, wenn man reist zusammen in ein und dasselbe Coupé!«
»Mit Vergnügen, Herr von Rosenberg,« sagte mit leichtem sardonischen Lächeln der Andere. »Meine Gnädige, erlauben Sie mir, Ihnen Herrn von Rosenberg, einen der ersten Bankiers der böhmischen Hauptstadt vorzustellen, enthusiastischen Kunstfreund, den gewiß nur der neidische Schleier bis jetzt verhindert hat, eine der ersten Tragödinnen Deutschlands, Fräulein von Bärenstein, zu erkennen.
»Gott! die Bärenstein?« schrie der Bankier. »Bin ich denn gewesen blind? - Erinnern Sie sich nicht, im vorigen Jahre, als Sie gegeben haben in Prag die Maria Stuart Majestät so herzzerreißend, daß ich Ihnen hab' zugeworfen das allergrößte Bouket, das mir der Gärtner angesetzt hat mit baaren drei Karlin! Ich hätte vor mein Leben gern noch beigefügt ä Ring, aber ich weiß, Sie strahlen schon vor lauter Diamanten und Smaragden, die Sie haben mitgebracht aus Rußland!«
»Sie hätten sich nicht geniren sollen, Herr Rosenberg,« sagte lächelnd die Dame, - »ich liebe die böhmischen Steine, wenn sie schön sind! ich hoffe nur, daß Sie Ihrem Gärtner keinen Abzug gemacht haben von der Rechnung!«
Der wiener Financier überhob seinen Kollegen gefällig der Antwort auf den Sarkasmus, indem er sich gegen den Offizier verbeugte. »Herr Graf von Walstein, Oberlieutenant in unserer tapfern Armee! Wenn der Herr Graf mit seinem Regiment nach Prag versetzt wird, empfehle ich ihm, Sie zu seinem Bankier zu nehmen!«
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»Wenn der Herr halt mit dem Discontiren nicht zu schlimm ist und mir a anständigen Kredit eröffnet, wie er für anen Kavalier paßt, warum nicht?«
»'S wird mir ä große Ehre sein, Herr Graf! ich habe doch viel vornehme Herrschaften in meinem Buch, Fürsten und Grafen und Barone - ich weiß, was mer in der guten Gesellschaft schuldig ist der Aristokrazie. - Das ist der Herr Baron Ekstein,« wandte er sich zu dem Gelehrten, - »Sie werden gehört haben von dem reichen Hause Moritz Ekstein und Sohn in Wien und Warschau, das gebaut hat die Westbahn. Ich heiße E. N. Rosenberg und Sohn aus Prag.«
»Ich habe Sie noch nicht danach gefragt!« sagte kurz gebunden der Doktor.
Der Graf und die Schauspielerin lachten bei dem verblüfften Gesicht, das der prager Bankier schnitt.
»Verseihn Sie, - aber in der guten Gesellschaft kennt mer doch gern Jeden mit seinem Titel und Namen, um ihm geben zu können im Gespräch die gehörigen Dehors!«
»Ich meine, das kann auf Reisen Jeder halten, wie er will, und bedauere, wegen Kopfschmerz auf die Unterhaltung verzichten zu müssen!«
Die Abfertigung war diesmal zu verständlich, um noch weitere Versuche zuzulassen. Der Doktor lehnte sich in seine Ecke zurück und schloß die Augen. Herr Rosenberg machte einige Bemerkungen über Kopf- und Zahnschmerzen und die Weisheit der Regierungen in Bezug auf das Paßwesen und kehrte dann zu seinem Kunst-Enthusiasmus zurück
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»S'ist ä Wunder, gnädiges Fräulein, daß Sie kommen als solches zurück von unserer Kaiserstadt. Oder darf man gratuliren?«
»Wie so?«
»Weil unsere Aristokrazie doch liebt gewaltig die Kunst, und die Künstlerinnen machen stets ä vornehme Partie bei uns. Hat doch geheirathet unsere Grille, die Goßmann, den Herrn von Prokesch, und die kleine Boßler wird nehmen den Herrn von Brück, und ich weiß ganz bestimmt, daß ä großes fürstliches Haus eine Heirath macht in's Ballet! Ist das nicht Liebe zur Kunst?«
»Oder zu den Revenuen der Künstlerinnen! Die meisten gehen nach ein Paar Flitterjahren wieder zur Bühne und, offen gestanden, obschon ich selbst eine Schauspielerin bin, dem österreichischen Adel gereichen diese Theater-Heirathen eben nicht sehr zum Vortheil!«
»Sie sind grausam bei so viel Liebenswürdigkeit! Wir haben doch hier unter uns ä Repräsentanten von der hohen Aristokrazie. Walstein, Gott der Gerechte, was is das für ä schöner Name, er klingt doch beinahe wie Wallenstein, der auch geheißen hat Friedländer, weswegen ich immer geglaubt habe, er stammte von unserem Volk. Was sagen Sie dazu, Herr Graf? Wer kann für das Herz und für die Liebe zur Kunst!«
»Ich wünscht' halt, der Friedländer hätt' uns und seiner Nachkommenschaft a Herzogthum hinterlassen, statt a Herz. Sie wollen wissen, wie ich darüber denke?«
»Ich bitt', Herr Graf!«
»Haben Sie eine Tochter, Herr von Rosenberg?«
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»Zwei, Herr Graf!«
»Schade! wie alt?«
»Die Adelaide ist - lassen Sie sehn, - sie ist jetzt zweiundzwanzig Jahr, aber ich sage Ihnen, sie singt wie die Elsler und tanzt wie die Patti!«
»Oder umgekehrt!«
»Ich habe mir versprochen. Die zweite heißt Libussa, zu Ehren der böhmischen Geschichte, und schreibt Gedichte und ästhetische Aufsätze in die Journale, die Fanny Lewald in Berlin und der Sapphir in Wien können's nicht besser machen. Und sie ist erst neunzehn! Gott, wenn die ä mal ist dreißig, was wird sie sein für ä Geist!«
»Das Aesthetische, Herr von Rosenberg, mag sehr schätzenswerth für ä Theetisch der Herr Bankiers sein,« sagte nachspottend der Offizier, - »hier handelt es sich um etwas Anderes! Also - auf Börsen-Kavalier-Parole, wie viel kriegt jede Ihrer Fräulein Töchter mit?«
Der Bankier schmunzelte. »Auf Ehre - wenn Sie mir so fragen - der Herr Baron kann mein Haus taxiren, daß ich nicht will prahlen, aber hunderttausend Gulden werden sie haben jede!«
»Machen Sie's Doppelte d'raus, Herr von Rosenberg, und ich werde Muselmann und nehme sie alle Beide! - Da haben Sie die Antwort eines Walstein auf Ihre Frage!«
Der Bankier rieb sich die Hände. »Sie belieben zu machen einen gnädigen Scherz, gerade wie unsere gefeierte Künstlerin. Aber ich hoffe, Sie noch zu sehen im Salon von Rosenberg und Sohn, und Sie werden Gelegenheit haben, sich zu überzeugen, was leisten in der Kunst und
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in der Litteratur die Fräulein Rosenberg, meine Töchter. - Es ist merkwürdig überhaupt, meinen Sie nicht auch, Herr Baron, was in diesem Jahrhundert thut unsere Nation in der Kunst und in der Litteratur! Haben wir nicht den Meierbeer und den Offenbach - Gott, is das ä Genie! Fräulein von Bärenstein, sagen Sie selbst, ist de Wolter in Wien nicht auch ä großes Talent? - Wenn der Herr da ist aus Berlin, weil er fährt nach Berlin, wird er wissen, was für Künstler sind der Dessoir und der Döring, und der Rott, der doch gewesen ist mein Namensvetter, und die Frieb-Blumauer und die Lucca! Die ganze Leitung von der Kunst is doch jetzt meist in den Händen von unserer Nation, bis aufs Königliche, und 's wird auch kommen. Und was sagen Sie zum Davison! Gott, welche Spekulation in seinem Spiel, es is als ob der Rothschild macht ä Anleihe zu Siebenundachtzig und giebt se aus zu Hundertsechs ä Viertel. Aber 'sis noch gar Nischt gegen die Litteratur! Sehen Sie an die Zeitungen und die Journale und das Theater? Wer schreibt d'rin und macht die Politik und die Kritik und die Theaterstücke - unsere Nation! Is es nicht wahr?«
»Leider!« sagte unwillkürlich der Gelehrte.
»Warum sagen Sie leider? wenn ist Ihr Kopfschmerz zu Ende, können Sie mir sagen, warum wir nicht auch thun sollen das Unsre in der Kunst? Haben Sie gekannt Heinrich Heine in Paris, und Mendelssohn und Kalisch und den Herrn von Kuranda in Wien? Ich sage Ihnen, unser ist die Zukunft, weil so lange gewesen ist unser Geist und unser Talent unterdrückt. Jetzt kann es zeigen sich
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frei und es strömt heraus wie ä Wasserfall, der is gewesen gedämmt!«
Der Doktor war erröthet bei dem satyrischen Blick, den ihm die Schauspielerin zugeworfen, als er sich verleiten ließ, sein Schweigen zu brechen und dafür die Anspielung des Bankiers hinunterschlucken mußte; aber der Ausdruck dieses Blickes verwandelte sich alsbald in die Aufforderung, dem Kampf nicht auszuweichen.
»Ihre Bemerkung, Herr, ist nicht ganz ohne Grund. Vieles zu dem jetzt sich überstürzenden Eifer Ihrer Nation, sich hervorzuthun, mag aus dem langen Druck Erklärung finden, dem sie ausgesetzt war. Indeß, wie kommt es, daß auch auf einem andern Gebiet, wo sie stets sich frei bewegte, im Handel und Kredit sie in neuerer Zeit plötzlich einen so überwiegenden Einfluß gewonnen?«
Der Bankier schwieg - das Problem ging über seinen Witz. Aber sein offenbar auch geistig weit höher stehender wiener Kollege nahm mit einer feinen Gegenfrage den Kampf auf.
»Sollte nicht vielleicht weniger unser Bemühen, als daß die Regierungen und die Einzelnen unserer mehr bedürfen, der Grund sein?«
»Ich gebe es zu! dieses Haschen nach Reichthum und Genuß, dieses Ueberstürzen des institutionellen Fortschritts, statt einer gesunden allmäligen Entwickelung, das zu einer des Einzelnen, wie der Staaten führt, - macht beiden das unstreitig spekulative Finanztalent Ihrer Nation nothwendig und beugt die Prinzipien eines gesunden Haushalts unter die
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Herrschaft des Wuchers, dessen Charakter einmal im Judenthum liegt, wie schon zahllose Stellen des alten Testaments beweisen.«
»Sie nennen Wucher die freie und berechtigte Verwerthung unsers Eigenthums. Wenn wir sparsamer und scharfsichtiger sind, als die Christen, ist das unsere Schuld?«
»Der erhabene Sinn des Christenthums ist die opferbereite Menschenliebe. Je mehr man sich davon entfernt, desto mehr geräth man in das Reich des Egoismus, des geistigen wie materiellen Wuchers. Durch das Christenthum geht ein höherer idealer Zug - durch das Judenthum der der Ausbeutung und Benutzung: die Spekulation! Sie sprachen vorhin von Kunst und Literatur. Nennen Sie mir seit Jahrhunderten einen jüdischen Dichter, der Ideales geschaffen! Ich verkenne nicht die große Begabung Ihres Volkes in anderer Beziehung, aber wo sich Ihre Talente auf das Gebiet der Kunst geworfen, haben sie nur im Raffinement ihre Erfolge gehabt. Selbst Ihr Meierbeer benutzt fortwährend die christliche Kirchenmusik zur Erreichung seiner Effekte. In Offenbach verköpert sich das Herabzerren alles Idealen in die Spekulation auf die menschliche Gemeinheit. Heine? seine Eitelkeit treibt ihn, den lyrischen Mephisto zu spielen. Ihre Schauspieler - ich besuche nur selten das Theater - aber was ich gesehen, bewies mir, daß der Funke poetischer Begeisterung und Erfassung nicht da ist, wo stets die Spekulation auf den Applaus vorherrscht. Ihre Philosophen -? schon das Alterthum hat sie gerichtet! Ihre Possendichter und Zeitungsschreiber? Die einen untergraben die
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Sittlichkeit des Volkes zu Gunsten ihrer Tantièmen, die andern halten die Unruhe in Permanenz zu Gunsten der Börsenagiotage und des Sieges des Kapitals über Würde und Arbeit!«
»Sie sind ein Sozialist, ein Idealist, mit dem schwer zu streiten ist! Sie sind erzogen in Vorurtheilen gegen unsre Nation, die doch längst aufgegangen ist im Staatsbürger!«
»Ich bin ein Mensch voll Fehler und Schwächen wie jeder Andere,« sagte mit tiefem Ernst der Doktor, »und habe dies nie mehr gefühlt, als gerade jetzt. Ich bemühe mich, keine Vorurtheile zu hegen, aber ich glaube an die erhabene Aufgabe des Christensthums und sehe den großen Kampf, der ihm näher und näher tritt, mit dem wachsenden Materialismus - mit der Herrschaft des Judenthums!«
Er schwieg; - er fühlte, daß er zum zweiten Mal jede Vorsicht vergessen.
Der vornehme Graf schaute gelangweilt zum Fenster hinaus - die Schauspielerin ordnete an einem kleinen Fingerspiegel ihr schönes blondes Toupet.
Der wiener Geldfürst hatte aufmerksam dem Ausfluß des innern Dranges zugehört, der sich über die Lippen des ernsten Mannes Bahn gebrochen. Ein feines malitiöses Lächeln glitt über sein scharfes Gesicht. »So viel ist sicher,« sagte er mit Betonung, - »der Herr sind kein Banquier! Meinen Sie nicht auch, Herr von Rosenberg?«


Die Umgebung der böhmischen Bahn ist, wo sie in's Elbthal tritt und bald die Felsenwände am Ufer des
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schönen - in seinen Wandlungen zwischen Stein und Sand bis zum gewaltigen breiten Ausfluß in's Meer den deutschen Charakter weit mehr als der Rhein repräsentirenden - Stroms so anziehend und wechselnd, daß die Aufmerksamkeit der Reisenden stets gefesselt bleibt.
Im Jahre 1860 hatten dieselben an der Gränze in Bodenbach, wo der Zollverein, dieses gewaltige erste deutsche Einigungswerk Preußens beginnt, noch ihre Pässe und Paßkarten vorzuzeigen, ehe sie sich den spärlichen Genüssen der sächsischen Küche überlassen konnten.
Doktor Faust hatte seine Paßkarte übergeben und wollte eben wieder eintreten in das Bureau, sie zu holen, als der prager Bankier ihm entgegen kam.
»Es freut mich, daß ich konnte sein Ihnen gefällig Herr Doktor Faust,« sagte er mit übertriebener Freundlichkeit. »Hier ist Ihre Karte, ich hab' sie doch gleich mitgebracht mit der meinen!«
»Herr! ...«
»Bitte, Sie sind mer schuldig gar keinen Dank. Warum soll mer nicht dienen einem Reisegefährten? Haben Sie schon revidiren lassen Ihre Sachen und wollen wir diniren zusammen mit der Künstlerin? ich sage Ihnen, sie hat ä Kammermädchen - süperb! der Herr Graf hat den Klemmer noch nicht von der Nase gebracht!«
Der Gelehrte begriff, daß er seinen Aerger über die dreiste Neugier verbeißen müsse, wenn er nicht dem Juden neue Waffen in die Hand geben wollte. Er verbeugte sich dankend und ging auf den Perron, nachdem er ein Glas Bier getrunken. Kopf und Herz waren ihm noch zu voll,
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um sich unter die speisende Gesellschaft zu mischen. Gern hätte er seine Reisetasche aus dem Coupé genommen und einen andern Platz gesucht, aber die Wagen waren gesperrt und weiter geschoben.
Als das Signal ertönte und die Menge der Reisenden herbeidrängte, die Plätze einzunehmen, sah er plötzlich die Schauspielerin an seiner Seite.
»Ich muß Sie sprechen, in Dresden, allein. - Suchen Sie Gelegenheit!« flüsterte sie leise und wandte sich gleich darauf zurück zu dem eilfertig heran keuchenden Bankier. »Verseihen Sie, gnädiges Fräulein, daß ich hab' gesetzt die Pflicht gegen die Kunst einen Augenblick zurück hinter den Materialismus,« er warf dem Doktor einen bezeichnenden Blick zu, »aber der Magen will doch auch haben sein Recht, besonders wenn er angehört einer gut situirten Person. Ist es gefällig?«
Er half ihr beim Einsteigen, während hinter ihrem Rücken der Offizier dem wirklich hübschen Kammermädchen, das ihre Herrin bis zum Waggon begleitete, Kußfinger zuwarf. -
Der Weg von der böhmischen Gränze bis Dresden ist in 2 Stunden zurückgelegt, - die Fahrt läßt wenig Unterhaltung aufkommen. Bald nach 2 Uhr brauste der Zug über die schöne lange Elbbrücke nach der Altstadt und hielt auf dem Bahnhof, von dem eine halbe Stunde später der Zug nach Berlin abgeht.
In Dresden stiegen der Wiener und der Offizier aus. Während den Ersteren der prager Bankier vor die Freitreppe des Empfangsgebäudes und zur Droschke begleitete,
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trat in dem Wartesaal die Schauspielerin entschlossen auf den jungen Gelehrten zu.
»Mein Herr,« sagte sie - »wenn Sie auch, wie es scheint, meinen Stand nicht besonders lieben, gebietet mir doch die Pflicht der Landsmannschaft, Ihnen eine Mittheilung zu machen.«
Der Doktor verbeugte sich höflich.
»Wir sind einige Augenblicke unsere aufdringliche Reisegesellschaft los,« sagte sie - »aber ich fürchte, nur auf kurze Zeit. Ich habe meinem Mädchen Auftrag gegeben, auf diesen Herrn Rosenberg zu achten und mir einen Wink zu geben, wenn er zurückkommt. - Ich bitte Sie deshalb, mir kurz und bestimmt zu antworten. Trotz seiner Albernheit ist dieser Mann listig und gefährlich. Wissen Sie, daß er blos Ihretwegen die Reise nach Berlin macht?«
»Sie setzen mich in Erstaunen - ich habe diesen Herrn nie zuvor gesehen!«
»Dem sei, wie ihm wolle, es ist Thatsache. Ich saß in Bodenbach an dem Tisch neben dem, an welchem er sich mit dem Bankier Ekstein in polnischer Sprache unterhielt. Zufällig verstehe ich dieselbe noch genügend aus meiner Jugend, um seine Mittheilungen wenigstens deuten zu können. Er sagte dem Baron, daß er den Auftrag habe, in Folge einer Entdeckung, die man in Prag gemacht, Sie bis an Ihren Wohnort zu verfolgen und dort auf's Genaueste im Stillen Ihre Verhältnisse zu ermitteln. Es beträfe wichtige Interessen. - Nun sehen Sie mir nicht aus, wie ein Fälscher oder Verbrecher, dem die
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Polizei auf den Fersen ist, und ich hielt es daher, da ich selbst diese jüdische Spionage hasse und genug von ihrem Treiben leide, für meine Pflicht, Sie zu warnen. Man hat Schlimmes mit Ihnen vor.«
»Nehmen Sie meinen Dank Fräulein für die Warnung und seien Sie versichert, daß Sie dieselbe keinem Unwürdigen haben zu Theil werden lassen. Wenn ich einige Umstände zusammen reime, die mir seit gestern widerfahren, muß ich mir sagen, daß Sie Recht haben können. Aber was thun? Ich darf diesem Mann nicht zeigen, daß ich von seiner Spionage Kenntniß habe, und leider hat er bereits durch seine Aufdringlichkeit in Bodenbach meine Paßkarte gesehn und meinen Namen erfahren.« »Nehmen Sie meinen Dank Fräulein für die Warnung und seien Sie versichert, daß Sie dieselbe keinem Unwürdigen haben zu Theil werden lassen. Wenn ich einige Umstände zusammen reime, die mir seit gestern widerfahren, muß ich mir sagen, daß Sie Recht haben können. Aber was thun? Ich darf diesem Mann nicht zeigen, daß ich von seiner Spionage Kenntniß habe, und leider hat er bereits durch seine Aufdringlichkeit in Bodenbach meine Paßkarte gesehn und meinen Namen erfahren.«
»Das ist schlimm genug!«
»Das Einzige, was ich thun kann ist, Ihre mir jetzt höchst achtungswerthe Gesellschaft zu entbehren, und in einem andern Coupé die Reise fortzusetzen.«
»Das würde Nichts helfen. - Enthielt die Paßkarte Ihren Wohnort, Berlin?«
»Es ist zufällig eine Legitimation aus meiner Heimat, Schlesien.«
»Dann gilt es, ihm Ihre Spur zu durchkreuzen. Müssen Sie diesen Abend in Berlin sein?«
»Ich bin Herr meiner Zeit und glaubte, den Ausflug nach Prag wenigstens auf eine Woche auszudehnen.«
»Gut! - Wollen Sie nun meinem Rath folgen?«
»Gewiß!«
»Sie müssen mit uns das Coupé besteigen, um jeden Verdacht zu beseitigen. Ich habe bemerkt, daß Sie nur
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eine kleine Reisetasche bei sich haben. Sind Papiere darin, die Ihre Adresse verrathen?«
»Nichts der Art!«
»Desto besser. Aber ich hoffe, Sie brauchen dieselbe nicht einmal zu opfern. Steigen Sie also mit uns in dasselbe Coupé. Ich werde hier diese kleine Toilettentasche im Wartesaal liegen lassen, und einige Augenblicke vorher, ehe der Zug abgeht, mich daran erinnern. Dann seien Sie einmal auch gegen eine Schauspielerin galant und springen aus dem Coupé, um sie zu holen. Sie suchen natürlich vergeblich, bis der Zug im Abgehen, und zeigen sich dann erst auf dem Perron. So ist es nicht Ihre Schuld, daß Sie zurückbleiben, Sie verlieren das Passagiergeld, werden aber die lästige Begleitung los, die mir - nach ein Paar Aeußerungen zu schließen, - unheimlich und gefährlich scheint, da die Macht des Geldes weit reicht, und wenn Sie morgen über Görlitz oder Magdeburg, also mit einer anderen Bahn, nach Berlin zurückgekehrt sind, holen Sie sich in meiner Wohnung, - ich werde bei Verwandten, Friedrichsstraße 290, logiren - Ihre Reisetasche, die ich schon an mich bringen will, da Frauenschlauheit - aber da ist Caroline am Eingang des Saals - geschwind, treten Sie zum Büffet!«
Im nächsten Augenblick kam der Bankier herein und der mißtrauische Blick, den er umherwarf, bewies der Dame, wie zweckmäßig ihre Vorsicht gewesen war.
Gleich darauf gab die Glocke das erste Signal.
»Wir fahren doch zusammen, Herr von Faust?«
»Ich hoffe!«
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Die Reisenden nahmen ihre Plätze ein und Alles geschah, wie die Schauspielerin so schlau berechnet hatte. Herr Rosenberg streckte mit ziemlich verblüffter Miene den dicken Kopf aus dem Fenster des Coupé's und schrie vergeblich den Schaffnern des dahin schnaubenden Zuges zu, daß noch ein Passagier mit müsse, während die Künstlerin schadenfroh lächelnd über ihn weg nach dem jungen Gelehrten schaute, der auf dem Perron durch einige bedauernde Gesten die kleine Komödie unterstützte. -
Als Doktor Faust sich von dem spionirenden Verfolger so glücklich befreit sah, fiel es ihm in der That wie eine Last von der Brust, und selbst das spätere Abenteuer der verhängnißvollen Nacht begann ihm in einem milderen Licht erscheinen, als die quälenden Selbstvorwürfe bisher zugelassen.
Dennoch, trotz der Stunden, die seit dem stummen Abschied vergangen, fühlte er Geist und Blut noch immer in ungewohnter Aufregung. Der junge Gelehrte war trotz der dreißig Jahre, die er zählte, eine in sittlicher Beziehung bisher durchaus unverdorbene Natur, und die strenge Schule des Lebens, die er als Sohn einer unbemittelten Wittwe durchgemacht, die strengen und ernsten philosophischen und theologischen Studien, denen er sich gewidmet, hatten ihn von den Verstrickungen des Herzens wie der Sinne bisher bewahrt, und einen gewissermaßen ascetischen Charakter in ihm ausgebildet.
Um so gewaltiger mußte dieser Durchbruch, dieser Sieg der Sinne über alle seine Grundsätze auf ihn wirken. Wilde Zauberbilder des Blutes kämpften in ihm mit
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Vernunft und den Vorwürfen des Gewissens, während er jetzt zum ersten Mal allein, in dem Regen der Blätter, welche der rauhe Wind des Spät-Octobers von den Kastanien und Linden der Brühlschen Terrasse schüttelte, auf dieser auf und nieder ging, um Ruhe zu gewinnen und mit sich selbst wieder Eins zu werden.
Diese Hoffnung war freilich trügerisch!
Wer den Becher mit dem feurigen berauschenden Trank der Sinnenlust an seine Lippen gehoben, vermag nicht so leicht - auch wenn er ihn von sich schleudert - den Trank zu vergessen!
Das Tageslicht verschwand bereits, als der kalt herabrieselnde Regen ihn weckte und antrieb, ein Unterkommen für die Nacht zu suchen. Er hatte zwar beabsichtigt, noch am selben Abend nach Görlitz weiter zu fahren, aber die erschöpfte Natur forderte, da er seit zwei Nächten nur kurze Zeit geruht, ihre Rechte, und als er, die Terrasse verlassend, das prächtige Hôtel Bellevue links am Ufer der Elbe vor sich sah, beschloß er, ein Zimmer zu nehmen und erst mit dem Morgenzug abzureisen.
Der Oberkellner sagte ihm, daß ein kleines Zimmer im ersten Stock nach der unteren Elbe zu frei sei, und er nahm es mit Vergnügen. Er ließ sich eine Flasche Wein und kalte Küche auf das kleine nach vorn an ein größeres stoßende Zimmer bringen, genoß ein Paar Gläser und warf sich erschöpft auf das Sopha.
Es war mehr Betäubung als Schlaf, was ihn einige Stunden lang umfing.
Als er aus den wüsten Träumen, die ihn umgaukelt,
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wieder aufwachte, war Alles um ihn her dunkel, nur draußen auf dem Platz glühten falb durch die regenschwere Atmosphäre die Gaslaternen.
Eine Stimme, die er sich erinnerte, schon gehört zu haben, so scharf und doch wenig laut klang sie, sagte mit einer Deutlichkeit, als würden die Worte neben ihm gesprochen:
»Treten Sie ein, Excellenz, wir sind hier ganz sicher und unbelauscht!«
»Wissen Sie das gewiß, Baron? Man ist in Dresden ebenso neugierig wie in Berlin und Wien!«
»Ohne Besorgniß, Excellenz. Es ist ein Eckzimmer, und selbst hinter dieser Wand wohnt Niemand, wie ich mich schon am Nachmittag überzeugt.«
»Dann lassen Sie mich ablegen. Ich erkannte Sie sogleich in der Oper und Sie verstanden meinen Wink, mich auf dem Korridor zu treffen. - Warum benachrichtigten Sie mich nicht von Ihrer Ankunft?«
»Ehrlich gestanden, ich wollte Ihnen erst morgen Vormittag meine Aufwartung machen. Ich war die Nacht durch gefahren und etwas erschöpft!«
»Und doch mit der schönen Blondine im Theater? Aber Sie haben Recht, Baron - man muß die freien Stunden benutzen - Niemand weiß das besser als ich! Beliebt Ihnen?«
Der Sprecher mußte dem Andern - jenen, dessen Stimme dem Gelehrten so bekannt vorkam, Cigarren angeboten haben, denn einige Momente schwieg das Gespräch. Jetzt, wo er ihn »Baron« titulirte, kam ihm auch auf einmal die Erinnerung.
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Das war der geadelte Bankier aus Wien, der neben ihm das Zimmer bewohnte. Aber noch immer begriff er nicht, wie er so deutlich die Stimme hören konnte, daß keine Nüance des Gesprächs ihm entging.
Der Doktor hielt es für unredlich, zu horchen - lastete doch noch eine schreckliche Erfahrung auf ihm - und er wollte zuerst durch ein Geräusch den Männern neben an zu erkennen geben, daß sie nicht so sicher waren, als sie glaubten; aber wie er noch darüber nachsann, fesselte der Inhalt des Gesprächs ihn bereits so sehr, daß er bald mit gespannter Aufmerksamkeit hörte.
»Der König ist noch immer nicht todt!?«
»Es geht zu Ende mit ihm - meine Berichte aus Berlin lauten, daß er unmöglich diesen Winter überstehen wird. Er vegetirt nur noch, eine Ruine ohne Geist und Willen.«
»Das kommt davon, wenn man auf dem Thron zu geistreich ist. Wir kennen Personen, Excellenz, die es nicht sind!«
Der Andere lachte. »Keine Majestätsbeleidigungen! Indeß, ich will offen bekennen, ich wünsche selbst aus Theilnahme für ihn, daß dieses unglückliche Schicksal ein Ende nimmt, selbst auf die Gefahr hin, daß ein energischer Geist an seine Stelle tritt. König Friedrich Wilhelm IV. war ein Gefühlsmensch, kein Charakter, sonst hätte es längst zu dem entscheidenden Kampf kommen müssen. Da es uns nicht gelungen, bei der Erkrankung des Königs die Regentschaft in andere Hände zu bringen, müssen wir die Zeit nutzen, während sein Nachfolger noch in diesen liberalen
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Versuchen seine Kraft verschwendet, von der ich fürchte, daß sie - wenn sie erst zum Durchbruch kommt, und bessere Stützen findet, als dieses unklare Ministerium Auerswald-Schwerin, - uns viel zu schaffen machen wird! Aber mir sind die Hände gebunden, so lange dieser unglückliche König lebt! Sie können nicht glauben, wie groß der Einfluß der Königin an unserm Hofe, und selbst in München und durch Altenburg in Hannover ist. Alle aggressive Politik wird dadurch gehemmt. Ich wünschte, alle diese erlauchten Damen hätten den Patriotismus oder Ehrgeiz der Erzherzogin!«
»Und doch ist ihr Einfluß in der Burg sehr im Schwinden!«
»Das liegt in andern Verhältnissen. Aber sie hat Politiker erzogen, die sie und Schwarzenberg ersehen! Dieses Preußen muß vernichtet werden, und in die Reihe der deutschen Kleinstaaten oder höchstens der Mittelstaaten zurücktreten. Man täusche sich um Himmelswillen in Wien nicht! die Gefahr ist dringend. Sie verdanken dieser perfiden preußischen Politik allein den Verlust der Lombardei, nicht den Niederlagen von Magenta und Solferino und den Betrügereien der Herren von Eynatten und Compagnons!«
»Man wird es in Wien nicht vergessen, wenn die Stunde der Abrechnung kommt!«
»Ich erwartete Sie erst in einigen Tagen - wenn der Graf von den warschauer Conferenzen wieder eingetroffen. Um so mehr freute ich mich, Sie diesen Abend schon hier zu sehen. Ich hielt es für's Beste, nach der Vorstellung Sie zu besuchen. Wir können so uns über
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Alles verständigen, während ein offizieller Besuch bei mir morgen doch vielleicht Aufmerksamkeit erregt hätte.« -
»Und sollten Euer Excellenz in Warschau wirklich so schlecht bedient gewesen sein, daß Sie nicht wüßten, weswegen ich heute schon hier bin?«
Die Antwort hatte einen sehr spöttischen Klang. »Graf Rechberg ist ein viel zu gediegener Diplomat, um den kleinen Schnupfen übel zu nehmen, den er sich im Hof des Belvedere geholt, als er zwei Stunden im Regen antichambriren mußte. - Gehn Sie doch - der Kaiser hat offenbar auf Preußens Antrieb abgeschlagen, sich in die italienischen Angelegenheiten zu mischen. Wir werden Parma auf dem Halse behalten, so gut wie Sie die anderen Bourbons. Wenn die schöne Eugénie nicht ein Uebriges thut, wird der heilige Vater die Wahl haben zwischen Inspruck, dem Eskurial, Malta oder Köln!«
»Scherzen Euer Excellenz nicht, die Lage ist ernst genug. Von meinem Standpunkt als Jude möchte der Papst meinetwegen in's Pfefferland gehn, aber der Fall wäre eine neue Wunde für das Ansehn Oesterreichs. Wir haben mit innern Gegnern genug zu kämpfen und die Ungarn machen der Regierung das Leben sehr sauer!«
»Warum greifen Sie nicht zum Dualismus? Ueber kurz oder lang werden Sie es doch thun müssen, ich habe es Rechberg und dem Fürsten stets gesagt! Aber lassen Sie uns auf unsere Zwecke kommen. Zunächst eine persönliche Frage. Können Sie das Anleihen vermitteln? ich befinde mich wirklich in Verlegenheit!«
»Ich werde morgen Herrn v. Kaskel den neuen Credit auf
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unser Haus eröffnen. Euer Excellenz mögen unbesorgt ziehen. Nur eine persönliche Bitte möchte ich daran knüpfen!«
»Sprechen Sie!«
»Später - lassen Sie uns zunächst die preußische Frage behandeln. Sie wissen, daß ich das volle Vertrauen der leitenden Personen genieße.«
»Ich weiß es und gerade daß man Sie gewählt zur Verhandlung, ist mir angenehm und erleichtert die Verständigung mehr als jeder offizielle Akt. Wir haben bereits in unserer früheren Unterredung die Stellung der Großmächte besprochen. Es gilt, Preußen zu isoliren und dazu wird die schleswig-holsteinische Frage passend sein. Ich bin kein Soldat und muß Ihrem Kriegsrath die Frage überlassen, ob oder wann sich die kaiserliche Armee genügend von dem Schlage in Italien erholt hat.«
»Sie ist jeden Augenblick bereit!«
»Schön! aber das Odium würde jetzt auf uns fallen. Das berliner Kabinet begreift gar nicht, welchen Verbündeten es an der deutschen Demokratie hat! Dieses unbewußte Bündniß muß zunächst gründlich zerstört, die Agitation des sogenannten Nationalvereins muß auf unsere Seite herübergezogen werden. Einige Schützen-, Sänger- und Turnerfeste gehörig benutzt, und die Anstachelung der Opposition in den nächsten preußischen Kammern gegen das Projekt der Armee-Reorganisation werden das thun. Man muß die neue Regierung dem Volke verhaßt machen und sie als ein willkürliches Soldaten-Regiment
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denunciren. Die Mittel dazu in der Presse haben wir zur Genüge.«
»Sie kostet uns ein schönes Geld!«
»Es ist nicht weggeworfen; als Geschäftsmann wissen Sie am Besten, wie man Kapital und Zinsen heraus schlägt. Es gilt, unsere diplomatischen Schachzüge nach einem bestimmten Plane zu ordnen und der ist es, den ich Sie bitte, dem Grafen vorzulegen.«
»Sind Euer Excellenz der Zustimmung der Herren Borries, Pfordten und Dalwigk gewiß?«
»Ganz gewiß, sobald es darauf ankommt!«
»Also zu dem Plan!«
»Wir haben drei Fragen, die wir benutzen müssen, die hessische, die schleswig-holsteinische und die Bundesarmee. Was zunächst die zweite betrifft, so wird sie über kurz oder lang zur Lösung herantreten, denn das dänische Kabinet handelt ganz unsinnig. Die preußische Politik geht ganz offenbar schon jetzt darauf hinaus, sich vom Bunde möglichst unabhängig zu machen. Deshalb darf die künftige Executive gegen Dänemark in keinem Falle in die Hände Preußens gelegt werden. Unter dem Vorwand, daß dies auch schon weniger die Eifersucht der auswärtigen Mächte erregen wird, müssen zwei der Mittelstaaten, die natürlichsten: Sachsen und Hannover, damit betraut werden.«
»Und das Ende?«
»Die unvermeidliche Lostrennung Holsteins bis zur Eider von Dänemark. Die Holsteiner schreien am meisten, obschon sie im Grunde gar keine Ursach und herzlich wenig
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Lust haben, selbst etwas zu thun. Die kieler Universität ist ein wahrer Seegen für uns.«
»Aber was wollen Sie aus Holstein machen?«
»Natürlich ein selbstständiges Herzogthum, vielleicht einmal mit Hamburg und Lübeck verstärkt, das vom Norden her ein ewiger Pfahl im preußischen Fleische bleibt und es hindert, sich an der Ost- und Nordsee auszudehnen.«
»Ich brauche wohl nicht zu fragen, wer diesen Thron besteigen oder der Figurant sein soll!«
»Ein Diplomat wie Sie braucht keinen Fingerzeig. Natürlich ist es der Erbprinz von Augustenburg. Er ist eitel und undankbar genug, um Alles zu vergessen, was er Preußen schuldig ist, wenn es gilt, auf Grund eines gemeinen pekuniairen Wortbruchs eine Herzogskrone zu erlangen. Subjekte, um ihn darin zu bestärken und vorwärts zu treiben, liefert Holstein zur Genüge. Genug, er muß unsere Puppe sein, die wir vorschieben. Ich hoffe, daß er bei einem etwaigen Kriege mit Dänemark nicht den Verstand haben wird, sich etwa als preußischer Major zu geriren. Wir wollen eine Art politischen Märtyrer aus ihm machen, das paßt zur Aktion gegen Preußen. Er sei das Aushängeschild, das wir dem Nationalverein vorwerfen. Dieser politische Phantast, der Herzog von Coburg, einer der confusesten Politiker unserer Zeit, der heute sich gegen die Dänen die Sporen verdient, morgen das Dreikönigsbündniß kolportirt, die Oesterreicher im Krimfeldzug in die Donaufürstenthümer gegen Rußland postirt, und dann Preußen für den Po zu engagiren sucht, wird auch
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gründlich auf diese Sache hereinfallen und den Augustenburger zum deutschen Volksherzog machen. Auf diese Weise werden die preußischen Sympathieen des Nationalvereins, also der nationalen Strömung, brach gelegt!«
»Ich bewundere die scharfe Kombination Euerer Excellenz.«
»Bah - diese Schlüsse geben sich von selbst! Nehmen wir also den ersten Punkt, die hessische Verfassungsfrage. Hier hilft uns ohne jedes weitere Zuthun die Person des Kurfürsten, sein Eigensinn und die Zähigkeit des Volksstamms. Daß der Bundestag keinen Ernst macht, ist unsre Sache!«
Der baronisirte Bankier lachte. »Es wäre auch zu merkwürdig! - Aber« - fuhr er ernster fort, - »waren Euer Excellenz je in der berühmten Rotunde von Wilhelmshöh?«
»Ja!«
»Und haben Sie da nichts Auffallendes bemerkt, wovon das Volk spricht?«
»Das ich nicht wüßte! was meinen Sie?«
»Die Kuppel enthält bekanntlich in Nischen die lebensgroßen Bilder sämtlicher Fürsten des hessischen Hauses. Nun ist nur noch eine Nische frei - für das Bild des jetzt regierenden Kurfürsten, und im ganzen Rund auch nicht ein Plätzchen übrig für das eines Nachfolgers!«
»Von Ihnen, Baron, hätte ich am Wenigsten Geisterseherei gefürchtet! Im Grunde wäre auch Nichts verloren, eine andere Linie kommt ohnedem zum Regiment und man baut eine neue Rotunde! Eigentlich haben die hessischen
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Stände vollkommen Recht und die Nepotenwirthschaft dort taugt in dem Teufel Nichts, gerade wie in dem fleischbedürftigen Mysticismus des Hofes an der Leine, aber das ist nicht unsere Sache. Preußen steht auf Seite der kurhessischen Kammer und wird sich sicher verleiten lassen, falsche Schritte zu thun. Mehr wollen wir vorerst nicht, als Handhaben. Die besten sind die Differenzen am Bund über die Reform der Bundeskriegsverfassung. Die Militair-Conferenzen in Würzburg im August waren der erste Schachzug. Keine Theilung des Oberkommando's - also Unterordnung Preußens unter die Bundesmajorität - das aber verträgt der preußische Soldatendünkel nicht. Merken Sie wohl auf, wie es kommen wird. Preußen wird bei der streitigen Bundesfeldherrnfrage entweder Alternirung oder das Recht privater Einigung mit Oesterreich unter Ausschluß der andern deutschen Staaten verlangen4. Hier hat alsdann das wiener Kabinet Gelegenheit, seine großdeutsche Gesinnung zu zeigen, und seine Unterordnung unter die Bundesbeschlüsse zu erklären, die ja nicht zweifelhaft sein können! daß die preußischen Pläne, eine Küstenflotille in die Hand zu nehmen, nicht zur Ausführung kommen, dafür soll die Rivalität Hannovers sorgen. Hannover muß den Antrag beim Bunde machen, die Vertheidigung der Nordseeküsten nicht unter die Leitung Preußens zu stellen, sondern unter die des Bundes5. Hat sich dann Preußen durch die im Stillen von uns beeinflußten
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Agitationen des Nationalvereins auf Herstellung einer deutschen Centralgewalt, einer einheitlichen Kriegsverwaltung, Leitung der auswärtigen Angelegenheiten und Wiederherstellung eines deutschen Parlaments - ich wiederhole Ihnen, der Herzog von Coburg wird sehr gut zu einer solchen Initiative zu brauchen sein!6 - zur Zustimmung verleiten lassen, dann ist es in unsern Händen und unseren Beschlüssen unterworfen. Widerstrebt es, so ladet es alles Odium des durch den Nationalverein bearbeiteten deutschen Volkes auf sich: das alleinige Hinderniß der deutschen Einigung zu sein!«
»Das Dilemma ist allerdings sehr unangenehm.«
»Um sich herauszuwickeln, dazu würde es eines sehr bedeutenden Staatsmannes bedürfen, und den besitzt Preußen nicht. Aber wir müssen auf alle Fälle gefaßt sein, also auch auf den Versuch eines Sonderbundes. Um diesem zuvorzukommen, müssen, - und das ist der Plan, den ich Sie dem Grafen vorzulegen bitte, - die Regierungen von Oesterreich, Bayern, Würtemberg, Sachsen, Hannover, Hessen und Nassau und wen wir von den kleineren Staaten noch gewinnen können, - gemeinsame Noten an das Preußische Kabinet erlassen, worin gegen jeden engeren deutschen Bundesstaat unter der Führung Preußens protestirt und die preußische Regierung eingeladen wird, an den Berathungen einer zu prooponirenden Bundesreform Theil zu nehmen7. Diese Proposition wird die einer Trias an der Spitze der deutschen Angelegenheiten sein, bestehend aus
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Oesterreich, Preußen und einem dritten, von den übrigen periodisch zu wählenden Staat. Diese Stellung zu Dritt' ist das Ende des preußischen Großmachtkitzels.«
»Der preußische Hochmuth wird sie niemals eingehen!«
»Dann stellt sich Oesterreich, das bis dahin in möglichst reservirter Haltung bleiben muß, offen an die Spitze der deutschen Einigung, erneuert das frankfurter Parlament, und die Gelegenheit, gegen Preußen eine Bundesexekution zu vollstrecken, wird sich leicht finden. Dabei müßte es sehr seltsam zugehen, wenn Oesterreich und der deutsche Bund dem gänzlich isolirten Preußen nicht die Federn so beschneiden sollten, daß es nie wieder sich über die andern Mittelstaaten erheben kann!«
Der Finanzmann schwieg. Erst nach einer Pause sagte er: »Der Plan ist gut kombinirt! und doch, vergessen Excellenz nicht, auch der Plan des Grafen Brühl war es und damals standen noch Rußland, Frankreich und Schweden auf unserer Seite und der Staat Friedrich's II. hatte weit geringere Hilfsmittel als jetzt!«
»Aber er hatte einen Friedrich! Das Glück wird nicht immer ungerecht sein! - Ja,« fuhr er fort, und der tief erregte geheime Zeuge hörte den Sprecher mit heftigen Schritten in dem Zimmer auf und nieder gehen - »ich gestehe es Ihnen gegenüber offen, ich hasse dieses Preußen aus tiefster Seele und fürchte seine Zukunft! Und deshalb arbeite ich mit allen Kräften an seiner zeitigen Erniedrigung. - Sprechen Sie sich klar aus! Will Oesterreich mit uns gehen oder hat es den geheimen Hinterhalt der Theilung Deutschlands? - dann möge es offen vorwärts gehen! über
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kurz oder lang, das bin ich sicher, kommt dann doch der Zusammenstoß! die jetzigen Zustände aber sind unerträglich. Mit seiner ewigen Unentschlossenheit wird Oesterreich Schritt um Schritt zurückgedrängt und ist schließlich nicht mehr in der Lage, zu unser'm Schutz eintreten zu können! Wir müssen dann an einen neuen Rheinbund denken.«
»Nicht so rasch, Excellenz! Oesterreich hat natürlich das größte Interesse an der Ausführung Ihrer Vorschläge, aber Sie müssen bedenken, daß unsre innern Verwickelungen sehr hemmend wirken. Die Finanzen sind zerrüttet, Ungarn ist in voller Opposition und ich weiß nicht, ob man nicht am Besten thäte, das Anerbieten anzunehmen und Venetien zu verkaufen. Die Oktober-Patente scheinen keine Partei recht zu befriedigen. Nichtsdestoweniger glaube ich die volle Billigung des kaiserlichen Kabinets verbürgen zu können. Bleiben Sie ein Freund Oesterreichs, und Euer Excellenz sollen sich nicht über seine Dankbarkeit zu beklagen haben. Die Verhältnisse Sachsens sind ohnehin zu eng für einen Geist wie der Ihre.«
»So wären wir denn einig und ich kann noch auf eine Stunde zu Frau von Uckermann zum Thee gehen, wie ich versprochen. Aber Sie erwähnten noch eines persönlichen Wunsches. Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Er betrifft Polen. - Soll ich offen sprechen?«
»Ich bitte darum. Daß ich nicht an russischen Sympathieen leide, werden Sie mir ohne Versicherung glauben. Ich denke, dasselbe ist der Fall in Wien.«
»Darüber kann den Eingeweihten kein Zweifel herrschen. Dem Scharfblick Eurer Excellenz kann es nicht
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entgangen sein, daß sich in Polen eine große Bewegung in aller Stille vorbereitet.«
»Meine Polizei hat mich benachrichtigt, daß seit einiger Zeit viele polnische Emigrirte in Dresden ihren Aufenthalt genommen haben.«
»Das ist es, worauf ich kommen wollte. - Gerade heraus - was hat das polnische Agitations-Comité von Ihnen zu hoffen oder zu fürchten, wenn es Dresden zu dem Ausgangspunkt der Bewegung wählt? Wir müssen eine nähere Station haben, als Paris.«
»Offen oder im Geheimen?«
»Versteht sich, im Geheimen. Wien und Prag sind dazu nicht geeignet - das Kabinet von Wien muß sich den Rücken frei halten. In Preußen würde man die Sache geradezu unterdrücken. Dresden eignet sich durch seine Lage am Besten dazu. Genießt das Comité aber nicht Euer Excellenz stille Duldung, so muß es das entferntere Frankfurt wählen, was freilich ungern geschehen würde. In Sachsen hat man von König August her immer noch Sympathieen für das Königreich Polen.«
»Und verteufelt wenig für Rußland, dessen Zustimmung im wiener Kongreß wir unsere Schmälerung verdanken. Ich hoffe zwar nicht auf eine Wiederherstellung Polens, aber schon die Aussicht, daß Preußen das Großherzogthum wieder herausgeben müßte, verdient Unterstützung. Nur ist Oesterreich in Galizien ebenso gefährdet.«
»Diesmal nicht! Das leitende Comité in Paris hat sehr gut eingesehen, daß es sich unmöglich mit allen
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Besitzmächten überwerfen darf, und Fürst Czartoryski ertheilt die bestimmtesten Zusicherungen. Galizien wird überdies der Weg sein, auf welchem die Erhebung ihre Nahrung bezieht. Euer Excellenz haben meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Das Bankierhaus Ekstein in Warschau gehört ja wohl zu Ihrer Familie?«
»Unsre Väter waren Brüder. - Aber die Antwort ...
»Mein Himmel, die haben Sie längst! In Dresden kann jeder Fremde unbelästigt wohnen, der Geld genug hat, um der Armenkasse nicht zur Last zu fallen! Wenn Ihre Herren so und so uns nicht mit Gewalt unter die Nase rennen, haben wir keine Ursach, uns um sie zu bekümmern und - der Czar ist weit! Wissen Sie auch, daß Loschwitz eine sehr schöne Gegend ist und in einer halben Stunde von Dresden zu erreichen?«
»Ich kenne es!«
»Nun - so viel ich weiß, steht eine ziemlich abgelegene Villa daselbst - nicht weit von der meinen, zu verkaufen oder zu verpachten!«
»Ich verstehe und danke Euer Excellenz!«
»Ich habe Nichts gesagt! - Also - Kaskel wird morgen die Anweisung haben wegen des Darlehns?«
»Das Geld wird zu Ihrer Verfügung stehen.«
»So leben Sie wohl, Baron und wiederholen Sie dem Grafen:
Ich treffe immer in's Schwarz-Weiße!« -
Ein krampfhafter Schrei, ein schwerer Fall unterbrach hier die Unterredung.
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Der Ton kam aus dem rückwärts angränzenden Zimmer - ganz deutlich, obschon keine Thür dahin führte, konnten sie ein Stöhnen, ein Röcheln vernehmen.
»Zum Henker - was ist das? Sie sagten mir, hier neben an wäre Niemand und wir wären vor jedem Ohr sicher? Wenn man hier jeden Laut von drüben hört, muß es dort ebenso gewesen sein!«
Das schmerzliche Stöhnen dauerte fort.
»Euer Excellenz dürften am Besten thun, sich zu entfernen,« rieth der Wiener. »Der Eingang zu jenem Zimmer ist von einem andern Korridor. Ich werde dann sofort mich überzeugen, was die Sache zu bedeuten hat. Euer Excellenz erhalten morgen Nachricht von mir!«


Einige Minuten später trat der wiener Bankier mit einem Kellner in das Zimmer des Doktor Faust, da auf ihr Klopfen keine Antwort erfolgte.
Sie fanden den jungen Gelehrten auf dem Boden liegen, bewußtlos, aber in wilder Fieberhitze verworrene Worte und Reden ausstoßend.
Der Baron erkannte sofort seinen Reisegefährten von Prag her. Nachdem man den offenbar schwer Erkrankten auf das Bett gelegt, schickte der Baron, als theilnehmender Freund sich gerirend, den Kellner nach dem Arzt und ließ zugleich seinen eigenen Diener rufen, einen Mann, dem er vollkommen vertrauen konnte.
Dann - während er allein war mit dem Kranken - untersuchte er zunächst das Zimmer.
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Ohne Mühe löste sich ihm das Räthsel, das der Gelehrte im Dunkel nicht hatte entdecken können.
Am Ende des Sopha's war die Wand früher durchbrochen gewesen, um dem Rohr eines Ofens Raum zu geben, das durch das hintere Zimmer geleitet, mit der Verlegung oder dem anderweiten Ersatz des Ofens aber gleichfalls entfernt war. Die Oeffnung war mit einer einfachen Papiertapete bekleidet und die Schallleitung so stark, daß der Baron, als er jetzt seinen Diener in das eigene Schlafzimmer schickte, um von seiner Toilette Eau-de-Cologne zu holen, jede Bewegung desselben genau vernahm.
Das Phantasiren des Kranken bewies ihm, daß derselbe in der That vollständiger Zuhörer der wichtigen Unterredung gewesen sein mußte. Aber diese verworrenen Andeutungen von einer Gefahr Preußens, dem Schuß in's Schwarz-Weiß, polnischer Revolution, dem Nationalverein und so weiter waren in unerklärlicher Weise gemischt mit wilder Angst vor weißen Grabgespenstern, die sich verschworen hätten, alle Christen zu ermorden, und mit den üppigsten Bildern von Frauenreizen und Liebesgenüssen!
Der diplomatische Finanzmann war gewöhnt, unter schwierigen und gefährlichen Umständen seine Geistesgegenwart nicht zu verlieren, zunächst alle Umstände genau zu erwägen und dann sich zu Nutze zu machen. Er sah die Gefahr vollkommen ein, welche es haben könne, wenn die erlauschten politischen Geheimnisse mißbraucht würden, und daß ein feindlicher Gebrauch durch den Fremden geschehen würde, wenn er erst wieder zur ruhigen Erinnerung
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gekommen, war ihm nach den auf einen enthusiasmirt-preußischen Geist schließen lassenden Aeußerungen des Phantasirenden keineswegs zweifelhaft.
Er hatte seinen Entschluß gefaßt, als der Hôtelbesitzer mit dem Arzt erschien. Der Baron ging ihm entgegen.
»Meinem jungen Reisegefährten,« sagte er, »ist leider ein Unfall zugestoßen. Ich fürchtete es fast schon unterwegs, denn sein ganzes Wesen war unstät[t] und verstört und - nach dem, was ich von früheren Anfällen gehört - läßt sich leider auf das Traurigste für ihn schließen. Auch seine Mutter soll lange geistesgestört gewesen sein. - Aufregung und daß er - statt sogleich bei der Ankunft mit in's Hôtel zu gehen - wie seine Kleider zeigen, noch lange in dem Herbstregen verweilt, mögen die Ursach des Ausbruchs einer Krankheit sein. Es versteht sich, daß ich für alle Kosten, die diese macht, aufkomme.«
So unterrichtet untersuchte der Arzt den Kranken und bestätigte, daß ein Gehirnfieber im Anzuge sei. Am andern Morgen wolle er entscheiden, ob man den Leidenden in eine Kranken-Anstalt bringen könne.
Noch in derselben Nacht sandte der Baron ein Telegram[m] nach Berlin: »Bankier Rosenberg aus Prag. Rheinischer Hof. Kommen Sie sofort nach Dresden zurück - was Sie verloren, habe ich gefunden.«
Am andern Nachmittag traf der Bankier ein. Der Kranke lag im wildesten Fieber-Paroxysmus - der Diener des Barons hatte seine Pflege übernommen.
»Diesen Abend,« erklärte der Arzt - »wird die Kraft sich erschöpft haben - wir müssen die Apathie des
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Leidenden benutzen, um ihn nach einer Krankenheilanstalt zu bringen. Haben Sie in dieser Beziehung eine Bestimmung getroffen?«
»Hier mein Freund,« sagte der Baron, »steht ihm näher als ich. Der junge Mann ist ohne alles Vermögen, er führte nicht einmal Gepäck bei sich. Herr von Rosenberg hat für ihn bereits die Aufnahme in dem israelitischen Krankenhause erwirkt.«
»Ich werde doch sorgen für seine beste Verpflegung!«
»Das freut mich,« erwiderte der Arzt, »denn die Menschlichkeit gebietet, alles Mögliche für ihn zu thun, obschon ich fürchte, es wird nicht viel nützen. Der zweite und dritte Anfall des Paroxysmus werden noch weit stärker sein, als der erste, und wenn mich meine Erfahrung und verschiedene Anzeichen nicht trügen, ist - wenn der Patient überhaupt diese Krankheit überlebt, - doch für längere Zeit ein geistig gestörter Zustand, eine Monomanie bei ihm zu fürchten, welche die sorgfältigste Behandlung nöthig macht.«
»Seien Sie unbekümmert - es soll für ihn gesorgt werden.«
Der Arzt empfahl sich; - zu Hause fand er ein Couvert mit einem anständigen Honorar. Da er zufällig nicht Gelegenheit hatte, mit dem Arzt der Heilanstalt zu verkehren, und die Zahl der Leidenden in dem Herbst so groß war, entschwand ihm bald die Sache aus dem theilnehmenden Gedächtniß.
Am Abend wurde Doktor Faust nach dem trefflich eingerichteten und bedienten Krankenhause gebracht - und erhielt dort eine eigene Stube. Der prager Bankier
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besorgte selbst einen eigenen Wärter aus der Stadt, die Kosten wurden reichlich deponirt.
Als die beiden Finanziers am andern Tage das Krankenhaus verließen, um ihre Heimreise demnächst anzutreten, sagte Herr Rosenberg:
»Aber was soll werden mit dem Menschen, Herr Baron, wenn er nicht geht kapores? Ich bin gerne mildthätig und zeige mer darin bei allen öffentlichen Gelegenheiten. Aber es macht doch grauslich viel Kosten und im Grunde geht er uns doch gar Nischt an.«
»Für diesen Fall, Herr von Rosenberg, ist hier die amtliche Erlaubniß zur Aufnahme des Unglücklichen auf dem Sonnenstein. Sie kommen ja wohl einmal wieder herüber von Prag, um nach ihm zu sehen!«
Er übergab ihm ein Papier mit dem Siegel der Raudte. -
Der Sonnenstein ist die staatliche Irren-Anstalt Sachsens. Von seiner Höhe sehen die armen Unglücklichen durch die Eisenstäbe ihrer Fenster herab auf das prächtige Elbthal!
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Die Russen am Amur.

Der narbenbedeckte Leib des ehemaligen Obersten des 13. Regiments war der Erde übergeben worden, seine Genossen in der Verbannung, die Warnak's, hatten für den Ketzer, den Katholiken, mühsam mit den Hacken das Grab in den gefrorenen Boden gehauen und ein Kreuz von Birkenholz darauf gesetzt.
Es war eine stille, traurige Ceremonie, als sie ihn da hinein senkten in die fremde, feindliche Erde, so weit von der geliebten heimischen, der er Alles gegeben - bis auf den zerknuteten Leib! Der alte Holowa sprach ein Gebet am Grabe, und die Schneedecke schloß sich über der tapferen Brust!
Was war es weiter - der Gobernador hatte ja nur eine Nummer in seiner Liste auszustreichen! wer frug danach, daß diese Nummer vor dreißig Jahren an der Spitze von tausend kühnen Herzen gestanden und Thaten des höchsten Heldenmuthes vollbracht hatte!
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Vergebens hatte der Holowa von seiner Enkelin die Papiere verlangt, die der Verstorbene ihr anvertraut. Mit tändelnden Liebkosungen lachte sie ihm in's Gesicht und empfahl ihn[m], sie zu suchen.
Ebenso verstand sie seinen dringenden Fragen auszuweichen, was sie mit ihrem überraschendem Anerbieten an den Sterbenden gemeint habe. Ihre Antwort, man möge die Zeit abwarten, über kurz oder lang müsse sie ja doch die Kolonie verlassen, und dergleichen allgemeine Reden waren um so weniger geeignet, die Besorgnisse des Alten zu zerstreuen, als es ihm nicht entgehen konnte, daß Wéra sich auffallend viel mit dem deutschen Professor zu thun machte, mit ihm geheime Unterredungen hielt und zugleich ihren kleinen Kleidervorrath wiederholt musterte und ausbesserte.
Dem Posieleniec ging seit der Ankunft der Fremden das Mädchen offenbar aus dem Wege, und so vertraut bis zu einem gewissen Grade sie sonst mit ihm gewesen war, so launisch und abstoßend, ja oft sarkastisch behandelte sie ihn jetzt. Der Verbannte schien ärgerlich und überrascht von der Entdeckung, daß das Danaer-Geschenk seines schrecklichen Unterrichts jetzt sich gegen den Lehrmeister selbst kehrte, und häufig wechselten Beide bittere Reden. An den jungen Lord hatte sich der Russe sehr angeschlossen und machte mit ihm häufige Jagdausflüge, an denen Wéra jedoch keinen Theil mehr nahm.
Der Burany hatte volle vierundzwanzig Stunden angehalten. Am Morgen nach seinem Aufhören hatten sich unter Führung Ajun's und des Kosaken Mutin die
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Jakuten und mehrere der Katorzny's aufgemacht, die Schlitten der Reisegesellschaft und den verloren gegangenen Dolmetscher aufzusuchen. Man fand die Schlitten mit ihrem zum Theil zerstreueten Inhalt, dessen Wiederherbeischaffung der kleine Professor den Männern auf die Seele gebunden hatte, von dem Dolmetscher aber keine Spur. Es unterlag keinem Zweifel mehr, daß er bei dem treulosen Versuch, den Eigenthümern der Hunde zu folgen und sich selbst zu retten, umgekommen war und unter der tiefen Schneedecke sein Grab gefunden hatte.
Es war die Zeit, wo alljährlich vor Eintritt der vollen Strenge des Winters der letzte Kurier die Kolonie zu berühren pflegte, der von Irkutzk nach Ochotzk und Udskoi ging, und in dessen Begleitung die Reisenden ihren Weg fortzusetzen beabsichtigten. Aber vergeblich hatte man schon seit einer Woche auf seine Ankunft geharrt, und der Holowa selbst mußte jetzt seinen europäischen Gästen dringend rathen, die mildere Witterung, welche gewöhnlich in diesen Gegenden zwischen den ersten Boten des Winters und seiner vollen Heftigkeit eintritt, zu benutzen, um noch die Seeküste zu erreichen, wenn sie nicht bis zum Frühjahr hier sich zurückgehalten sehen wollten.
Auch jetzt war die Reise immerhin schon ein sehr gefahrvolles Unternehmen, da die Zeit der Schneestürme begonnen, und nur das Erbieten Ajun's, der den langen und mühseligen Weg schon wiederholt zurückgelegt hatte, die Stelle des erfrornen Führers der kleinen Karawane einzunehmen, gab einige Aussicht auf glückliche Vollendung.
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An Hunden und Rennthieren zur Beförderung der Schlitten war übrigens jetzt kein Mangel mehr; denn in den letzten Tagen hatten sich mehrere der während der mildern Jahreszeit in den nördlichern Distrikten bis zum Eismeer nomadisirenden Stämme in die Nähe der kleinen Kolonie gezogen, um in ihrem Schutz den Winter zuzubringen, den der greise Tojon bei seinem Schwiegersohn und seiner Urenkelin zu verleben pflegte, während der Sommer ihn unwiderstehlich hinauszog auf die südlichen Weiden zu den Nachkommen seiner tungusischen Familie.
Man hatte die Abreise auf den nächsten Tag festgesetzt. Unter des Professors eigenster Aufsicht war der Mammuthschädel auf einen besondern Schlitten verpackt worden und der kleine Mann konnte nicht müde werden, immer und immer wieder Meister Ajun die größte Sorgfalt dafür zu empfehlen. Offenbar war ihm der antediluvianische Schatz wichtiger, als die eigene Sicherheit und die seines Begleiters.
An demselben Tage hatte Wéra Tungilbi eine lange geheime Unterredung mit Ajun gehabt, und als der Kosak Mutin diesen nach dem Inhalt befragte, war der schlaue Jakute der Antwort mit allerlei so offenbaren Lügen ausgewichen, daß sie ihm einige tüchtige Kantschuhhiebe eintrugen.
Am Abend - wenn man in diesen Gegenden von Abend sprechen kann, wo zu dieser Zeit bereits drei Viertheil der vierundzwanzig Stunden Nacht ist! - hatte sich die ganze Gesellschaft, welche am Tage der Ankunft der Expedition die Geschichte des alten Tungusen angehört
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hatte, im Blockhaus des Holowa wieder um den dampfenden Samowar versammelt, und diesmal war es der junge Lord, welcher ihren Wirth an das Versprechen erinnerte, ihnen noch seine eigene Lebensgeschichte und die Abenteuer mitzutheilen, die ihn zum Schwiegersohn des Tojon gemacht hatten. Um die schweigsame Stimmung zu unterbrechen, die der bevorstehende Abschied über Alle verbreitete, und der namentlich auch das junge Mädchen zu unterliegen schien, das zwischen ihren beiden Vätern saß und ihre Hände hielt, erklärte der Holowa sich bereit, dem Wunsch zu entsprechen und begann alsbald seine Erzählung.


»Ich war zwanzig Jahr, als die Conskription für den Zug des Kaisers nach Rußland und eigne Lust mich unter die Fahne reihte. Ich hatte eine gute Erziehung genossen, denn man wollte mich zum Bautechniker ausbilden und obschon mein Vater nur ein kleiner Kaufmann war, so stammte ich doch von meiner Mutter, - die in der Revolution von 1793 ihre beiden Eltern und fast alle ihre nähern Verwandten unter der Guillotine verloren hatte, - von einer alten und sehr guten Familie Frankreichs ab. So kam es denn, daß ich schon in Moskau als Unterlieutenant einzog, nachdem ich die blutigen Schlachten von Smolensk und an der Moskwa mitgeschlagen. Wir dachten an jenem Tage sicher nicht an das Elend, das uns der Eigensinn des Kaisers bereitete, und ich am allerwenigsten, in welchem Zustande ich das ganze Rußland bis zu seinen östlichsten Gränzen durchziehen sollte.
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Ich war ein junges leichtherziges Blut, nicht übel vielleicht von Manieren und Aussehen, wenigstens hatten mir das häufig die Weiber in den Quartieren in Deutschland zu erkennen gegeben, und so richtete ich mich denn ganz behaglich in dem Quartier ein, das ich mit meinem Zug in den Räumen eines prächtigen, aber anscheinend von seinen Besitzern ganz verlassenen Palastes in der Belaigorod oder weißen Stadt angewiesen erhalten hatte, da ich, glücklicher als meine Kameraden, wenigstens in der Person einer mit zwei andern Dienern zurückgebliebenen Leibeigenen ein hübsches Mädchen fand. Der Herr des alten Palastes war einer der vornehmsten russischen Würdenträger, und trug einen Namen, den ich schon häufig gehört. Wie ich von einem der Diener vernahm, einem alten grauköpfigen Mann, der zwei Mal mit dem Fürsten in Paris gewesen war und deshalb etwas Französisch sprach, das seine Tochter, die einzige zurückgebliebene Frauensperson gleichfalls radebrechte, hatte sich der Fürst mit seiner Familie, zwei Söhnen und einer Tochter, vor der Annäherung der Franzosen zurückgezogen und die Bewachung seines Palastes den beiden Dienern anvertraut.
Bekanntlich brachen schon am Tage nach unserm Einzuge in die alte Czarenstadt, also am 15. September, in den entlegenen Stadttheilen einzelne Feuersbrünste aus, die von uns anfangs wenig beachtet immer mehr an Ausdehnung gewannen. Von den Kameraden hörte ich wohl, daß man das Entstehen derselben - obwohl an vielen Stellen sicher unsere eigne Fahrlässigkeit die Ursach war - den Russen selbst schuld gab, daß sich eine Menge Gesindel aus den
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geöffneten Kerkern umhertrieb, und daß nicht allein täglich Executionen an den betroffenen oder verdächtigen Brandstiftern vollzogen wurden, sondern auch bei Tag und Nacht zahlreiche Mordthaten an unsern eignen Leuten vorkamen und jeder Morgen auf den Straßen beraubte und verstümmelte Leichen französischer Soldaten finden ließ.
Die schärfsten Ordres wurden endlich gegeben, Patrouillen durchstreiften Tag und Nacht die Straßen und durchsuchten die Häuser, und strenger Befehl war an die Einquartirten ergangen, die wenigen Bewohner zu bewachen und jeden sich zeigenden Fremden sofort zu verhaften; denn es ging das Gerücht, es solle ein Attentat auf den Kaiser versucht werden. Aber Alles nutzte Nichts. Allnächtlich zeigte der geröthete Horizont neue Feuersbrünste und der Rapport am Vormittag das Verschwinden von Offizieren und Soldaten. Immer näher und näher zog sich der furchtbare Flammengürtel. Mich selbst kümmerte alles dies wenig. Die hübschen braunen Augen der schönen Olga hatten mich zum Narren gemacht, und ich verbrachte alle vom Dienst freie Zeit damit, ihr nachzulaufen, mit ihr zu tändeln und mich von ihr Russisch lehren zu lassen, während ich selbst ihr Französisch, das sie beim Unterricht der Prinzessin abgelauscht haben wollte, verbesserte, eine Mühe, die merkwürdig guten Erfolg hatte.
So war der September und bereits die zweite Woche des Oktober vergangen, ohne daß sich in unsern Verhältnissen etwas geändert und der Kaiser einen Entschluß gefaßt hätte, außer, daß ein weiterer Theil der Truppen aus der Stadt verlegt wurde.
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Es war gegen Abend des achtzehnten Oktobers - desselben Tages, an dem, wie ich gehört habe, nach drei Jahren die Macht unsers großen Kaisers auf dem Felde von Leipzig von den vereinigten Heeren Rußlands, Preußens und Oesterreichs gebrochen werden sollte, - als ich von einem Kameraden ziemlich aufgeregt nach Hause kam, denn unsere Sappeurs hatten in dem Hause, das er bewohnte, einen vermauerten Keller entdeckt, der außer einer Menge von Kostbarkeiten auch ein stattliches Flaschenlager enthielt, das natürlich mit allem sonstigen Inhalt als gute Beute erklärt wurde. Auch ein Theil meiner Leute war bei dem Gelage zugegen gewesen und hatte seinen Kameraden gefüllte Flaschen mitgebracht, so daß, als ich im Erdgeschoß an dem Flügel vorüberging, wo sie sich einquartiert, ich sie lachen und jubeln hörte.
Es fiel mir erst später ein, daß ich im Hofe nicht die Schildwach auf ihrem Posten fand, die dort Tag und Nacht patrouilliren mußte, seit die Gefahr immer dringender geworden. Auf dem Wege nach meinem Quartier hatte ich auf drei Seiten wieder den verhängnißvollen Flammenschein gesehen. Nur der Kreml und die Gegend, in der die Quartiere unseres und eines Regiments von der Garde lagen, war bisher von jeder Brandstiftung verschont geblieben.
Ich ließ mir in der Wohnung des Hauswarts, wo ich die beiden Diener fand, Licht geben, und frug nach Olga, ohne die finstern Blicke zu beachten, welche die Antwort, sie sei bereits in ihre Stube gegangen, begleiteten, und stieg die breite Marmortreppe hinauf, denn ich hatte -
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sehr gegen alle Vorschrift, - mein Quartier in einem prächtigen Boudoir des ersten Stockwerks auf der andern Seite des Palastes aufgeschlagen, wo ich jedoch von einem anstoßenden Kabinet aus den Hof und selbst die mit festen vergoldeten Eisengittern verschlossenen Fenster der Halle, in der meine Leute wohnten und jetzt ein Gelage hielten, übersehen und die Schildwach auf dem Hofe anrufen konnte. Da es noch keine Zeit, schlafen zu gehen, ich auch ohnehin aufgeregt war, trieb es mich, das Mädchen aufzusuchen, das in einem hintern Flügel mit ihrem angeblichen Vater ihre Wohnung hatte; da ich diesen noch so eben in dem Zimmer des Thorschließers getroffen, mußte sie allein sein und da es nicht das erste Mal war, daß ich ihre Wohnung betrat, ging ich die Korridore entlang dahin.
Das Zimmer war leer - ich suchte vergeblich.
Aergerlich, denn ich hatte mir es so hübsch gedacht, noch eine Stunde mit Olga zu verplaudern und mit ihr den Thee zu trinken, richtete ich zufällig die Augen durch das Fenster nach dem entgegengesetzten Flügel des Palastes, in dem meine schon erwähnte Wohnung lag, und sah mit Verwunderung durch die geschlossenen Gardinen, daß Licht in meinem Kabinet war.
Der Gedanke schoß mir durch den Kopf, daß es die Gesuchte sein müsse, die vielleicht in meinem Zimmer aufräumte oder gar mich selbst gesucht hatte, und ich eilte so rasch ich konnte, durch den Korridor nach jener Seite. Die breiten Teppiche, womit der Estrich belegt war, mußten den Schall meiner Tritte gedämpft haben und als ich jetzt
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athemlos an meiner Thür anlangte und eben öffnen wollte hörte ich zu meiner Verwunderung Stimmen im Innern.
Es war die rauhe Sprache eines Mannes und die mir wohlbekannte Stimme des schönen Mädchens.
Ich glaubte im ersten Augenblick, es sei einer der alten Diener, der während ich Olga nachlief, heraufgekommen, und wollte öffnen - die Thür war von Innen verschlossen. Jetzt fuhr es mir wie Verdacht durch den Sinn, ich schlug an die Thür, rief das Mädchen, frug wen sie bei sich hätte und befahl ihr, sofort zu öffnen. Ich hörte einiges Geräusch im Zimmer, den Ruf Olga's: »Gleich, gleich Monsieur!« und dann öffnete sie die Thür. Ich trat ein - das Zimmer war leer; - ich öffnete das Kabinet, aus dem kein zweiter Ausgang führte - auch dieses war leer. »Was zum Teufel machst Du hier, Kind, und mit wem hast Du gesprochen?« - »Ich? gesprochen?« - »Par Dieu, ich habe es deutlich gehört!« - Sie lachte mir in's Gesicht. »Ich glaube wirklich, daß Monsieur le lieutenant jaloux ist! Mit wem anders sollte ich gesprochen haben, als mit mir selbst! Die Umgebung der Herrn Offiziere macht selbst uns Frauenzimmer so kriegerisch, daß wir uns wohl auch einmal im Kommando versuchen können.« Und mit komischem Pathos trat sie vor den großen Spiegel, drehte sich den eingebildeten Schnurbart und kommandirte mit tiefer Stimme: Halte-là! - Qui vive? - En avant mes braves! en avant!«
Ich mußte lachen, sie sah so allerliebst aus, daß mein Zorn und mein Verdacht entwaffnet war. Auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers lag eine Karte von Rußland.
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Der Adjutant des Bataillons war am Morgen bei mir gewesen, er hatte mir erzählt, daß schon in wenig Tagen Marschordre zu erwarten sei, und wir hatten mit einigen Nadeln die Route bezeichnet, die unser Regiment nach Süden nehmen sollte. Indem ich die kleine Hexe erfassen und umarmen wollte und sie mich narrend um den Tisch herum lief, bemerkte ich - später erinnerte ich mich dessen deutlich, - daß ich die Karte darauf in anderer Lage sah, als ich sie hinterlassen, aber aufgeregt vom Wein und den Reizen des Mädchens achtete ich nicht weiter darauf in ihrer Verfolgung.
Gleich einem Kobold wußte sie mir aber stets zu entwischen, wenn ich sie zu erfassen glaubte; endlich blieb ich athemlos stehn.
»Aber warum Kind, bist Du heute so spröde? Du bist von selbst in mein Zimmer gekommen, ich habe Dich nicht gerufen, und nun sollst Du es nicht verlassen, ohne daß Du meine Liebe erhört hast!«
Eine tiefe Röthe übergoß ihr hübsches Gesicht und sie warf einen ängstlichen Blick umher. »Monsieur,« sagte sie leise, »Sie haben mich stets so ritterlich vor den Zudringlichkeiten Ihrer Leute und neulich noch vor der Gewaltthat des betrunkenen Kürassiers beschützt, daß Sie die gute Meinung, die ich von Ihnen habe, nicht selbst vernichten werden!«
»Aber - par Dieu!« - wir fluchten damals gern etwas, um den alten Schnurbärten der Garde ähnlicher zu sein! - »warum find' ich Dich denn alsdann hier, wenn Du die Hartherzige spielen willst?«
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Sie wurde verlegen. »Ich - ich bedurfte einer Feder um Etwas zu schreiben, und Petrowit[s]ch besitzt keine. Ich bitte Sie, lassen Sie mich fort!«
Ich stand vor der Thür - sie sah so reizend aus bei der Bitte, daß ich unwillkürlich zur Seite trat.
»Willst Du mich wirklich verlassen, Olga? weißt Du auch, daß wir übermorgen marschiren?«
Sie sah ernst vor sich nieder.
»Daß ich Dich vielleicht nie wiedersehe in diesem Leben?« fuhr ich, mich in eine elegische Stimmung selbst hinein redend, fort, »daß vielleicht schon die nächste Schlacht mich niederwerfen kann? Und ich liebe Dich so sehr?«
Sie hob plötzlich die Augen und sah mich fest, aber mit einem gewissen traurigen Ausdruck an. Sie lieben mich wirklich, Iwan? sagte sie so leise, daß ich es kaum zu hören vermochte!«
»Auf mein Wort, Mädchen - Du hast mir das Herz gestohlen!«
Sie lehnte sich unwillkürlich, wie von einem Schmerz getroffen, an den Tisch, schloß die Augen und rang die Hände, deren Kleinheit und Zartheit bei ihrem Stande mir stets aufgefallen war.
Diesen Augenblick der Vergessenheit benutzte ich, vorwärts zu springen und sie zu erfassen. Ich riß sie, während sie einen lauten Angstschrei ausstieß, an meine Brust und bedeckte ihren kleinen Mund und ihre Augen mit Küssen, indem ich sie aufhob und fortzutragen suchte.
»Zu Hilfe, Vater! zu Hilfe!«
Ich achtete nicht auf ihr Geschrei und ihr Sträuben,
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denn ich wußte mich sicher genug, aber im nächsten Augenblick fühlte ich mit unwiderstehlicher Gewalt sie meinen Armen entrissen und mich selbst gegen die Wand geschleudert, daß mir fast die Sinne vergingen.
»Hund von einem Franzosen! wagst Du eine Wolchonski mit Deinem unreinen Mund zu besudeln?«
Es war die barsche Stimme, die ich vorhin im Zimmer gehört hatte. Als ich aufblickte, stand ein großer stattlicher Mann von einigen vierzig Jahren mit wildem energischem Gesichtsausdruck im kurzen russischen Pelzrock, die Mütze auf dem Kopf, zwischen mir und dem Mädchen, das bebend in die Knie gesunken war, und streckte drohend die Faust mir entgegen.
Im Nu war aller Rausch verflogen - ich wußte, daß ich betrogen, daß Jener ein Feind sein mußte, der sich im Palast verborgen gehalten, daß Olga nicht war, für was sie sich ausgegeben. Zugleich fuhr mir die Erinnerung durch den Kopf, daß auf derselben Stelle, an die ich getaumelt, meine stets geladenen Pistolen hingen.
Im Nu hatte ich die eine rückwärts greifend von der Wand gerissen, gespannt und schlug sie auf den Fremden an, aber ehe ich losdrücken konnte, warf sich Olga, die jede meiner Bewegungen beobachtet haben mußte, vor ihn. »Um der heiligen Mutter von Kasan willen - schießen Sie nicht! es ist der Fürst, mein Vater!«
Jetzt wußte ich Alles - der eine Moment hatte mir so viel enthüllt, als hätte man mir stundenlang den ganzen Betrug auseinandergesetzt. Ich ließ das Pistol sinken, aber zugleich überkam mich auch die ganze Schuld der Gefahr
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und der Verantwortlichkeit, die ich mir durch meine Fahrlässigkeit und meinen Leichtsinn aufgeladen, und ich sprang nach dem offenen Eingang des Kabinets, um aus dem Fenster, das von dort in den Hof ging, die Schildwach zum Allarm zu rufen.
Ich hatte vergessen, daß sie nicht einmal auf ihrem Posten war!
Aber mein Gegner hatte meine Absicht erkannt. Er stürzte sich, noch ehe ich die Thür des Kabinets erreicht, auf mich und umfaßte mich. Ein wildes Ringen begann, bei dem sich mein Pistol entlud. Aber der Knall zwischen den dicken Mauern und wohlverwahrten Fenstern war zu schwach, um mir selbst Beistand herbeizurufen, vielmehr sah ich durch den Pulverdampf in der Thür des Kabinets eine zweite Gestalt erscheinen, ein schwerer Schlag traf im nächsten Augenblick meinen Kopf und machte mir die Sinne schwinden, ich fühlte mich zu Boden geworfen und Arme und Füße zusammengeschnürt und einen Knebel in meinen Mund gepreßt.
»Gut gemacht, Mutin! laß den Hund liegen und umkommen, wie er es für seine Frechheit verdient! - Komm Tochter - es wird Zeit!«
Die Worte hörte ich noch, dann verlor ich vollends das Bewußtsein. -
Ich mochte wohl an zwei Stunden so gelegen haben, als ich wieder zu mir kam. Wie im Schlaf glaubte ich schon lange vorher ein seltsames Geknister um mich her vernommen - einen eigenthümlichen Geruch verspürt zu haben.
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Diese Erscheinungen blieben auch, als ich die Augen, die mit von der Stirn geflossenem geronnenem Blut fast zugeklebt waren, mühsam und schwer geöffnet hatte. Aber eine andere Wa[h]rnehmung trat sofort noch hinzu. Durch die Fenster glühte eine seltsame Helle, es war, obschon es Nacht sein mußte, so licht in dem Kabinet, denn in diesem lag ich am Boden, daß ich hätte die kleinste Schrift lesen können.
Ich raffte mich mit Gewalt empor, erst auf die Knie, dann auf die Füße, - ich taumelte zum Fenster! - Allmächtiger Gott, der ganze Palast stand in Flammen und weit darüber hinaus mußte, nach der mächtigen über die Dächer schlagenden Lohe zu schließen, die ganze Umgebung in Feuer stehen!
Ich wollte schreien - der Knebel erstickte meine Stimme! ich wollte das Fenster aufreißen - meine Hände waren auf den Rücken geschnürt! - ich wollte zur Thür stürzen und fiel lang hin auf den Boden, denn ich hatte vergessen, daß man mir die Füße zusammengebunden. Angstvoll wälzte ich mich zu der Thür und richtete mich an ihr empor, ich versuchte, mich umwendend, mit den gebundenen Händen sie zu öffnen, aber ich mußte mich bald überzeugen, daß sie von Außen verschlossen war.
Eine entsetzliche Angst, - die Furcht, hier vergessen zu werden und lebendig verbrennen zu müssen, erfaßte mich. Ich trat oder hüpfte vielmehr zurück und warf mich dann mit aller Kraft gegen die Thür, sie zu sprengen - aber sie spottete aller meiner Anstrengungen und wich nicht einen Zoll breit aus ihren Fugen.
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Wieder rutschte ich an Wänden und Boden hin nach dem Fenster und es schien mir dabei, als wären Wände und Boden bereits heiß von der Gluth! Wie in der Ferne glaubte ich Trommelwirbel - Hornsignale - einzelne Schüsse zu hören - - es mußten meine braven Kameraden sein, die in Allarm waren.
Aber furchtbare, nähere Laute schlugen an mein Ohr und machten mein Haar sträuben. Barmherziger Gott - noch jetzt, nach achtundvierzig langen Jahren erschaudert mein altes Gebein, wenn ich an den Anblick denke, der sich mir bot, als ich jetzt genauer durch die Fensterscheiben hinab blickte, die von der Hitze bereits klirrend in Scherben sprangen.
Ich habe bereits erwähnt, daß ich von hier aus in den inneren Hofraum und auf den Theil des Gebäudes sehen konnte, in dessen gewölbten Parterreräumen meine Leute einquartiert lagen.
Dieser Theil des Palastes stand in vollen Flammen, während dieselben die Seite, wo ich mich befand, noch nicht völlig ergriffen zu haben schienen.
Die Fenster des Erdgeschosses waren mit starken vergoldeten Eisenstäben vergittert.
Dieses goldene Eisen blitzte und leuchtete im Flammenschein und daran rüttelten vergeblich mit der Kraft der Verzweiflung zwanzig, dreißig kräftige Fäuste!
Jetzt erst begriff ich ganz, daß dieser Brand ein teuflisch berechnetes Werk, der vorbereitete Rache-Akt eines fanatisirten Volkes war, wo Jeder, Fürst wie Bettler, seine Habe opferte, sein Leben auf's Spiel setzte, um den gehaßten
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Feind zu vernichten! Meine Leute waren eingesperrt, wie ich, waren dem sicheren Flammentode preis gegeben, wie ich, - nur daß ihnen dieser noch schwerer, noch grausamer werden mußte, als mir, da sie Herr ihrer Glieder, Herr ihrer Stimme waren, mit der sie vergeblich um Beistand brüllten. Aber wo sollte ihnen dieser werden? Nach der Ausdehnung des gewiß an allen Stellen des Stadtquartiers zu gleicher Zeit entstammten Brandes hätte es sicher mehr als Menschenkräfte bedurft, diesen Feuerwall, der mit hundert zündbaren Stoffen barrikadirt war, zu durchbrechen, selbst wenn nicht Jeder vollkommen mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre.
Der Gluthstrom, der feurige Funken tragend durch die zersprungenen Scheiben in das Gemach drang, trieb mich vom Fenster zurück, aber immer und immer zog es mich wieder dahin, - mein Haar versengte an der wachsenden Gluth, der jetzt in dicken Wolken mich umwallende Qualm betäubte meine Sinne, - und dennoch konnte ich meine Augen von dem schrecklichen Vorgang nicht abwenden. Ich sah, wie die Verzweifelnden ihre letzte Kraft aufboten, wie sie jetzt mich durch Flammen und Dampf am Fenster erblickten, wie sie die Hände durch die goldenen glühenden Gitter nach mir streckten und um Hilfe schrieen! ich hörte ihre Gebete, ihre Flüche, ihre Verwünschungen selbst auf mich, von dem sie sich treulos verlassen glauben mußten, und versuchte mich durch das Fenster hinab auf das Pflaster des Hofes zu stürzen - aber die Höhe desselben und meine gefesselten Glieder hinderten alle Versuche.
Und jetzt begann es um mich her lauter und lauter
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zu knistern - ich sah von den Unglücklichen fort, zwischen deren dunklen Gestalten bereits rothe Feuerzungen aus dem Innern der Halle von den in Brand gerathenen Möbeln, Betten und Strohlagern weit hinaus durch die Gitter leckten - und schaute, wie die Tapeten an meinen Wänden zusammenschrumpften und sich lösten, wie der Rauch aus den Ecken, aus den Spalten züngelte, wie es glimmte und endlich einzelne Flämmchen an den Mauern emporliefen!
Aller Kampf war vergebens - ich war rettungslos verloren und sank von dem Qualm betäubt auf den Fußboden. In diesem letzten Augenblick dachte ich an Olga, die schöne Verrätherin und wollte ihr fluchen - aber ich vermochte es nicht selbst in der Todesangst!
Und sonderbar - kaum war dies Bild vor meine sich verwirrenden Gedanken getreten, als ich plötzlich auch durch den Rauch und Qualm selbst ihr wirkliches Gesicht zu sehen glaubte, und ein frischer Luftzug über meine glühende Stirn strich.
»Vielleicht lebt er noch,« hörte ich eine mir wohlbekannte frische Stimme sagen. »Es war die höchste Zeit, aber ich konnte nicht eher! Nimm ihn auf, Mutin, und folge mir!«
Ich sah ein junges aber bärtiges Gesicht sich über mich neigen, ich hatte es vorhin schon gesehen - es gehörte demselben Mann, der mich zu Boden schlug, als ich mit dem Fürsten rang, einem jeniseiskischen Kosacken, wie ich später erfuhr, Deinem Vater, Mutin!«
Der alte Horlowa winkte dem Unteroffizier vertraulich zu und fuhr dann in seiner Erzählung fort:
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»Obgleich der Kosack kaum drei Jahre älter war als ich, warf er mich doch wie einen Sack über seine breiten Schultern und stürzte mit dieser Last seiner Gebieterin nach, die hastig durch eine am Fußende meines Bettes befindliche von mir unentdeckt gebliebene Tapetenthür entfloh, dieselbe, durch welche früher der Fürst im Geheimen und jetzt sie selbst den Eintritt in mein Zimmer bewirkt hatten; denn durch den Luftzug brach in dem Kabinet jetzt die Flamme mit voller Macht aus.
Es war wirklich Olga, die junge Fürstin, die mich gerettet hatte.
Wer ermißt das ewig wechselnde und launenhafte Frauenherz, das unter allen Zonen, unter allen Ständen in seiner Unberechenbarkeit sich gleicht!
Ich habe mir nie eingebildet, daß ich wirklich die Neigung der jungen Fürstin Wolchonski erworben, und sie aus dieser mich auf Gefahr des Zorns ihres Vaters gerettet, der uns Alle dem schrecklichen Feuertode geweiht hatte; - denn sie war, wie ich später hörte, schon damals mit ihrer Einwilligung verlobt und heirathete nach der Rückkehr der russischen Armee aus Frankreich 1815 ihren Verlobten. Sie war eine fanatische Russin und hatte darauf bestanden, die Gefahr ihres Vaters zu theilen, indem sie unter der Maske einer leibeigenen Dienerin in dem Palast bei unserem Einmarsch zurückblieb, während ihr Vater in den Räumen desselben verborgen das furchtbare Vernichtungswerk leitete, das Rostopschin der großen Armee des Kaisers bereitete. Aber der Glaube, geliebt zu werden, ist so süß
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für das Frauenherz, daß selbst der Feind dadurch unter den Schutz dieses Herzens gestellt wird.
Genug, - sie hatte beschlossen, mir gegen den Willen ihres Vaters wenigstens das Leben zu retten, vielleicht - um sich später den Vorwurf zu ersparen, daß sie mich zu der verderblichen Sicherheit bethört, und sie benutzte die erste Gelegenheit, als der Fürst anderweitig beschäftigt war und sie nicht beachtete, um zurückzukehren und durch den ihr ergebenen Kosacken, der zum Corps ihres Verlobten gehörte und von diesem ihr zurückgelassen war, mich fortbringen zu lassen.
Unser Weg ging zunächst durch einen engen, von heißer Luft erfüllten Korridor, der auf eine Treppe in das Hinterhaus auslief. Hier setzte mich mein bisheriger Träger nieder, schnitt die Bande von meinen Füßen und blickte dann zu seiner Gebieterin empor.
»Was nun, Mütterchen?«
Die Fürstin sann einen Augenblick nach. »Kannst Du ihn so weit bringen, daß er zu den Seinen entfliehen mag?«
»Ich fürchte nein, Mütterchen. Die Warnak's mit ihrem eigenen Lumpenpack sind überall am Plündern und Schüsse werden gewechselt. Es wäre für uns Alle nicht viel Sicherheit.«
»Dann muß er zu den Gefangenen und sein Schicksal tragen. Vielleicht schirmt ihn sein Schutzpatron! Aber reiß ihm zuvor die Uniform ab, er kommt sonst nicht lebendig weiter!«
Mit raschem Griff riß und schnitt mir der Kosack die
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Uniform vom Leib, daß nur Fetzen darauf noch hängen blieben, ohne mir jedoch die gebundenen Hände zu lösen. Zugleich zog er mir auf das Geheiß der Fürstin den Knebel aus dem Mund, da ich sichtlich in dem auch hierher dringenden Qualm zu ersticken drohte.
Ich versuchte einige Worte zu stammeln, vermochte es aber nur zu den Sylben: »Dank Fürstin!« zu bringen.
»Still!« sagte sie mit einer gebietenden Handbewegung, - »Sie schulden mir keinen Dank dafür, daß ich meinem Vaterlande ein Opfer entziehe! - Fort mit ihm, Mutin! Das Feuer dringt schon bis hierher!«
Ein entferntes Krachen wie von einstürzenden Mauern oder Gewölben verkündete mir das Ende der Leiden meiner Genossen; als ich wieder aufblickte, war die junge Fürstin verschwunden, - ich habe sie nie wieder gesehen, obschon Gott und die Heiligen gewollt haben, daß ich noch oft von ihr sprechen hören und selbst vernehmen sollte, wie sie später meiner Rettung gedacht. Möge ihr die That das Sterbebett leicht gemacht haben!
Mutin, der Kosack, zog mich weiter die Treppe hinunter über einen zweiten Hof, in dem die Flamme gleichfalls bereits zu wüthen begann, durch ein Pförtchen in ein enges Gäßchen, das, wie ich wußte, hinter dem Palast hinlief, und dort durch ein Gewirr von engen Straßen, jetzt alle erhellt von der hoch in das Firmament wirbelnden Lohe. Bei einer Biegung des Weges sah ich in der Ferne den Kreml. Seine grünen und goldenen Kuppeln leuchteten im Feuer, das bereits an seine Ringmauern schlug. Ich sah über den Platz Offiziere in rasender
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Eile sprengen, flüchtende und sich sammelnde Soldaten, und hörte Gewehr-Salven und einzelne Flintenschüsse; denn das Gesindel der Marodeurs und der entlassenen Sträflinge, das mit jedem Tage dreister geworden, war an vielen Stellen bereits mit den Truppen handgemein. Mehre Leichen ermordeter französischer Soldaten lagen auf dem Wege; trotzdem überlegte ich, ob ich nicht auf alle Gefahr hin einen Fluchtversuch wagen sollte, als zwei wild aussehende Kerle uns begegneten, die mich in der Helle trotz der Entfernung der Uniform sogleich als einen Franzosen zu erkennen schienen. Der Eine stürzte auf uns zu und schwang sein kurzes Beil. Mordlust und Trunkenheit blickten aus seinem thierischen Gesicht. »Was schleppst Du Dich mit dem Hundesohn von Franzosen, Bruderherz!« schrie er. »Ich will ihm das Gehirn einschlagen, dann bist Du ihn los!«
Der Kosack hatte ein gespanntes Reiterpistol in der Hand. »Zurück, Kerl, der Gefangene ist mir anvertraut!«
»Was kümmert's mich! Heute sind wir die Herren! So wahr der Teufel meine Mutter geritten hat, er muß sterben und Du dazu, wenn Du mich aufhältst!« die beiden Strolche drangen auf uns ein - ein Schuß knallte, Mutin's Kugel hatte dem Wildesten das Hirn durchbohrt, der Andere entfloh heulend und fluchend.
Der Kosak stieß gleichgültig den Körper des Erschossenen zur Seite, beugte sich nieder und zog ihm den groben Zottelpelz aus, den er mir um die Schultern warf. »So, armer Bursch! wirst ohnehin genug frieren, denn der Weg nach Tobolsk ist weit!« - Diesem Zug von Mitleid
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verdanke ich bei den nachher folgenden Leiden wahrscheinlich mein Leben.
Nachdem wir noch durch mehre entlegene Gassen und Gäßchen gekommen, in denen es an verschiedenen Stellen brannte, gelangten wir an einen Platz, auf dem bereits wenigstens fünfzig bis sechszig Gefangene, mit Stricken gebunden, darunter selbst zwei Frauen, zusammengetrieben waren. Alle mußten wohl wie ich irgend einem Zufall oder einer mitleidigern Stimmung ihre Rettung verdanken, die kaum eine Wohlthat zu nennen war, - viele waren verwundet und der meisten Kleidungsstücke beraubt. Wildaussehende trunkene Männer umgaben sie und verübten die rohesten Mißhandlungen an den Unglücklichen. Ein Mann zu Pferde schien das Kommando zu führen; zu ihm brachte mich der Kosack und sagte ihm einige Worte, die ich nicht verstand. Wie ich später erfahren, bezeichnete er mich als einen Gefangenen des Fürsten Wolchonski. Dieser Empfehlung hatte ich es wohl auch zu danken, daß man mir, als man mich in den Haufen stieß, nicht meinen Pelz abriß.
Mutin trat noch einmal zu mir; er band meine Hände vom Rücken los, zog mir den Schaafpelz über und schnürte sie dann leicht vorn zusammen, so daß ich sie wenigstens bewegen konnte. Dann hielt er mir seine Branntweinflasche an die Lippen und hieß mich trinken. Ich nahm einen tüchtigen Zug, denn ich war ganz erschöpft. »Gott und die Heiligen seien mit Dir, armer Kamerad!« sagte der Kosack »und fürcht Dich nicht so sehr vor Sibirien, es ist gar nicht so schlimm dort und ich bin selbst von daher!«
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Noch ein Nicken mit dem Kopf, und dann war er verschwunden und ich mir selbst überlassen, oder vielmehr aller Rohheit und Feindseligkeit unserer Wächter.
Mir schien es, als ob die Schüsse, die wir fortwährend hörten, näher und näher knallten, und bald kamen Leute gelaufen, die wahrscheinlich unserem Führer die Nachricht brachten, daß eine Kolonne Franzosen im Anrücken sei, denn auf seinen Wink trieb man uns jetzt wie das Vieh mit Knüttel- und Beilhieben vorwärts und zwar wieder in eine Straße hinein, die rechts und links brannte. Gesindel der verworfensten Art umschwärmte uns dabei unter Mißhandlungen und Verwünschungen des gräßlichsten Inhalts, ohne daß unsern Wächtern es einfiel, ihnen zu wehren. Ja sie begleiteten die Schandthat selbst mit Hohngelächter, als die Rasenden zwei der Gefangenen, die sich gegen die Mißhandlungen zu wehren gewagt hatten, ergriffen und trotz des Jammergeschreis der Unglücklichen in die Gluth der nächsten Brandstätte warfen.
Ferner und ferner klangen die Schüsse, denn wir waren bereits in die öden, meist schon in Trümmern liegenden Vorstädte gelangt, und eine Stunde darauf waren wir auf der weiten, unermeßlichen Fläche in der Richtung gen Osten.
Bald trafen wir auf eine russische Streifwache von Kosacken, der wir zum Weitertransport übergeben wurden, während unsere bisherigen Wächter und Peiniger nach dem brennenden Moskau zurückkehrten, um neue Gefangene zu machen.
Die ganze Nacht wurden wir unbarmherzig vorwärts
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getrieben, bis wir bei Anbruch des Tages in die Nähe des russischen Hauptquartiers kamen. Hier trafen wir schon auf einen großen Trupp Kriegsgefangener, die trotz der bereits sehr rauhen Witterung im Freien lagern mußten, selbst ohne den Schutz nur halbwegs genügender Kleidung. Am Mittag inspicirten uns einige höhere Stabsbeamte, die Offiziere unter den Gefangenen wurden aufgefordert, sich zu melden und aufgeschrieben, und dann hieß die einfache Entscheidung:
Transport nach Sibirien!
Wer da weiß, was es heißt: Transport nach Sibirien! noch dazu in allen Schrecken eines russischen Winters, der wird die Leiden begreifen, die uns bevorstanden. Aber der Transport der gewöhnlichen - auch der gefährlichsten - Verbrecher, wie sie noch jetzt aus dem Innern Rußlands zu gewissen Zeiten des Jahres und von bestimmten Sammelplätzen nach Sibirien geschickt werden, ist nach den Erzählungen der Warnak's noch gering an Leiden gegen die Weise, in welcher damals unter dem fanatischen Haß der ganzen Bevölkerung die französischen Kriegsgefangenen nach Sibirien getrieben wurden. Wir waren in Abtheilungen von 250 Personen gesondert und mußten den ganzen Marsch, wenigstens bis Tobolsk, zu Fuß zurücklegen - nur selten wurden einige der Halbtodten auf einen von den begleitenden Kosacken ohne Weiteres aufgegriffenen Bauernschlitten gelegt -, die Meisten, die nicht mehr trotz aller Peitschenhiebe und Lanzenstöße fort konnten, ließ man am Wege liegen, der Kälte und den zahllosen Wölfen zur Beute, die der Hunger zuweilen trieb, selbst unsere Marschkolonne
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anzufallen. Von Moskau bis Tobolsk brauchten wir ein volles Jahr, denn erst Ende September 1813, als unsere Kameraden, die trotz aller Unglücksfälle neu geschaffene Armee des großen Kaisers, noch einmal in das Herz von Deutschland vorgedrungen waren, um auch dort zu unterliegen, kamen wir in Tobolsk an - von 250 Gefangenen nur noch 67 ausgehungerte kraftlose Skelette. Die Anderen, theils der Kälte, dem Hunger, den Strapazen und den Mißhandlungen der Eskorte unterlegen, welche die fünf Frauen, die unser Elend theilten - zarte pariser Geschöpfe, die nur gewohnt gewesen, in Sammet und Seide zu rauschen, - zu Tode schändete, deckte der Schnee, oder ihre Reste ruhten zerstreut auf der öden Steppe und in den Schluchten des Ural.
Die Transporte der zur Katorga - das ist zur schweren Strafarbeit Verurtheilten - nahmen meist eine Strecke von zwei bis drei Werst ein. An der Spitze ritt ein Kosack, langsam im Schritt, die Lanze immer zum Angriff gesenkt. Diesem folgen, an Ketten oder Stangen gefesselt, paarweise die Gefangenen, von bewaffneten Soldaten und Kosacken umgeben, die den geringsten Ungehorsam mit Mißhandlungen, den Fluchtversuch mit dem Tode bestraften. Unmittelbar hinter den Gefangenen fuhr auf der ersten Kibitke der Offizier, der den ganzen Transport kommandirte, dann kamen einige Schlitten mit Bagage und schlechten Nahrungsmitteln, denn oft war in den von Strecke zu Strecke für den schauervollen Marsch erbauten Stationshäusern - meist nur offene Schuppen, - nicht das Geringste
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anzutreffen. Eine Wache mit einem Unteroffizier schließt den Zug.
Ich gehörte zu den Wenigen, die jene Leiden überstanden, sei es, daß die Stahlkraft der Jugend das Ihre that und Gott mich noch zu andern Dingen aufgespart hatte, und daß auch das blutige Geschenk Mutins das Seine dazu beitrug.
In Tobolsk entscheidet der Generalgouverneur über die Vertheilung der Gefangenen. Ich hatte anfangs Aussicht, in den Kolonien am Ural zu bleiben, aber die Zahl der Gefangenen vermehrte sich bald in Folge des unglücklichen Rückzuges der französischen Armee so gewaltig, daß sie in Menge nach dem Osten transportirt werden mußten. Irgend ein unvorsichtiges Wort, das mir einen Feind unter den Beamten gemacht haben mußte, zog auch mir dies Schicksal zu, und im Frühling des Jahres 1815 traf ich in Nertschinsk und an der Schilka ein, wohin ich in die Posieleniec - das heißt zur Colonisation bestimmt war.
Ich hatte ein glückliches Talent für Sprachen, und was ich in Moskau zum Zeitvertreib angefangen, hatte ich auf dem Weg durch das ganze weite Rußland eifrig fortgesetzt, so daß ich bereits bei meiner Ankunft in Nertschinsk geläufig russisch sprach, ein Umstand, der mir das Leben sehr erleichterte, da ich häufig bei meinen unglücklichen Landsleuten den Dolmetscher machen konnte.
Allmälig gewöhnte ich mich an mein Schicksal, um so mehr, da ich schon in meinen Knabenjahren ein Freund der Jagd und der freien Natur gewesen war, was mir auch hier weit besser behagte, als die Arbeit in einem der
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russischen Bureaus; denn durch Zufall war es zur Sprache gekommen, daß ich ein ziemlich guter Riß- und Planzeichner war, und ich wurde daher häufig dazu benutzt, sowohl für die Anlagen in Nertschinsk Entwürfe zu fertigen, als auch bei den topographischen Aufnahmen des Landes, welche die russische Regierung nach dem Kriege vornahm, Dienste zu leisten. Bei dieser Gelegenheit lernte ich nicht nur die Tiefen der Bergwerke von Nertschinsk und die furchtbare Lage der in ihnen oft auf Nimmerwiedersehen des Lichts arbeitenden Verurtheilten, sondern auch das Land selbst kennen und überzeugte mich, wie wenig man von ihm in Europa bis dahin wußte, und welche unendlichen Hilfsquellen es einst Rußland bieten mußte.
Ich muß Sie daran erinnern, Gospodins, daß zu der Zeit, von der ich spreche, das russische Gebiet noch keineswegs die Ausdehnung nach Süden und Südosten hatte wie jetzt, daß Kiachta und Nertschinsk die Gränzen gegen das weite chinesische Reich bildeten und der ganze Lauf des Amur bis zum japanischen Meer in das Gebiet der nördlichen chinesischen Provinzen, die Manshurei, fiel. Allerdings herrschten seit 200 Jahren schon fortwährende Gränzstreitigkeiten, und die Lust nach dem Besitz der reichen Ufer des Amur, der für Sibirien als Wasserstraße zum ochotzkischen und japanischen Meer und nach China eine Lebensnothwendigkeit war, hatte seit dem abenteuerlichen Zuge des Kosackenhäuptlings Pajarkow im Jahre 1640 zahlreiche kleinere und größere Expeditionen, theils seitens der Regierung, theils seitens der herumschweifenden Gränzer und Verbrecher veranlaßt, die aber alle mehr oder weniger
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verunglückt waren und schließlich zu den schlimmsten gegenseitigen Grausamkeiten geführt hatten.
Zu den verwegensten Gränzstreitern jener Zeit gehörte der Tojon eines Stammes der Pferdetungusen, der niemand anders war, als der Urgroßvater jenes Kindes, Scheminga, derselbe, der jetzt an Ihrer Seite sitzt, Messieurs. Sie haben seine Geschichte bereits gehört und wissen, warum er die Tergezin8 glühend haßte. Mit einigen kecken Gefährten wagte er mehr als einmal zwischen den chinesischen Wachen hindurch weite Streif- und Jagdzüge hinein in das Gebiet der Manshu's und schlug sich mit ihren Reitern herum, und wehe dem Langzopf, den er über die Linie, welche damals als die Gränze galt, auf dem Gebiet der russischen Stämme traf: der Strick am nächsten Baum war nach dem alten Gränzrecht sicher sein Lohn. Zwei Mal machte ich, nachdem ich mit ihm bekannt geworden und sein Vertrauen erworben, diese Jagdzüge mit und gewann durch den Gränzverkehr auch einige Kenntniß der chinesischen und Tungusen-Sprache, die dem Manshu-Dialekt gleicht.
Wahrscheinlich in Folge dieser zusammentreffenden Umstände ließ mich der Gouverneur von Nertschinsk, damals General Soubakoff, eines Tages rufen und machte mir den Antrag, mit einer kleinen Expedition in zwei Barken den Amur von seinem Entstehen aus, das heißt von dem Zusammenfluß der Schilka, des Argun und der Ingoda ab stromabwärts zu verfolgen, um über die an beiden Ufern errichteten chinesischen Forts Bericht zu erstatten und
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sonstige Beobachtungen zu machen. Wir sollten soweit als möglich, wenn es ginge, bis an die Küste des Meeres vordringen und dann über Udskoi zurückkehren, doch vermeiden, in Conflikte mit den Eingebornen zu kommen. Ein Jahr war zur Ausführung der Expedition bestimmt, und es wurde mir versprochen, daß ich nach deren Beendigung die Erlaubniß zur Rückkehr nach Europa erhalten sollte.
Es war im Frühjahr, d.h. im Mai 1817, als wir in dem ersten Boot, einer gut verproviantirten Barke, unsere Fahrt die Schilka hinauf antraten. Eine zweite Barke von größerer Dimension sollte einige Tage später folgen. Die unsere trug einen russischen Offizier, zwei sibirische Kosacken, zwei Warnak's zum Rudern und mich, also im Ganzen sechs Personen. Ich hatte Abschied von Scheminga und allen meinen Bekannten genommen, denn ich war im Geheimen entschlossen, wenn es uns gelingen sollte, die Küste zu erreichen, auf ein amerikanisches oder anderes Schiff zu desertiren und zur See nach Frankreich zurückzukehren. Ich hatte mir durch die Jagd und meine Arbeiten bereits eine Summe von nahe an dreihundert Rubeln erspart, diese vorsichtig im Handel in Goldstücke umgesetzt und trug dieselben eingenäht in die Schäfte meiner Stiefeln bei mir. Unsere Ausrüstung war genügend an Waffen, Pulver und Blei und wir führten eine Anzahl von allerlei Geschenken für die Uferbewohner mit uns - der Offizier, Lieutenant Beiton, ein Nachkomme des tapferen deutschen Obersten, der im Jahr 1686 die kleine Erdfeste Albasin so heldenmüthig mit fünf schlechten Kanonen und 309 Musketen gegen ein ganzes chinesisches Heer
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vertheidigte, führte außerdem eine ansehnliche Geldsumme zu Bestechungen bei sich, die bekanntlich in ganz Asien weiter helfen als die Gewalt der Waffen.
Was man uns von den Ufern des gewaltigen Stroms erzählt, der schon an seinem Beginn eine Breite von fast drei Werst - an seinem Ausfluß aber, wie ich später hörte, von mehr als 39 Werst hat - fand sich durch die Wirklichkeit weit übertroffen und ich kann es den Russen nicht verdenken, daß sie alle Kräfte, List und Gewalt, Gold und Treubruch aufgeboten haben, in seinen Besitz zu kommen, über den - wie der letzte Bote aus Irkutzk uns gemeldet - gegenwärtig von General Ignatieff in Peking unterhandelt wird9.
Zwischen Klippen, Engen und Strudeln windet sich die gewaltige Wassermasse durch die herrlichen Jagdreviere des gebirgigen Gobilandes, zwischen den Jablonoi-, Chrebet- und Kingan-Gebirgen, von beiden Seiten eine Menge größerer und kleinerer Nebenflüsse aufnehmend.
Zwischen den oft mächtig an's Ufer heranstrebenden Bergen und Felswänden breiten sich üppige Weiden, die fleißigen Hände der Langzöpfe bauen an den Ufern der Zuflüsse Weizen, Taback und Oelpflanzen, der rasch herauf ziehende Sommer läßt überall Rosen und Lilien, Maiblumen und Veilchen mächtig aus dem grünen Rasenteppich der zahllosen Inseln und Inselchen sprießen, Nadelhölzer mischen sich mit dem Laube der Eichen, der Blüthe der wilden Aprikosen- und Aepfelbäume, und an den Abhängen
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glühen im dunkeln Laub die purpurnen Blüthen des Oleanders und die mit Früchten beladenen Mispeln.
Die Schifffahrt ist durch die Inseln, Felsen und Stromschnellen freilich eine sehr gefährliche und wir mußten alle Aufmerksamkeit aufbieten, um nicht zu verunglücken. Vierzehn Tage waren wir bereits unterwegs, aber erst 80 Meilen weit bis zum Einfluß der Seja oder des Tschikiri vorgedrungen, des stärksten Nebenstroms auf der linken Seite des Amur, und etwa eine Tagereise darüber hinaus, als wir auf dem rechten Ufer, dem wir uns wieder genähert, ein kleines chinesisches Fort bemerkten. Bereits zwei Mal waren wir bei der Annäherung an solche von ungeschickt gerichteten Falkonetschüssen begrüßt worden, und einmal hatte sich eine ganze Flotte chinesischer Barken aufgemacht, uns zu verfolgen, freilich ohne einen andern Erfolg, als daß zwei oder drei von ihnen an den Klippen im Fluß scheiterten und zu Grunde gingen mit ihrer ganzen Mannschaft. Hier aber schien man eine weit friedlichere Gesinnung zu hegen; denn da man ohne Zweifel schon an der Bauart und der Takelung unserer Barke uns als Russen erkannt hatte, wurde zu unserm großen Erstaunen bei unserer Annäherung unter der Flagge mit dem Drachen, dem chinesischen Wappen, alsbald eine zweite mit den russischen Farben aufgehißt.
Die Gelegenheit war zu günstig, um nicht von einer solchen freundlichen Gesinnung Gebrauch zu machen, um so mehr, da es uns schon seit mehren Tagen nicht gelungen war, frische Lebensmittel an den Ufern einzutauschen. Ich muß bemerken, daß es auch nichts Seltenes war, daß
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von Albasin oder andern russischen Stationen am obern Amur her oder von den Jägern und Nomadenstämmen, die über das Gebirge bis an das nördliche Ufer des Amur kamen, Barken und große Kähne nach dem südlichen überfuhren, um Tauschhandel mit den Chinesen zu treiben. Im Ganzen aber blieb es selbst in vollen Friedenszeiten immer eine sehr gewagte Sache, da zwischen den Gränzbewohnern großer Haß und fast stets ein kleiner Krieg auf eigene Hand herrschte. Im besten Falle wurde den sibirischen Barken immer nur an bestimmten Punkten zu landen erlaubt, wenn sie eben nicht vorzogen, im Geheimen ihre lebendige Last zu einem Jagd- oder Raubzug an das Land zu schmuggeln.
Wir glaubten jedoch, eine jener von der chinesischen Habsucht improvisirten Stationen zum Tauschhandel vor uns zu haben und nahmen wie gesagt keinen Anstand, uns zu nähern. Unser Zutrauen wuchs noch, als wir auf Schußweite herangekommen waren, ohne daß ein solcher fiel. Vielmehr stieß aus der kleinen Buchtung des Forts ein Kahn ab, von zwei Chinesen gerudert, in dem ein dicker Mann mit bis zum Gürtel herabhängendem glänzend gewichsten Schnurbart saß, eine Pfauenfeder auf seinem Hut, - das Zeichen, daß er ein höherer Offizier oder gar der Kommandant des Forts sei.
Letzteres erwies sich auch als richtig. Das Boot hielt in einiger Entfernung von der Barke an und der Mandarin erhob seine Stimme, indem er uns aufforderte, das Fort zu besuchen, wenn wir Gegenstände zum Tauschhandel hätten. Demzufolge richteten wir die Spitze unserer Barke
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nach dem Lande und legten zwischen mehreren chinesischen Dschonken an, wobei uns der vorangegangene Kommandant ganz gegen die sonstige hochmüthige Weise der Chinesen mit übergroßer Freundlichkeit empfing.
Es lag etwas in dem Gesicht des dicken Burschen, ein Zug von Arglist und Grausamkeit, das mir von vornherein nicht sehr gefiel, und auf meinen Rath weigerte sich unser Offizier, die angebotene Wohnung in dem Fort selbst zu nehmen, sondern zog es vor, die Nacht unter einem kleinen Zelt zuzubringen, das wir in der Nähe des Landungsplatzes aufschlugen. Das Fort war ausnahmsweise ziemlich geräumig und fest, und lag am Ausfluß eines kleinen aber schiffbaren Flusses in den Amur, so daß zwei Seiten der Mauern vom Wasser bespült waren. Das Fort schien übrigens nur von sehr geringer Mannschaft besetzt, denn es zeigten sich auf den Mauern und in der Begleitung des Mandarins höchstens zehn Personen, freilich Kerle, die wie die personifizirten Gurgelabschneider aussahen.
Da wir sechs gut bewaffnete muthige Männer waren, hatten wir keine Furcht, und beschlossen, die Nacht über am Lande zu bleiben und erst am nächsten Tage die Fahrt fortzusetzen.
Herr Tschang Tsin, wie sich der Mandarin nannte, ließ eine Menge seltsamer Lebensmittel herausschaffen, wie sie die chinesische Kochkunst kennt. Wir begnügten uns aber mit Reis und Hühnern und tranken dazu unseren russischen Branntwein, nach dem die chinesischen Gaudiebe sehr lüstern zu sein schienen. Sie machten sich sehr eifrig mit langen Hälsen in der Nähe unseres Bootes zu
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thun und ich sah sie mit dem Warnak, der zur Bewachung desselben zurückgeblieben war, eifrig um eine zweite Flasche unterhandeln, denn eine hatte ihnen unser Offizier geschenkt. Als ich zufällig an dem Boot vorüberging, hörte ich übrigens mit Erstaunen, daß der eine der chinesischen Soldaten mit unserem Mann russisch sprach. Der Mann war übrigens der Einzige von unserer kleinen Gesellschaft, dem wir nicht ganz trauten, da er schon mehrmals während der Fahrt sich widerspänstig benommen hatte.
Ich achtete jedoch nicht weiter auf den Umstand, wenigstens sprach ich nicht mehr davon. Mehr interessirte es mich, daß ich, als ich um das Fort strich, um es von allen Seiten zu betrachten, an einer der Fenster-Oeffnungen zwei Frauen zu sehen glaubte, die sich jedoch schnell zurück zogen, als sie sich bemerkt sahen.
Die Chinesen sperren ihre Weiber keineswegs so streng ab, wie die meisten anderen orientalischen Nationen, wenigstens die Mohamedaner. Die Frauen der Vornehmen leben zwar meist abgesondert, zeigen sich aber doch bei vielen Gelegenheiten. Bis dahin hatte ich allerdings in Kiachta und an der Gränze nur Frauen des niederen Standes gesehen, die meist zu schwerer Arbeit und Lasttragen benutzt werden, aber ich hatte viel gehört von der eigenthümlichen Schönheit der vornehmeren Chinesinnen, und war daher sehr begierig, solche zu sehen.
Hier bot sich vielleicht Gelegenheit, denn der Mandarin schien wirklich beeifert, alle unsere Wünsche zu erfüllen; aber wir wollten schon am anderen Morgen aufbrechen und der Abend zog bereits herauf.
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Lieutenant Beiton hatte mit Herrn Tschang Tsin und seinen Leuten um verschiedene gegenseitige Artikel gehandelt, der schlaue Chinese wußte aber den Handel in die Länge zu ziehen, so daß es zu keinem Abschluß kam und wir am Abend noch keineswegs die frischen Vorräthe erworben hatten, wegen deren wir hauptsächlich gelandet waren.
Da wir unserm Gastherrn noch keineswegs recht trauten, beschlossen wir, während der Nacht streng auf unserer Hut zu sein und außerdem, daß ein Mann im Boote schlief, stets unserer zwei wach zu bleiben und uns regelmäßig abzulösen. Indeß die Nacht verging, ohne daß sich das geringste Verdächtige merken ließ. Der Mandarin und sein unterer Offizier hielten die Leute streng in den Mauern des Forts eingeschlossen und Nichts störte uns in unserer Ruhe und Wache.
Ich hatte mit dem zweiten Warnak die erste Nachtwache übernommen, die bis Mitternacht dauern sollte. Die Nacht war prachtvoll. Ueber mir funkelten Millionen Sterne an dem klaren Firmament, kaum hundert Schritt von mir rauschten die Wassermassen des gewaltigen Stroms, die dichten Rosenbüsche, die unter der Landseite des Forts wuchsen, sandten ihre Düfte durch die Nacht, und der liebliche Gesang ihres Vogels, dem die Asiaten den süßen Namen Burubul gegeben, schlug an mein Ohr.
Ich dachte der Heimath, der schönen Ufer der Loire, an der ich geboren, und frug mich, ob ich sie wohl je wiedersehen würde?
Wie wenig ahnte ich, daß schon die nächsten Stunden
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diese Sehnsucht für immer, für immer unerfüllbar machen würden.
In den süßen Gesang der Nachtigal mischte sich plötzlich ein anderer Ton, der nicht minder meine Gefühle erregte.
Es war der Klang einer Balaleika, der eigenthümlichen dreiseitigen Zither, welche die Kosacken schlagen vom Don bis zum Baikal. Zu diesen scharfen schwirrenden Tönen erhob sich der Gesang einer Frauenstimme in den drei bis vier Noten, welche die Musik der Nomadenvölker allein zu kennen scheint. Merkwürdiger Weise war es ein Lied, das mir wohl bekannt war, denn oft genug hatte ich es vor der Jurte Scheminga's von den Mädchen seines Stammes singen hören, wenn wir ermüdet von einem Jagdzuge auf den Filzdecken ruhten und den Rauch aus unsern Pfeifen in die Luft bliesen. Der Tojon hatte in der That herzlich wenig von einem Schwärmer an sich, aber er liebte dies Lied, das ich auch oft von den Kosacken schon bei unserm Transport hatte singen hören, und er wurde stets still und in sich gekehrt, wenn er es vernahm. Die einfache Melodie mußte demnach selbst über die Gränzen der geringen russischen Kultur hinaus Freunde gefunden haben.
Ich war etwas musikalisch und hatte dies schon in Frankreich benutzte Talent auf der kleinen flötenartigen Pfeife ausgebildet, welche neben der Balaleika, dem Kur, oder der Brettgeige der Tungusen, und der Schellen-Trommel der Schamanen so ziemlich das einzige Instrument ist, was man in Sibirien kennt. Ich hatte mir in Irkutzk von einem Holzkünstler dies Instrument nach meiner Angabe etwas vollendeter herstellen lassen, so daß es in der
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That einer Flöte ähnlich klang, und darauf mir eine ziemliche Fertigkeit erworben.
Als daher die Sängerin, die eine wohltönende und zu dem schwermüthigen Gesänge passende Stimme hatte, die erste Strophe des Liedes gesungen, was in einer Sprache geschah, die ich in dieser Entfernung nicht verstand, wiederholte ich auf meiner Flöte die Melodie.
Einige Minuten war Alles still - dann erhob sich der Gesang auf's Neue und zwar diesmal kräftiger und lauter. Es schien mir, als könnte ich die Worte verstehen, wenigstens als ob ich einzelne schon gehört - aber es war nicht Russisch. Ich wollte, um die nächtliche Sängerin nicht etwa zu stören, nicht näher zu den Mauern des Forts gehen, von deren Höhe, anscheinend aus einem der kleinen chinesischen Pavillons der Gesang kam, und so mußte ich es aufgeben, die Worte deutlicher zu hören. Die Rücksicht, die ich beobachtete, schien aber nicht von anderer Seite geübt zu werden, denn plötzlich brach der Gesang und das Zitherspiel mitten in der Melodie ab und schwieg.
Vergeblich wiederholte ich dieselbe auf meiner Flöte noch mehre Male und blies sogar, einmal in der Stimmung der Erinnerung, verschiedene liebliche Lieder meiner Heimath - die unbekannte Sängerin blieb stumm, und bald erloschen auch die bunten Laternen, die bis dahin auf den Mauern und im Innern der kleinen Veste geleuchtet hatten.
Eine Stunde darauf weckte ich die beiden Kosacken, deren gesunder Schlaf unser kleines Konzert nicht im
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Mindesten unterbrochen hatte, und legte mich nieder, um selbst von der Ermüdung des Tages auszuruhen.
Alexis Beiton, unser Offizier, hatte die Abhaltung der Morgenwache allein übernommen, und weckte uns erst, als die Sonne bereits seit zwei Stunden über dem Horizont stand. Etwas sehr Unangenehmes hatte sich zugetragen. Dimitri, der Warnak, von dem ich vorhin gesprochen, war nach seiner Angabe in der Nacht erkrankt, und als er trotz seiner Schmerzen einen schweren Stein in unsere Barke hob, den wir als Ballast in den weiter hinab, wie uns die Chinesen gesagt, kommenden Stromschnellen benutzen wollten, hatte er denselben fallen lassen und damit ein Loch in den Boden unseres Fahrzeugs geschlagen. Das Wasser drang durch das Leck so heftig ein, daß wir sämtlich uns beeilen mußten, unsere Barke zu entladen und die Vorräthe auf festen Boden zu schaffen, damit das Fahrzeug ganz aufs Land gezogen und ausgebessert werden konnte.
Tschang Tsin und seine Leute halfen uns dabei auf das Bereitwilligste, wobei wir freilich nicht aufhörten, den Letzteren scharf auf die Finger zu passen. Die Krankheit Dimitri's vermehrte sich jedoch in dem Grade, daß er nicht arbeiten konnte und daß wir endlich gern das Anerbieten annahmen, ihn in das Fort schaffen und ihm dort eines der Schwitzbäder geben zu lassen, welche die Asiaten und auch die Russen Europa's als Universalmittel gegen alle Krankheiten betrachten. So wurde der Warnak denn von zwei kräftigen Chinesen aufgehoben und unter meiner Begleitung in das Fort getragen, indem ich unserm Auftrage
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gemäß dabei die Gelegenheit benutzen wollte, mir das Innere der Forts und seine Vertheidigungsmittel anzusehen.
Ob ich dabei nicht auch den Hintergedanken hatte, vielleicht der schönen Sängerin vom vorigen Abend zu begegnen, will ich nicht erörtern.
Daß ich den Gang nur wohl bewaffnet that, versteht sich von selbst. Indeß Nichts war zu sehen, was meinen Argwohn hätte erregen können, im Gegentheil war Tschang Tsin ganz gegen die Gewohnheit seiner Landsleute überaus zutraulich und so wenig prahlend, daß er mir selbst erzählte, daß die beiden kleinen Kanonen, welche die Armirung des Forts bildeten, seit Jahren unbrauchbar und das halbe Dutzend Musketen, die sich im Fort befanden, leider nicht in viel besserem Zustand wären, und daß sie sich im Nothfall und selbst auf der Jagd mehr auf ihre Spieße und Bogen verlassen müßten.
Er lud mich zu einem Frühstück ein, das aus Reis und Lammfleisch und einigen jener chinesischen Leckereien, wie Spinnen, Eidechsen und Gewürm bestand, gegen die sich trotz meines jetzt dreijährigen Aufenthalts im Osten mein europäischer Magen noch immer empörte.
Zu meiner Ueberraschung, denn ich hatte bisher, um ihn nicht zu beleidigen, nicht gewagt, ihn nach den weiblichen Mitgliedern seines Haushalts zu fragen, öffnete sich jetzt die Thür des Gemachs, in dem wir aßen und eine junge Chinesin, in die Lieblingsfarben der Damen: Rosa und Grün gekleidet, trat mit gesenktem Haupt schüchtern ein, in der Hand einen Teller von Silber-Filigran, auf
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dem die gefüllten kleinen Theetassen und einige vergoldete Flacons mit Likören standen.
»Das Licht des Weltalls,« sagte der Mandarin, ehrerbietig den blauen Knopf seines Hutes berührend, »hat Tschang-Tsin viel Ehre vor den Männern seiner Nation und den Fremden gegeben, indem es ihn zum Gouverneur dieses wichtigen Platzes gemacht. Aber die Götter sorgten auch für sein Glück, indem sie ihm dieses Kind, seine Tochter schenkten, die ihm so lieb ist, wie der Apfel seines Auges. Gotami wünschte den Moskow zu sehen, der diese Nacht ihre Ohren mit seiner Rohrpfeife erfreut hat.«
Jetzt zum ersten Mal hob das chinesische Mädchen die Augen und richtete, gleichsam unter dem Schutz ihres Vaters, ihren Blick auf mich. Was soll ich sie lange beschreiben? ich fühlte bei ihrem Anblick, daß ich künftig nicht mehr an die schöne Fürstin Wolchonski, sondern nur noch an sie denken würde, wie sie mit schüchterner Anmuth das Silberbrett mit dem Thee mir entgegenhielt.
Indem ich die Tasse nahm, berührten meine Finger die langen rosenroth gefärbten Nägel der ihren und ich sah, daß eine tiefe Röthe ihr auffallend liebliches Gesicht überzog, in dem die Eigenthümlichkeiten der asiatischen Formen sich zu einer wirklichen Schönheit gestalteten, die selbst in Europa Bewunderung erregt hätte.
Schon bei ihrem Eintritt war es mir übrigens aufgefallen, daß das junge, trotz der frühreifen Entwickelung gewiß kaum sechszehnjährige Mädchen nicht den gewöhnlichen unsichern Gang der Chinesinnen hatte und aus ihren bauschigen Beinkleidern von rosafarbener Seide zwar ein
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überaus kleiner, aber keineswegs verkrüppelter Fuß in goldgesticktem Pantoffel hervorsah. Ich wußte, daß es nach der Sitte des Landes unschicklich gewesen wäre, die Schöne selbst anzureden und so wendete ich mich denn mit Aufbietung aller meiner Kenntniß ihrer Sprache an den Vater mit einigen Komplimenten, die ihn glücklich priesen, eine solche Perle zu besitzen und ihm sagten, daß ich nur bedauert hätte, ihren Gesang, der die Nachtigal beschämt, in der vergangenen Nacht nicht länger gehört zu haben.
Gotami hatte sich, nachdem sie die Pflichten der Wirthin erfüllt, auf ein Polster an der Seite ihres Vaters niedergelassen und flüsterte diesem etwas zu, worauf der Mandarin mich frug, ob ich die Flöte bei mir habe und ihnen darauf etwas vorspielen möchte. Ich erklärte mich sehr gern bereit dazu, wenn er gestatten wolle, daß die junge Schöne gleichfalls unsere Ohren mit ihrem Gesänge erfreuen möchte, worauf er geschmeichelt in die Hände klatschte und da auf dies Zeichen nicht gleich ein Diener erschien, selbst nach der Thür des Gemachs wackelte, um einem solchen den Befehl zur Herbeischaffung der Bala-leika zu geben.
Diesen Augenblick benutzte zu meinem Erstaunen das junge Mädchen, um mir ein Zeichen zu geben, und als sie meine Aufmerksamkeit erregt hatte, mir ein kleines Seidenknäuel zuzuwerfen.
Ich hatte gerade noch Zeit, das eigenthümliche Geschenk fortzustecken, als der Mandarin zurückkehrte und seiner Tochter die einfache Zither reichte, die er - wie er mir erzählte, - bei einem früheren Tauschverkehr
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eingehandelt. Ich holte meine Flöte hervor und indem ich der hübschen Chinesin einen feurigen Blick zuwarf, blies ich die Melodie des Liedes, das sie am vergangenen Abend gesungen.
Sie schien meinen Wunsch zu verstehen, denn als ich schwieg, strich sie mit den zierlichen Fingern über die Saiten des Instruments und erhob dann ihre Stimme zu dem klagenden Gegengesang.
Zu meinem Erstaunen erkannte ich jetzt an einzelnen Worten die Sprache, in der sie anspruchlos das einfache schwermüthige Lied vortrug - es war dieselbe, in welcher ich es mehr als einmal zwischen den Jurten meines Jagdgenossen, des Tungusenhäuptlings, gehört hatte.
Ein ernster Blick des Mädchens schnitt, als sie geendet, jede Bemerkung ab; ich ließ einen lustigen französischen Tanz erklingen, der ihre kindliche Freude erregte und selbst dem dicken Langzopf Zeichen des Beifalls entlockte, und dann erhob ich mich, um mich zu verabschieden und meinen Gefährten nicht Ursach zur Unruhe zu geben, - zumeist aber aus Neugier, was das zugeworfene Seidenknäuel zu bedeuten habe.
Nachdem ich mich durch eine europäische Verbeugung bei der jungen Schönen verabschiedet hatte, entfernte ich mich, begleitet von dem Mandarin, der mich nicht aus den Augen ließ und den Wunsch aussprach, wir möchten bis zum andern Morgen unsere Reise aufschieben, da dann unser Begleiter gewiß ganz wieder hergestellt sei.
Als ich das Fort verlassen und zu meinen Gefährten zurückgelehrt war, die in der That bereits besorgt geworden,
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fand ich, daß die Ungeschicklichkeit des chinesischen Zimmermann's das Unheil an unserem Boot eher verschlimmert als verbessert hatte und daß es mehre Stunden Arbeit kosten würde, den Schaden wieder zu repariren. Lieutenant Beiton war sehr ärgerlich darüber, ich selbst aber theilte diesen Verdruß keineswegs, weil ich hoffte, dadurch Gelegenheit zu erhalten, das schöne Chinesenmädchen noch einmal wieder zu sehen.
Da ich sofort mit Hand anlegen mußte, fand ich keine Zeit, das Seidenknäuel aufzuwickeln, um zu sehen, was es enthielt, und später hinderte mich die Ankunft des alten Gouverneurs mit einigen seiner Leute, die wieder allerlei gastfreundliche Beiträge zu unserer Mahlzeit brachten und sie unter dem Zelt ausbreiteten. Zugleich erklärte Herr Tschang-Tsin, daß er Befehl gegeben, uns nach der Mahlzeit die gewünschten Artikel zum Boot zu schaffen, und daß Dimitri sich bereits so wohl befände, daß er, wenn wir auf der Abfahrt noch am Abend beständen, uns würde begleiten können.
Diese Mittheilungen stellten die gute Laune unsers Offiziers wieder her, und da wir in der That jetzt nichts weiter zu thun hatten, als unser Boot auf's Neue zu beladen, setzten wir uns Alle im Zelt zu unserer Mahlzeit nieder. Alle Besorgniß vor einem Angriff der Chinesen war nach den zahlreichen Beweisen ihrer freundlichen Gesinnung geschwunden und überdies befanden sich in diesem Augenblick nur vier oder fünf Mann der Besatzung und zwar unbewaffnet auf unserm Lagerplatz. Tschang-Tsin
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setzte sich vor den Eingang des Zeltes und sah unserm Speisen zu.
Wir waren lustig und guter Dinge und Lieutenant Beiton hatte von unseren Vorräthen eine neue Flasche Branntwein zum Besten gegeben, als Tschang Tsin sich erhob und durch meine Vermittelung erklärte, in dem Fort befänden sich noch einige Kruge chinesischen Weins, deren einen er herbeischaffen lassen wolle. Er gab seinen Leuten ein Zeichen, sich zu nähern, und trat einige Schritte von dem Zelte zurück.
In diesem Augenblick sah ich ihm zufällig in's Gesicht und bemerkte, daß sich dasselbe zu einem satanischen Triumph verzog, während er zugleich die Hand erhob, und dem wilden Burschen, der sich uns genähert, einge Worte zurief. Der Gedanke, daß uns eine Schlinge gelegt worden und ein Unheil bevorstand, zuckte wie ein Blitz durch meine Seele und ich wollte nach meinen Waffen greifen, die wir alle abgelegt, als plötzlich der Zeltstock, welcher das Leinwandhaus in die Höhe hielt, von unsichtbarer Hand fortgerissen wurde und das ganze Zelt über uns herstürzte. Im ersten Augenblick glaubten meine Kameraden sicher, es sei ein Zufall, denn ich hörte Lieutenant Beiton noch lachen; aber schon im nächsten belehrte sie das wilde Geschrei, das an unsere Ohren gellte, eines Besseren. Die schlaue Berechnung der Chinesen, sich unserer und unseres Bootes zu bemächtigen, ohne sich selbst einer Gefahr auszusetzen, war vollkommen gelungen. Nachdem sie erst unser Mißtrauen vollständig eingeschläfert, hatten sie absichtlich die Tageszeit zu ihrem wohlberechneten Ueberfall gewählt,
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der fast ganz gefahrlos wurde, da die schwere Leinwand des Zeltes uns zu Boden drückte und anfangs an jeder Bewegung verhinderte, während unsere Gegner uns von oben herab durch die Stöße ihrer Spieße und Messer leicht den Garaus machen konnten. Das schien aber keineswegs ihre Absicht, denn in gutem Russisch erscholl der Befehl, uns nicht zu rühren, wenn wir nicht sofort des Todes sein wollten. In der That erhielt auch einer der Kosacken, der trotzdem seine Waffen zu ergreifen versuchte, einen Speerstoß in den Schenkel.
Nach dem Geschrei zu urtheilen, mußten übrigens weit mehr unserer Feinde versammelt sein, als uns bisher zu Gesicht gekommen, und diese Vermuthung erwies sich auch alsbald als Wahrheit, als man uns nun einzeln unter dem Zelt hervorholte und uns sofort Füße und Hände band. Mehr als die doppelte Zahl der Schurken, die wir früher für die alleinige Besatzung des Forts gehalten, war um uns versammelt, mit teuflischem Grinsen sich ihrer List freuend und uns verhöhnend, und zu unserem Schrecken und Abscheu befand sich unser kranker Warnak Dimitri darunter. Jetzt wurde es mir klar, daß der Kerl unter der Besatzung irgend einen früher entlaufenen Gefährten wiedergefunden, von diesem zum Verrath bewogen worden und bei dem schurkischen Spiel mitgeholfen hatte,
Widerstand war vergeblich, und so ließ ich ruhig Alles mit mir geschehen, obschon die Galgenphysiognomieen der Bande des Gouverneurs mir genugsam verkündeten, welches Schicksal uns bevorstand.
Wie ich bereits erwähnt, wurden uns Hände und Füße
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so eng zusammengeschnürt, daß wir uns nicht zu regen vermochten und das Bast der Stricke tief in unser Fleisch schnitt. Dann wurden wir von dem Lagerplatz fort und in das Fort geschleift und in einen ziemlich engen Thurm von zwei Stockwerken geschafft, der auf der Mauer des Forts nach der Landseite und zwar zwischen zwei Pavillons an ihren Ecken stand, von denen der eine, wie ich aus dem Gesange der Nacht wußte, von den Frauen des Mandarins bewohnt oder wenigstens benutzt wurde.
Der zweite Warnak und ich wurden in das obere Geschoß geworfen, einen den ganzen Thurm ausfüllenden, nur durch eine Leiter und starke Fallthür zugänglichen Raum, unser Offizier und die beiden Kosacken in das darunter liegende Gemach, so daß wir, selbst wenn wir im Besitz unserer Gliedmaßen gewesen wären, doch nicht hätten mit einander verkehren können.
Diese Vertheilung sollte wenigstens meine Rettung werden.
Man hatte uns zwar Knebel zwischen die Zähne gepreßt, aber Basil, der mit mir gefangene Warnak, war ein zu alter Fuchs und in allen Künsten seines frühern Handwerks zu wohl erfahren, als daß ihm dies ein langes Hinderniß gewesen wäre. Unsere Ueberwältiger hatten uns kaum wie ein Paar Holzblöcke auf den Boden geworfen und sich entfernt, wobei sie, wie wir deutlich hörten, die Fallthür mit schweren Riegeln verschlossen und die Leiter mit fortnahmen, als er sich dicht vor mich wälzte, mit seinen gefesselten Händen den Knebel in meinem
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Munde faßte und ihn herauszog, worauf ich ihm denselben Dienst leisten mußte.
»Jebi waschu mat!« brummte er mit dem gewöhnlichen russischen Fluch - »diese Hundesöhne sollen uns so billig nicht haben. Reich Deine Hände her, Väterchen, meine Zähne sind so scharf wie die einer Ratte, und wenn ihr Bast von Eisen wäre, es sollte Nichts helfen!«
In der That waren auch, ehe zehn Minuten vergingen, die Knoten meiner Stricke gelöst.
»Jetzt, Batuschka,« sagte der Warnak, »greif in meinen linken Stiefel und hole heraus, was Du dort finden wirst!«
Ich that natürlich, wie er wollte und holte ein starkes und langes Einschlagmesser hervor, das er dort verborgen getragen. Mit dessen Hilfe waren leicht die Stricke, die uns noch banden, gelöst, wobei er jedoch vorsichtig dafür sorgte, daß sie so wenig als möglich zerschnitten wurden.
Nachdem wir auf diese Weise einen Theil unserer Freiheit wieder gewonnen, machten wir uns daran, zunächst unsern Kerker zu untersuchen und dann zu berathschlagen, was wir zu thun hätten.
Das Erstere war leicht geschehen. Der Thurm, oder vielmehr das minaretartige Thürmchen hatte im Innern etwa 10 Fuß im Durchmesser, war von festen behauenen Steinen erbaut und hatte zwar nach allen Himmelsgegenden Oeffnungen, die uns gestatteten, auf den Fluß und unseren früheren Lagerplatz und selbst in das Innere des Forts zu sehen, aber viel zu eng waren, um unsere Leiber etwa hindurchzulassen.
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Der Warnak lachte, als ich ihn auf dieses Hinderniß eines etwaigen Fluchtversuchs aufmerksam machte.
»Der Teufel soll mich fressen,« meinte er, »wenn das mich auch nur einen halben Tag aufhalten würde! Ich bin aus den besten Kerkern von Petersburg ausgebrochen, ohne daß ich wie hier eine gute Messerklinge in der Hand hatte, und diese elende chinesische Mauer sollte mich hindern? Aber das würde uns nicht viel helfen. Es sind ihrer zu Viele und sie würden uns bald überwältigen. Ueberdies fehlt es uns an allen Mitteln fortzukommen, zu Wasser wie zu Lande. Ja, wenn wir einen Freund unter den schuftigen Langzöpfen hätten und dieser Schurke Dimitri nicht ein Verräther wäre, dem der Teufel die Seele braten mag, wäre es etwas Anderes!« Und er begann eine solche Reihe gräßlicher Verwünschungen auf seinen früheren Kameraden, daß mir trotz unserer Lage die Haut schauderte.
Durch das Verlangen nach einem Freund im Fort hatte er mich aber an das Benehmen der jungen Chinesin erinnert und daß ich das Seidenknäuel noch immer uneröffnet bei mir trug. Ich hielt es für gut, ihm die ganze Geschichte zu erzählen und die Gabe zu zeigen, die wir nun eilig aufzuwickeln begannen.
Es war ein Knäuel von Seidenfäden, wie die Frauen sie aufzuwickeln pflegen. Mit großem Vergnügen sah Basil, der überhaupt ein sehr schlauer Bursche und dazu ein eingefleischter Russe war, daß die Fäden eine ziemliche Länge einnahmen. Er legte sie sorgfältig zusammen, bis wir endlich auf den Kern der Rolle, ein zusammengekniffenes Blatt Reispapier kamen. Hastig wurde es entfaltet; es
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enthielt verschiedene chinesische Schriftzeichen, die wir freilich Beide nicht verstanden und wie - als hätte die Spenderin diese Unkunde vorausgesehen, - zwei allerdings sehr unvollkommene Zeichnungen, die aber doch deutlich ein stehendes und ein zusammengeworfenes Zelt erkennen liehen, so wie eine Anzahl Striche mit Köpfen.
»Den Henker auch, Brüderchen,« murrte der Warnak, »was wäre es gut gewesen, wenn Du Dein Geschenk bei Zeiten nachgesehen hättest. Wir säßen dann hier nicht, wie ein Zobel in der Falle. Hier steht der Verrath so klar wie ein Nordlicht gemalt und die Striche hier bedeuten die Zahl der langzöpfigen Halunken, die dieser alte Eunuch hier versteckt hatte. - Es sind, richtig gezählt, sechsundzwanzig so arge Räuber, wie nur je an den Gränzen gestreift und einem ehrlichen Kerl den Bauch aufgeschlitzt haben! Du bist ein schmucker Bursche, Brüderchen, und hast offenbar der chinesischen Dirne in die Augen gestochen. Vielleicht hilft uns das noch durch, wenn wir nur ein Mittel hätten, mit ihr in Verkehr zu treten.«
Ich hoffte im Stillen, daß sich wohl ein solches finden würde, schwieg aber einstweilen davon, da unsere Aufmerksamkeit ohnehin von den Vorgängen außerhalb des Forts in Anspruch genommen wurde.
Wir sahen, wie unsere Barke vollends geleert und unser ganzes Gepäck innerhalb des Forts geschafft und dort vertheilt wurde, wobei es an Zank und Streit nicht fehlte. Tschang Tsin eignete sich offenbar den Löwenantheil zu und nahm besonders unsere Waffen für sich oder wahrscheinlich für die Rüstkammer der kleinen Veste in Anspruch.
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Dann wurde das Zelt fortgeschafft und unsere Barke weiter hinein in den Seitenfluß und in eine Bucht gebracht, wo sie vom Hauptstrom aus unmöglich gesehen werden konnte.
Bis jetzt hatten unsere Bewältiger noch keine Absicht gezeigt, sich vorlaufig um uns zu kümmern, und wir hatten nicht die geringste Ursach, sie daran zu erinnern. Das Wichtigste war, zu erfahren, ob es unseren Leidensgefährten unter uns gelungen, sich in ähnlicher Weise, wie wir, zu helfen, und mit ihnen wo möglich in Verbindung zu treten, - aber all' unsere Zeichen und unser Lauschen waren vergeblich, und der Boden von zu dicken Eichenbalken, um ein Durchbrechen möglich zu machen. Wir mußten also zunächst an uns denken.
Unsere Lage war schlimm genug. Wir wußten recht gut, daß wir uns vollständig in der Gewalt der Chinesen befanden und daß sie keinen Anstand nehmen würden, uns als Eindringlinge in ihr Gebiet nach dem alten Gränzrecht zu behandeln. Unsere einzige Hoffnung war, daß durch irgend einen glücklichen Zufall vielleicht der zweite Theil unserer Expedition von unserer Gefangennahme Kenntniß erhalten und einen Versuch zu unserer Rettung machen könnte.
Aber dieses Boot hatte von Albasin uns erst nach vollen vier Tagen folgen sollen, und seine Abfahrt konnte sich leicht noch verzögert haben. Ueberdies, wie sollten wir der Mannschaft desselben Kunde zukommen lassen!?
Jedenfalls beschlossen wir, bis dahin aus unserm Gefängniß eine Festung in der Festung zu machen und in
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dieser uns so lange als möglich zu halten. Zum Glück hatte sich in unserem Raum ein starker Bambusstock und ein Holzkloben gefunden, die wir beide zu unserer Vertheidigung zu benutzen beabsichtigten. Basil befestigte mittels der Strickenden sein starkes Messer an den Bambus und hatte so eine nicht zu verachtende Waffe.
Darüber war es Abend geworden und wir konnten bemerken, daß unsere Feinde sich zu einer Feier ihres Sieges durch ein Gelag anschickten, wozu der in der Barke gefundene Branntwein-Vorrath den Stoff hergeben sollte.
Bunte Laternen bildeten wieder die Beleuchtung der Mauern und Höfe und nicht lange, so hörten wir das Jauchzen der Trunkenen.
Das Schauspiel ihres Gelages hatte aber wenig Interesse für mich, da sich mir nach einer andern Seite hin ein weit angenehmeres eröffnete.
Ich habe bereits erwähnt, daß der kleine Thurm, in welchem wir eingeschlossen waren, auf der Mauer der Landseite und zwischen zwei Pavillons oder chinesischen Lusthäuschen stand, von denen das eine von den Frauen Tschang Tsins, das andere von ihm selbst gewöhnlich bewohnt zu werden schien. Von den Oeffnungen des Thurms aus konnten wir beide recht wohl übersehen, während dies wenigstens bei dem Frauenpavillon durch eine davor gezogene Mauer, welche ihn haremsartig abschied, von dem Innern der kleinen Veste aus nicht geschehen konnte. Als ich nun nach dieser Seite hinabsah, erblickte ich durch die geöffneten Jalousieen in dem Licht der bunten Laternen
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den Mandarinen mit Gotami und einer anderen älteren Frau, wahrscheinlich der Mutter des jungen Mädchens.
Herr Tschang Tsin sah behaglich auf seinen Polstern, schlürfte Thee und rauchte aus einer Wasserpfeife, während seine Tochter zu seinen Füßen saß, und sehr traurig schien. Die Frau dagegen, eine mittelgroße kräftige Gestalt, die etwa in Mitte der dreißiger Jahre stehen mochte und noch viele Beweise früherer Schönheit zeigte, war sehr aufgeregt und redete heftig auf den alten Chinesen ein, was aber gar keine Wirkung auf ihn zu haben schien; denn er bemühte sich nicht einmal mit einer Antwort, und als das Gezänk ihm zu arg wurde, legte er nur mit einem drohenden Blick die Hand an den Griff des kurzen Säbels, den er im Gürtel trug, worauf die Frau sich in einen Winkel flüchtete und dort grollend niederkauerte.
Tschang Tsin hielt sich noch einige Zeit bei den Frauen auf, schien aber bei der Stimmung derselben der gewöhnlichen Unterhaltung zu entbehren, erhob sich endlich und trollte sich zu seiner zechenden Bande.
Was war es denn, das das junge Mädchen plötzlich so traurig gemacht? Sollte es vielleicht in Verbindung mit dem gegen uns - gegen mich geübten Verrath stehen?
Basil war zu mir getreten und wir sahen jetzt, wie das Mädchen an das offene Fenster des Pavillons kam, wiederholt nach unserm Thurm herüber deutete und mit ihrer Mutter sprach, die ihr mit wilden leidenschaftlichen Geberden antwortete. Ich sah, wie Gotami weinte, die Hände rang und sich an den Busen der älteren Frau
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warf, welche die Hand drohend in der Richtung schüttelte in der sich ihr Mann und Gebieter entfernt hatte, und das Herz flüsterte mir zu, daß diese Besorgniß meiner Person galt.
Gern hätte ich ihr ein Zeichen gegeben, daß ich wenigstens wieder Herr meiner Glieder sei und es wäre dies leicht gewesen, da ich die Pfeifenflöte noch bei mir trug, - aber Basil hielt mich verständiger Weise davon ab, indem er mich darauf aufmerksam machte, daß dies sofort der Horde Nachricht von unserer theilweisen Befreiung geben würde.
Wir mußten also ein anderes Mittel ersinnen, um uns mit den Frauen, die uns offenbar wohl wollten, in nähern Verkehr zu setzen.
Zum Glück erinnerte ich mich, daß ich in meiner Tasche ein kleines Feuerzeug hatte, und da man aus dem Pavillon eben so gut unsere Maueröffnungen sehen mußte, beschlossen wir einen Versuch zu machen.
Indem wir uns noch darüber bcriethen, hörte ich durch den Lärmen der Zechenden die Töne der Balaleika.
Gotami, wie um mir ihre Nähe und ihre Theilnahme zu zeigen, sang das Lied der vergangenen Nacht.
Wie gern hätte ich ihr geantwortet, wenn ich es gewagt. So mußte ich die Gelegenheit abwarten, sie aufmerksam zu machen. Diese kam indeß bald. Schon nach der ersten Strophe ließ die junge Chinesin das einfache Instrument in ihren Schooß sinken und schaute herauf nach dem Thurm.
Im Nu hatte ich ein Paar der Zündfäden in Brand
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gesetzt und hielt sie vor mein Gesicht, daß die kurze Flamme dasselbe beleuchtete. Die Wirkung war vollkommen die beabsichtigte. Erst sah das Mädchen, durch den in der Mauerblendung nur ihr sichtbaren Schein aufmerksam gemacht, erstaunt herauf, dann ließ sie die Cither unbeachtet fallen, schlug in die Hände und sprang zu ihrer Mutter.
Als wir zum zweiten Mal das Experiment machten, sahen wir deutlich, daß beide Frauen voll Aufmerksamkeit waren. Basil, der klüger war, als ich, zeigte den Knäuel, den ich am Morgen von der jungen Chinesin empfangen, deutete nach dem Fuß des Thurms und machte das Zeichen des Trinkens, denn wir verschmachteten fast vor Durst und er hielt die Befriedigung dieses Bedürfnisses für das Allerdringendste.
Ein Zeichen der älteren Frau gab zu verstehen, daß sie uns verstanden und daß wir ihnen vertrauen sollten. Alsbald wurden die Jalousieen des Pavillons geschlossen, um gegen jedes Späherauge geschützt zu sein, wir aber machten uns daran, den Seidenfaden am Ende mit einem Steinchen zu beschweren und dann aus der Oeffnung hinunter zu lassen. Es dauerte eine ganze Weile, ehe wir von unsern freundlichen Beschützerinnen etwas zu sehen bekamen, endlich aber öffnete sich die Thür des Pavillons, zwei dunkle Gestalten schlüpften heraus und gebückt über die Mauer, bis sie unter unserem Sehwinkel verschwanden. Schon nach wenigen Augenblicken fühlten wir eine leichte Bewegung an unserer dünnen Seidenschnur und begannen
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sie mit aller Vorsicht aufzuwickeln, denn wenn sie riß, war natürlich jedes weitere Mittel des Verkehrs abgeschnitten.
Zu unserer Freude fanden wir am Ende des Fadens eine stärkere Schnur befestigt. Diese Vorsicht bewies uns, daß man das Mittel, uns Beistand zu leisten, sorgfältig überlegt hatte, und in der That fühlten wir, als wir die Schnur jetzt an uns zogen, eine schwerere Last an ihr hängen. Während die Frauen wieder in den Pavillon verschwanden, zogen wir die Schnur vollends herauf und langten die daran in einigem Zwischenraum befestigten Gegenstände durch die Oeffnung in unseren Kerker.
Auch in der Wahl und Befestigung derselben hatte man offenbar auf die Enge der Thurmfenster Rücksicht genommen. Die Gegenstände bestanden in zwei Korbflaschen mit Wasser, einem Säckchen Reis, einem Stück Gerstenbrod und einem großen Messer. Nachdem wir mittels des Feuerzeuges ein Zeichen gegeben hatten, daß wir glücklich in Besitz der Sachen waren, stillten wir unsern Durst und legten uns dann über der Fallthür nieder, um gegen jeden Ueberfall gesichert zu sein.
Lange vorher, bevor die Folgen des wüsten Gelages am nächsten Morgen den Verräther Tschang Tsin und seine Bande erwachen ließen, waren wir schon munter und an unserem Observatorium, konnten aber nur die ältere Frau erblicken, die uns durch Zeichen zur Vorsicht mahnte und anzudeuten schien, daß eine große Gefahr für uns im Anzuge sei.
Wir sollten auch nicht lange darüber in Zweifel bleiben. Der Verräther Dimitri hatte sicher seinen
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neuen Kameraden mitgetheilt, daß ein zweites russisches Boot dem unseren folgen sollte und man hatte alsbald den Plan gefaßt, sich desselben zu bemächtigen. Die gewöhnliche Feigheit der Chinesen bedürfte dazu einer großen Uebermacht, und wir sahen daher, sobald die Rotte wieder auf den Beinen war, Tschang Tsin verschiedene Boten nach allen Seiten aussenden, theils in Kähnen, theils zu Lande. Als dies Geschäft beendet war, schien er sich endlich an uns zu erinnern; denn ein Trupp der Bande bewegte sich nach dem Eingang des Thurms, während ein anderer in dem Hofe allerlei Vorbereitungen traf, deren Bedeutung ich zwar noch nicht kannte, deren Anblick aber selbst meinen rohen, keine Gefahr scheuenden Gefährten schaudern machte. Wenige Worte belehrten mich zur Genüge und wir beschlossen, auf jeden Fall unser Leben theuer zu verkaufen und den möglichsten Widerstand zu leisten.
Einige der schurkischen Banditen brachten ein großes Kohlenbecken und schürten das Feuer darunter, ein Paar Andere machten sich mit einigen Brettern zu schaffen und Pflanzten einen dünnen spitzen Bambus-Pfahl in den Fußboden, während ein großer schwarzbrauner Kerl von galgenmäßigem Aussehen die Stöcke zur Bastonade bereit machte.
Wie sich später ergab, hatte der Verräther Dimitri die Chinesen zwar mit der Ankunft des zweiten Botes bekannt gemacht, doch wußte er weder genau die Zeit noch die Zahl der Bemannung und die Nachrichten darüber wollten die Räuber erpressen, ehe sie ihrem Blutdurst durch unsere Hinrichtung Genüge thaten, denn diese war selbstverständliche Sache; nur in Betreff meiner hatte
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Herr Tschang Tsin eine Ausnahme gemacht und mir auf die Bitte der Tochter zwar das Leben bewilligt, mich aber zu einem weit schlimmeren Schicksal bestimmt, als der Tod gewesen wäre.
Bald hörten wir denn auch die Männer in dem Raum unter uns und sahen unsern braven Offizier und unsere beiden Gefährten, noch eben so zusammengeschnürt, wie sie hinein gebracht worden, aus dem Thurm schaffen und in dem Hofraum auf den Boden werfen.
Dann hörten wir, wie sie Anstalt machten, auch uns herunter zu holen.
Ich hatte das Messer, das die Frauen uns zugesteckt, im Gürtel und das Holzscheit, das wir in unserem Kerker gefunden, in der Faust - Basil seine furchtbare Waffe, und so kauerten wir neben der Fallthür, oder vielmehr hinter derselben, um nicht sogleich gesehen zu werden.
Wir hörten die großen Riegel zurückschieben, und dann hob sich die schwere Thür und der nackte Kopf eines Chinesen hob sich daraus empor, während ein zweiter folgte.
Der erste Chinese, ein großer wild ausschauender Manshu war bereits mit dem halben Oberleib aus der Luke, als er uns erblickte und erstaunt über unsere Stellung zauderte. In diesem Augenblick schrie mir Basil zu, loszuschlagen, und zugleich fuhr sein Messerstock zwischen den Armen des Vordersten hindurch mit gewaltigem Stoß dem Nachfolgendem durch die Kehle in die Brust. In demselben Moment schmetterte ich den Holzscheit mit aller Kraft und allem Haß über den Verrath auf den unbeschützten Kopf des Langzopfs nieder.
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Ich hatte ihm den Schädel zerschmettert und lautlos stürzten Beide unter Gepolter die Leiter hinab mitten zwischen ihre bestürzten Gefährten, die alsbald ein Zetergeschrei erhoben und nach dem Ausgang eilten. Wir hätten jetzt leicht aus unserem Kerker entwischen und den unteren Raum gewinnen können, aber wir begriffen, daß uns dies der Uebermacht gegenüber und ohne alle Vorbereitungen zur Flucht wenig helfen würde, und daß wir in unserer kleinen Festung uns verhältnißmäßig weit sicherer befanden, und so begnügten wir uns, die Fallthür wieder zuzuschlagen.
Wie wohl wir daran gethan, zeigten uns bald darauf ein Paar Kugeln, die von unten her in die starken Planken schlugen, ohne jedoch durchzudringen. Endlich getrauten sie sich hinein und wir konnten hören, wie die großen Riegel wieder vorgeschoben wurden.
Wir waren also jedes Ausgangs beraubt, aber der Warnak lachte, als ich ihn nochmals darauf aufmerksam machte, daß wir durch die engen Fensterscharten unmöglich entweichen könnten.
»Das laß meine Sorge sein, Brüderchen, wenn wir nur erst einen tüchtigen Strick haben, der uns trägt!«
Unterdeß hatte der Tumult unten in den Höfen fortgedauert. Die Entdeckung, daß wir Beide uns befreit hatten und widerstandsfähig waren, schien sie gewaltig überrascht zu haben und sie beriethen, was zu thun sei. Tschang Tsin hieß den Verräther Dimitri auf einen Stein treten und uns auffordern, sogleich unsere Waffen hinunter zu werfen, die wir gegen alles Recht des Krieges behalten
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haben sollten, und uns zu ergeben, und man versprach, uns dafür blos den Kopf abzuschneiden, wogegen im Fall einer Weigerung uns die grausamsten Martern angedroht wurden; aber Basil antwortete ihm mit einem Hagel von Schimpfreden, mit welchen er ihm ankündigte, daß ihm und jedem schuftigen Langzopf, der sich unterstehen würde, uns noch einmal zu incommodiren, vor Allem dem alten Diebe Tschang Tsin, den er mit den kostbarsten Ehrentiteln belegte, der Schädel ebenso eingeschlagen werden würde, wie dies bereits mit Zweien von ihnen geschehen sei. Zugleich wurde ihnen mit dem Zorn des Czaren und der ganzen russischen Nation gedroht, die alle Chinesen mit Stumpf und Stiel ausrotten würden, wenn sie es wagen sollten, unserem Offizier oder den beiden Kosaken ein Haar zu krümmen.
Diese Unterhandlung war aber nicht ohne Gefahr für uns; denn Basil war noch mitten in seinen Drohungen, als ein Paar Schüsse herauf nach uns knallten und die Kugeln an den Mauern sich breit schlugen. Nur die Ungeschicklichkeit der Schützen rettete ihn. Ein wüthendes Geschrei beantwortete zugleich die Verdolmetschung unserer Antwort, und die ganze Bande stürzte nach dem Eingange des Thurms, nicht um uns anzugreifen, sondern um ihn mit allen möglichen Dingen der Art zu verrammeln, daß sie selbst Stunden gebraucht haben würden, um ihn wieder zu öffnen.
Unterdeß hatte ich an der andern Seite des Thurms gesehen, wie das junge Chinesenmädchen in ihrem Pavillon voller Angst war, die Hände wand und bei dem Knall der
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Schüsse kaum von ihrer Mutter abgehalten werden konnte, heraus zu stürzen. Erst als ich mich an der nach ihrer Seite gekehrten Oeffnung zeigte, schien sie sich zu beruhigen, winkte mich aber sogleich zurück, damit mich nicht etwa eine Kugel treffen sollte. Ich zeigte den Frauen das Reispapier, das ich von Gotami am Tage vorher erhalten und deutete auf die Sonne zum Zeichen, daß ich ihnen am Abend Botschaft senden möchte. Sie winkten mir Einverständniß und dann zog ich mich zurück, um nicht etwa bemerkt zu werden und uns so den letzten Beistand abzuschneiden.
Es ist eine bekannte Sache, daß die Chinesen, wie alle Orientalen es lieben, ihr Pulver zu verknallen. So richteten sie auch jetzt, obschon sie von der Nutzlosigkeit überzeugt sein konnten, wiederholt Schüsse gegen die Oeffnungen des Thurms, ohne daß auch nur eine Kugel in die Fenstern traf.
Wir saßen auf dem Boden unsers Kerkers und beriethen in voller Sicherheit, was wir thun wollten. Eine Strickleiter oder wenigstens ein starkes Seidentau, das uns tragen konnte, unsere Büchsen und ein Boot war Alles, was Basil verlangte, um uns der Gefahr zu entreißen, und ich übernahm es, den Frauen unsere Wünsche mitzutheilen. Da mir die chinesischen Schriftzeichen - zu deren Erlernung man Jahre braucht, - fast gänzlich unbekannt waren, mußte ich mich damit begnügen, unsere Wünsche durch allerlei Zeichen auszudrücken, und da ich zur Niederschreibung unserer Beobachtungen auf der Fahrt ein Notizbuch und Bleistift bei mir führte, machte ich mich daran,
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meinen Brief vermittels allerlei Zeichnungen zu schreiben. Diese bestanden in zwei Büchsen, einer chinesischen Barke mit Rudern und der Abbildung unseres Thurms, aus dessen Oeffnungen sich eine Person an einem Seil niederließ. Ich war thöricht genug, noch ein Herz von einem Pfeil durchbohrt darunter zu malen, obschon ich wahrhaftig nicht wußte, ob man je in China von Gott Amor etwas gehört hatte.
In dieser Arbeit wurde ich durch einen gräßlichen Schrei unterbrochen. Wir sprangen auf und eilten unbekümmert um die Kugeln der Banditen an die Oeffnungen. Aber die Schurken hüteten sich, jetzt auf uns zu schießen, um uns ungestört das schreckliche Schauspiel der Martern anschauen zu lassen, die sie an unseren unglücklichen Gefährten begonnen hatten.
In Nertschinsk und bei meinen Jagdzügen hatte ich häufig von den Grausamkeiten gehört, mit welchen die Chinesen ihre Gefangenen zu Tode peinigten, aber nie an die Ungeheuerlichkeiten glauben wollen. Jetzt mußte ich mich aber zu meinem Entsetzen von der Wahrheit dieser Erzählungen überzeugen. Unsere drei Gefährten waren völlig entkleidet worden und dann hatte man sie mit dem Rücken derart auf Bretter oder Bohlen geschnürt, daß ihre Füße ein wenig darüber hinausragten. Man hatte den Anfang mit den beiden Kosacken, zwei jungen kräftigen Männern gemacht, und ein Schurke von Langzopf hielt ihnen abwechselnd mit einer Zange glühende Kohlen, die er aus dem Feuerbecken nahm, an die Fußsohlen, während die ganze Bande umherstand und an den Schmerzen der
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armen Soldaten ihr Vergnügen hatte. Wir hörten, wie die unglücklichen Burschen um Gnade baten und sich bereit erklärten, Alles zu sagen, was sie wüßten, aber ihre Nachrichten, die sie dem Dolmetscher gaben, schienen den alten Anführer dieser Bande menschlicher Teufel wenig zu befriedigen; denn auf seinen Kissen auf den Fersen hockend, eine lange Pfeife im Mund, leitete er die teuflischen Martern und gab zunächst den Befehl, fortzufahren.
Man legte jetzt Beiden die glühenden Kohlen auf die Herzgrube und ließ sie dort ausbrennen. Der Schmerz mußte fürchterlich sein, denn die Unglücklichen brüllten wie wilde Thiere. In ihr Geschrei mischten sich unsere Bitten, Drohungen und Verwünschungen, erregten aber nur Hohn und Spott bei den Feinden.
Auf einen Wink des Mandarinen erschien jetzt ein herkulischer Manshu, der in seiner Hand eine Waffe wie unsere Hackmesser geformt, trug. Er legte die Schneide auf den Fuß eines der Kosacken, hob das gewichtige Messer in die Höhe, und mit einem einzigen, gewaltigen Hieb hatte er den rechten Fuß dicht über dem Knöchel abgehauen.
Das Blut stürzte unter dem Schmerzensgeheul des Verstümmelten wie ein Strom aus dem zerstörten Gliede, ohne daß sich Jemand darum kümmerte; ein zweiter Hieb und die linke Hand des Aermsten flog dem Fuße nach.
Ich konnte die gräßliche Scene nicht länger ansehen, ich wandte mich ab, aber fort und fort gellte das jämmerliche Geschrei des Ermordeten in meine Ohren, das erst
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verstummte, als auch der andere Fuß und die zweite Hand verstümmelt waren.
Als ich die Hand einen Augenblick vom Gesicht zog, sah ich, wie mein Kerkergefährte stumm und starr mit weit hervorquellenden Augen auf die Scene unter ihm stierte, - ich sah, wie sein kurzes Haar borstenartig in die Höhe stand, seine Faust krampfhaft gegen das Gemäuer schlug.
Er stieß einen jener gräßlichen russischen Flüche aus, von denen ich mir habe sagen lassen, daß nur noch die ungar'sche Sprache ähnliche kennt!
Es war, als zöge es mich mit Zangen, an den Haaren hin zu der Oeffnung, um dem scheußlichen Schauspiel als Zuschauer beizuwohnen.
Zur Seite geworfen lag der verstümmelte Körper des unglücklichen Kosacken in den letzten Lebenszuckungen, - die Kannibalen hatten sich des zweiten bemächtigt und ein anderes Brett auf seine Brust geschnürt. Jetzt erst schien der Unglückliche zu ahnen, was man mit ihm vorhatte; denn jetzt erst stieß er Schrei auf Schrei aus, so ohr-, so herzzerreißend, wie ich nie etwas im Leben gehört hatte, selbst damals nicht, als meine braven Kameraden an den glühenden Eisenstäben des Palastes der Wolchonski zu Moskau rüttelten.
Dieses Augstgeschrei schien die Ohren der Unmenschen nur zu kitzeln.
Ich sah, wie Tschang Tsin eine Frage an unseren Offizier that, der stumm, mit zusammengebissenen Zähnen am Boden lag.
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Ein Schütteln des Kopfes war die Antwort. Der Brave wußte nur zu gut, daß er mit allen Geständnissen über den Zweck und die Ausdehnung unserer kleinen Expedition doch das Leben nicht erkaufen würde.
Der Mandarin winkte, und ein Kerl, bis an die Hüften entblößt, mit einer großen zweihändigen Säge, trat vor.
Zwei der Banditen stellten die Bretter mit dem menschlichen Körper, den Kopf nach unten, in schiefer Lage auf den Boden und hielten sie. Der Henkersknecht sah sich um - sein blutunterlaufenes Auge fiel auf Dimitri, den Ueberläufer.
»Komm!«
Selbst der rohe Verbrecher schauderte, - er weigerte sich.
Tschang Tsin sagte einige Worte, - es mußte eine furchtbare Drohung sein; denn der Warnak trat leichenblaß herbei und griff zitternd nach dem einen Handgriff der Säge, die der Henker zwischen den Füßen des unglücklichen Opfers an die Bretter gesetzt hatte.
»Los!«
Das Knirschen der Säge, wie sie tiefer in das Holz drang, zerriß mir fast das Ohr - so klar und deutlich hörte ich es zwischen dem nicht mehr einer menschlichen Stimme ähnlichen Geheul des unglücklichen Opfers. - Ich sah auf Basil - der Verbrecher, der stark verdächtig war, seinen Gutsherrn und dessen Sohn erschlagen zu haben und deshalb nach überstandener Knute nach Sibirien geschickt worden, - lag auf den Knieen und betete!
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Ein gellender und herzzerreißender Schrei - ein zweiter, - dritter - dann wurde es still, nur das Knirschen der Säge am Holz dauerte fort.
Gospodins, - es giebt Minuten, die zu Jahren, Stunden, die zu einer Ewigkeit werden!
Diese Minuten, diese Viertelstunde, welche die Marter dauerte, - vielleicht sind sie uns so schwer geworden als dem armen Burschen, dessen Leben schon lange, lange vorher entflohen, ehe der schaurige Ton der Säge am Ende der Bretter aufhörte.
Dann hörte ich ein Wort - ich hatte es in Kiachta nennen hören und im Gedächtniß behalten - ein einziges Wort aus dem Munde des Mandarinen, aber es genügte, um das Blut in meinen Adern erstarren zu machen.
»Zum Pfahl!«
Diesmal war ich es, der den Warnak, den rohen, reuelosen Verbrecher abhielt, sich nach der Oeffnung zu stürzen. Wir hüllten unsere Köpfe in die Kleider, wir verstopften unsere Ohren mit den Fingern, um Nichts zu hören. Wir wanden uns auf dem Boden unsers Kerkers, als müßten wir die Schmerzen ertragen, unter denen draußen Beiton, unser Offizier, brüllte.
Erst als das Geschrei geendet, erst als nur von Zeit zu Zeit noch ein leises Wimmern heraufdrang, wagten wir es wieder, uns in die todtbleichen Gesichter zu sehen.
Und wäre ein Engel vom Himmel gekommen und hätte uns die Pforte unsers Kerkers geöffnet und gesprochen: »Geht! Ihr seid frei!« - keiner von uns Beiden wäre gegangen, ehe er den Eid erfüllt gehabt, den
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Jeder von uns in dieser Stunde geschworen, ohne daß Einer mit dem Andern eine Sylbe gewechselt, - das lasen wir Beide uns in den Augen! -
Der Tag verging, ohne daß wir wagten, an die Oeffnungen nach den Höfen hin zu treten und hinab zu schauen. Wir wußten ja, welcher schreckliche Anblick uns dort erwartete und hatten nicht den Muth, ihn zu ertragen. Nur arbeitete Basil mit wüthender Kraft in der Mauer an dem Fenster nach dem Pavillon zu und höhlte mit seinem Messer die Fugen von zweien der Quadersteine aus, deren Entfernung die Oeffnung genügend vergrößern, mußte, um hindurch schlüpfen zu können.
Die Jalousieen des Pavillons blieben lange geschlossen - Tschang Tsin erholte sich wahrscheinlich dort von den Anstrengungen seiner Henkerarbeit. Erst gegen Mitternacht sah ich, der ich schaudernd auf meinem Posten stand, - denn von Zeit zu Zeit trug der Nachtwind vom Flusse her wie aus der Tiefe ein unheimliches leises Wimmern zu mir empor, - die Jalousie sich öffnen und auf dem lichten Grunde des Gemachs die Gestalten der beiden Frauen erscheinen.
Sofort flammte von meiner Seite das kurze Lichtzeichen auf. Es war gesehen worden, wie mir die Winke und Zeichen bewiesen.
Während drüben wieder Alles dunkel wurde, schob ich die Schnur zur Oeffnung hinaus, an deren Ende ich eine der leeren Flaschen und um diese unsere seltsame Depesche befestigt hatte. Bald fühlte, ich an dem Zucken der Schnur, daß unsere Botschaft abgelöst wurde.
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Etwa eine Stunde verging, dann wurde an der Schnur gezogen, die ich um meine Hand gewickelt hatte. Rasch hoben wir sie empor und in das Fenster hinein. An dem Gefühl konnten wir erkennen, daß wieder eine Flasche und ein Säckchen Reis am Ende hing, außerdem aber ein ziemlich starkes Packet.
Das Verlangen, zu wissen, ob unsere Bitten verstanden worden, ließ uns selbst der Gefahr trotzen, unsere kleinen Hilfsmittel entdeckt zu sehn, und mittels Steins und Schwammes versuchten wir, wenigstens für Augenblicke ein Licht herzustellen. Welches Glück! eng zusammengewickelt hielten wir einen langen Seidenstrick in der Hand, in den sorgfältig ein Papier eingeknotet war.
Mehr konnten wir bei den schwachen Funken nicht erkennen, - wir mußten die nähere Prüfung auf das Tageslicht verschieben. -
Nur die Erinnerung Basil's, daß wir wahrscheinlich am nächsten Tage aller unserer Kräfte bedürfen würden, konnte mich bewegen, auf der Fallthür hingestreckt den Schlaf zu suchen -, den ich lange nicht fand. Der Wind hatte sich erhoben, heulte um unsern Thurm und trieb lange Wolkenschatten an dem Mond vorbei, der im letzten Viertel stand, während zwischen seinen Stößen, wie er über das Wasser des gewaltigen Stroms peitschte, ich immer wieder das leise Wimmern zu hören glaubte, das während des Tages mich so oft entsetzt. Mehr als einmal war ich im Begriff, den Warnak zu wecken, der bereits neben mir schnarchte, bis mir endlich selbst die Augen zufielen.
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Die Sonne schien bereits hell herein durch die Luken in unseren Raum, als mich endlich das Schütteln Basil's weckte.
»Ermuntere Dich, Brüderchen,« sagte er, und höre gute Botschaft. Der Teufel soll meine Seele zwicken, die er ohnehin haben wird, wie ich fürchte, wenn ich das da nicht eben so gut lesen kann, als wär' ich ein Gelehrter, statt eines armen Verurtheilten! Da sieh selbst und sage mir, ob die Dirne Dein Gemale nicht so gut verstanden, als hättest Du ihr eine Stunde lang unter's Kinn gefaßt und ihr auf gut Russisch auseinander gesetzt, was wir brauchen!«
Er hielt ein ziemlich großes Blatt Reispapier auseinander gefaltet in der Hand, das mit flüchtig gepinselten, allerdings ziemlich monströsen Figuren bemalt war, deren Bedeutung mir beim ersten Anschauen gar nicht so klar werden wollte, als sie ihm zu sein schien.
Ich erhob mich und wollte mit dem Blatt zu einem der Lukenfenster treten, als er mich hastig zurückzog.
»Nicht dahin,« flüsterte er, wie in Fieberfrost sich schüttelnd - »er lebt noch immer, und der Anblick könnte Dir den Muth rauben, den wir doch sicher in nächster Nacht brauchen werden!«
Ich verstand seine Meinung und rückte scheu unter die entgegengesetzte Oeffnung. Aber vergeblich studirte ich die verworrenen Figuren auf dem Papier und mußte es endlich gestehen.
»Jok face mat!« grinste der Warnak - »ich dachte es wohl! Ihr Gelehrten könnt besser schreiben, als Euer
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eigen Geschreibsel verstehen. Siehst Du nicht das runde schwarze Ding da, das soll der Neumond sein, und der ist diese Nacht. Hier die vier Striche mit dem Kolben sind ganz klar unsere vier guten Büchsen, die uns das Weibsvolk wieder verschaffen will. Ich will nie wieder einen Schluck Branntwein meine Kaldaunen wärmen lassen, wenn die chinesischen Weibsen nicht besser und klüger sind, als sie aussehn! - Da - das ist offenbar eine Dschonke oder ein Kahn - nur weiß ich nicht, was die vier Köpfe darin bedeuten sollen, da wir doch blos zu zweien sind, und die anderen -« er schüttelte sich mit einem furchtsamen Seitenblick nach der Richtung des Hofes.
»Aber hier dahinter sind noch eine Menge solcher Dschonken!«
»Richtig, und es hat mir anfangs auch einiges Kopfzerbrechen gemacht. Aber dann ist mir's so klar geworden, wie die liebe Sonne, die noch immer mit den Wolken kämpft. Na, wir können es schon brauchen, wenn das Wetter etwas stürmisch bleibt und höchstens doch nur auf dem Flusse ersaufen, was immer noch besser ist, als hier zu verhungern oder gar unter die Sägen und Hackmesser dieser Teufel zu fallen. Die Kähne sollen offenbar bedeuten, daß wir verfolgt werden könnten. Nur weiß ich nicht, warum die Weibsen ihrer so viele hingemalt haben, da die Schurken von Langzöpfe hier deren doch nur noch einen besitzen, wie ich mich überzeugt habe, und den wir doch gerade nehmen müssen.«
»Du weißt, daß gestern zwei stromabwärts fuhren. Sie können zurückkehren.«
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»Das wird's sein. Nun bleiben nur noch die vier Köpfe!«
Schon bei seiner ersten Erwähnung war mir ein Gedanke durch den Sinn geschossen, der auch jetzt wiederkehrte und mir trotz unserer verzweifelten Lage ein gewisses Wohlbehagen verursachte. Aber ich schwieg absichtlich von der Auslegung, die ich mir zusammen reimte.
Ueber die Bedeutung der Kahn-Zeichnungen sollten wir aber bald in's Klare kommen.
Basil zeigte mir den Seidenstrick, in den er bereits eine Anzahl Knoten, immer etwa zwei Fuß weit von einander, geschlungen hatte. Nach unserer Schätzung reichte der Strick vollkommen bis auf die Platform der Mauer. Außer dem Papier war in ihm noch ein meißelförmiges Eisen eingewickelt gewesen, das der Warnak jetzt tüchtig benutzte, um mit aller Vorsicht die Steine weiter zu lockern. Bald konnten wir zwei derselben heraus heben und hatten jetzt nur noch in gleicher Weise die beiden äußeren zu lösen, wobei wir freilich ganz besondere Vorsicht anwenden mußten, damit sie nicht etwa nach Außen fielen, oder der bröckelnde Mörtel unsere Arbeit und unsere Absicht den kahlköpfigen Mördern verrieth, die heute ganz besonders aufmerksam zu sein schienen und auf den Mauern und vor dem Fort umher lungerten, auch mehre Male wieder nach unsern Lukenfenstern schossen. Wir waren aber überein gekommen, uns gar nicht an diesen zu zeigen, um sie glauben zu machen, daß Hunger und Durst, zu dem sie uns verurtheilt, bereits unsere Kraft gebrochen hätten oder wenigstens die Furcht uns zurück hielt.
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Erst der vermehrte Lärmen machte uns auf die äußern Vorgänge aufmerksam.
Als wir mit Vorsicht an die Lukenfenster traten, sahen wir, daß zwei zahlreich bemannte fremde Barken gelandet waren, deren Bemannung von Tschang Tsin und der Besatzung des Forts lebhaft begrüßt wurde.
Die eine der Barken war den Nebenfluß herab, die andere den Amur herunter gekommen. Drei andere Seegel sahen wir noch in der Ferne auf dem Amur stromaufwärts rudern.
Der Warnak preßte meine Hand. »Weißt Du jetzt, was die Absendung ihrer Boten gestern zu bedeuten hatte?«
»Du meinst?«
»Ich meine, Brüderchen, daß sie unsere Kameraden in der zweiten Barke überfallen und abschlachten wollen, wie sie die da unten schändlich ermordet haben. Aber beim Satan, dem ich doch verfallen bin, es soll ihnen nicht gelingen. Auch ein Räuber und Mörder kann für seine Landsleute das Leben lassen, das Einzige, was er noch hat!«
Ich drückte ihm wieder die Hand. Dann beobachteten wir die Annäherung der Dschonken.
Es war offenbar, Tschang Tsin und seine Rotte hatten von dem verrätherischen Dimitri und vielleicht aus den von unsäglichen Schmerzen erzwungenen Geständnissen unserer ermordeten Kameraden Verschiedenes über den zweiten Theil unserer Expedition gehört, und wollten dieser nun eine Falle legen.
Die Zahl unserer erbitterten Feinde mehrte sich nach und nach durch die Ankunft der fremden Dschonken wohl
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auf hundert und fünfzig. Da das Fort zu klein zu ihrer Aufnahme gewesen wäre, schlugen die meisten ihr Lager an derselben Stelle auf, an welcher früher unser Zelt gestanden, aber es geschah der Art, daß man von dem Hauptstrom aus bei einer Vorüberfahrt durchaus nicht die große Zahl der auflauernden Feinde bemerken konnte.
Die Angekommenen schienen über alles Geschehene und namentlich über unsern Widerstand genau verständigt worden zu sein, denn fortwährend wurde unsere kleine Veste von Verwünschungen, Geschrei, Flüchen und Pfeilschüssen begrüßt, die freilich wirkungslos an den Mauern abprallten.
So dauerte es den ganzen Tag fort bis zum Abend. Wir konnten bemerken, daß die Boote sämtlich segelfertig gemacht waren, um sogleich abstoßen zu können, und daß mehrere der Banditen beschäftigt waren, lange Leitern zu fertigen und an einander zu befestigen. Das Letztere konnte offenbar nur den Zweck haben, von Außen auf unsere kleine Veste einen Angriff zu machen und uns durch die Fensteröffnungen zu erschießen oder mit Speerstichen zu tödten. So wurde es Abend und Nacht, und als ob der Himmel selbst uns beistehen wolle, stieg aus dem Boden nach Sonnenuntergang ein dichter Nebel und legte sich über die ganze Gegend und das breite Bett des Stroms, eine beim Mondwechsel hier nicht seltene Erscheinung. Ueber diesen wallenden Nachtnebeln glänzte ein prächtiger klarer Sternenhimmel und wie matte farbige Flammen schimmerten aus diesem wallenden Wolkenmeer die bunten Laternen aus den Gruppen der lagernden Feinde.
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Wir wußten, daß wenn wir den Schutz des Nebels zu unserer Flucht benutzen wollten, dies vor Mitternacht geschehen mußte, denn nach dieser Zeit hob er sich gewöhnlich und verschwand.
Allmälig wurde es stiller im Fort und wir sahen auch das Licht im Pavillon der Frauen erlöschen - nur in dem auf der anderen Seite der Mauer und unseres Thurms, dem gewöhnlichen Aufenthalt Tschang Tsins, brannte noch solches. Wir hatten den Nebel benutzt, um die beiden äußeren Steine der Mauer zu beseitigen und so die Oeffnung genügend erweitert, daß wir hindurch dringen konnten. Mit Herzklopfen erwarteten wir irgend ein Zeichen der Frauen, das uns anzeigen sollte, unser gefährliches Werk zu beginnen.
Aber es wurde später und später und schon waren wir entschlossen, auf jede Gefahr hin den Versuch zu wagen, als wir die Klänge der Balaleika hörten. Sie spielten die kurze Melodie, ohne daß die Stimme der Sängerin sie begleitete, und dann schwiegen sie.
Ich fühlte, dies war das Zeichen.
Basil hatte aus dem Holzblock und dem starken Bambus einen Riegel hergestellt, an den er das eine Ende des Knotenstricks befestigt hatte, und ließ jetzt das andere Ende langsam an der Mauer hinabgleiten.
Plötzlich schien ihm Etwas durch den Sinn zu fahren, und er faßte meinen Arm.
»Tschort was wazni! Brüderchen! Wie - wenn es eine Falle wäre, um uns hinab zu locken und dann über uns herzufallen?«
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Auch mir war der Gedanke schon früher gekommen, aber ich hatte ihn sofort von mir gewiesen. Ich fühlte, daß es an mir war, mein Vertrauen zu bethätigen und die Gefahr zuerst zu bestehen, und so schob ich Basil zur Seite, kroch ohne ein Wort zu entgegnen, rückwärts aus der engen Oeffnung, und begann, mich an dem Strick Knoten für Knoten hinab zu lassen.
Der Nebel war so dicht, daß ich keine Armeslänge um mich sehen konnte.
Es waren furchtbare Minuten - jeden Augenblick glaubte ich, daß der Strick reißen oder das gellende Mordgeheul der chinesischen Banditen mir in die Ohren gellen würde.
Plötzlich fühlte ich Boden unter meinen Füßen, aber zugleich eine Berührung meiner Seite.
Ich fuhr nach dem Griff meines Messers, das ich zwischen die Zähne genommen.
Eine leise Stimme flüsterte mir einige Worte in chinesischer Sprache zu, die ich jedoch nicht verstand. Aber eine Hand zog mich nieder auf den Boden und ich begriff, daß ich nicht aufrecht stehen bleiben sollte.
Sofort gab ich Basil das schon früher verabredete Zeichen durch Schütteln des Strickes. Ich fühlte im nächsten Augenblick, daß auch er sich ihm anvertraut hatte.
Ich wagte nicht, ihn durch ein Wort zu ermuthigen, bis seine Füße die Steinplatten berührten, dann that ich, was Gotami mit mir gethan, denn an der weichen kleinen Hand, die ich gefaßt, fühlte ich, daß diese es war, die uns erwartet hatte.
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»Folgt mir, und thut wie ich!« flüsterte das junge Mädchen.
Diesmal verstand ich wenigstens den Sinn ihrer Worte. Die Platform der Mauer lief um den Thurm von Außen herum und bildete den Verkehrsweg zwischen den beiden Pavillons. Zu unserem Erstaunen nahm das Mädchen, auf den Steinplatten hinkriechend ihren Weg nicht zurück nach ihrem eigenen, sondern nach dem zweiten noch immer erleuchteten Pavillon, wo Tschang Tsin schlief. Ich fühlte jedoch, daß sie so Viel für uns gethan, daß Zögern undankbares Mißtrauen gewesen wäre, und so folgte ich ihr ohne Zaudern. Hinter mir kam der Warnak.
Glücklich erreichten wir den Pavillon. Hier erhob sich die Chinesin und klopfte leise an die Jalousieen.
Sofort wurde die Thür von Innen geöffnet; ein schwerer Vorhang verschloß jedoch noch den Einblick. Gotami kroch unter ihm hin und wir folgten in den hell erleuchteten Raum, während die Thür wieder sorgfältig geschlossen wurde.
Fast zugleich richteten wir uns empor, - aber das Blut erstarrte uns: auf Kissen, das Haupt zurückgelehnt, die Augen weit offen und auf uns gerichtet, saßen Tschang Tsin und zwei andere Chinesen, die mit den fremden Dschonken gekommen waren und, - wie wir bemerkt, - die Anführer der neuen Mannschaften zu sein schienen.
»Tschort w twoju duschu, skotina!10 fluchte der Warnak. Nicht lebendig sollen sie mich fangen!« und
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wollte mit dem Messer auf den Mandarin losspringen, als ein spöttisches Lachen hinter uns mich ihn aufhalten machte.
»Still! - Seht Ihr nicht, daß sie Opiumesser sind?«
Die Worte waren halb in chinesischer, halb in tungusischer Sprache geflüstert. Ich verstand zwar nur das Wort Theriaki (Opiumtrinker), aber es genügte, verbunden mit dem süßlichen Geruch, der in dem Pavillon herrschte und dem Anblick einiger herumliegenden Pfeifen mich sogleich zu vergewissern, daß wir von den drei Trunkenen keine Gefahr zu besorgen hatten, und ich verständigte sogleich Basil davon.
Der Kerl, der sich selber gern in Branntwein den wildesten Rausch trank, spu[c]kte in Verachtung mit einem Schimpfwort aus, als ich ihm das Wort nannte.
Jetzt erst wandte ich mich um.
Gotami, erschreckt von dem Zornausbruch des Warnak, kauerte zitternd am Boden, aber hinter uns stand eine Frau - dieselbe, die wir mit dem Mädchen im andern Pavillon beobachtet, offenbar ihre Mutter.
Sie war von mittelgroßer Gestalt, gerade wie das Kind hier an meiner Seite, und mochte etwa fünf- bis sechsunddreißig Jahre zählen. Tiefe Falten des Hasses und unterdrückter Leidenschaften lagen zwischen ihren Brauen und um den Mund, aber doch war ihr Gesicht immer noch schön und stattlich, wie ich schon früher erwähnt, und nur die Gestalt zeigte jene Neigung zur Fülle, welche die Weiber der Asiaten im Alter gewöhnlich entstellt.
Sie wandte sich sofort zu mir, den ihr scharfer Blick
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alsbald wohl als den Gebildeteren erkannt und redete mich zu meinem Erstaunen in tungusischer Sprache an.
»Ihr seid sicher hier, so lange ich es will! Verstehst Du mich?«
Wenn ich damals auch nur unvollständig die Sprache meines Jagdgenossen reden konnte, verstand ich sie doch gut genug, um ihr mit Ja! antworten zu können.
»Ja, Onimikan!«11
»Wollt Ihr frei sein, Niki's?«12
»Gewiß. Du wirst uns helfen!«
»Unter einer Bedingung!«
»Unter jeder! Sprich!«
»Ihr müßt mich und Uta13 hier mit Euch nehmen zu den Lota's!«14
»Wie - Du - eine - Chinesin?«
»Ich bin keine Tergezin, ich bin eine freie Dutscheri!15 Sprich, willst Du?«
»Gewiß! ich leiste den Adakatschan16 darauf!«
»So laß uns eilen. - Nehmt die Gewänder der Schurken dort und kleidet Euch darein. - Ohne Furcht - sie haben keine Macht, sich zu bewegen!«
Mit raschen Worten hatte ich Basil verständigt. Er ergriff sofort Tschang Tsin beim Kragen, schüttelte ihn wie ein Stück Holz und zog ihm Rock und Hosen aus, die er selbst anlegte. Ich folgte seinem Beispiel mit demjenigen
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der Schläfer, dessen Figur der meinigen am meisten ähnelte. Die ganze Operation machte auf die Trunkenen keinen andern Eindruck, als daß sie ein Paar Mal stöhnten und einzelne Worte in verzücktem Tone murmelten.
Als ich fertig war, bemerkte ich, daß unterdeß die beiden Frauen gleichfalls Männerkleidung übergezogen hatten. Jetzt machte mich Basil darauf aufmerksam, daß uns die Antwort der Frauen auch unsere Flinten versprochen hätte und ich übersetzte dies.
Die Aeltere ließ nochmals einen prüfenden Blick über uns gleiten, diesmal schien sie sich aber für meinen Gefährten zu entscheiden, denn sie winkte diesem.
»Komm!«
Damit schob sie einen seidenen Vorhang an der Wand zurück, der eine kleine Treppe hinunter in das Innere des Gemäuers verbarg.
Eine der Papierlaternen nehmend, stieg sie voran hinab, Basil folgte.
Ich versuchte unterdeß einige Fragen an das junge Mädchen zu richten, aber sie schüttelte statt der Antwort den Kopf, hielt jetzt ihre Aufmerksamkeit mit sichtlicher Theilnahme dem Zustand ihres Vaters zugewendet und bemühte sich, ihn wieder auf die Kissen zu heben und ihm eine bequemere Lage für seinen Zustand zu verschaffen.
[»]Ich muß gestehen, dieser Zug von Herzensgüte in einem Augenblick, wo sie ihn für immer verlassen wollte, rührte mich tief und hat zum Theil auch mein ganzes Schicksal bestimmt.
Jetzt kehrte Basil mit der Frau zurück. Der Warnak
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stieg zuerst empor, er trug unsere vier Flinten, denn die beiden Ruderer waren mit solchen nicht bewaffnet gewesen, unsere Pulverhörner und Kugelbeutel, so wie zwei Paar Pistolen und reichte mir eines derselben und eine Flinte nebst Zubehör, die ich sofort nach seinem Beispiel lud und über den Rücken hing. Ich bemerkte dabei, daß der rohe Mann auffallend bleich war.
Das Weib trat jetzt zu den Trunkenen und eine wahrhaft dämonische Freude spiegelte sich auf ihrem Gesicht, als sie ihren Gatten betrachtete und eine Scheere aus ihren Gewändern hervorzog.
Gotami fiel ihr in die Arme.
»Mutter - tödte ihn nicht, er ist mein Vater!«
Die Frau wandte sich zornig um. »Lüge! Lüge!« sagte sie mit zischendem Ton. »Er ist so wenig Dein Vater, als einer dieser andern räudigen Hunde hier! In Deinen Adern fließt das Blut eines Helden, nicht eines Schweins! Glaubst Du, daß ich die Leiden von mehr als dreißig Sommer- und Winterjahren vergessen, während deren ich seine Sklavin war? daß ich vergessen, wie er mich von meinem Geliebten, Deinem verblutenden Vater, gerissen nach jenem schrecklichen Kampf? Glaubst Du, daß Tungilbi nicht längst den Tod Scheminga's an diesem schändlichen Eunuchen gerächt hätte, wenn nicht die Sorge um Dich meine Hand gehalten?«
Tungilbi - Scheminga? War es wirklich - konnte es sein? - Der Kopf wirbelte mir, - wie ein Blitzstrahl schoß es mir durch das Hirn. Diese Frau, die tungusisch sprach - -
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Ich faßte ihren Arm. »Weib - sprich! Bist Du Tungilbi, die Tochter Tolga-Khans?«
Sie starrte mich an. »Was weißt Du davon, Fremdling? Ich bin - nein ich war Tungilbi, die Tochter Tolga Khans, des Manshu! - Jetzt bin ich die Sklavin eines verächtlichen Tergezin, der nicht einmal ein Mann ist!«
»Und Dein Geliebter, mit dem Du flohst, hieß Scheminga?«
»Scheminga war ein großer Tojon der Dulegat! Er war mein Gatte und der Vater dieses Kindes. Die Krieger meines Stammes haben ihn erschlagen, nachdem seine Streitaxt ihrer zehn getödtet!«
»Scheminga lebt!«
Die Augen der Manshu-Frau sprühten Feuer.
»Lota -17 rede die Wahrheit!«
»Ich will Blut darauf trinken! - Er lebt und hat Dich jahrelang vergebens gesucht!«
Wie eine Tigerin sprang sie zu dem Mandarin und riß ihn an seinem langen Haarzopf empor. »Tschilkur!18 Mögen die Buni19 Dich hundertfach zerreißen für Deine Lügen!« und mit einem raschen Schnitt hatte sie den Schopf dicht an seinem Scheitel abgeschnitten, der größte Schimpf und das größte Unglück, das einem rechtgläubigen Chinesen passiren kann, da er des festen Glaubens ist, daß sein Prophet ihn an diesem Zopf nach dem Tode in den Himmel ziehen wird.
Die betrogene Frau schlug ihn mit dem sorgsam
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gepflegten Heiligthum in's Gesicht und stieß ihn mit dem Fuß. Dann wandte sie sich zu dem zitternden Mädchen.
»Gotami - thu, wie ich Dir befohlen! Führe diesen Mann bis zum Thor mitten durch die schlafenden Feinde, und dort harret auf uns! So wahr Dir Dein Leben lieb ist, hüte das seine!«
»Mutter!«
Tungilbi Khanum streckte die Hand gebietend aus. »Fort!«
Das junge Mädchen faßte meine Hand und machte mir ein Zeichen, mich wieder zur Erde zu bücken, während ihre Mutter vorsichtig die Thür öffnete. »Sie hat den Satan im Leibe!« flüsterte mir der Warnak zu - »Spute Dich. Brüderchen, ich glaube, unsere Kameraden werden gerächt werden!«
Die Hand Gotami's zog mich unter dem Vorhang in's Freie. Wir krochen eine kleine Strecke fort bis zu den Stufen einer offenen Treppe, die unter einem steinernen Bogen hinunter in den Hof führte. Dort richtete sich das Mädchen empor und gab mir ein Zeichen, dasselbe zu thun.
»Still!« flüsterte sie. »Folge mir!«
Wir tappten die Stufen hinab, noch immer lag dicht der Nebel zwischen den Mauern. Mehrfach stießen wir auf den untern Stufen auf dort unter ihren Decken in den Winkeln lagernde Körper, aber wir schoben sie bei Seite oder stiegen über sie hinweg und die gestörten Schläfer begnügten sich, eine Verwünschung zu murmeln und sich auf die andere Seite zu kehren.
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Wir hatten jetzt den Hof erreicht, schritten durch eine enge Thür und gelangten in den zweiten größeren, aus dem, wie ich gesehen, eine Pforte in's Freie und zum Ufer des Flusses führte.
Willenlos mich ihrer Führung überlassend folgte ich dem Mädchen, als plötzlich ein klagendes Wort in russischer Sprache an mein Ohr schlug.
»Wasser!«
Es war kein Ruf - der Ton war so heiser, so wimmernd, wie ich nie etwas Aehnliches gehört, und dennoch glaubte ich diese Stimme zu kennen. Sie schlug so jammernd an mein Ohr, daß ich stehn geblieben wäre, selbst wenn das Wort nicht russisch gesprochen worden.
»Um Gottes Barmherzigkeit willen, - einen Tropfen Wasser!«
Ich trat einen Schritt näher trotz alles Widerstrebens meiner Führerin.
Dicht vor mir im Nebel stand eine unförmliche Gestalt, ein menschlicher Körper - regungslos und doch wimmernd. Ich streckte die Hand aus und berührte eine nackte Schulter - weiter - ein feuchtes spitzes Holz -
»Allmächtiger Gott!!«
In dem Augenblick hob sich an der andern Seite der schrecklichen Gestalt ein Mann empor, schwankend, taumelnd, die Branntweinflasche in der Hand.
»Der Teufel soll meine Mutter reiten!« sagte eine heisere trunkene Stimme auf Russisch - »wenn ich mich nicht gerächt habe, wie Einer! Was sagst Du nun dazu, Porutschik, daß Du mir den Rücken mit dem Kantschuh
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kitzeltest, und sitzt nun davor mit dem Rücken auf dem Pfahl?! Hussah Väterchen, so zahlt Dimitri seine Schulden!«
»Wasser - Barmherzigkeit! Wasser!«
»Unsinn, Väterchen! Euer Wohlgeboren gönnten mir auch den Labetrunk nicht und peitschten mich dafür! Stör' nicht die Leute im Schlaf mit Deinem Gewinsel, Spitzbube von einem Offizier! Morgen wirst Du Gesellschaft haben an dem schuftigen Franzosen, - morgen - - -« Er konnte die Rede nicht vollenden, eine kräftige Faust saß ihm an der Kehle und preßte sie zusammen. Ich glaubte, die Stahlkraft eines Riesen in meiner Hand zu haben.
»Schurke! - Verräther!«
Der Warnak wand sich unter meiner Faust - er schnappte nach Luft!
»Stirb, Hund!«
In den weit geöffneten Mund fuhr ihm mit gewaltigem Stoß mein Messer bis an's Heft! Der zweite Stoß zerschnitt unter meiner Faust seine Gurgel.
Ein Schnappen nach Luft, während der warme Blutstrom meine Hand überfluthete, dann ließ ich los, und stieß den zu meinen Füßen fallenden zuckenden Körper mit dem Fuß von mir.
»Sei verflucht, Schurke, in alle Ewigkeit!«
»Um Himmelswillen, was hast Du gethan, Brüderchen?« flüsterte Basil, der neben mir stand mit der Manshu-Frau.
»Uns gerächt, Basil!«
»Fort! fort!« flüsterte er und versuchte mich weiter zu ziehen.
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Ich hielt ihn zurück. »Weißt Du, wer hier neben mir wimmert?«
»Und möchte es mein Bruder sein, jeder Augenblick ist kostbar!«
»Es ist Beiton, unser Offizier! Die Unmenschen haben ihn gepfählt!«
Der leise gesprochene Name schien das Ohr des Unglücklichen getroffen zu haben. Wieder wimmerte der jammervolle, herzzerreißende Ton: »Wasser! Wasser!«
Der Warnak faßte meinen Arm. »Unsinniger, komm! Jeder Augenblick Zögern droht uns den Tod! Weißt Du nicht, daß ein Trunk ihn sofort tödten würde?«
»Um so mehr ist es unsere Pflicht! ich weiche nicht von dieser Stelle, bis ich die letzte Bitte eines sterbenden Kameraden erfüllt habe!«
»Dann stirb mit ihm!« Er wollte fort, aber Tungilbi hielt ihn zurück. »Was willst Du?« flüsterte sie.
»Wasser für den Sterbenden! ich weiche nicht eher.«
»Warte!«
Sie verschwand im Nebel. Wenige Augenblicke darauf kehrte sie zurück, den Hut, den sie trug, mit Wasser von dem nahen Brunnen gefüllt. »Nimm!«
Ich hielt das improvisirte Gefäß an das Gesicht des Sterbenden. »Trink, Unglücklicher!«
Ich konnte fühlen, wie er das Wasser, das sein ganzes Gesicht überfluthete, mit vollen Zügen einsog. Dann flüsterte die Stimme ein mattes »Dank, Kamerad!« und der Kopf sank auf seine Schulter - er war todt.
Die Wahrheit dessen, was ich schon mehrfach gehört,
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hatte sich bestätigt, daß Diejenigen, welche die furchtbare Marter des Pfählens erlitten, noch tagelang am Marterpfahl leben können, daß aber der Genuß eines Trunkes sie auf der Stelle tödtet. -
Tungilbi und der Warnak zogen mich fort. So erreichten wir die Pforte und traten in's Freie, wo der frische Stromwind sofort meine Wange kühlte.
»Rechts an der Mauer! folgt mir!«
Die Frau eilte voran mit seltsamer Hast, die mir damals auffiel, fast ohne jede Vorsicht. Wir folgten ihr ebenso. Endlich stand sie an der Ecke der Mauer still, dort wo die Mauer des Forts in den gewaltigen Strom sank. -
Der Wind, der von der fernen Meeresküste her über seine Fläche strich, lichtete hier die Nebel. Aus ihren schwankenden Wolken sah ich die Stange eines Mastes hervorragen.
»Es ist die Dschonke, die ich ausgesucht. Sie ist die sicherste!« flüsterte die Khanum. »Jetzt rasch hinein und in's Wasser mit den schlafenden Wächtern!«
Ich fühlte unbewußt, daß jeder Verzug hier Verderben war. Einige Worte verständigten Basil. Dann ließen wir uns von dem hohen Ufer an den Händen hinab in die dicht darunter ankernde Dschonke.
Mein Fuß traf auf einen weichen Körper, der sich bewegte und zu schimpfen begann. Ich hörte vorn einen Körper in's Wasser plumpen, - der Warnak hatte bereits sein Werk gethan. Ohne zu zögern warf ich mich auf den Mann, der sich aufzurichten begann und umklammerte ihn
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mit beiden Händen. Er versuchte zu schreien, aber ich hielt ihm die untere Kinnlade fest und riß sie fast aus ihren Bändern. Dennoch wär' er wahrscheinlich meiner Meister geworden, denn er war ein großer starker Mann, wenn nicht Tungilbi Khanum, die uns sofort gefolgt war, ihr Messer ihm zwei Mal tief in die Seite gestoßen hätte. Die Muskeln seiner Hände ließen nach und nach einigen Augenblicken schleuderte ich ihn in die Fluten des Amur.
Im nächsten war, von mir unterstützt, auch Gotami im Kahn. Ein Messerschnitt trennte das Ankertau und von Basil und der Frau gerudert, schoß der leichte Kahn hinaus in die wallenden Nebel und auf die dunkle Stromfläche.
Wir waren wieder auf dem Amur!
Basil, der Warnak, warf sich mit rasender Kraft auf das Ruder und rief mir zu, auf Tod und Leben zu arbeiten. Selbst die Khanum half. Aber wohin in dem Nebel? nur vorwärts! vorwärts!
Der laute Ruf in russischer Sprache hatte endlich einige der Chinesen geweckt, die in den Dschonken und am Ufer lagen, - sie hatten die Sprache ihrer Feinde erkannt, sie sahen noch die Spitze der Raae im Nebel verschwinden. Lautes Geschrei klang hinter den Flüchtigen her - der mächtige Schall von Schlägen auf das Gongh - -
»Vorwärts! vorwärts!«
Einige Musketenschüsse aufs Geradewohl in den
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Nebel hinein - die Kugeln pfiffen unschädlich an uns vorüber -
Da plötzlich war es, als kochte das Wasser des Amur brausend unter uns empor, als wollte es den schwachen Nachen umstürzen und hinabziehen in seine tiefste Tiefe - die Luft erzitterte, daß der Nebel zerriß, wie von einer riesigen Klinge gespalten - ein furchtbarer gewaltiger erschütternder Knall warf im Luftdruck uns nieder auf den Boden der Dschonke, die sich im Kreise drehte, - eine dunkle Rauchsäule stieg hinter uns empor, - Steine und Balken stürzten aus der Luft neben uns nieder in die aufzischende Fluth - jede Fiber in uns zitterte vor Angst und Bangen!
Nur die Khanum hatte sich rasch empor gerichtet, sie stand wie ein Dämon der Rache in dem wallenden Dampf und Nebel, während sie in die Hände klatschte und ihr Auge in satanischer Freude hinüber funkelte nach dem Ufer, das wir verlassen.
»Bugi empfange ihn und zerreiße seine Seele! - ich bin gerächt!«
Die Khanum und der Warnak, den sie durch Zeichen zur Hilfe verständigt, hatten im Gewölbe unter dem Pavillon, wo der Mandarin die Waffen und das Pulver bewahrte, eine Lunte gelegt - das Fort war in die Luft geflogen!


Der alte Erzähler machte hier eine Pause und trank ein Glas des starken Thee's, während die Blicke aller Hörer mit Theilnahme auf ihm ruhten. Selbst Mutin, der
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Kosack, obschon er die französisch erzählte Geschichte nicht verstand, blinzelte ihm nicht wenig stolz zu, weil er wußte, daß sein längst verstorbener Vater darin mitgespielt.
»Als wir den ersten Schrecken überwunden,« fuhr der Holowa jetzt fort, - »machten wir uns daran, unsere Fahrt fortzusetzen und Basil mußte mir dabei das Nähere der That mittheilen. Im Grunde konnte ich Nichts dagegen sagen, denn er hatte nur den schändlichen Mord unserer braven Kameraden gerächt, und ich selbst hatte ja wenige Augenblicke vorher nicht anders gehandelt. Dennoch begriff ich wohl, daß die Sache großes Aufsehen machen und die Feindseligkeiten des Gränzverkehrs nur noch vermehren mußte; denn die Chinesen würden die Sache gewiß als einen Akt des Angriffs der Russen ausgeben - an Lügen hatte es ihnen ja noch nie gefehlt. Für uns war die Explosion des Forts und der Tod gewiß einer großen Anzahl der versammelten Feinde wahrscheinlich die Rettung, denn ohne diesen Zwischenfall würde man uns sicher alsbald verfolgt und bei dem geringen Vorsprung eingeholt haben.
Dessen waren wir übrigens auch jetzt noch nicht sicher und sollten dies bald erfahren. Der Wind war uns zwar günstig, indem er stromaufwärts vom Meere her wehte, aber der Strom ist so stark, daß wir mit unserem Mattenseegel und dem unbehilflichen Fahrzeug nur langsam vorwärts kamen und tüchtig an den Rudern arbeiten mußten. Von Zeit zu Zeit löste die Khanum einen von uns Beiden ab und selbst Gotami erbot sich dazu, - ich litt es jedoch nicht, daß sie ihre zarten weißen Hände an das Ruder legte.
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Durch die furchtbare Gewalt der Explosion waren die Nebel zerrissen - der Wind trieb sie vor uns her stromaufwärts, und hinter uns lichtete sich immer mehr die Fläche des Stroms.
Plötzlich drang auf den Flügeln dieses Windes ein Laut zu mir.
Es schien ein wilder gellender Ruf aus der Ferne.
Die Khanum hatte sich aufgerichtet im Boot, ihr Arm umfaßte den Mast, ihr anderer streckte sich gegen Osten: »Sie verfolgen uns! sie sind auf unserer Spur!«
Das drohende Wort, - so sehr wir von Anfang an darauf gefaßt sein mußten, machte mich doch erzittern, nicht meinetwegen, sondern wenn ich das Auge auf das junge Mädchen wandte, das sich furchtsam an ihre Mutter schmiegte.
Und diese!? wie hatte sich mein Herz gefreut bei der unerwarteten Entdeckung, als ich an meinen älteren Freund, den Tojon dachte, und wen ich ihm nach so langem Kummer zuführen konnte!!
Mit verdoppelter Kraft warf ich mich in die Ruder. Aber was halfen unsere vier Arme, wo vierzig, fünfzig hinter uns her waren.
Nach zehn Minuten konnten wir im Sternenlicht auf dem jetzt hinter uns klaren Spiegel des Flusses in der Ferne bereits die dunklen Seegel von drei, vier Booten erkennen. Es war kein Zweifel, es mußten Feinde sein, die sich aufgemacht, die Zerstörung des Forts an uns zu rächen und uns zu verfolgen.
Wir hielten jetzt während des Ruderns eine kurze
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Berathung, ob wir versuchen sollten, das linke Ufer des Amur zu erreichen, oder mit allen Kräften streben wollten, in der Richtung stromauf ihnen zu entkommen. Nach dem Ufer zu flüchten, abgesehen davon, daß wir mindestens eine Stunde zu rudern haben würden, also auch dabei leicht eingeholt werden konnten, war gefährlich. Die weite Uferstrecke bis zur Höhe des Gebirges hinauf gehörte damals noch zum chinesischen Gebiet, und in die Gegend des Stroms, zu der wir bereits gelangt waren, drangen damals nur selten kühne Pelzjäger und Handelsleute aus dem Gouvernement Jakutzk und Ochotzk.
Es blieb uns also Nichts übrig, als mit allen Kräften stromauf zu streben und uns zu einem neuen Kampf fertig zu machen.
Es bedurfte bei Tungilbi-Khanum keiner Anweisung, - sie lud die Flinten, als hätte sie zeitlebens nur im Krieg oder auf der Jagd zugebracht, und stellte sie sorgfältig in unseren Handbereich. Dann wieder griff sie zum Ruder und arbeitete mit aller Macht. Aber die Verfolger kamen näher und näher und schon konnten wir deutlich die mit Menschen gefüllten Dschonken sehen. Man hatte auch uns längst erblickt, wie das zu uns herüber dringende Geschrei bewies und das jetzt noch ganz nutzlose Abfeuern ihrer alten Musketen und Trabuko's.
Nach einer weitern halben Stunde waren sie uns so nahe, daß die erste Kugel hinter unserem Kahn in's Wasser schlug.
»Jetzt ist es Zeit, Niki,« sagte die Khanum. »Gieb mir das Ruder und brauche die Flinte!«
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Ich war ein ziemlich guter Schütze. Der erste Schuß, den ich auf unsere Verfolger that, fehlte zwar bei dem Schwanken des Kahns, aber die zweite Kugel schlug in die dichtgedrängte Bemannung der ersten Dschonke und ich sah einen Mann über Bord stürzen.
Diese Lection schüchterte sie einigermaßen ein, sie hielten sich in gehöriger Entfernung und verfolgten uns aus dieser mit Geschrei und Schüssen.
Das Morgenlicht zog bereits hell herauf, als in den immer mehr sich lichtenden und verschwindenden Nebeln etwa hundert Schritt vor uns die dunkle Masse einer anscheinend dicht bewaldeten und bebuschten Insel auftauchte, wie solche unzählige den Lauf des gewaltigen Stroms unterbrechen.
»Es geht nicht mehr,« sagte Basil mit einem Fluch, als ich ihn darauf aufmerksam machte. »Ich habe mir die Arme fast aus den Schultern gerudert, aber so entgehen wir ihnen doch nicht. Laß uns landen und uns im Gebüsch verstecken, vielleicht wagen sie dann nicht, uns anzugreifen, denn es sind feige Hunde, die nur auf ihre Uebermacht zählen. Wenigstens kann ich dann auch noch einen Schlag oder einen Schuß thun, obschon ich noch in meinem Leben keine Flinte abgeschossen habe.«
Der Rath war unter den Umständen so gut, daß wir keinen Augenblick zögerten, ihn zu befolgen. Mit angestrengten Kräften vergrößerten wir unsern Vorsprung, schossen in die nächste Bucht, die sich uns bot, fast an der Spitze der Insel, sprangen an's Land und zogen unsere Dschonke so weit als möglich heran.
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Die Chinesen hatten zweifellos unser Manövre gesehen und hielten jetzt außer Schußweite, um sich zu berathen, während wir uns auf dem hier nur wenig erhöhten Ufer im Gebüsch verbargen und unsere Feinde erwarteten. So kurz auch meine soldatische Laufbahn gewesen war, die Jagdzüge mit meinen wilden Gefährten hatten meinen Blick und meine Erfahrung genügend geschärft und ich erkannte bald, daß der Ort, wo wir uns befanden, sehr ungeeignet zur Vertheidigung war, während, wie das helle Tageslicht uns jetzt zeigte, die Insel sich weiter hin bedeutend verbreiterte und selbst zu bewaldeten Felsenmassen erhob. So beschlossen wir denn, wenn wir unseren Verfolgern erst noch eine Lection gegeben, sie zu täuschen und uns ein besseres Versteck zu suchen. Freilich mußten wir dabei unsern Kahn, unser einziges Rettungsmittel preisgeben, aber die Gefahr drängte und ich vertraute auf Gott, der mich schon aus so großer Noth so wunderbar gerettet hatte.
Die Chinesen schienen jetzt ihren Entschluß gefaßt zu haben. Es waren vier Dschonken, darunter eine größere, und sie mochten zusammen wohl mit vierzig Männern besetzt sein. Sie trennten sich jetzt, und während die größere Dschonke unter fortwährenden Schüssen gegen die Insel auf die Spitze derselben zu ruderte, indem sich die Mannschaft möglichst auf dem Boden des Fahrzeugs hielt, steuerten die drei andern Boote nach beiden Seiten, um an geeigneten Plätzen zu landen und uns dann in den Rücken zu fallen.
Ich zielte bedächtig auf das herankommende Boot und
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als es etwa noch fünfzig Schritt vom Ufer entfernt war, schoß ich einen der Langzöpfe, der sich unvorsichtig zu sehr zeigte, durch den Kopf. Dann reichte ich der Khanum die Flinte, ergriff zwei andere und hieß meine drei Gefährten sofort im Gebüsch fortkriechend unbekümmert um mich ihren Rückzug zu beginnen, indem ich ihnen eine gewaltige, uns sichtbare Eiche als den Ort bezeichnete, wo sie auf mich warten sollten. Trotz der drohenden Gefahr bemerkte ich übrigens mit Vergnügen, daß Gotami sich nur zögernd und ungern von mir zu trennen schien.
Ich wand mich jedoch eilig unter den Büschen nach der einen Seite der Inselspitze fast bis an's Ufer und lauerte die Gelegenheit ab, einer der kleinen Dschonken einen Schuß zu geben, der einem der Männer das Ruder in der Hand zerschmetterte, und sie eilig sich wieder entfernen ließ. Ohne mich jedoch weiter aufzuhalten, lief ich nach der andern Seite und kam gerade noch zurecht, um den dritten und vierten Kahn durch einen Schuß vom Landen abzuhalten. Nachdem ich auf diese Weise die Feinde glauben gemacht, daß wir uns auf drei Seiten vertheidigen konnten, warf ich mich auf den Boden, kroch eine Strecke darauf hin, und erhob mich erst, als ich im Schutz des Buschwerks ungesehen meinen Lauf fortsetzen konnte.
Nach wenigen Minuten hatte ich meine Gefährten erreicht, wir luden eilig die Flinten wieder und machten uns dann auf den Weg in das Innere der Insel, um einen geeigneten Versteck aufzusuchen. Ich hoffte, daß uns dies gelungen sein würde, ehe unsere Feinde landeten.
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Aber wahrscheinlich hatten die Langzöpfe mich bemerkt und ganz richtig mein Manövre durchschaut; - denn wir waren noch keine zweihundert Schritt vorgedrungen, als wir unsere Verfolger bereits auf der Insel hörten.
Aber auch ein passender Zufluchts- und Vertheidigungsort war gefunden. Zwischen den Bäumen hindurch sahen wir eine Felsenwand, in deren Mitte sich ein enger, durch verschiedene Blöcke gesicherter Paß zu öffnen schien. Ich deutete auf den Ort hin und die Flinte in der Hand, eilte ich voran darauf zu.
Plötzlich hörte ich in nächster Nähe den Knall einer Büchse, während zugleich die Kugel mir den spitzen Chinesenhut vom Kopf riß.
Ich fuhr zurück und wollte eben die Flinte an die Wange werfen, um wieder zu feuern, denn hinter einem Felsblock des Zuganges tauchte ein bärtiges Gesicht auf, als der breite Mund sich öffnete und ein russisches Schimpfwort auswarf.
»Sukinsyn! Hundssohn von einem Langzopf! wenn Du es wagst, noch einen Schritt zu thun, soll Dir meine nächste Kugel sicher durch den Schädel fahren!«
Heilige Jungfrau! Es waren Russen, die uns der Himmel in unserer Noth hier entgegengeschickt.
»Freunde! Freunde!« schrie ich. »Um Himmelswillen schießt nicht, wir sind Russen und werden von chinesischen Mördern verfolgt!«
Der Fremde schien noch nicht recht überzeugt, obschon ich in russischer Sprache ihm zugerufen, aber mehrere andere Köpfe tauchten neben ihm auf und zwei oder drei
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erkannte ich, - es waren die sibirischen Pelzjäger, die mit der zweiten Barke uns hatten folgen sollen.
»Hurrah! gerettet! kennt Ihr mich nicht, Kameraden? ich bin Jeanrenaud, der Posieleniec! Die Chinesen haben den Lieutenant und die Andern ermordet und verfolgen uns jetzt!«
»Dann herein mit Euch!« rief der erste Schütze, »und ich hoffe, wir wollen den Langzöpfen einen Denkzettel geben, den sie nicht vergessen werden. Wie viel sind ihrer, Mann?«
Ich hob zuerst, ehe ich antwortete, Gotami über die Felsblöcke hinweg, dann stiegen wir eilig nach und fanden hier in der Oeffnung der Felswandung, die sich tief hinein zog, zehn wohlbewaffnete Männer, aus denen die zweite Expedition hatte bestehen sollen.
»An vierzig werden es sicher sein!«
»Aber es sind Chinesen! deren sind zehn nicht zu viel auf einen tüchtigen Sibiriaken. - Aber zum Teufel - wie ist mir denn - dies Gesicht sollte ich doch kennen?«
Ich sah ihn gleichfalls genauer an, - auch mir schien sein Gesicht bekannt. Es war ein Mann, nur wenige Jahre älter, als ich, braun von Sonne und Luft, eine große Narbe spaltete Wange und Stirn, ein schwarzer krauser Bart bedeckte Mund und Kinn. Er trug einen alten Uniformsmantel und auf der Brust zwei Kriegsdenkmünzen.
Plötzlich durchzuckte mich die Erinnerung wie ein Blitz. -
»Mutin!«
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»Daß mich der Teufel hole - wahrhaftig, es ist der kleine Offizier, den ich in Moskau auf Geheiß der Herrin aus den Flammen holte!«
Es war in der That mein braver und freundlicher Lebensretter, den ich hier nach fünf Jahren auf dem Amur wieder fand. Freilich sollten wir jetzt nicht viel Zeit behalten, uns dieses Wiedersehens zu freuen und weitere Erinnerungen zu tauschen; denn die Khanum, die nach Außen gelauscht, hob die Hand und gab uns ein Zeichen, daß unsere Feinde naheten. Im Augenblick war der Unteroffizier, denn diese Charge bekleidete Mutin, wie ich an den Abzeichen am Kragen sah, wieder ganz auf seinem Posten als Führer der kleinen Expedition. Mit Winken und leisem Wort verständigte er seine Leute und ließ sie alle sich hinter die Felsstücke in Anschlag legen.
Dann beugte er sich flüsternd zu mir. »Wir haben Befehl, Feindseligkeiten zu vermeiden. Aber wenn ich recht verstanden, sagten Sie vorhin, daß diese schuftigen Langzöpfe unseren Offizier und unsere Kameraden ermordet hätten?«
»Auf das Unmenschlichste, nachdem sie uns unter Freundschaftsversicherungen in ihre Gewalt gelockt.«
»Dann glaube ich verantworten zu können, was ich thun will. Ueberdies müssen wir uns der eigenen Haut wehren! Aufgepaßt, Leute!«
An zwei, drei Stellen streckten sich die Kahlköpfe unserer Verfolger aus dem Gebüsch, um zu recognosciren. Da sie Niemand mehr sahen und wir nur durch die Felsenspalte entwischt sein konnten, kamen sie mit großem
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Geschrei bald von allen Seiten unter den Bäumen und zwischen den Büschen hervor, schwangen ihre Waffen, die in alten Musketen, Bogen und Spießen bestanden, und suchten sich gegenseitig durch ihren Lärmen Muth zu machen, um in die Schlucht einzudringen.
Auf einige leise Worte Mutin's sprang ich, die Flinte in der Hand, auf einen Stein und zeigte mich ihnen.
»Zurück Ihr Mörder! Noch einen Schritt weiter und Ihr sollt mit blutigen Köpfen abziehn!«
Das wilde Geschrei: »Tödtet ihn! fangt ihn!« war die einzige Antwort, und auf ihre Zahl pochend stürzten sie Alle zugleich vorwärts, während zwei oder drei Musketen auf mich abgeschossen wurden.
»Feuer!«
Zehn gute Flinten krachten ihnen entgegen und sechs der Angreifer stürzten. Sofort nach der Salve sprangen Mutin und seine wackeren Burschen aus ihren Verstecken und zeigten sich den erschrockenen Blicken des Gesindels.
Die Erscheinung so vieler wohlbewaffneter und entschlossener Feinde, wo sie unserer nur zwei vermuthet hatten, nebst dem Fall ihrer Gefährten, verbreitete augenblicklich einen solchen Schrecken unter der feigen Bande, daß all' ihre Erbitterung über meine früheren glücklichen Schüsse verschwunden war und die ganze Sippschaft unter Zurücklassung ihrer Todten und Verwundeten eilig Kehrt machte und wie toll davon rannte ihren Dschonken zu, wobei die Meisten ihre Waffen fortwarfen, um nur desto ungehinderter flüchten zu können.
Wir sprangen von den Felsblöcken herunter und folgten
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ihnen, mit einigen blinden Schüssen und unserem Hurrah ihre Eile noch vermehrend. Lange, bevor wir am Ende der Insel ankamen, hatten sie sich bereits kopfüber in ihre Dschonken gestürzt und ruderten, was das Zeug hielt, um nur aus unserem Bereich zu entkommen. Ihre Hast war so groß gewesen, daß sie außer der unseren selbst die kleinste ihrer eigenen Dschonken, die etwas weiter herauf am Ufer lag, im Stich gelassen hatten.
Wir zweifelten keinen Augenblick, daß wir wenigstens in den nächsten zehn oder zwölf Stunden vor ihrer Wiederkehr sicher sein würden, bis es ihnen etwa gelungen sein möchte, eine bedeutendere Anzahl zusammen zu bringen und dann vielleicht in Zahl von Hunderten einen Angriff zu versuchen. Aber das brauchten wir natürlich nicht abzuwarten und so kehrten wir denn unbesorgt nach dem Platz des kleinen Gefechts zurück, wo die beiden Frauen und zwei unserer Leute zurückgeblieben waren, um zunächst uns naher zu verständigen und einen kleinen Kriegsrath zu halten über das, was geschehen sollte.
Hier hörte ich denn, wodurch unsere Kameraden so glücklich mit uns zusammen getroffen waren.
Bald nach unserer Abfahrt hatte der Unteranführer der Expedition, der mit der zweiten Barke und den Pelzjägern hatte folgen sollen, durch einen Fall das Bein gebrochen. Es mußte daher ein Ersatzmann geschafft werden und man hatte von Nertschinsk einen Kosacken-Unteroffizier geschickt, der erst seit Kurzem dort stationirt war und sich zu dem gefahrvollen Unternehmen erboten hatte.
Mutin hatte den ganzen Feldzug gegen Frankreich
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mitgemacht und war selbst in Paris gewesen. Nach der Rückkehr war er in Folge einer schweren Wunde dienstuntauglich gefunden und zu dem Gränzcorps in seiner Heimath Sibirien beordert worden. Er erzählte uns von der Fürstin Olga und daß sie längst eine glückliche Gattin und Mutter sei.
Unter der Führung zweier der Pelzjäger, die bereits mit dem Flusse näher vertraut waren, hatte die Barke unseren eigenen Weg verfolgt und auch mehrfach Nachricht von unserem Vorüberkommen eingezogen, im Ganzen aber eine noch feindlichere Stimmung und Abweisung an den Ufern gefunden als wir. Am vorangegangenen Abend hatte der Nebel sie auf dem Strom in der Nähe der Insel überrascht und sie hatten es vorgezogen, an deren westlichem Ende zu landen und die Nacht zuzubringen, statt sich durch eine Weiterfahrt zwischen den Strudeln und Klippen zu gefährden. Der dumpfe Knall der Explosion war bis zu ihnen gedrungen und eine Stunde darauf hatten sie das Wechseln der Schüsse gehört. Obschon sie keine Ahnung hatten, daß wir dabei betheiligt waren, hatte Mutin es doch für gut gefunden, in den auf ihren Lagerplatz sich öffnenden Felsen eine sichere und verborgene Stellung einzunehmen, bis sie erst beim Tageslicht erkunden könnten, ob Feinde in der Nähe.
Wie unsere Verkleidung sie erst getäuscht und mir beinahe eine Kugel zugezogen hätte, habe ich bereits erzählt.
Auch Tungilbi Khanum theilte die Hauptzüge ihrer Geschichte mit.
Tschang Tsin war selbst der Anführer jenes chinesischen
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Streifcorps gewesen, das Zeuge des Kampfes zwischen Scheminga und den Kriegern Tolga Khans war, und zu dem sie sich um Beistand bittend geflüchtet hatte. Unter dem Vorwand, strenge Parteilosigkeit zu üben und sie als Geißel für die Ruhe oder den Gehorsam der beiden Gränzstämme zu behalten, bis der Streit zwischen ihnen entschieden sei, hatte man sie von ihrem auf den Tod verwundeten Gatten getrennt und diesen auf das andere Ufer des kleinen Gränzflusses geschafft. Tschang Tsin hatte sie trotz aller Klagen und alles Widerstandes mit sich in das Innere geschleppt und als der Eunuch bald darauf den Befehl über das kleine Fort erhalten, dort als Sclavin in seinem Harem eingesperrt. Da er ihr die falsche Kunde gebracht, daß Scheminga seinen Wunden erlegen sei, hatte sie sich endlich in ihr Schicksal ergeben, um so mehr, als sie sich Mutter fühlte. Gotami wurde in dem Fort geboren und hielt lange Zeit den Chinesen für ihren wirklichen Vater, der seltsamer Weise eine große Zärtlichkeit für das Kind offenbarte und möglichst jeden seiner Wünsche erfüllte. Sie war das Band, das allein noch ein leidliches Verhältniß zwischen ihrer Mutter und deren Herrn herstellte. Durch die Zeit hatte Tungilbi großen Einfluß im Fort gewonnen und selbst ihr Tyrann fürchtete meist die Schärfe ihrer Nägel und die Geläufigkeit ihrer Zunge. Nach einem solchen Streit hatte die Mutter denn auch der bereits erwachsenen Tochter die Ursachen ihres Hasses gegen den Mandarinen mitgetheilt und die Absicht ihrer Flucht, da der Barbar in letzter Zeit immer tyrannischer geworden und wiederholt schon ihr Leben bedroht
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hatte. Mehrfach waren die Frauen schon Zeuge der nichtswürdigsten Verrätherei und Grausamkeiten gewesen, welche der Mandarin und seine Rotte von Gurgelabschneidern, - unter der wiederholt auch flüchtige Verurtheilte aus dem russischen Gränzgebiet Schutz und Aufnahme gefunden, - aus Habsucht und nationaler Grausamkeit an schutzlosen Tauschhändlern und Jägern verübt hatten. Bis zu unserer Ankunft hatte sie jedoch vergeblich auf eine günstige Gelegenheit zur Flucht geharrt und diese endlich zu finden geglaubt, da sie Zeuge gewesen, wie der Plan zu unserer verrätherischen Gefangennahme entworfen wurde, als man die Annäherung unsers Bootes bemerkt hatte. Die Mittheilungen Dimitri's an einen unter der Mannschaft des Forts befindlichen früheren Strafgenossen hatte Tschang Tsin Kunde gegeben, daß noch eine zweite Barke folgen werde, und um diese nöthigenfalls auf dem offenen Strom zu überfallen, hatte er eiligst Boote an die nächsten Wachtstationen geschickt, die zum Theil selbst unter seinem älteren Befehl standen.
Beide Frauen hatten uns schon am Nachmittag bei unserer Landung gesehen. Es war ein aus dem Russischen stammendes Lieblingslied Scheminga's, das sie ihre Tochter früher gelehrt, und das zu singen sie diese in der Nacht veranlaßte, um uns von der Anwesenheit von Frauen ein Zeichen zu geben und Einen oder den Anderen unter die Jalousieen ihres Pavillons zu locken, wo sie vielleicht mit ihm reden könne. Meine Antwort auf der Flöte hatte einen großen Eindruck auf das junge Mädchen gemacht, und als Tschang Tsin sie in ihrem Spiel störte und es
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verbot, hatte sie nicht nachgelassen mit Bitten, bis er versprach, den Musiker am nächsten Tage ihr zuzuführen.
Die chinesische Feigheit hütete sich vor einem offenen Angriff, die Krankheit unseres treulosen Warnak's war fingirt und der Plan zu dem Ueberfall im Zelt gemacht. Vergeblich hatte Gutami mich durch das Seidenknäuel zu warnen versucht. Als dann das Unglück geschehen und wir in den Thurm geworfen waren, hatte es eine neue stürmische Scene zwischen dem Mandarin und der Khanum gegeben, die auf die flehentlichen Bitten ihrer Tochter wenigstens mein Leben gesichert haben wollte. Das hatte denn schließlich auch der alte Tyrann zugestanden, freilich unter einem Vorbehalt, der mich lieber hätte den Tod als eine solche Existenz wählen lassen.
Als ich daher Gelegenheit fand, dem Mädchen mich vom Thurm aus bemerklich zu machen und die Frauen erfahren hatten, daß wir in unserem eigenen Gefängniß unsern Feinden mit Erfolg Trotz boten, hatte die Khanum sofort beschlossen, uns mit allen Kräften zur Flucht behilflich zu sein, unter der Bedingung, daß wir sie daran Theil nehmen ließen.
Ihr muthiger Geist und scharfer Verstand hatte alle Chancen richtig berechnet. Mit kundigem Blick hatte sie ein passendes Boot ausgesucht und dessen Ankerplatz genau gemerkt. Unter die Speisen und Getränke für die Besatzung des Forts und Alle, die darin Aufnahme gefunden, hatte sie den einschläfernden Saft des Mohns gemischt und am Abend das Opium, das der Mandarin mit den zwei vornehmsten der Anführer in seinem Gemach rauchte, der
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Art verstärkt, daß alle Drei bald in jenen Zustand der wollüstigen Träumerei geriethen, welcher sie auf viele Stunden hinaus für jeden äußeren Eindruck unempfindlich machte.
Sie haben gehört, wie der klugen Berechnung der entschlossenen Frau ihr Plan vollständig gelang. Die Nachricht, daß ihr erster Gatte und Geliebter noch lebte, hatte aber ihre Leidenschaft der Art entfesselt, daß sie eher unser Aller Leben geopfert haben, als von ihrer Rache an ihren Tyrannen abgestanden sein würde.
Wahrscheinlich hatte sich einer der von Basil und mir in's Wasser gestürzten Bootwächter gerettet und schon Lärmen von unserer Flucht gemacht, als das furchtbare Rachewerk der mißhandelten Frau einen großen Theil der versammelten Feinde unter den Trümmern des Forts begrub. Die Erbitterung über diese That und die Hoffnung, uns zu erreichen, hatten die Verfolgung veranlaßt.
Sowohl die Explosion als unser darauf folgendes Gefecht mußten übrigens bald alle chinesischen Posten an beiden Ufern des Amur uns auf den Hals hetzen und es war daher nicht die geringste Aussicht, daß wir unsere Expedition mit einigem Erfolg noch hätten weiter fortsetzen können. Ohnehin hatte der grausame Tod des Lieutenant Beiton uns des Führers beraubt. Nach kurzer Berathung wurde daher beschlossen, alsbald den Rückweg anzutreten, um so wenigstens die bisher gemachten Beobachtungen zur Kenntniß der russischen Behörden zu bringen.
Von den vor der Felsenwand gefallenen Chinesen
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waren zwei auf der Stelle von unseren Kugeln getödtet, die andern mehr oder weniger schwer verwundet.
Wir überließen ihnen unsere Dschonke und nahmen statt deren die von den Geflüchteten zurückgelassene. Zwei der an strenges Rudern gewöhnten Pelzjäger übernahmen ihre Führung, und nach etwa zwei Stunden befanden wir uns sämtlich auf dem Rückweg nach Albasin, wo wir am zehnten Tage ohne weitere Abenteuer ankamen.
Was soll ich Sie weiter langweilen, Messieurs, mit meiner Erzählung! Die Zerstörung des chinesischen Forts, die im ganzen Gränzgebiet viel von sich reden machte, wenn die Kunde auch schwerlich davon in die europäischen Zeitungen, selbst nur bis Petersburg gedrungen ist, war freilich ein schlimmer Act, aber sie war die That der gefangenen Frau, nicht die unsere, und was weiter geschehen, rechtfertigte vollkommen die schändliche Ermordung unsers Offiziers und der beiden Kosacken. Auch war die Ausbeute unserer Expedition keineswegs gering für das Gouvernement, denn sie war weiter vorgedrungen, als irgend eine andere in letzter Zeit, und ich hatte die Gelegenheit wohl benutzt, so daß ich nach meiner Rückkehr die erste vollständige Karte des Amur bis über den Einfluß des Tschikiri hinaus zeichnen konnte. Zum Dank dafür erfolgte meine Freilassung, die freilich nach dem Frieden mit Frankreich schon längst hätte geschehen müssen. Zugleich machte man mir das Anerbieten, meine kleinen Fähigkeiten hier weiter zu verwenden und in Sibirien als freier Ansiedler zu bleiben.
Freilich zog es mich gewaltig nach meiner schönen
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Heimath an den Ufern der sonnigen Loire, aber noch gewaltiger fesselte mich ein anderer Magnet an dies Land. Ueberdies hatte ich mich an das halbe Nomadenleben, an dies Herumschweifen durch die Steppe mit meinen wilden Freunden, den Jägern, gewöhnt. - Genug, ich verschob meine Heimkehr - ich blieb!
Durch einen Boten hatte ich den Tojon benachrichtigen lassen, daß er meiner in seinem Lager harren sollte, ohne ihm jedoch weitere Kunde zu senden.
Es war an einem köstlichen Abend des Irin, des Fruchtmonds, als ich mit den beiden Frauen vor seiner Jurte eintraf und ihm Weib und Kind zurückbrachte, von deren Leben er keine Ahnung gehabt. Wie wenig auch ein Tungusenjäger geeignet ist, den Gefühlen civilisirterer Völker sich hin zu geben, - die Erinnerung seiner Jugend, als sein Herz noch warm geschlagen und ihn zu kühner That angespornt, brach doch gewaltig hervor und er nahm mit Freuden die Wiedergefundene an seine Brust. Vor Allem schien ihn aber der Besitz der Tochter zu erfreuen und er zeigte ihr mehr Zärtlichkeit als allen seinen andern Kindern.
Mir gelobte er bei dem Blut des beim Feuer geschlachteten Hundes, dem höchsten Schwur, den der Tunguse kennt, treue Freundschaft, und er hat sein Wort gehalten bis zu der Stunde, wo er hier neben mir sitzt in seinem hohen, selten von einem seiner Landsleute erreichten Alter.
Seit der Zeit trieb ich mich meistens mit den Jägern
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umher und war gar oft der Gast des Tagaun20 der Dulegat. Gotami's braune Augen strahlten bei meinem Kommen und füllten sich mit Thränen bei meinem Scheiden!
Die Tungusen sind Polygamen, das heißt die Vielweiberei ist bei ihnen wie bei den Moslems gestattet. Scheminga Tojon hatte bereits vier Frauen, aber Tungilbi wußte sich bald die Oberherrschaft zu verschaffen und führte ihr Regiment wahrlich nicht mit leichter Hand, selbst über den Geliebten ihrer Jugend nicht. Gar manches Mal fand ich den wackern Tojon in schwerem Kummer und mühsam unterdrücktem Zorn über den gewaltsamen und herrischen Charakter seiner Khanum und ich will nicht gesagt haben, ob nicht manchmal sein Seitenblick auf mich bedeuten mochte: ich wünschte, Du hättest sie bei den Chinesen gelassen! Nur die Liebe seiner Tochter und ihre wirkliche Schönheit trösteten ihn.
Uebrigens hatte er dies Leid nicht lange zu tragen, denn schon im dritten Jahre starb die Khanum am Gallenfieber, das sie sich in einem heftigen Zank mit den andern Frauen zugezogen hatte. Lange vorher schon, bereits zu Ende des ersten Jahres hatte ich Gotami als Weib heimgeführt. Der erste Priester meines Glaubens, der aus dem Kloster zu Irkutzk kam, um die »Unglücklichen« zu besuchen, taufte sie zur Christin und sprach den Seegen über unseren Bund in derselben Stunde.
Lassen Sie mich noch einige Worte über den Fortgang
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der russischen Unternehmungen am Amur sagen, die für Sibirien, ja für ganz Rußland von der höchsten Bedeutung und ein wichtigerer Kampf gegen die englische Herrschaft in Asien sind, als je der große Kaiser in Europa geführt hat.
Im Jahre 1830 machte der kühne Eismeerfahrer Hedenström auf's Neue auf die Wichtigkeit der freien Schifffahrt auf dem Amur aufmerksam, die amerikanische Pelzhandel-Compagnie unterstützte ihn darin und 1849 sendeten die kaiserliche Akademie in Petersburg und die geographische Gesellschaft Expeditionen aus zur Erforschung Ostsibiriens - aber auch diese kehrten unverrichteter Sache oder gar nicht zurück. Deshalb beschloß im Jahre 1854 der General-Gouverneur von Ost-Sibirien eine Expedition in großem Maßstab zur Erforschung des Amurlandes zu organisiren. Gleichzeitig mit einem von Petersburg über Europa verbreiteten Gerücht, daß der Kaiser Hienfong aus besonderer Hochachtung für den Czaren Nikolaus diesem das Amurgebiet überlassen habe, gingen Kanonen, Munition und alles Kriegsgeräth, was zur militärischen Besitznahme nothwendig war, nach der Manshurei, und Kolonisten folgten. General Murawiew nahm alle Punkte, die ihm für die Vertheidigung der neuen Herrschaft wichtig schienen, in Besitz, befestigte sie, und in weniger als sechs Wochen war das ganze Land zwischen dem Jablorsoi und dem linken Ufer des Amur, ein Gebiet, größer als Frankreich und England zusammen, russisch und selbst das ganze chinesische Heer hätte die neuen Herren nicht mehr aus dem Besitz zu drängen vermocht.
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Aber die acht Banner der Manshuren standen vor fünf Jahren, als dies geschah, 300 Stunden weit von der neuen Gränze, die ganze Manshurei und die große Insel Saghalin am Ausfluß des Amur kam in russischem Besitz und als die englischen Schiffe unter Kommodore Elliot den Chinesen zu Hilfe kamen und während des großen Krieges in der Krimm die russischen Festungen an der Mündung, und das neu gegründete Alexandrowsk an der Castriesbai anzugreifen wagten, erlitten sie aus Unkenntniß der Gewässer eine harte Niederlage. Dem Gesandten aus Peking, der zu dieser Zeit in Nikolajewk am Amur erschien, zeigte General Murawiew als Antwort die russischen Kanonen, und vor einem Jahre wurde das neue General-Gouvernement des ostsibirischen Küstenbezirks durch Ukas des Kaisers gegründet. Die letzten Nachrichten, die ich in diesem abgelegenen Winkel erfuhr, wo ich jetzt seit zweiundzwanzig Jahren lebe, besagen, daß ein neuer Frieden in Peking unterhandelt wird, der sicher nicht zu Rußlands Schaden ausfallen dürfte. Und wenn ich auch von Geburt ein Franzose bin und mit Liebe an den Erinnerungen meiner Jugend hänge, muß ich doch sagen, daß diesem Lande, das mein zweites Vaterland geworden, und das die Flügel seines Doppelaars jetzt von der Ostsee bis zum chinesischen Meer, von dem Nordpol bis fast schon an die Gränzen Indiens ausdehnt, sicher noch eine große Zukunft, vielleicht die Weltherrschaft bevorsteht.«
»Wenn dem Koloß bis dahin nicht die thönernen Füße unter dem Leibe zerbrochen werden,« sagte höhnisch der Verbannte. »Wahrhaftig, es wird Zeit, daß dazu
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gethan wird, damit der Czaar nicht in den Himmel wächst! Die Schlappe von Sebastopol ist allzurasch verwunden!«
Der alte Holowa sah ihn finster an. »Mann, dem Nichts heilig,« sagte er streng, »schmähe wenigstens nicht die Mutter, die Dich geboren. Selbst der arme Jakute dort, der Nichts kennt als Schnee und Eis und von Thran und gedörrten Fischen lebt, liebt das traurige Land, in dem seine Väter begraben liegen. Denke an die Hand Gottes, die alles Böse rächt!«
Der Nihilist lachte. »Du weißt, alter Mann, ich leugne das Böse. Ich glaube an keinen Gott; zeige ihn mir, und wenn er wirklich etwas Anderes, als die chinesischen Götzenbilder oder das Blechbild auf der Brust dort des Tojon, will ich mich vor ihm beugen.«
»Und wer führte mich aus dem Thurm des Chinesenforts -?«
»Basil, der Dieb und Mörder, von dem wir beiläufig noch nicht erfahren haben, ob ihm nicht vielleicht die Regierung den Wladimir fünfter Klasse dafür verliehen, daß er so viele Langzöpfe in den Himmel der Herren Foo, Confucius und Compagnie spediren half.«
Der alte Mann streckte die Hand gegen ihn. »Auch Deine Stunde wird kommen!« sagte er. »Möge in der Wage Deiner Fehler und Sünden alsdann nicht das Unheil noch lasten, das Du hier gestiftet! - Gospodin[']s,« wandte er sich zu den Andern, »möge die Erzählung des Schicksals eines alten Mannes, der bald sein Grab in diesem entlegenen Winkel der Erde finden wird, Euch in glücklichen Ländern daran erinnern, daß die Hand Gottes überall
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ist und sein kostbarstes Geschenk, die Liebe, das Herz der Menschen beglückt in der Eiswüste, wie unter den Palmen!«
Der Professor reichte ihm die Hand. »Ich danke Dir, würdiger hospes,« sagte er, »für Deine Erzählung, die mich sehr unterhalten und mitunter gewaltig in Schrecken gesetzt hat. Deine Nachrichten über den Amur, den ich leider nicht selbst sehen soll, sind mir von großem Interesse gewesen, und ich werde nicht verfehlen, sie in einem Vortrage in der geographischen Gesellschaft zu Berlin oder in Professor Petermann's Monatsheften zu verwerthen. Aber sage mir, wenn es Dir nicht etwa unangenehm ist, welches weitere Schicksal hat Dich von den Ufern der Schilka hierher in den unwirthbaren Norden auf diese einsame Station unter den Jakuten geführt!«
»Mein freier Wille, Herr. Ich brauche mich der Ursach nicht zu schämen. Gotami, mein geliebtes Weib, starb nach zehn Jahren unserer glücklichen Ehe, in deren ersten sie mir eine Tochter geboren, die zum Gedächtniß meiner verstorbenen Mutter im fernen Frankreich Jeanne Alanmur genannt wurde. Sie Alle wissen, daß in Folge der Verschwörung des General Pestel21 gegen die Thronbesteigung des jetzt verstorbenen Czaren viele vornehme und edle Russen nach Sibirien verbannt wurden. Der Zorn des Kaisers war unerbittlich, und noch heute leben, wie ich gehört, Verbannte aus jener Zeit als Posielency in Sibirien. Es war im Jahre 1836, - also zehn Jahre nach dem Urtheil, - als einer dieser Verbannten, für den vergeblich
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seine Familie Gnade ersieht hatte, von Irkutzk nach Nertschinsk versetzt wurde und in meinem Hause Aufnahme fand. Er zählte damals erst dreißig Jahre, denn als blutjunger Offizier hatte er sich vom Fürsten Trubetzkoi zur Theilnahme an jener Verschwörung verführen lassen. Was Wunder, daß - entfernt aus den Kreisen seiner Lieben, - sein Herz ein anderes suchte und aus dem Mitleid, das mein Kind ihm anfangs gezollt, bald Liebe wurde. Mit der Bitte um ihre Hand trat der arme Verbannte vor mich, und ich mochte sie ihm nicht weigern. Es ist nichts Seltenes in diesem Lande, daß die »Unglücklichen«, sei ihr verlorener Rang in der Heimath auch noch so hoch, ihre Familie noch so stolz und vornehm gewesen, eine Tochter des Landes heirathen, um ihr Loos zu erleichtern. Freilich fand die Heirath meines Kindes manche Hindernisse und erregte, als sie dennoch erfolgt war, den Zorn des General-Gouverneurs, der zur Strafe meinen Schwiegersohn auf diese rauhe Station sandte. Da ich Nichts hatte, als meine Tochter, folgte ich ihr und half den Armen hier zwei Kinder begraben, bis sie Beide eine ansteckende Krankheit selbst trotz ihrer Jugend in's Grab legte. Mir blieb Nichts als dieses Kind, ihr letztes, Wéra Tungilbi nach ihrer Aeltermutter genannt und ihr Ebenbild, die Tochter Jeanrenaud's und des Fürsten Peter Wolchonski, des jüngeren Bruders jener vornehmen Dame, die einst in Moskau mich aus den Flammen ihres fürstlichen Palastes retten ließ!«
»Wie, Sir,« frug der junge Lord erstaunt - »Ihre Enkelin ist eine Fürstin Wolchonski?«
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Der alte Holowa wies auf den Neffen Murawiew's, den Verbannten.
»Nummer Zwölfhundertvier wird Ihnen meine Worte bestätigen, Mylord! Uebrigens giebt Tungilbi's Abstammung von väterlicher Seite ihr nicht größere Ehre, als die aus dem Blute Scheminga's, des freien Tungusenfürsten, dessen Vätern dies Land gehörte lange vorher, ehe ein Russe seinen Fuß an die Ufer der Lena setzte.«
Das Auge des jungen Mädchens blitzte hochmüthig und herausfordernd auf den Pair, der mit Erstaunen über die ihm so ungewohnten Verhältnisse auf die schöne Sibirianka niedersah, die ihm jetzt in einem ganz neuen Licht erschien.
»Aber Sir, haben Sie denn nie versucht, der Lady zu dem Recht ihrer Geburt zu verhelfen?«
»Warum? - wer als Verbannter nach Sibirien kommt, verliert Stand und Rang, und seine Kinder sind einfach freigelassen und nicht besser als die jedes andern Kronbauern. Nur der Kaiser vermag den Rang und die Familienehren wieder herzustellen. Als Peter Wolchonski, mein Eidam, gestorben war - das geschah im Jahre vierundvierzig - habe ich allerdings der Fürstin Woronzoff - die sonst Olga Wolchonski hieß - den Tod ihres Bruders angezeigt, aber wir haben seitdem Nichts von der Familie gehört. Warum sollte ich dem Kind trügerische Hoffnungen in den Kopf setzen? Nur ihre Zukunft macht mir Sorge, wenn ich sterbe, und deshalb sandte ich vor Jahresfrist noch einen Brief an die Fürstin, aber wahrscheinlich ist auch sie längst gestorben.«
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Der trotzige Zug in dem schönen Gesicht der Sibirianka zwischen den Brauen und um den aufgeworfenen Mund war noch schärfer geworden. »Ich mag keine Bettlerin sein bei Denen, die nicht besser sind als ich!« sagte sie heftig. »Ich will meine eigene Herrin sein und Nichts von ihnen! Lieber würde ich mit meinen Vettern den Tungusenjägern durch die Steppe streifen, als in den Palästen Petersburgs das Gnadenbrod essen! Aber ich schwöre Dir, die Zeit wird kommen, wo die Stolzesten jenes Hofes sich drängen sollen, von Wéra Tungilbi beachtet zu werden!«
»Thörichtes Kind - Du redest im Traum!«
»Die Zeit ist näher als Du denkst! Und nun gute Nacht, Gospodins, und Du Väterchen schlafe wohl. Wir Alle werden morgen der Stärke bedürfen!«
Sie reichte dem Professor mit einem bedeutungsvollen Blick die Hand. Dann nahm sie den Arm des greisen Tojon und geleitete ihn nach der Kammer, die seine Schlafstelle enthielt.
Sinnend schaute der junge Lord ihr nach.


Am andern Morgen wiederholte sich vor dem Blockhaus des Holowa die Scene der Abreise des alten Priesters an dem verhängnißvollen Tage, welcher die fremden Reisenden nach der Station geführt hatte, nur daß diese selbst jetzt die Abreisenden waren.
Der Professor und sein Begleiter, der Jakute Ajun und der Holowa gingen eifrig ab und zu, die Zurüstungen zur Abfahrt zu prüfen, und alle Bewohner der kleinen
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Kolonie waren auf den Beinen, denn Lord Heresford hatte für die Verurtheilten ein reiches Geldgeschenk bei dem alten Franzosen deponirt. Sechs Schlitten, jeder mit einem Rennthier bespannt und außerdem mehrere Koppeln von Hunden standen bereit und Ajun bildete den Führer der kleinen Karavane, zu deren Dienst noch sieben andere Eingeborne gemiethet waren. Drei der Schlitten enthielten das Gepäck und die Mundvorräthe, - und der Holowa hatte schon mehr als einmal gefragt, wozu denn der sechste Schlitten bestimmt sei, da doch nur zwei Reisende vorhanden waren.
Jetzt endlich traten diese mit ihrem Gastfreund aus dem Blockhaus, begleitet von dem Verbannten und dem jungen Kosacken-Unteroffizier, der den greisen Tojon führte; nur die Tochter des Hauses ließ sich noch immer nicht blicken.
Michael Bakunin trug die Doppelflinte des Lords, die dieser ihm zum Geschenk gemacht. Eine gewisse Spannung machte sich auf seinem kräftigen finstern Gesicht bemerklich und wiederholt blickte er zurück nach dem Eingang des Hauses, als erwarte er ein Ereigniß, das den Andern noch unbekannt war. Auch der Professor schien von einer seltsamen Unruhe und Verlegenheit befangen, machte sich allerlei zu schaffen, um nicht mit dem Holowa zu sprechen, und schien sich keineswegs sehr sicher und behaglich zu fühlen. Nur der Lord bewahrte seine ruhige unbefangene Haltung - was auch geschehen sollte, er wußte sicher von Nichts.
Zwei Schritt von der Vorhalle des Hauses blieb der
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Tojon stehen und wandte seine blöden Augen auf die Schlitten und dann im Kreise umher.
»Wo ist Tungilbi, mein Kind?« sagte er dann laut. »Wo ist das weiße Füllen meiner Heerde? daß der Tojon der Dulegat noch einmal die welke Hand über seinen stolzen Nacken gleiten läßt, bevor seine Augen auf immer scheiden von ihm?!«
Der Holowa wandte sich bestürzt zu ihm. »Was meinst Du, Tojon? Was sollen Deine Worte bedeuten?«
»Sie bedeuten,« sagte eine helle und feste Stimme vom Eingang des Hauses her, »daß die Kinder nicht immer bei ihren Vätern bleiben können, daß sie hinaus müssen in's Leben, um selbst zu erfahren, was keine Lehre giebt! daß auch das Weib dem Mann ihrer Wahl folgen muß, selbst über das Weltmeer!«
»Tungilbi - Du?«
In der Thür unter der Vorhalle stand die schöne Sibirianka, den mit Pelz gefütterten Bashlik um das schöne Haupt, einen weiten Rock von blauem Fuchs um die Gestalt geschlagen. Ihre Miene war kalt und trotzig, gleich als hätte sie sich mit festem Entschluß gewappnet.
»Wéra Tungilbi - Du willst mich verlassen?«
»So steht in Deiner Bibel! ich habe es Dir vorher gesagt, ich gehe nach Paris, nach Deinem Paris, wo allein das Leben schön und werth des Kampfes ist, wie Du selbst mir so oft erzählt. Mein anderer Vater Scheminga ist damit einverstanden, und wenn ich erst eine Fürstin bin, die ich werden will in Wahrheit, nicht durch die Gnade
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meiner Verwandten in Petersburg, lasse ich Dich zu mir kommen!«
»Der junge Falke nimmt seinen Flug, wenn ihm das Nest zu enge und die Schwinge ihm gewachsen ist,« murmelte der greise Tojon, dessen Hand das Mädchen gefaßt hatte, gleich als finde sie Schutz bei ihm für den kecken verwegenen Entschluß. »Auch Tungilbi verließ die Jurte Tonga Khan's, ihres Vaters, und floh mit dem Geliebten. Wenn die Gräser wieder keimen in der Steppe, wird der Tojon der Dulegat aus Boa's22 Garten herabschauen auf sein Kind!«
Der alte Franzose riß verzweifelnd das weiße Haar an seinen Schläfen. Er kannte leider zu gut den unbeugsamen Starrsinn des Mädchens.
»Unglückliches Kind, was willst Du thun! Das verdank' ich den Lehren jenes Teufels dort in Menschengestalt, der kein Gefühl hat für das Herz eines Vaters. Aber ich werde es nicht dulden, nimmermehr! ich bin Dein natürlicher Vormund durch das Gesetz! Dein nächster, Dein einziger Verwandter!«
Die Züge des Mädchens wurden noch härter. »Das Gesetz?« sagte sie trotzig. »Lasse mich in Liebe scheiden, wie ich es so gern möchte, es ist besser für Dich und mich! Das Gesetz giebt Dir kein Recht. Der Posieleniec hat kein Recht über seine frei gebornen Kinder!«
Der alte Mann verhüllte das Gesicht. »Und jenen Mann, jenen Wicht, der meine Gastfreundschaft auf das
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Schändlichste mißbraucht hat, will ein Mädchen wie Du zu ihrem Gatten machen?«
»Er ist mein - Verlobter!« sagte sie mit leisem Hohn. »Er wird mich nach Paris bringen!«
Der würdige Professor war sehr roth und verlegen. Er hatte die Brille abgenommen und putzte eifrig die Gläser. »Würdiger hospes,« sagte er kläglich - »es würde mir sehr leid thun, wenn Du eine üble Meinung von meiner Dankbarkeit gewinnen solltest! Bei den ewigen Wahrheiten der Wissenschaft schwöre ich Dir, daß ich gerade dadurch Dir und ihr meine Dankbarkeit zu beweisen geglaubt habe für die Rettung dieses unbedeutenden, nur für die Forschungen über die Wirbeltheorie contra Vogt und Genossen etwa wichtigen Lebens, indem ich nach hartem Kampf mit mir selbst mich entschlossen habe, aus meinem Junggesellenstande zu treten und sie als meine Frau in jenes civilisirte Leben einzuführen, dem eine Dame von ihrer Schönheit und ihren Fähigkeiten unbedingt gehört. Bedenke überdies, daß der Vorschlag nicht von mir ausgegangen ist und daß ich ohne meine Einwilligung niemals in Besitz jener kostbaren Reliquie der Tertiär-Periode gekommen wäre, die künftig eine Zierde des berliner Museums sein und alle Männer der Wissenschaft höchlichst erfreuen wird. Ich werde dafür sorgen, daß Dein Name als der des ursprünglichen Finders an den Fuß des Gestelles kommt!«
Der Holowa lohnte ihm dies ehrenvolle Versprechen mit einem Blick der bittersten Verachtung.
»Warum, unglückliches Kind,« sagte er die Hände
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faltend, »willst Du nicht wenigstens warten, bis unser weißes Haupt sich zur Ruhe in die Grube legt? Es wird sicher nicht mehr lange dauern und dann bist Du frei! Warum, Kind meines Herzens, willst Du Uns Greise jetzt verlassen?«
Die Worte der Güte und der Anblick der Thränen bewegten sie mehr, als all' sein Zorn vorhin gethan. Sie ließ die Hand des Tojon los, beugte sich über die seine und küßte sie. »Zürne mir nicht, Großvater,« sagte sie leise. »Was ich thue, ist längst bedacht. Eben damit ich nicht schutzlos dastehe und den Launen jener Männer oder gar dem Willen des wüsten Smotrytiel23 verfalle, muß ich gehen, jetzt, wo mich Keiner noch halten darf, da Du lebst.«
Er sah sie bekümmert an, obschon er die Wahrheit ihrer Worte fühlte. Wenn er plötzlich starb, ehe sie versorgt war, blieb sie schutzlos jeder Nachstellung preisgegeben.
»Aber - so bald - so plötzlich! ohne jede Vorbereitung! Liebst Du denn jenen Mann, der kaum ein Mann zu nennen ist?«
Sie lächelte verächtlich.
»Er wird mein Sklave sein, so lange ich will. Fürchte Nichts für mich, ich weiß jetzt, daß ich reich bin, reicher wahrscheinlich, als ich selbst ahne. Das rasche Scheiden mußte sein, oder ich wäre nie dazu gekommen, und die Gelegenheit kehrt vielleicht in Jahren nicht wieder. Und
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nun leb' wohl Großvater, und mach' uns Beide nicht weich. Wenn ich mein Ziel erreicht, folgst Du mir nach Deiner Heimath!«
Der alte Mann legte die Hand auf ihr Haupt und richtete seine Augen gen Himmel.
»So sei es denn - zieh in Frieden und sei glücklich nach Deiner Wahl. Aber unser Wiedersehen ist hienieden nicht mehr. Meine Heimath ist der Boden, wo mein Weib und mein Kind, Deine Mutter ruhen, und neben ihr - verlassen von Allem, was ich liebte - möge ich bald in eisiger Erde die ewige Ruhe finden! Noch einen Augenblick harre, damit ich Dir die letzte Gabe reiche auf dieser Welt!«
Das Haupt gesenkt, ging er zurück in die Hütte, während die Sibirianka sich an den Hals des greisen Tojon warf.
»Leb' wohl, Oemikan und gedenke Deines Kindes!«
»Ich werde neue blanke Steine für Dich suchen in den Bergen von Nertschinsk, da Deine Augen sie lieben,« murmelte der Greis kindisch. »Und der Geist der Schamanen sagt mir, Du wirst eine große Khanum sein und Tausende werden zu Deinen Füßen liegen!«
»So sei es!«
Mit stolz erhobenem Kopf, als trage sie bereits ein Diadem, winkte sie dem Professor und ging zu ihrem Schlitten.
Noch einmal wurde sie aufgehalten auf dem kurzen Wege. Mutin, der Kosacken-Unteroffizier, warf sich vor ihr nieder und faßte den Saum ihres Pelzrocks.
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»O Gospodina, Mütterchen, geh' nicht fort von hier! Wenn Du auch eine Dame bist und ich nur ein Kosack! Niemand kann Dich lieben, wie Mutin, der sein Leben läßt für Dich!«
Sie beugte sich nieder zu ihm. »Es muß sein, armer Bursche! - Aber was hindert Dich, mir zu folgen? Es könnte leicht geschehen, daß ich der ergebenen Herzen bedürfte!«
Als sie sich aufrichtete, begegnete sie dem spöttischen Blick des Nihilisten, der die Arme gekreuzt, wortlos der ganzen Scene zugeschaut.
»Michael Iwanowitsch, Dir sage ich nicht Lebewohl!«
»Es wäre auch unnütz, schöne Dame. Abenteurer treffen einander immer wieder! Ich weiß, Du wirst meinen Lehren Ehre machen!«
»Möchtest Du's an Dir selbst erproben! - Nun, mein Freund!« Die letzten Worte galten dem Professor, der sie mit sehr ungelenker Galanterie in den niedern Schlitten hob.
In dem Augenblick eilte der alte Holowa aus dem Hause, das fortan öde und einsam sein sollte für ihn. »Noch nicht, Kind! noch nicht - einen Augenblick noch, daß ich zum letzten Mal Dein Antlitz sehe!« Er klammerte sich mit beiden Händen an den Schlitten, als wolle er ihn mit Gewalt festhalten. »Nimm diesen Ring - es ist das Einzige, was ich aus Frankreich gerettet. Meine Mutter trug ihn - ein Erbe ihrer Familie! Und hier - hier - ich brauche Nichts mehr von Allem, was ich für Dich gespart!«
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Er warf ihr zwei schwere Beutel in den Schoos.
»Ajun!«
Der Jakute setzte sich auf das schmale Brett im Vordertheil des niedern Schlittens und nahm die Leine des Rennthiers in die Hand.
Die Sibirianka zog den Bashlik über ihr tief geröthetes Gesicht!
»Paszol!«
Dahin trabte das Thier mit dem leichten Gefahr - der Schlitten des kleinen Gelehrten folgte eilig.
Der Holowa lag auf seinen Knieen im Schnee - seine thränenvollen alten Augen sahen nicht einmal, daß die Beutel mit seinem Gold wieder vor ihm lagen.
Eine Hand legte sich freundlich auf seine Schulter. »Armer Mann!« sagte die ernste Stimme des jungen Briten - »ich begreife Ihren Schmerz! Wenn es Ihnen einigen Trost gewähren kann, so nehmen Sie das Wort Frederik Walpoles, daß er die Lady schützen wird, wie ein Bruder die Schwester!«
Ein dreifaches Hurrah der Warnak's und Ansiedler - die nur zur Hälfte begriffen, was hier geschehen - folgte den dahin sausenden Schlitten!


Es war drei Tage später. Die beiden Greise hielten sich abgeschlossen in der Wohnung des Holowa - eine trübe Stimmung schien sich der ganzen Station bemächtigt
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zu haben, denn Jedem fehlte das junge Mädchen, wie hochfahrend und eigenwillig auch ihr Wesen gewesen war.
Das kurze Tageslicht war längst verschwunden, aber dennoch der kleinste Gegenstand auf weite Entfernung zu sehen, denn am nördlichen Himmel weit hinauf bis zum Zenith flammten und glühten die geheimnißvollen Strahlen eines prächtigen Nordlichts, jenes wahren Tages der arktischen Winter.
Ueber die im gelbrothen Licht schimmernde Schneefläche glitten raschen Laufs zwei Männer auf ihren Eisschuhen.
Es waren der Verbannte und der Kosack.
Nach einigen Minuten blieb der Zweite stehn, um von dem raschen Lauf, auf den langen Stock gelehnt, mit dem man ihn regelt und unterstützt, auszuruhen. Obschon ein Eingeborner Sibiriens, vermochte er doch nicht, der Riesenkraft des Verbannten es gleich zu thun.
Der große Revolutionair hielt gleichfalls inne, als er das Stehenbleiben seines Gefährten bemerkte, und unterdrückte ein Lächeln.
»Wenn Du ausgeruht bist, Freund Mutin,« sagte er, »wollen wir weiter. Nach der Beschreibung des Jakuten können wir keine drei Werst mehr von der Stelle sein, wo der Schlitten im Eise steckt!«
»Aber ist es denn auch gewiß?«
»Davon wollen wir uns eben überzeugen. Deshalb schlug ich Dir vor, Niemand, selbst dem Holowa nicht, Etwas davon zu sagen, und schickte den Jakutenjäger, der
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die Botschaft brachte, mit einem Geschenk alsbald wieder seinem Stamme nach.«
»Ich begreife dennoch Dein Thun nicht, Väterchen! Unsere Pflicht wäre es gewesen, einige der Warnak's und ein Gespann Hunde mitzunehmen.«
»Pah! - das wird sich finden! Jetzt vorwärts, Mann, und zeige, daß der Liebesjammer nicht die Sehnen Deiner Knie gelähmt hat!«
Und wieder begannen sie ihren raschen Lauf in westlicher Richtung, bis sie an dem Rande eines kleinen, jetzt aber unter Schnee und Eis erstarrten Flüßchens Halt machten, dessen Lauf sonst nach Nordwesten zur Lena sich richtete.
Hier blieb der Verbannte stehen, um sich zu orientiren.
»Hier in der Nähe muß es sein, wenn das Vieh nicht gelogen hat! - Dort ist der Hügel - und hier die Zwergbirke!«
Sie gingen suchend eine kurze Strecke an dem Flußbett entlang. Plötzlich that der Verbannte einen Sprung und eilte dann rasch vorwärts.
»Mutin! hierher!«
Aus dem Schneelager im Grunde ragte der todte gefrorne Körper eines Hundes hervor - dann drei, vier andere dunkle Punkte - ein Menschenarm in Pelz gehüllt - eine Uniformsmütze lag auf dem Schnee!
Rasch waren sie hinunter und schaufelten mit den Kolben ihrer Gewehre und den Händen die Schneedecke zur Seite, aus der nach und nach die Körper von noch
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fünf andern Hunden - ein umgestürzter Schlitten - zwei Leichen zum Vorschein kamen.
Auf die eine - die eines Mannes von etwa vierzig Jahren in Uniformsrock unter dem schweren Pelz - schoß der Verurtheilte wie ein Habicht auf seine Beute und riß die schwere Ledertasche, die der Todte um den Hals gehangen und um den Leib geschnallt trug, los.
»Victoria! es ist der Kurier!«
Der Kosack sah ihn erstaunt an, noch begriff er nicht. »Der unglückliche Mann!« sagte er mitleidig. »Nun erklärt sich das Ausbleiben der Winterpost! - Sie müssen bei der letzten Purgy24 in die Schlucht und elend umgekommen sein. Die Heiligen mögen sich ihrer Seelen erbarmen!«
Er schlug andächtig drei Kreuze, unterbrach sich aber, um erschrocken den Arm seines Gefährten zu fassen. »Bei der heiligen Mutter von Kasan - was thust Du da, Väterchen? es ist die Post des Kaisers und wir werden in schwere Strafe kommen!«
»Skotina! Dummkopf! wenn sie uns fangen, - aber dafür laß mich sorgen!« Er hatte die Tasche geöffnet und wühlte in den Papieren. »Hier ist der Paß - Kapitain Nikolai Moganoff - was Teufel, ein Flügel-Adjutant? - und hier Rufin Kouleff, Kosack der fünften Sotnie; ich sehe den Kerl nicht, denn das Aas hier gehört dem Jamszyck25. Mir gleichviel - er kann irgendwo unterwegs zurückgeblieben sein und uns paßt es in den Kram.
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Depeschen nach Ochotzk und Udskoi, es kann nicht besser kommen! Hussah, Mutin - in acht Monaten sind wir in London oder Paris?«
»Paris?«
»Durak!26 begreifst Du nicht? Die Stadt, wo Du schon einmal warst und Deine geliebte Herrin hingeht.«
»Wéra Tungilbi?«
»Tschort was waznie! freilich Wéra Tungilbi, die mich den Teufel scheert, aber Dich um so mehr!« Er wühlte weiter in den Briefen. »Zum Henker - an Monsieur Jeanrenaud, Maire - ein fürstliches Siegel - das der Wolchonski!« Er brach den Brief ohne Weiteres auf und begann ihn eifrig zu lesen. »Diable!« murmelte er - »wenn das die Dirne gewußt hätte! es ist ein wichtiges Dokument, sie in Händen zu behalten!«
»Aber Gospodin ...«
»Narr! begreifst Du denn noch nicht, daß wir die Entdeckung dieser Cadavres uns zu Nutze machen müssen, um Sibirien verlassen zu können - Du um Deiner Liebschaft nachzulaufen, ohne die Du doch nicht leben kannst, denn Du bist in den drei Tagen, die sie fort ist, so erbärmlich herunter gekommen, daß ein Jakutenköter, der seit einem Monat nur Schnee gefressen, ein Mastthier ist gegen Dich! - ich - nun, weil ich nicht länger Lust habe, hier für Seine Majestät Zobel zu fangen und es Zeit wird, daß ich wieder meinen Platz in der europäischen Bewegung einnehme. - Steh' nicht da Mann, und gaffe
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mich an, wie ein dummes Hermelin das Feuer! Sprich, willst Du Deine Herrin wiedersehen oder nicht? - ich hörte ihre Worte!«
»Bei meinem Schutzpatron, ich möchte wohl - besonders ...«
»Nun?«
»Besonders wenn sie unter den Franzmännern und den andern Ketzern in Gefahr sein sollte. - Aber der Czar - und da sie heirathen wird - -[«]
»Wéra Tungilbi denkt so wenig daran, den alten Knochensucher zu heirathen, wie ich, Kaiser von China zu werden, und was den Czar betrifft, so hat er der Kosacken zur Genüge, das Mädchen aber in dem fremden Lande keinen einzigen ergebenen Freund. - Jedenfalls, Freund Mutin, bin ich entschlossen, die günstige Gelegenheit zu benutzen, und nicht Willens, einen Verräther hier zurückzulassen. Entschließe Dich also kurz und gut, ob wir gemeinsame Sache machen wollen oder nicht?«
Er spielte bedeutsam mit dem Schloß seiner Flinte bei den Worten.
»Und Du schwörst mir, Gospodin, daß ich nach der großen Stadt Paris kommen und die Herrin wiedersehen soll?«
»Wir wollen eher dort sein, als sie, wenn Du verständig bist. Also - einverstanden?«
»Ich schwöre es!« stöhnte der Kosack.
»Gut! - Jedenfalls, Freund Mutin, war es das Klügste, was Du thun konntest, denn eine Kugel war Dir außerdem sicher genug. Jetzt laß uns den todten Burschen
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da entkleiden und, die Beiden dann im Schnee so tief verscharren, daß kein streifender Jakute sie vor dem Frühjahr wieder zu Gesicht bekommt. - Hast Du Gelegenheit von einer der Horden, die in der Nachbarschaft der Station ihre Winterjurten bezogen, einen Zug tüchtiger Hunde einzuhandeln?«
»Das wird ein leichtes Ding sein.«
»Gut! so thue es noch heute, und bringe sie morgen Mittag hierher. Hier ist Geld! Sorge auch für eine tüchtige Ration getrockneter Fische für die Hunde und von Brod für uns, denn wir müssen mindestens fünf Deischtsa's27 zurücklegen und die Stationshäuser umgehen, ehe wir von diesem Paß Gebrauch machen können.«
»So folgen wir ihnen nach Ochotzk?«
»Nein - wir gehen nach Udskoi oder noch weiter südlich und der Kompaß muß zunächst unser Führer sein. An der Küste werden wir leicht ein Schiff finden zur Ueberfahrt nach Japan, vielleicht selbst ein englisches oder französisches Fahrzeug von den Flotten, die im Krieg liegen mit den Langzöpfen. Wenn das Glück gut ist, kannst Du Deine Ostern im Notre-Dame von Paris halten und Deinem Hanswurst von Schutzheiligen ein Licht in der Gesandtschaftskapelle widmen dafür, daß ich Dich nicht in Sibirien erfrieren ließ!«
Der Kosack schlug ein Kreuz bei der frevelnden Rede.


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Im Februar 1861 erreichte der russische Flüchtling, nachdem er mit seinem Gefährten allen Gefahren glücklich entgangen war und die russischen Behörden getäuscht hatte, am Bord eines amerikanischen Schiffes San Francisko!

Castelfidardo!

(Fortsetzung.)
Der tolle Irländer hatte auf seiner Flucht vor einem schönen Mädchen mit 20000 £ am nördlichen Ausgange der Stadt den Renner angehalten, dessen Muskeln er bereits so schwer erprobt, und erwartete seinen Wegweiser, der endlich im gemüthlichen Trabe seines Maulthiers ankam.
»Bei San Patrik, Signor Tonelletto, Sie nehmen sich Zeit!« meinte der Irländer.
»Eile mit Weile, Signor Uffiziale!28 Diejenigen, die im Galop beginnen, kommen nicht immer im Trabe an, obschon ich damit nicht sagen will, daß ich Euer Excellenz den Sprung über den Wagen hinweg auf Kosten meines Genicks nachmachen möchte. Sie reiten da ein Pferd, das Sie durch die ganze sardinische Armee hindurchtragen mag, ohne daß einer der Schufte auch nur den Schweif fassen kann.«
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Wie jeder Reiter fühlte sich auch der neue Lieutenant geschmeichelt bei dem Lob seines Pferdes und gewann dadurch größeres Vertrauen zu seinem Begleiter als bisher.
»Ich habe in Galway wohl noch andere Stücke gemacht, Signor Brigante, als den kleinen Sprung von vorhin, aber man muß erst sein Thier kennen. Und nun, Amice, laßt uns mit einander verständigen, ehe wir weiter reiten; denn ich weiß gern, woran ich bin mit den Leuten.«
»Per Baccho, - das ist auch meine Meinung!«
»Nun denn - Ihr wißt, wohin meine Bestimmung lautet?«
»Ich habe den Auftrag, Euer Excellenz sicher und noch diese Nacht nach Ancona zu bringen, - das heißt, wenn es Gott und die Heiligen gestatten.«
»Ich glaube nicht, daß sie viel dawider haben werden! - Kennt Ihr den Inhalt meines Auftrags, Signor Tonelletto?«
»Nein, Signore, indeß ich denke mir, daß er für den morgenden Tag von Wichtigkeit sein muß, sonst würde man Euer Excellenz und mich nicht gewählt haben, unsere Haut zu Markte zu tragen.«
»Das muß jeder Soldat. Ich muß Euch sagen, daß ich mit der Gegend gar nicht bekannt bin und höchstens weiß, daß Ancona nach Norden und an der Küste liegt, und daß zwischen uns und der Festung Herr Cialdini mit seiner Armee steht. Welchen Weg werden wir nehmen?«
»An der Küste entlang bis Umala.«
»Denkt Ihr, daß wir dabei auf die Posten der Piemontesen stoßen?«
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»Die Bursche verdienten, bei den Beinen aufgehängt zu werden, wenn sie ihre Schildwachen nicht bis an das Meer ausgedehnt hätten; indeß hoffe ich, daß ihrer dort nur wenige sein werden, da der Weg für eine Armee allzuschwer zu passiren ist.«
»Gut! so laßt uns vorwärts reiten.«
Der Brigantenchef legte jedoch die Hand auf den Zügel seines Pferdes.
»Noch einen Augenblick, Excellenza! Sie haben Ihre Fragen gethan, jetzt möchte ich einige an Sie richten; denn Sie wollen bedenken, daß wenn ich auch nur ein armer Bandit bin und Sie ein Offizier und Nobile sind, mein Leben mir doch gerade so viel gilt, als Ihnen das Ihre!«
Der Irländer lachte. »Meister Tonelletto,« sagte er, »bei dieser Annahme würden Sie sich schlecht stehen. Wir Galwaier sind gewöhnt, unsern Hals für einen Fuchsbalg oder eine bloße Laune jede Stunde auf's Spiel zu sehen.«
»Das mag sein, die Kugel des dümmsten Sbirren Seiner Heiligkeit kann auch den besten Capitano tödten! Was ich zunächst fragen wollte, ist: vertrauen mir Euer Excellenz?«
»Ich sehe nicht ein, was ich Anderes thun könnte? Es scheinen dies klügere Leute als ich gethan zu haben, und man hat mir keine Wahl gelassen.«
»Das meine ich nicht. Ich frage, ob Euer Excellenza nicht dienstlich, sondern persönlich volles und festes Vertrauen zu mir haben wollen?«
Der junge Offizier bedachte sich einige Augenblicke, ehe er antwortete. »Signor Tonelletto,« sagte er endlich, -
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»Sie werden begreifen, daß ich mich eigentlich da in einer etwas kitzlichen Lage befinde. Ich sehe Sie zum ersten Mal in meinem Leben und der Ruf, in welchem die Herrn Briganti bei uns stehen, ist eben nicht der beste.«
»Euer Excellenza irren; wir sehen uns nicht zum ersten Mal!«
»Bei Sankt Patrik, das ich nicht wüßte!«
»Wir haben uns vor vier Wochen in Rom gesehen!«
»In Rom? ich war nur fünf Tage dort!«
»Lange genug, um sich in einen schlimmen Handel zu verstricken. Erinnern Euer Excellenz sich des Abends in einer Osteria des Monte Capitolino?«
Der Irländer fuhr betroffen zurück. »Was wißt Ihr davon!«
»O Signore - Nichts, oder vielleicht Alles! Ein Fremder war in eine Gesellschaft französischer Soldaten gerathen und beschuldigte einen des falschen Spiels. Bei der entstandenen Schlägerei hatte er das Unglück, seinem Gegner den eignen Säbel in den Leib zu stoßen, aber so viel Verstand, aus dem Fenster zu springen, denn General Goyon versteht wenig Spaß in dergleichen Dingen und hätte ihn, ob Nothwehr oder nicht, einfach füsiliren lassen. Der arme Bursche kannte die Straßen nicht und hätte leicht den Verfolgern in die Hände fallen können, wenn nicht ein Mönch vom Orden des heiligen Franziskus, der den Vorgang mit angesehen, ihm nachgegangen wäre und ihn zurecht gewiesen hätte.«
»All right! so wahr ich auf den Namen Terenz getauft bin! Und der Bettelpfaffe war ein so wackerer Bursche,
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daß er mir rieth, sofort den andern Morgen zu Monsignore de Merode zu gehen, der allein mich schützen könne.«
»Wie ich sehe, haben Sie auch meinen Rath befolgt, Signore Luogotenente!«
»Den Teufel auch, Mary ließ mir keine Ruh, bis ich es that, obschon ich mich den Henker um General Goyon und seine Froschfresser gekümmert hätte. Merode schickte mich zu General Schmidt und dieser alsbald nach Perugia, wo sie auch was Besseres hätten thun können, als mit diesen Spitzbuben von Piemontesen zu capituliren. Aber Akuschla, mein Liebling, was redet Ihr da für Zeug, daß Ihr mir den Rath gegeben hättet?«
»Eine Mönchskutte, Signor, ist, wie ich sehe, noch immer eine gute Maske.«
»So wäret Ihr selbst der Pfaffe?«
»Si Signore - wenn Sie Nichts dawider haben! Unsereins muß manchmal zu einem kleinen Hilfsmittel greifen, wenn man seinen Geschäften nachgehen will.«
»Dann Signor Brigante hat einmal ein ehrlicher Mann in einer Kutte gesteckt, und ich schulde Euch Dank.«
»Trauen Euer Excellenza mir also jetzt?«
»So wahr ich die Smaragdinsel meine Mutter nenne!«
»Ich meine nicht das gewöhnliche Maaß von Vertrauen, wofür wohl meine Wahl als Führer bürgt, sondern auch für den Fall, daß uns Schwierigkeiten aufstoßen und es den Anschein haben sollte, als bräche ich mein Versprechen?«
»Ich will Euch ganz vertrauen!«
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»Erinnern Sie sich daran, Signor Luogotenente. Und nun, - Sie tragen eine Depesche?«
»Es gehört nicht viel Witz dazu, das zu errathen.«
»Die Pimontesen werden es natürlich ebenso gut thun, wenn das Unglück will, daß wir in ihre Hände fallen. Man würde Sie natürlich durchsuchen. Haben Sie für diesen Fall an einen guten Versteck gedacht?«
»Ich habe sie hier in meiner Brusttasche.«
Der Brigante lachte. »Das ist natürlich der letzte Ort, wo man sie sucht. Nun Signore, wir müssen einen geschickteren ausfindig machen. Ist das Schreiben groß?«
»Kaum wie eine halbe Hand. Man scheint darauf Bedacht genommen zu haben.«
»Desto besser. Zunächst nehmen Eure Excellenz dies Säckchen von Aalhaut und wickeln es da hinein, schon dafür, wenn wir einen Ritt durch Wasser machen müßten. Was meinen Sie ferner dazu, wenn Sie das Papier in den Schweif Ihres Pferdes bänden?«
»Um es zu verlieren?«
»Ich stehe dafür, daß ich es der Art befestigen will, daß kein Auge es sehen kann und Sie es sicher morgen früh an derselben Stelle finden.«
Der Irländer hatte Verstand genug, den Vortheil dieses Rathes einzusehen, er hielt sein Pferd an, mit dem er während des Gesprächs neben seinem Gefährten Schritt gehalten, holte den Brief heraus und gab ihn dem Abgestiegenen, indem er sich im Sattel zurückbog. Der Bandit knüpfte mit großer Geschicklichkeit das zu einer kleinsten Form zusammengebogene Papier in den dichten Schweif
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des Pferdes, wo es wirklich ein ganz vortreffliches Versteck fand und durch die Dunkelheit der Hülle nicht leicht bemerkt werden konnte.
»Euer Excellenza sind ein vorsichtiger Soldat selbst gegen Freunde,« sagte er lächelnd, als er wieder aufstieg, »können aber jetzt unbesorgt den Griff Ihrer Pistole wieder loslassen. Wenn Sie mir künftig einmal die Ehre erweisen, mich einmal in den Sabiner Bergen zu besuchen, werde ich Ihnen zeigen, daß ich ohne Sorge unter Ihrem Schutz schlafe, selbst wenn die Gensdarmen meines Vetters Antonelli mir auf der Ferse wären. Und nun, Signor Luogotenente lassen Sie uns etwas vorwärts traben, so lange wir noch innerhalb unserer Posten sind.«
Der Vorschlag war der Ungeduld des Irländers nur erwünscht, und Beide ritten jetzt auf Feldwegen entlang der Höhe nach der Straße, die parallel dem Musone zur Küste führt, mehrmals aufgehalten von den hier postirten Schildwachen, denen sie Losung und Feldruf gaben.
Wir müssen hier der nachfolgenden Ereignisse wegen eine kurze Schilderung des Terrains einschalten, auf dem sich später die Schlacht bewegte.
Die Stadt Loretto liegt auf einem Hügel, etwa 1\frac12 Meile vom Meer, in das sich ein nördlich des Hügels vorüberströmender kleiner Fluß, der Musone, ergießt. Das Thal desselben hat eine wechselnde Breite von 5 bis 6000 Schritt und ist mit Bäumen bepflanzt und von Gräben durchzogen.
Eine Miglie unterhalb Loretto fällt links in den Musone ein ziemlich bedeutender Nebenfluß, der Aspio,
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und in den Winkel, welche diese beiden Flüsse vor ihrer Vereinigung bilden, erstreckt sich von dem etwa 2 Meilen entfernten Osimo her die bewaldete Hügelgruppe, auf welcher die aus zerstreuten Gehöften bestehenden kleinen Ortschaften Castelfidardo und Crocette, und weiter hinauf an der über die Hügel laufenden Chaussee von Loretto nach Camerano und Ancona die Ortschaft Rochetto liegen.
Oestlich vom Aspio und auf seinem linken Ufer erhebt sich gleichfalls eine Hügelgruppe, die um den Monte di Ancona gelagert ist und zwischen dem Fluß und dem Meere liegt. Das Thal des Aspio ist nicht so breit, als das des Musone, hat aber im Vereine mit diesem eine ziemlich bedeutende Ausdehnung, welche ein fast freies Terrain darbietet.
Außer der bereits erwähnten Straße, die auf einer hölzernen Brücke über den Musone, und bald darauf auf einer zweiten über einen heftig strömenden Nebenfluß, den Vallato, von dort über die Höhen von Castelfidardo und Crocette und das obere Thal des Aspio nach Camerano und Ancona führt - die Poststraße links über Osimo kommt hier nicht in Betracht, - führt ein dritter Weg, von der Chaussee von Loretto nach dem Meeresufer (Porta di[e] Recanati) abzweigend, auf eine Furth des Musone unterhalb des Aspio, führt entlang der erwähnte Hügel am Meere und vereinigt sich dann mit der von Crocette quer durch das Aspio-Thal nach Umana und von dort an der hohen Seeküste nach Ancona führenden Straße.
Oberhalb der Mündung des Aspio zwischen dieser und
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der des Vallato befindet sich die erste leicht zu passirende Furth durch den Musone, gegenüber der Hügelreihe von Castelfidardo und Crocette. -
Sie hatten bereits die Stelle passirt, der gegenüber von Norden her der Aspio sich in den Musone ergießt, und wo die zweite gangbare Furth sich befindet, als der Brigante sein Thier anhielt.
»Wir müssen absteigen, Signor, und von jetzt ab jedes Geräusch vermeiden. Es giebt nahe der Mündung des Flusses in's Meer noch eine dritte Stelle, die allenfalls für Reiter zu passiren, aber nur Wenigen bekannt ist. Zuvor aber muß ich recognosciren, ob dort Posten der Feinde stehen.«
Sie führten vorsichtig ihre Thiere vorwärts, bis sie zwischen den Hecken versteckt das Rauschen des Flusses hörten. Dann gab der Bandit dem Offizier den Zügel seines Thieres und schlich vorwärts.
Das Flußthal ist hier ziemlich weit geöffnet, erst tausend Schritte weiter beginnen wieder die Hügel des Montefreddo, die sich nach Umana ziehen und dann eine schroff abfallende Küstenwand bis Ancona bilden.
Auf dem ersten dieser Hügel steht ein altes verfallenes Gemäuer, vielleicht früher eine Kapelle oder Warte, da man von hier aus das Ufer bis zum Meer übersieht. Aus den Oeffnungen dieses Gemäuers blinkte ein lustiges Feuer, - die Piemontesen hatten also in der That ihre Posten bis hierher vorgeschoben. Am Ufer des Musone und des Aspio schienen jedoch keine Vedetten zu stehen, wenigstens ließ sich Nichts davon sehen.
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Wenige Minuten darauf kehrte der Brigante zu dem Offizier zurück und berichtete ihm den Stand der Dinge.
»Wir können es wagen, nach der Küste hin durchzubrechen, - aber es ist immer ein zweifelhaftes Spiel. Sind Euer Excellenz Jäger?«
»Goddam - ich habe mehr als hundert Füchse niedergehetzt.«
»Darum handelt es sich nicht. Ich meine, ob Sie gewohnt sind, ein Wild zu beschleichen?«
»Zum Henker - ich denke wohl! Hab ich doch oft genug den Birkhahn und den Rothhirsch im Gebirge belauert.«
»Bene! Was meinen Sie, wenn wir jene Bursche dort in dem alten Steinhaufen ein wenig ausholten? Ich kenne den Ort.«
»Meinetwegen. Aber wo sollen wir die Pferde lassen?«
»Es ist eine buschige Schlucht am Fuß des Hügels, wo wir sie sicher verbergen können, wenn kein Posten dort steht.«
»Vorwärts also!«
Sie hatten ihre Thiere wieder bestiegen und ritten jetzt vorsichtig am Ufer entlang, sich im Schatten der Bäume haltend, bis zu der Mündung eines Baches, der von den Hügeln von Norden her kommt und kurz vor der Mündung des Musone in's Meer, in diesen sich ergießt. Hier verbreitert sich der Fluß und ist an einer Stelle trotz des Anscheins der Tiefe so seicht, daß man ihn passiren kann. Dies geschah ohne Hinderniß und das
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Paar - der Italiener voran - ritt nun eine ziemliche Strecke im Bett des Baches aufwärts, während man das nahe Brausen des Meeres hörte.
Sie waren auf diese Weise etwa zweitausend Schritt vorwärts gekommen, als sich das linke Ufer zu buschbewachsenen Hügeln erhob und von der Höhe ein Lichtschein fiel.
»Silentio Signore!« flüsterte der Brigante. »Jetzt zwischen den beiden Taxusbüschen hier hinauf - und dann herunter vom Pferd.«
Das edle Roß klimmte den Abhang hinauf und der Offizier sah sich alsbald von dem tiefen Dunkel einer Schlucht umgeben, die in die Höhe zu führen schien, von welcher her der Lichtschein gekommen war und laute Stimmen klangen.
Geräuschlos ließen sich die beiden Reiter niedergleiten, der Brigante band die Zügel der Thiere im Gebüsch an einen Ast und faßte die Hand des Offiziers, den er vorsichtig hinter sich herzog.
Die Schlucht theilte sich einige Schritte weiter und lief rechts und links um den Hügel bis zu dessen Höhe. Der Brigante wählte den Weg rechts, und als sie noch eine kurze Strecke gestiegen waren, befanden sie sich, wenigstens für den Irländer sehr unerwartet, auf einer Wand, welche die erwähnte Ruine überragte und ihr gleichsam zur Rücklehne gedient hatte.
Es mochte in der That früher eine Klause oder Kapelle gewesen sein, die aber wahrscheinlich schon seit länger als hundert Jahren verfallen war, denn das
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Gemäuer trug kein Dach mehr und war an vielen Stellen geborsten. Buschwerk und Schlingpflanzen wucherten über die niederen Mauern, in deren Mitte ein lustiges Feuer brannte, um das sieben Bersaglieri lagerten.
Zwei derselben, der Unteroffizier und ein anderer älterer Soldat, trugen die Krim-Medaille, die Anderen bis auf zwei, die Medaille von Solferino. Es waren also kriegserprobte Leute, denen gegenüber um so größere Vorsicht zu beobachten war.
»Cospetto,« meinte der alte Unteroffizier - »ich sage Euch Bursche, selbst unser Kampf bei San Martino hatte Nichts zu bedeuten gegen die Schlachten in der Krim. Diese Austriaci sind ganz gute Soldaten, aber die russischen Barbaren stehen auf dem Platz, wo sie hingestellt sind, bis man sie drei Mal todtgeschlagen hat, ein so zähes Leben haben sie. Mit dem Lumpenpack, was die Päpstlichen zusammengebracht haben, werden wir morgen in einer Stunde fertig.«
»Aber man sagt, daß 25000 Franzosen im Anmarsch sind,« bemerkte schüchtern einer der Rekruten.
»Dummheit! ich hörte den Major gestern davon sprechen. Für was hätte denn der Kaiser Luis Napoleon Nizza und Savoyen bekommen? Ich war im vorigen Kriege Ordonnanz im Hauptquartier und könnte Euch Burschen ganz andere Dinge erzählen, wenn es sich für einen alten Soldaten schickte, zu plaudern. Unser Graf Cavour ist ein Teufelskerl, und General Cialdini hat ein weites Gewissen. Wenn wir erst Rom haben, jagen wir
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die Oesterreicher aus Venedig, wie die Mäuse vom Kornboden.«
»Die im Neapolitanischen sollen eine Schlacht verloren haben!« bemerkte einer der Soldaten, mit dem Daumen über die Schultern weisend.
»Die Rothhemden? - Es schadet dem Gesindel Nichts. Ein ehrlicher Soldat will Nichts mit ihnen zu thun haben. Droben am Comer See und vor Peschiera haben sie uns bei jeder Gelegenheit sitzen lassen. Sie sind nur gut zum Lärmmachen und Plündern. Wäre das Jammervolk des Re Bomba nicht noch schlechter und feiger gewesen, als sie, würden sie Alle in der Meerenge ersoffen sein.«
»Aber der General Lamoricière soll schon viele Schlachten gewonnen haben.«
»Eine Schwalbe macht keinen Sommer und eine Wurst den Kohl noch nicht fett. Ich sage Dir, Giovanni, wenn sie die Fremden nicht hätten, wären sie Alle schon davon gelaufen. Ich kenne unsere Landsleute südwärts vom Po - der Himmel hat sie im Zorn zu Soldaten gemacht.«
»Vater Andrea,« meinte sein Nachbar - »es ist am Ende doch nicht recht, daß wir gegen den heiligen Vater fechten! - Wenn uns nun der Kirchenbann träfe?«
»Dummkopf! wir haben Bischöfe genug bei uns, die ihn wieder aufheben. Ein hübsches Theil der Kuttenträger ist auf unserer Seite, und wenn sie im Vatikan wüßten, daß die Pfaffen unsere besten Spione sind, würden sie den unnützen Widerstand aufgeben. Selbst drüben
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in Loretto fehlt es uns nicht an Spionen und eben deswegen sitzen wir hier, um auf irgend eine Mönchskutte zu warten.«
»Aber das ist ja ganz aus dem Wege.«
»Bist ein Grüner und verstehst das nicht! Der Mann kann doch nicht über die Brücke des Musone zu uns kommen! Die Päpstlichen würden ihm den Rücken mit Kugeln spicken. Der General wartet nur auf die Nachricht, um sie aus Loretto zu räuchern, während unsere Flotte sich vor Ancona legt.«
»Also die sechs Kriegsschiffe, die wir gestern sahen? Die Leute meinten, es wären Franzosen!«
»Der Teufel hole die Franzosen. Sie werden es zeitig genug merken, daß es Admiral Persano ist. - Halt! - war das nicht ein Pfiff?«
Das Signal, durch den Tonfall als solches kenntlich, wiederholte sich. Der Unteroffizier war aus dem Gemäuer getreten und gab eine gleiche Antwort. Drunten in den Gebüschen rasselte es.
»Wer da?« rief er hinunter.
»Gutfreund! - Palermo!«
»Richtig - das ist das Wort. - Steigen Sie den Fußweg links herauf - er ist der nächste und bequemste! - So - reichen Sie mir die Hand - da sind Sie! - Sie haben uns lange warten lassen, ehrwürdiger Bruder!«
Der Brigante hatte die Hand des Offiziers, der freilich nur wenig von dem Gespräch verstanden, stark gepreßt bei der Erwähnung der sardinischen Flotte.
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»Merken Sie auf Signore, - San Antonio hat uns hierher geführt, die Verräther zu belauschen.«
Der Bersaglieri trat mit dem Angekommenen in das Innere des Gemäuers, wo die Flamme sie hell beschien.
Einige der Soldaten erhoben sich, die anderen blieben ruhig am Boden liegen, alle aber wandten neugierig die Augen auf den Fremden.
Dieser warf sich erschöpft auf einen Stein. Er trug eine aufgeschürzte Kapuzinerkutte, und als er, von den Soldaten sich abwendend, die sein Haupt verhüllende Kapuze ein wenig lüftete, um sich den Schweiß abzutrocknen, bemerkte der Irländer, daß er trotz der Tonsur ein noch junger Mann mit markirtem energischem Gesicht war. Gleich darauf zog der Fremde wieder die Hülle darüber, so daß nur die feurigen dunklen Augen noch hervor leuchteten.
»Ich sehe, Fra - Sie haben das Licht verstanden, das ich Ihnen als Wegweiser anzündete. Aber Ihre Kutte trieft von Wasser - wollen Sie dieselbe nicht ablegen und einen Augenblick trocknen?«
»Nein! - ich bedarf nur weniger Minuten, mich von dem raschen Lauf zu erholen. Ich bin durch den Musone gegangen und das Wasser reichte mir bis an den Hals. Sie sollen sogleich hören, warum. Wo ist der General?«
»In der Kirche von Rochetto - dorthin soll ich Sie bringen.«
»Der Kriegsrath dauerte so lange und der Prinzipe konnte nicht eher die Depesche niederschreiben. Ueberdies
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mußte ich mich hüten, mit zwei ihrer Späher zusammenzutreffen. Wissen Sie vielleicht, ob Ihre Posten vor einer halben Stunde - so viel können sie Vorsprung haben, da ich den Weg so rasch ich konnte lief, - zwei Reiter angehalten haben?«
»Ich habe meine Wachen nur bis zur Küste ausgestellt.«
»Eben dort dürften sie versucht haben ihren Weg zu nehmen. Es ist ein Offizier mit seinem Führer, die Depeschen nach Ancona bringen.«
Der Alte strich sich den Schnauzbart. »Diavolo - das wäre fatal! Aber sie können unmöglich dort passirt sein, zwei meiner besten Leute sind zwischen hier und dem Strande aufgestellt und wir hätten gewiß einen Schuß gehört. Aber vielleicht sind sie noch nicht herüber und kommen noch.«
»Dann haben sie sich wahrscheinlich nach dem Aspio-Thal gewendet.«
»Cospetto, das kümmert mich nicht, - dort haben andere Posten die Wache. Aber die Sache geht mir im Kopf herum. Sie brauchen meine Begleitung nicht Fra, - Stephano und der Fiorentino hier werden Sie in's Hauptquartier nach Rochetto bringen, indeß ich mit zwei Anderen die Wachen bis zum Strande revidire und verstärke. Michelo und der Pignerolese bleiben hier auf Posten. Keine Katze, die nicht die Losung Palermo und Cavour weiß, soll bei uns durchschlüpfen. - Macht Euch fertig, Männer, und führt den Bruder über die Brücke
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auf dem Weg nach Umana. - Seht nach Euren Büchsen Leute!«
Es erfolgte das kurze Geräusch des Aufbruchs. Der Mönch hatte sich so weit wieder erholt, daß er rüstig seinen beiden Begleitern folgen konnte. Den Schluck Branntwein, den ihm der Unteroffizier bot, wies er zurück.
Draußen vor der Ruine trennten sie sich, der Veteran mit den beiden Bersaglieri's nahm seine Richtung links den Abhang hinab, während der Kapuziner mit den beiden Anderen den Pfad einschlug, der entlang der westlichen Seite des Hügels in die Berge nach dem Montefreddo führt und in einiger Entfernung die Straße von Crocette nach Umana kreuzt.
Mit aller Aufmerksamkeit horchten die verborgenen Lauscher, ob die Patrouille etwa unglücklicher Weise ihre in der Schlucht verborgenen Thiere entdecken würde; aber sie schien diese weiter oberhalb des Versteckes passirt zu haben, denn fünf bis zehn Minuten vergingen, ohne daß sich etwas hören ließ.
Die beiden zurückgebliebenen Piemontesen, zufällig, oder wohl durch die Wahl des Veteranen die Jüngsten des kleinen Commando's, machten es sich nach dem Fortgehen ihres strengen Vorgesetzten noch bequemer, lehnten ihre Büchsen an die Wand, machten aus ihren Mänteln ein Kopfkissen und streckten sich am Feuer.
In dem ungewissen Schein, den die Flamme heraufwarf, sah der Offizier, daß der Brigante ihm winkte, vorsichtig einige Schritte zurückzutreten.
»Der heiligen Jungfrau sei Dank,« flüsterte dieser ihm
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zu, als das geschehen, »daß Ihr Pferd nicht geschnaubt, Signore. Ich habe dafür der Santa Casa eine faustdicke Kerze gelobt. Aber was machen wir nun?«
»Ich habe leider nur wenig verstanden - aber der Mönch schien mir ein Spion zu sein von drüben her. Ich hätte große Lust gehabt, ihm eine Pistolenkugel durch den Schädel zu jagen, wenn ich nicht an meinen Auftrag gedacht hätte.«
»Cospetto Signor Luogotenente, vielleicht läßt sich Beides vereinigen. Ich möchte mir den Padre, der das Brot der heiligen Kirche ißt und sie verräth, gern etwas in der Nähe ansehen, um ihn wieder zu erkennen.« - Mit wenigen Worten verständigte er ihn dann näher über den Inhalt des Gesprächs und den Plan, den er vorschlug.
Dem Irländer konnte Nichts willkommener sein, als der kühne Streich, der sich ihm bot.
Leise schlichen sie wieder zu dem Gemäuer zurück. Das Plateau des Gesteins reichte so weit vor, daß an einer Stelle sich die zerbröckelte Mauer unmittelbar unter ihnen befand.
Ein Blick zeigte ihnen, daß die beiden Bersaglieri noch in derselben Stellung am Feuer lagen. Sie hatten sich vorgenommen, bis zum Eingang der Ruine zu schleichen und so die Fahrlässigen zu überraschen, ein Zufall aber beschleunigte, wahrscheinlich zum Glück für den Erfolg, ihr keckes Unternehmen.
Während nämlich der Irländer sich vorbog, um sich über den Eingang zu orientiren, klirrte sein Säbel auf
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dem Gestein und einer der Schläfer richtete sich halb empor zu sehen, woher das Geräusch käme.
Die Zögerung eines Momentes mußte ihre Absicht vereiteln. »Mit dem Ruf: Drauf, Kamerad!« setzte der kecke Abenteurer den Fuß auf die Mauer und sprang mit einem Satz mitten zwischen die erschrockenen Wachen; im nächsten Augenblick hatte er einen der Bersaglieri an der Kehle und drückte sie so kräftig zusammen, daß der arme Bursche, ganz blau im Gesicht, mit Händen und Füßen zappelte.
Tonelletto war dem Offizier auf dem Fuß gefolgt und hatte sich zwischen den anderen Piemontesen und die Büchsen geworfen; der Lauf seiner Pistole war sogleich auf den Kopf seines Gegners gerichtet.
»Silenzio, Bursche! Keinen Laut, oder ich schieße Dir die Kugel durch den Kopf! - Brav gemacht, Excellenza! Halten Sie den Schurken nur etwas fest, indeß ich hier mit dem andern fertig werde. - So, mein Junge - bei der heiligen Jungfrau, von der Ihr Kirchenschänder freilich wenig genug wißt, es soll Euch Nichts geschehn, wenn Ihr Euch geduldig fügt. Leg' Dein Bratenmesser weg da und thu' die Hände auf den Rücken, aber merk' Dir, keinen Laut, oder ich will Dir die Zunge aus dem Halse reißen!«
Er hatte rasch aus seiner Tasche ein Bündel dünner Stricke geholt und schnürte sie dem Piemontesen um Arme und Leib, daß er die ersteren nicht zu rühren vermochte.
»Jetzt, Spitzbube, setz' Dich nieder auf den Boden und
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Sie, Signor Luogotenente, reichen Sie mir den andern Kerl her.«
Der arme Bursche war halb erstickt, als er aus der Hand des Irländers in die des Banditen überging, und seine Knebelung erfolgte ohne Mühe.
»Jetzt, Signore,« sagte der Führer, »halten Sie einen Augenblick Wache, und wenn einer der Schurken auch nur Miene macht, sich zu rühren, so schneiden Sie ihm ohne Barmherzigkeit die Kehle durch von einem Ohr zum andern.« Er nahm die beiden Büchsen der Jäger mit sich und entfernte sich.
Bald darauf hörte das scharfe Ohr des Irländers, der, den Säbel in der Hand, die beiden Gefangenen bewachte, ihn die beiden Thiere an der Ruine vorüber führen.
Nach fünf Minuten kam der Brigante wieder. »Ich habe den Weg gefunden und ihre Büchsen in das Gebüsch geworfen,« sagte er auf Französisch. »Jetzt müssen wir noch für das Schweigen der Bursche da sorgen und ihre Mäntel nehmen. Hier - ziehen Sie diesen da über Ihre Uniform und sehen Sie den Hut auf statt des Kasket's.«
Die Umwandlung war rasch geschehen, ebenso bei dem Italiener selbst.
»Jetzt ziehen Sie Ihrem Burschen da die Stiefeln aus und stopfen Sie ihm sein Taschentuch zwischen die Zähne, daß er in der nächsten halben Stunde keinen Laut von sich geben kann. - So - gut gemacht! Hinüber mit den Stiefeln über die Mauer und nun die Füße noch zusammen gebunden! Der Weg ist so voll spitzer Steine und Dornen, daß sie gewiß vorziehen werden, ihren Sergeanten
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oder Corporal hübsch hier am Feuer zu erwarten. Und nun buona notte, Ihr Halunken, und lernt einmal fühlen, was es heißt, die heilige Kirche bestehlen wollen! Ich wünschte, ich hätte nur Eure obersten Spitzbuben, die Herren Cialdini oder Garibaldi oder gar den Re gentilhuomo einmal so in der Hand! - Kommen Sie, Signor!«
Die beiden Wachen hilflos zurücklassend, eilten sie jetzt zu den Pferden und schwangen sich auf, während der Irländer noch immer herzlich über das verduzte Gesicht lachte, das der Rekrut gemacht, als er ihn so unverhofft an der Kehle packte.
Sie waren Beide sogleich im Sattel und ritten jetzt scharf und unbekümmert vorwärts, da sie in der Dunkelheit die piemontesischen Uniformen unkenntlich machen mußten und sie überdies das Paßwort kannten.
Sie schienen mit der freilich unabweislichen Vorsichtsmaßregel aber doch sich allzulange aufgehalten zu haben, denn sie waren bereits zehn Minuten vorwärts geritten, ohne auf die Vorangegangenen, die sie verfolgen wollten, zu stoßen.
»Der Teufel hole die Bursche und ihre langen Beine, die sicher die Ungeduld des eidbrüchigen Mönchs noch länger gemacht hat,« grollte der Brigante. »Wenn mich nicht Alles täuscht, sind wir gleich an der Brücke und haben sie noch immer nicht eingeholt! - Was denken Sie jetzt - schlagen wir rechts den Weg nach Umana ein oder folgen wir ihnen noch eine Strecke und wenden uns dann querfeldein nach den Bergen?«
»Wir müssen den Schurken haben, auf jede Gefahr!«
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»Gut. Wir wollen es wenigstens versuchen. Für alle Fälle merken sich Euer Excellenza, daß der Weg, den wir jetzt kreuzen, in gerader Richtung durch die Berge nach Umana führt und ebenso der nächste, den wir passiren werden, von Rochetto dahin. Es ist auf der Hälfte ein Weiler - ich kenne die Wirthin, sie ist eine Gutgesinnte, und dort müssen wir rechts ab.«
Sie trabten weiter und sahen schon die Brücke vor sich, als sie das: »Chi va là?« einer Schildwache anrief.
»Amici! - Palermo!«
»Feldgeschrei?«
»Cavour!«
»Passirt!«
»Höre, Kamerad,« frug der verkleidete Brigante, »ist nicht eben ein Priester mit zwei Bersaglieri hier vorüber gekommen?«
»Noch keine fünf Minuten. Sie gehen dort auf dem Fußweg nach Rochetto!«
»Dann gute Wache. Avanti!«
Sie trabten weiter - der Mond trat hinter einer Wolkenwand eben hervor und zeigte ihnen kaum zweihundert Schritte entfernt die drei Wanderer.
»Jetzt vorwärts Signor, hauen Sie den Schuft über den Schädel und dann rechts ab querfeldein, bis wir den Weg wieder finden!«
Der Irländer gab seinem Renner die Sporen und galopirte vorwärts - er sah noch, wie die Drei stehn blieben und zur Seite traten.
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»He da - seid Ihr des Teufels! Ihr reitet ja jeden Christenmenschen über den Haufen!«
Im nächsten Augenblick war das wirklich geschehen, der Bersagliere purzelte kopfüber auf den Boden und streckte fluchend die Beine in die Luft.
Aber der Irländer holte nicht, wie sein Begleiter es gerathen, zum Hiebe über den Schädel des verrätherischen Mönchs aus, - er ließ den Säbel am Band des Handgelenks hängen, faßte mit eiserner Faust, sich vom Sattel beugend, die Kutte im Nacken des Mönchs und warf ihn mit gewaltigem Ruck quer vor sich über den Sattelbogen.
Dies war das Werk eines Augenblicks. Im nächsten knallte ein Schuß hinter ihm drein und die Kugel pfiff über seinen Kopf weg. Der zweite Bersagliere hatte geschossen, wurde aber gleich darauf von dem Maulthier des Brigante über den Haufen geworfen.
Mit einem lustigen Hurrah! riß der tolle Irländer sein Pferd rechts hinüber auf das wüste Land, und sprengte querfeldein, mit der rechten Hand den Mönch auf dem Sattelknopf niederdrückend, der sich wie eine Schlange wand und wie ein gestochener Stier brüllte. »Halt Ruhe Bursche, oder ich drücke Dir die Kehle zu,« zürnte der wilde Reiter, indem er die beiden hagern Hände des Ringenden in seiner gewaltigen Faust zusammenpreßte und ihn so im Gleichgewicht hielt - »mit mußt Du, und sollte ich nur Fetzen von Dir nach Ancona bringen!«
Aber die gewaltsame That so nah einer Feldwache hatte sofort dieselbe in Allarm gebracht, der sich bald über die ganze Postenkette verbreitete.
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Schüsse auf's Gerathewohl knallten hinter den Reitern her. In den ersten Minuten noch hörte der Lieutenant den Brigante ihm folgen, aber bei dem rasenden Karrier seines Vollblutpferdes blieb das Maulthier bald zurück, und als Sir Terenz sich noch einmal umsah, war Nichts mehr von seinem Begleiter zu erblicken.
Dagegen knallten rings umher Schüsse und die piemontesischen Posten schienen wie aus der Erde zu wachsen.
Der kühne Reiter hatte, der früheren Weisung seines Begleiters gemäß, den tollen Lauf seines trefflichen Pferdes nach Nordost gerichtet. Die linke Hand mit dem Zügel in halber Brusthöhe, den Oberkörper vorgebeugt, die Augen fest zwischen den Ohren seines Pferdes auf den Boden gerichtet, schoß er dahin, während die Hand schwer auf der Brust seines Gefangenen lag. Aber er war ein zu geübter Reiter, als daß er sich hätte verhehlen können, daß die doppelte Last das edle Thier dennoch bald ermatten mußte. Einen Augenblick schwankte er, ob er dem Gefangenen nicht die Kehle zudrücken und ihn todt von dem Sattel werfen sollte, wie ein giftiges Gewürm, das er zertreten. Aber sein von Natur aus ritterlicher Charakter und der mit seiner Jugenderziehung verknüpfte Gedanke, daß er einen Priester morden würde, hielt ihn zurück. Jetzt sah er einen breiten Graben vor sich, und den Renner zusammennehmend, mit Spornstich und Zungenschlag ihn unterstützend, setzte er mit gewaltigem Sprunge hinüber.
Das edle Thier stand zitternd und die Flanken heftig wiegend auf festem Boden. Sir Terenz erkannte, daß er endlich auf dem gesuchten Wege angekommen war und gönnte dem
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keuchenden Roß nicht lange Ruhe. Sein Spornstich trieb es auf's Neue zum rasenden Lauf, aber er hatte noch keine zweihundert Schritt zurückgelegt, als vor ihm Stimmen laut wurden, Waffen klirrten und ein Reiterhaufe ihm entgegen kam.
Der Irländer begriff, daß nur wenig Aussicht ihm blieb. Einen Sprung über den gleich breiten Graben zur Linken hätte das Pferd unmöglich wiederholen können. So blieb ihm nur die Aussicht, sich vielleicht durch die entgegen kommenden Reiter durchzuschlagen.
Vorwärts über den Hals des Pferdes gebeugt, ließ er die Hände des Gefangenen los und faßte den Griff seines Säbels.
Eine befehlende Stimme donnerte ihm ein »Ferma!«29 entgegen - er war dicht vor den Reitern, die den Weg sperrten - im nächsten Moment stieß er selbst einen lauten Schrei aus, ließ die Zügel fallen und fuhr mit der Linken nach der Seite, an der er noch den Griff des Messers faßte, das der Mönch ihm mit der frei gewordenen Faust zwischen die Rippen gestoßen hatte. Indem er fühlte, daß sein Pferd gewaltsam angehalten wurde, ward es ihm schwarz vor den Augen und er sank aus dem Sattel. - -
»Eine Fackel her. Was giebt es hier?« frug eine befehlende Stimme in italienischer Sprache. »Was bedeutet der Allarm? Stellen Sie die Ruhe her, Angrogna!«
Das edle Roß des Irländers stand mit zitternden
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Flanken und keuchendem Athem, sein kühner Reiter lag bewußtlos am Boden; aber der Gefangene, der so blutig und geschickt sich befreit, stand neben ihm, jetzt selbst den Zügel des Pferdes in der Hand.
»Signori,« sagte er, selbst noch keuchend - »ich suche den Obergeneral; ich war auf dem Wege zu ihm nach Rochetto, als ich von einem verwegenen Feinde gefangen genommen und fortgeschleppt wurde. Ich glaube, mich nicht zu irren, daß der Mann hier am Boden ein Offizier Lamoricières ist und Depeschen nach Ancona bringt.«
»Desto besser, daß wir ihn haben; leuchte Jemand hierher. Richtig - die Uniform der Freicorps unter einem unserer Mäntel. - Wer sind Sie? wo kommen Sie her?«
»Ich kann meine Meldung nur General Cialdini machen, aber sie ist von Wichtigkeit.«
»Der bin ich selbst. Reden Sie!«
Der Mönch sah im Licht der Fackel, die herbeigebracht worden war, die zahlreiche Suite um den General en chef, die ihn auf dem Recognoscirungsritt begleitet hatte, und konnte an der Identität nicht zweifeln.
»Euer Excellenz bitte ich um geheimes Gehör,« sagte er flüsternd. »Ich komme von Loretto mit Nachrichten vom Prinzen Caracciolo.«
»Ah - excellente! das trifft sich gut! ich erwarte die Nachricht mit Sehnsucht!« Der General wandte sich an seine Begleitung. »Wenn ich nicht irre, sind ja wohl Häuser hier in der Nähe?«
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»Kaum tausend Schritt von hier, ein großer borghetto!30
»Dann sitzen Sie auf, Signor und folgen Sie mir, dahin.«
Der Mönch zögerte. »Excellenza - was soll mit dem Gefangenen hier geschehen? Mein Messerstich befreite mich von ihm - aber er scheint noch am Leben und könnte vielleicht Aussagen machen. - -«
»Jedenfalls muß er visitirt werden. Lassen Sie zwei Mann der Eskorte absitzen, Major Monalteri, und ihn auf einem Mantel uns nachtragen, Avanti Signori!«
Die Cavalkade setzt sich in Bewegung - der Mönch hatte sich auf das Pferd seines Ueberwältigers geschwungen, hielt es aber zurück, bis die Beorderten den blutenden Körper aufgenommen, dann ritt er neben diesem her zum Casale31.


Eine Viertelstunde später stand der Kapuziner in einer geräumigen, aber niedern, weiß getünchten Stube des Weilers vor dem Tisch, hinter dem der Obergeneral auf einer Bank saß, während ein Adjutant an der andern Seite schrieb.
An der Wand gegenüber auf einem breiten italienischen Bett lag der Lieutenant Terenz O'Donnell, halb entkleidet, das aufgeschnittene Hemd steif von geronnenem Blut, das Auge geschlossen. Der Wundarzt war eben mit dem Verband fertig geworden.
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An der Thür stand ein Offizier.
»Wie steht es mit dem Mann, Dottore?« frug der General.
»Es ist ein schwerer Stich, Excellenza, den er erhalten - aber es ist möglich, daß er am Leben bleibt, wenn er Ruhe und Pflege hat. So viel ich bis jetzt sehen kann, ist die Wunde nicht absolut tödtlich.«
Der Mönch wandte sich mit theilnehmendem Ausdruck auf dem Gesicht nach seinem Opfer. Er hatte jetzt die Kapuze zurückgeschlagen und der Schein der Lichter fiel hell auf sein Antlitz.
Er war, - wie der verwundete Offizier schon in der Ruine bemerkt, - noch jung, aber sein Gesicht trug scharfe, von geistigem Leben tief gefurchte Züge. Unter einer breiten kühnen Stirn glänzten tiefliegende Augen mit wilder Energie und doch lag in ihnen auch wieder ein tiefes Empfinden, eine gewisse Güte und Sorge. Es war offenbar der Kopf eines Denkers, der vielleicht schon viel gerungen mit dem Leben,
»Haben Sie genau seine Kleidung und seinen Körper untersucht, Signor Dottore?« fuhr der General fort.
»Ganz genau, Excellenza, bis auf die Haut. Jede Falte! Mit Ausnahme der Brieftafel in seiner Brusttasche, und der Börse mit den wenigen Napoleond'ors war Nichts bei ihm zu finden.«
»Nach den Papieren ist er ein Engländer! Das sind gewöhnlich hartnäckige Burschen, und er wird nicht anders sein, wenn er zur Besinnung kommt. Sie glauben also,
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Padre, daß der Mann dort ein Adjutant Lamoricière's ist und nach Ancona bestimmt war?«
»Ich weiß bestimmt, daß ein Offizier, etwa eine halbe Stunde vorher, ehe ich meinen Weg antreten konnte, mit einem Führer Loretto verlassen hat. Aber ich kann nicht mit Sicherheit angeben, welchen Weg er genommen.«
»Nun, cospetto - er muß es sein! Wie anders käme er sonst in unsere Linien? Er muß übrigens Wind von Ihnen gehabt haben, so gut, wie Sie von ihm. Aber was ist mit dem Führer geworden? Ist er gefangen oder erschossen?«
Die Frage war an den Offizier an der Thür gerichtet.
»Es ist kein Rapport darüber eingegangen!«
Der General zuckte ungeduldig die Achseln. »Und was, Padre, denken Sie, das der Auftrag dieses Burschen gewesen ist?«
»Euer Excellenz werden das besser beurtheilen können, als ich. Nach meiner Meinung aber zweifelsohne der Befehl zu einem Ausfall, während Lamoricière Ihre Truppen von vorn angreift, um sich durchzuschlagen.«
»Die Meinung hat viel für sich. Wir sind nach dem Bericht des Principe zwar mehr als doppelt so stark, aber eine Diversion im Rücken der Truppen ist immer gefährlich. Glücklicher Weise haben wir die Mittel in Händen, sie zu verhindern. Capitano Morelli, sehen Sie zu, ob sich hier in der Casa ein Mensch findet, der Sie sofort auf dem nächsten Weg nach Falconara führen kann.«
Der Offizier salutirte und verließ das Gemach.
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»Sie glauben also, daß wir uns auf diese ordre de bataille verlassen können, Padre?«
»Der Principe hat sie dem Prior selbst übergeben. Ich war zugegen.«
»Sein Bericht von gestern Morgen, der uns zu der Diversion gegen Macerata veranlaßte, um die Division Pimodan abzuschneiden, hat uns getäuscht. Aber das kann passiren. Können Sie der kurzen Meldung des Principe noch Details beifügen?«
»Der Principe wird bei den Dragonern kommandiren. Ein Vertrauter, der Capitain Negroni, führt einen Zug Geschütze. Sobald die erste Unordnung sich zeigt, wird er das Feuer einstellen.«
»Sind die Proklamationen an die italienischen Soldaten vertheilt?«32
»Es geschieht diese Nacht. Schon jetzt ist die Stimmung der Indigeni sehr schlecht, sie klagen über Anstrengung und schlechte Verproviantirung. Sie werden kaum den ersten Kanonenschüssen Stand halten. Ist der Angriff
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des General Pimodan zurückgewiesen, so ist die Auflösung die unmittelbare Folge.[«]
»General Pimodan ist ein guter Soldat - aber seine undisciplinirten Banden taugen Nichts. Er soll sich den Starrkopf an Castelfidardo einrennen. Nach den Nachrichten, die Sie mir gebracht, hoffe ich Herrn Lamoricière mit seiner ganzen sogenannten Armee zu fangen. Wir sind sehr in Ihrer Schuld, Padre. Hier ist eine Note der Mailänder Bank auf tausend Lire.«
Der Kapuziner wies das Papier unwillig zurück.
»Euer Excellenz verkennen mich. General Garibaldi würde niemals gewagt haben, dem Padre Gavazzi Geld für eine seiner Reden zu bieten.«
Der General lachte übermüthig. »Ah - also von dieser Sorte. Sie treiben die Spionage aus Patriotismus, Pater! Desto besser, dann bin ich Ihrer desto sicherer, und spare mein Geld.
»Signor Generale,« sagte der Mönch und seine kleine Gestalt schien sich zu heben und zu wachsen mit seinen Worten, »Sie irren sich dennoch über das, was ich will. Mein Zweck ist, die heilige Kirche frei und rein zu sehen von allem Irdischen, damit sie ihr Licht leuchten lasse über die ganze Welt, frei und unbefleckt von irdischen Interessen. Darum muß die weltliche Herrschaft des Papstes fallen und mit ihr jener Schmuz, jenes Gomorrha von Tyrannei und Schmach, das auf Rom lastet. Ich bin Italiener genug, um zu wünschen, daß das unsterbliche Rom nicht in den Händen der Fremden sei, gleichviel ob Oesterreicher oder Franzosen. Sind diese vertrieben, und dazu hat Gott
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Ihrem König das Schwert in die Hand gegeben, dann werden die Bürger des alten Rom wissen, was ihre Pflicht, und die befreite Religion wird mit dem freien Bürgerthum Hand in Hand gehen und ein leuchtendes Vorbild sein allen Völkern der Erde! Die Republik in der Kirche wie im Staat ist das einzig wahre Ziel eines freien Sinnes.«
Der General lächelte höhnisch. »Also ein Mann aus der Schule des Herrn Mazzini! Nun, ehrwürdiger junger Herr, ich will Sie in Ihrem Martyrium nicht aufhalten. Gewöhnlich verschmähen sonst die Herren Republikaner gerade auch nicht die Scudi. Ob Republik oder Königthum, - das wollen wir später ausmachen, wenn ich diese fremden Landläufer mit ihrem französischen Großsprecher erst davon gejagt. Ich hoffe, Sie selbst leisten uns noch einige gute Dienste in Rom, und deshalb will ich Ihre Sprache vergessen. Für ein Unterkommen diese Nacht wird sich hier wohl ein Platz finden, und morgen, wenn die Armee des Herrn von Merode ihre Lektion bekommen, mögen Sie nach Loretto oder Rom zurückkehren, vor dem ich in zehn Tagen spätestens zu stehen hoffe.«
Der General war aufgestanden und wandte sich zu dem Arzt.
»Braucht der Mann da noch Hülfe? - Er ist ein Engländer und wir müssen in ihm die Nationalität schonen.«
»Es wird Jemand bei ihm bleiben müssen, da das Wundfieber bald ausbrechen kann und die Umschläge von Zeit zu Zeit erneuert werden müssen.«
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»Euer Excellenza wollen erlauben,« unterbrach der Mönch, »daß ich bei dem Verwundeten die Wache übernehme. Ich habe einige Kenntniß der Behandlung.«
Der General lachte. »Sie sind ein seltsamer Heiliger! Erst stoßen Sie ihm sehr unkirchlich das Messer zwischen die Rippen und dann wollen Sie ihn kuriren helfen. Meinetwegen, Pater ..., wie heißen Sie doch? der Principe schreibt Ihren Namen nicht.«
»Fra Rafaelo!«
»Also Fra Rafaelo - ich habe Nichts dawider. Sie sind hier in Sicherheit, das Gefecht wird auf keinen Fall bis hierher dringen.«
»Ich werde auf dem Schlachtfelde sein, um die Seelen der Krieger, die ihr Blut für die Freiheit vergossen, mit meinem Gebet in den Schoos der heiligen Jungfrau zu geleiten.«
Der General zuckte ungeduldig die Achseln. In dem Augenblick öffnete sich die Thür und der Stabskapitain, den der Oberbefehlshaber vorhin mit seinem Auftrag hinausgeschickt, trat von einem Mann und einer Frau begleitet wieder ein.
Der Mann war von untersetzter Gestalt, etwa vierzig, mit kurzem schwarzen Bart, das Gesicht nicht unschön, aber der Ausdruck stupid und einfältig, wozu das tief über die Stirn gekämmte Haar beitrug. Er hatte den breitrandigen Hut der Landleute dieser Gegend in der Hand und trug einen langen schmutzigen Leinwandrock. Die Frau war eine frische alte Pächterin mit grauem Haar und der Wittwenhaube.
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Der General sah auf. »Haben Sie einen passenden Führer gefunden, Morelli?«
»Hier diesen Mann, Excellenza. Er ist ein Verwandter der Fittaiuola33 und, wie sie sagt, mit den Wegen genügend bekannt. Der andere Knecht liegt krank und der Sohn des Hauses ist fort - wahrscheinlich davon gelaufen vor den Soldaten.«
»Die heilige Jungfrau möge Euer Gnaden die Lüge verzeihen,« sagte die alte Frau redefertig. »Sie haben meinen armen Jungen unter die difesa del paese34 genommen, die den heiligen Vater beschützen sollen vor diesen schrecklichen Franzosen, und sie werden den letzten Trost einer armen Wittwe todtschießen, wozu ihn die Heiligen mir doch sicher nicht geschenkt haben.«
»Der Mann da ist in Ihrem Dienst?«
»Mein leiblicher Verwandter, Excellenza - meiner seeligen Mutter seelige Schwester ...«
»Schon gut! Ihr müßt Euch für vierundzwanzig Stunden ohne ihn behelfen, Dienst des Königs! Kennst Du die Wege, um einen Offizier auf den nächsten Feldwegen an der Festung vorbei nach Falconara noch diese Nacht zu bringen.«
Der Knecht lachte dumm. »Si Signore - warum sollte ich nicht?«
Bei dem Klang dieser Stimme lief es wie ein leises Zucken über die Glieder des bisher bewußtlos auf dem Bett liegenden Verwundeten.
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»Du wirst zwanzig Lire erhalten, wenn Du es thust, eine Kugel durch den Kopf, wenn Du den Weg verlierst. Merke Dir das!«
»Heilige Rosalia,« klagte die Pächterin - »da müßte ich ja ganz allein hier bleiben unter all' dem Kriegsvolk. Haben Euer Excellenza Gnade mit einer armen alten Frau!«
»Der Pater dort bleibt zurück bei dem Verwundeten. Ich denke, ein Pfaffe ist Euch Weibern stets die liebste Gesellschaft.« - Er fuhr alsdann in französischer Sprache zu dem Adjutanten gewendet, fort: »Schreiben Sie, Major, dem Admiral Persano: General Cialdini ersucht Se. Excellenz, morgen Vormittag sofort das Bombardement von Ancona zu beginnen, um die Besatzung an jedem Ausfall zu hindern, da die Truppen Sr. Majestät zu dieser Zeit mit der Vernichtung der Horden des Herrn Lamoricière beschäftigt sein werden. - So - geben Sie her!« Er unterschrieb mit raschem Zug.
»Die Flotte finden Sie auf der Höhe von Falconara stationirt, Kapitain Morelli,« wandte er sich wieder zu diesem. Jedenfalls wird dort ein Boot liegen. Geben Sie sogleich das Signal, daß eine Depesche von Wichtigkeit unterwegs ist. Sie nehmen eine Ordonnanz und diesen Mann. Sie haben gehört, was ich ihm versprochen habe, ein Goldstück oder eine Kugel.«
In diesem Augenblick sagte der Arzt, der das Zimmer noch nicht verlassen: »General, der Kranke hat die Augen geöffnet, er ist zum Bewußtsein zurückgekehrt.«
In der That hatte der Irländer die Augen groß
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aufgeschlagen und richtete sie forschend von einem der Anwesenden auf den Andern. Indem sie den Knecht des Casale streiften, nahmen sie einen fragenden Ausdruck an. Er fuhr mit der Hand zweimal über die Stirn, als wolle er seine Erinnerungen sammeln.
General Cialdini war sofort an das Bett getreten. »Verstehen Sie Italienisch, Signor?«
Der Verwundete machte ein verneinendes Zeichen. - »Gut, also Französisch, da es mit meinem Englischen mäßig bestellt ist. Sie befinden sich als Gefangener in meinen Händen. Ich bin der General Cialdini!«
Der Verwundete sah ihn gleichgültig an, es zuckte sogar wie leiser Hohn um seine Mundwinkel.
»Sie sind in einer Uniform der Unseren gefangen genommen worden, mitten in unserem Lager, waren also offenbar auf einer feindlichen Unternehmung begriffen und ich könnte Sie nach Kriegsrecht als Spion ohne Weiteres erschießen lassen. Aber ich habe Bedauern mit Ihnen, da Sie ohnedies schon dabei gefährlich verwundet worden sind. Gestehen Sie offen, welchen Auftrag Sie hatten?«
Der Gefangene zog die Brauen finster zusammen und seine Augen warfen einen stolzen Blick.
»Sie reden mit einem Gentleman, Sir, ich bin Offizier!«
»Das thut hier Nichts zur Sache. Ich weiß, daß Sie Depeschen nach Ancona zu bringen haben. Wo sind dieselben? Da Sie gefangen sind, kann die Auslieferung Ihrer Ehre nicht schaden.«
»Suchen Sie!«
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»Sie werden mich zu mir widerstrebenden Maßregeln zwingen. Diesen zu entgehen ist es sogar Ihre Pflicht, die Papiere auszuhändigen.«
»Suchen Sie!«
Der General stampfte unwillig auf den Boden, »Capaccio![«]35 diese Engländer sind einer wie der andere. Warum sind Sie noch hier?« wandte er sich zornig an den Kapitain.
»Euer Excellenza haben noch nicht bestimmt, wie ich diesen Bauernlümmel fortbringen soll. Damit wir rasch vorwärts kommen, müßte er doch beritten gemacht werden und wir haben hier keine überflüssigen Pferde.«
»Es wird sich doch in den Ställen dieser Wirthschaft irgend ein alter Gaul finden - nehmen Sie diesen ohne Weiteres.«
Der Knecht lachte dumm. »Nä -« sagte er täppisch, »Sie werden keinen Roßschwanz finden - Nichts als das abgetriebene Pferd von dem armen Kerl da, den sie gestochen oder geschossen haben, und ich will lieber hier bei der Muhme bleiben.«
»Darüber, guter Freund, wird man Dich schwerlich fragen. Aber der Kerl hat in seiner Dummheit uns einen Ausweg gezeigt. Nehmen Sie das Pferd des Gefangenen, es scheint ein gutes Thier, so viel ich im Dunkel sah - den Rückweg kann er zu Fuß machen. Und nun fort, und geben Sie Befehl, daß man meine Pferde vorführt. Wir finden Arbeit in Rochetto.«
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Der Stabskapitain faßte den Bauer am Arm, um ihn fortzuführen. Während dieser den Hut hob, um eine tölpische Reverenz zu machen, hielt er ihn so, daß nur der Verwundete sein Gesicht sehen konnte.
Mit diesem ging eine blitzähnliche Veränderung vor, die Züge drückten einen wilden Triumph aus, das bisher so träge Auge schleuderte einen Blitz des Verständnisses. Eben so rasch war aber auch jede Spur dieses Ausdrucks wieder verschwunden, als er sich zur Thür wandte.
Der Verwundete lachte trotz seines Zustandes laut auf.
Der General, der ihm den Rücken gekehrt hatte, wandte sich verdrießlich um, während der Stabskapitain mit dem Bauer und seiner laut lamentirenden alten Verwandten das Zimmer verließ und der Adjutant das Schreibzeug einpackte. »Was ist Ihnen so lächerlich, Monsieur? doch nicht Ihre Lage, die schlimm genug ist.«
»By jove, General -« sagte Sir Terenz mit lustigem Gesicht trotz der Schmerzen, die er empfand - »Sie haben sich einen guten Tölpel von Boten ausgesucht! Und einem solchen stecken Sie mein ächtes Vollblut zwischen die Beine! Auf Ehre, General, Sie sind kein guter Sportsman! Doch ich habe schon davon aus der Krim gehört.«
General Cialdini, der in der That kein besonderer Reiter ist, wurde dunkelroth und schnitt ein grimmiges Gesicht. »Zum letzten Mal - wollen Sie gestehen, wo die Depesche des Herrn Lamoricière ist?«
»Auf dem besten Wege nach Ancona, General!«
Dieser verbiß einen Fluch zwischen den Lippen. »Wenn
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Sie nicht der Ueberbringer von Papieren sind, was zum Teufel führte Sie denn zwischen unsere Linien?«
»Ich wollte einen entlaufenen Mönch zurückholen in sein Kloster, General!« Der Irländer wies spöttisch auf den Kapuziner, der - seit er sich an dem Bett niedergelassen, - unbeirrt in seinem Brevier las und auch jetzt um den Hohn sich nicht zu kümmern schien, vielmehr aufstand und das Kissen des Kranken zurechtschob.
»Sie werden gut thun, Monsieur,« sagte der General trocken, »wenn Sie den Pater höflich behandeln - Ihr Leben dürfte von seiner Pflege abhängen, denn ich habe keine Doktoren für Sie übrig. - Sind die Pferde da? Kommen Sie, Minghetti - dieser verdammte Engländer hat mir fast ebenso viel Galle gemacht, wie vorgestern der unverschämte berliner Journalist, der mit Gewalt durch unsere Linien nach Ancona wollte.«
Der Major lachte. »Ah - Signor Wachenhusen!«
»Ich glaube, so heißt er. Gute Nacht, Herr und ich will um Ihretwillen wünschen - a rivederci!«
Die beiden Offiziere verließen die Stube - gleich darauf hörte man die ganze Cavalcade davon galopiren auf der Straße nach Rochetto. -
Sir Terenz lag wohl eine Viertelstunde in tiefem Nachdenken, die Augen an die Decke gerichtet. Zuweilen zuckte der Schmerz der Wunde über sein offenes Gesicht, öfter aber noch umspielte ein munteres spöttisches Lächeln die etwas blaß gewordenen Lippen, gleich als freue er sich über einen gelungenen Streich.
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Endlich wurde der Schmerz heftiger und er machte eine Bewegung, sich auf die Seite zu werfen.
»Sie dürfen sich nicht so gewaltsam rühren, Sir,« sagte eine freundliche wohlklingende Stimme in gutem Englisch, doch mit romanischem Accent, - »der Arzt hat strenge Ruhe befohlen, damit die Blutung sich nicht auf's Neue ergießt. - Wünschen Sie Etwas?«
Der Irländer sah erstaunt zur Seite, - der junge Kapuziner stand an seinem Bett.
»Sie hier? - was thun Sie hier?«
»Sie hörten es von Sr. Excellenz, dem General Cialdini, ich bin zu Ihrer Pflege zurückgeblieben.«
»Nachdem Sie mir selbst das Messer in die Seite gestoßen?«
»Dafür schleppten Sie mich wie der Schlächter ein Kalb über dem Sattel Ihres Pferdes fort. Ist es ein Unrecht, sein Leben, wenigstens seine Freiheit, zu vertheidigen? Ich denke, Sir, wir sind quitt!«
»Ich liebe die Verräther nicht, die ihre eigene Sache verkaufen!«
»Ich bin ein Priester der katholischen Kirche, nicht des päpstlichen Staates. Der Priester ehrt die ewigen und heiligen Wahrheiten der Religion und wird gern sein Leben zu ihrer Verbreitung einsehen - der Mann wünscht die Größe und Freiheit seines Vaterlandes. Sie sind allem Anschein nach - sonst ständen Sie nicht als Fremder in der römischen Armee - ein guter Katholik - aber ein Sohn Irlands. Wünschen Sie nicht, Ihre Heimath frei zu sehn von der Tyrannei England's?«
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»Mit meinem Leben, wie jeder Sohn Erin's!«
»Und dennoch kämpfen Sie unter dem Vorwand der Beschützung der Religion gegen ein Volk, das gleichfalls seine Freiheit, seine Selbstständigkeit erstrebt, statt sich dem großen Bunde anzuschließen, der im Stillen für die Freiheit Irland's und für das Recht seines Glaubens kämpft.
»Des Bundes - was meinen Sie? O'Connel ist todt.«
»Haben Sie nie von den Feniern gehört?«
Der Irländer starrte ihn an. - »Man hat mir allerdings in Dublin diesen Namen genannt, aber - wie kommen Sie dazu, was wissen Sie von Irland? Wie kommt es, daß Sie, ein italienischer Mönch, ein junger Mann, so fertig die Sprache meiner entfernten Heimath sprechen?«
»Nicht die Sprache Ihrer Heimath - nur die Sprache Ihrer Tyrannen. Aber jeder Cicerone in Rom spricht Englisch, warum nicht ein Schüler des Collegiums della Sapienza. Doch diese Unterhaltung regt Sie auf und schadet Ihnen. Ich wollte Ihnen nur zeigen, daß auch ein Mann der katholischen Kirche die Armee der päpstlichen Regierung als seine Feinde bekämpfen und die sardinische Hilfe als Befreier begrüßen kann, ohne deshalb ein Verräther an seinem Vaterlande oder ein Frevler an seinem Glauben zu sein. Jetzt Sir, kein Wort weiter und schlafen Sie, und wenn Sie nicht mehr in mir den ungetreuen Mönch sehen, - dann morgen mehr in dem freien Umbrien!«


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Wir bitten den Leser, die oben gegebene kurze Beschreibung des Thals des Musone, - des Schauplatzes der Schlacht - sich in das Gedächtniß zurückzurufen.
Die Piemontesen hatten schon am 17. die Position zwischen den beiden aufgenommenen Brücken über den Musone und den Vallato mit starken Infanterie-Posten nebst Artillerie hinter Verschanzungen besetzt, denen als Soutiens am Fuß der Hügelgruppe von Castelfidardo und Crocette zwei Regimenter Cavalerie und 8 Geschütze dienten Die Abhänge der Hügel waren mit durch Gesträuch gedeckten Infanterie-Kolonnen und Geschützen besetzt - die Reserven standen in Castelfidardo, Camerano und Osimo.
Noch im Laufe der Nacht hatte auf die erhaltenen Nachrichten General Cialdini seine Position in den Gehöften, welche den beiden Furthen durch den Musone gegenüber lagen, bedeutend verstärkt, so daß er dieselben unter scharfem Feuer hielt. Die letzte Batterie stand bei dem Weiler, in dem wir soeben den verwundeten Irländer verlassen haben.
Nach der vom päpstlichen Obergeneral gegebenen Disposition sollte General Pimodan den Angriff eröffnen, die westliche Furth passiren und den Feind auf der Höhe von Castelfidardo so lange beschäftigen, bis die zweite Linie und der Convoi unter Oberst Cropt die untere oder östliche Furth passirt hatte.
Wir wissen, daß diese Dispositionen bereits verrathen waren.
Um 7\frac12 Uhr rangirten sich die Truppen des General
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Pimodan auf der Höhe von Loretto - es waren 4\frac12 Bataillone, 12 Geschütze und 3 Eskadrons.
Der General ritt die Fronten entlang, er sprach mit vielen Offizieren und ermunterte sie. Namentlich war es die deutsche und die franco-belgische Legion, die er lebhaft begrüßte. Als er die Indigeni passirte, wurde sein männlich edles Gesicht finster.
Es schlug 9 von der Kathedrale, vor deren Marmorstufen der Obergeneral mit einer zahlreichen und glänzenden Suite hielt.
General Lamoricière reichte dem tapfern Kameraden die Hand.
»Es ist Zeit,« sagte er. »Sorgen Sie, daß Sie diesen Abend Ihrer jungen Frau36 nach Paris von Ankona aus gute Nachrichten schreiben können.«
Offiziere, welche sich bei diesem Abschied in der Nähe befanden, erinnerten sich später, daß bei der Erwähnung seiner jungen und schönen Gattin General Pimodan einen Augenblick die Farbe wechselte.
Ohne eine Antwort zu geben, salutirte er und sprengte, den Degen erhebend, vorwärts.
Der Oberst Corbucci, welcher die Avantgarde kommandirte, gab sofort das Zeichen, die Trommeln wirbelten, und das Bataillon Carabinieri, gefolgt von vier Geschützen, stieg die Höhe hinab.
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Hinter ihnen stellte sich das Gros auf, das erste Jäger-Bataillon die Cacciatori, ein halbes Bataillon Franco-Belgier, unter dem heldenmüthigen Bacdelièvre und acht Geschütze.
Das linke Ufer des Musone war nur von einigen piemontesischen Bersaglieris besetzt, die in den Gärten neben der westlichen Furth versteckt, ein lebhaftes Feuer auf die Carabinieris eröffneten, sich aber dann zurückzogen, um sie weiter gegen die Hauptstellung zu locken. Der Plan des General Cialdini ging in Folge der verrathenen Dispositionen dahin, die ganze päpstliche Armee den Musone überschreiten zu machen, und im Thale des Aspio sie dann mit seiner starken Stellung bei Castelfidardo und Rochetto in der linken Flanke zu fassen und zu vernichten.
Die päpstlichen Carabinieri gingen rasch und entschlossen über den Fluß, rallirten sich in der Vertiefung am linken Ufer und ihnen folgten, von dem anscheinenden Erfolg getäuscht, die beiden Bataillone des Gros, das erste Jäger-Bataillon (Cacciatori) und die franco-belgische Legion, Tirailleure, obgleich junge Soldaten doch eine vortreffliche Truppe. Die drei Bataillone wurden sofort in drei Kolonnen formirt.
General Pimodan mit seinem Stab war im Augenblick neben ihnen.
»Oberst Corbucci!«
»General!« -
»Das erste Gehöft dort am Abhang scheint nur von einem Bataillon besetzt. Wir müssen es haben als Stützpunkt
[270]
für den Angriff auf das Plateau und das Geschütz. Die Artillerie dort beherrscht alle Abhänge. Geben Sie das Signal zum Angriff.«
Die Trommeln wirbelten und die Carabinieri und Jäger stürzten gegen die Villa vor, von einem scharfen Feuer empfangen.
Plötzlich schlugen Flintenkugeln vom Flusse her in der Nähe des Generals ein.
Er wandte sich erstaunt um.
»Pasque Dieu! was fällt dem Major ein? Kapitain Lenord - geschwind zu diesen Dummköpfen und lassen Sie das Feuer einstellen. Dort stürzen bereits Leute der Angriffskolonne!«
Die Reserven - das zweite Jäger-Bataillon, Indigeni, eingeborne Truppen - und ein Bataillon Bersaglieri37, Deutsche, hatten mit den Geschützen bereits die Furth passirt. Aus Besorgniß vor einigen Kugeln, die unter die Jäger einschlugen, hatte der Major des Bataillons die unglückliche Idee gehabt, eine Compagnie als Tirailleurs in den Rohrfeldern aufzulösen, und die des Feuers ungewohnten Soldaten schossen auf's Gerathewohl nach allen Richtungen.
Oberst Corbucci hatte unterdeß die Höhe erstürmt und das Gehöft genommen. Die Päpstlichen machten hundert Gefangene und setzten sich fest zwischen den Gebäuden, trotz des Feuers der bei der zweiten Villa, etwa 900 Schritt
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auf dem Plateau entfernt, aufgestellten piemontesischen Batterie.
Bis jetzt hielt der Ober-General noch jenseits des Flusses auf der Höhe von Loretto, den Gang des Gefechts beobachtend. Die Straße von Loretto hinunter rechts nach der Furth wälzte sich jetzt die Kolonne des Trains, um sich dem Marsch anzuschließen.
In der Gruppe des zahlreichen Stabes waren die Gläser theils auf das Gefecht, theils auf die niederziehenden Kolonnen gerichtet.
»Ah - sehen Sie, Marmont - Oberst Blumenstiel läßt vier Geschütze am Abhange auffahren zur Vertheidigung der genommenen Casa und zur Vorbereitung des Angriffs. Ich möchte wohl dabei sein. Bacdelièvre wird wieder alle Lorbeeren einstecken und dann unerträglich sein!«
Der junge Herzog von Ragusa warf einen flüchtigen Blick hinüber nach der Position von Castelfidardo und richtete sein Glas dann wieder auf die Wagenkolonne.
»Was zum Teufel haben Sie denn da so Merkwürdiges zwischen den Sanitätskarren und Bagagewagen?«
»Vraiment, Chevigné - es ist die Engländerin, die gestern Abend ankam. Wo zum Henker hat sie denn Pferde herbekommen, da es uns selbst so sehr daran fehlt.[?]«
»Sie ist um Mitternacht noch bis zum General gedrungen und hat sich die Erlaubniß ausgewirkt, den Truppen nach Ancona zu folgen,« sagte der Kapitain Catelienau.
»Armer Paddy, seine Flucht wird ihm also wenig helfen. Aber ich möchte wissen, ob der Bursche, der in Wahrheit ein verteufelter Reiter ist, glücklich nach Ancona
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gelangt ist? Wenn ihr Ausfall uns helfen soll, müssen wir in der nächsten halben Stunde ihr Feuer von Umana oder Camerano her hören.«
Auch der General beobachtete nach dieser Richtung.
»Sehen Sie, Catelienau, Pimodan geht scharf darauf. Dort unten ist jetzt auch die Batterie Richter im Feuer. - Was ist aus der Schwester des Irländers geworden? ich hatte gestern Abend keine Zeit mehr, mich darum zu kümmern!«
»Sie war im Lazareth thätig - ein famoses Mädchen! - Ah - verdammt!«
»Was ist?«
»Wenn ich nicht irre, ist so eben Kapitain Richter gefallen, das Feuer der Halbbatterie stockt - -[«]
»Nein! es wird wieder aufgenommen, Lieutenant Daudier ist ein tüchtiger Offizier.«
Der General wandte sich um. »Kapitain Chevigné, reiten Sie hinunter und sagen Sie Oberst Croft[Cropt], daß die Reserven dort hinter jenen Büschen außerhalb des Feuers eine gute Stellung finden werden. - Ah - da geht Pimodan vor! -«
Unwillkürlich drängte er selbst sein Pferd vorwärts. Die Adjutanten folgten ihm. Als der junge Herzog von Ragusa zur Seite lenkte, stieß er auf eine in dieser Umgebung seltsame Gruppe.
»Wie, Sie hier meine Damen? Das ist kein Platz für Sie. Führen Sie die Damen zurück, Herr Kaplan, oder wenigstens dort hinüber zum Train!«
Ein lachendes schelmisches Gesicht sah ihn an. »Ei,
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Herr Herzog, wer wird so ungalant gegen die Neugierde der Frauen sein. Ich möchte mir gern einmal eine Schlacht und die Heldenthaten all' der schönen Herrn in der Nähe ansehen!«
Es war die muntere Irländerin, die - über ihrem etwas abenteuerlichen Kostüm eine offene Nonnenkutte, sehr ungeistlich aus dieser hervorschaute und die Reitgerte gegen den kleinen fahlen Maulesel handhabte, der sie trug. Neben ihr standen die hohe Gestalt der fremden Klosterfrau und deren plumper Begleiter, der mit der größten Mißbilligung aber sehr unverwandt aus die muntere Reiterin blickte.
»Werden wir meinen Bruder in Ancona treffen, Herr Herzog?« fuhr die Irländerin fort.
»Ich hoffe es, Mylady - wenn wir selbst hinkommen!« fügte er leise bei. - »Aber da Sie nun einmal nicht in Loretto bleiben wollen, kann ich Sie wirklich nicht ohne Schutz lassen. Heda - Monsieur de Laroche-Beauvoir, kommen Sie gefälligst einen Augenblick hierher.«
Einer der Guiden, ein blutjunger Mensch, der eben vorüber courbettirte, kam heran.
»Ich werde es bei Herrn von Bourbon verantworten, Herr Marquis,« fuhr der Stabskapitain fort, »daß ich Sie hier zu einem Dienst presse. Indeß der Dienst der Frauen ist so ehrenvoll wie der des Schlachtfeldes. Ich bitte Sie, diese Damen unter Ihren jungen Schutz zu nehmen und Sorge zu tragen, daß sie ungehindert unserem Wagenzug sich anschließen können. - Verzeihung, aber dort ruft mich der Dienst!«
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Er salutirte mit eleganter Negligence, als wäre er den Frauen auf der Promenade von Longchamp begegnet, statt im Donner der Schlacht, und galopirte hinter der Suite des Ober-Generals her, der eilig nach der Furth ritt.
Der erste Angriff des General Pimodan auf das zweite Gehöft des Plateau's von Castelfidardo war zurückgeschlagen worden.
Die kleinen Kolonnen aus den Franco-Belgiern und aus Abtheilungen der Carabinieri und des ersten Jäger-Bataillons bestehend, unter dem Kommando des tapfern Majors der Belgier war trotz des heftigen Gewehrfeuers vom Gehöft aus und dem daran stoßenden Gehölz entschlossen vorwärts gegangen, hatte die wohl 700 Schritt lange ungedeckte Strecke durchlaufen und war bis zum Rande des Abhangs vorgedrungen, als sie das Linienfeuer eines deployirten Bataillons empfing, welches so viele Leute außer Gefecht setzte, daß Major Becdelièvre den weitern Angriff aufgeben und das Signal zum Rückzug geben mußte. Trotz der großen Verluste und des nachdrängenden Feindes geschah dieser in voller Ordnung.
Dennoch war die tapfere Schaar in höchster Gefahr. Die Piemontesen drängten in voller Wucht nach und waren bereits auf fünfzig Schritt heran, als der Major »Kehrt!« befahl. Ein wohlgezieltes Feuer empfing die Piemontesen und dann stürzten die wackern Belgier sich mit dem Bayonnet auf den Feind, der den Choc nicht aushielt, sondern unter dem Feuer der von Lieutenant Daudier kommandirten wenigen Geschütze sich eilig zurückzog.
So erreichte der Rest der Kolonne glücklich wieder
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das erste Gehöft, von General Pimodan empfangen, der, obschon im Gesicht verwundet, auf seinem Posten geblieben war.
Der Feind hatte viele Verluste gehabt, aber auch eine große Unzahl der Päpstlichen war gefallen und dies um so mehr von Gewicht, als sie zu den bessern Truppen gehörten und ihre Zahl ohnehin nur gering war.
General Lamoricière hatte dies Resultat beobachtet und einsehend, daß die zweite Position nicht mit den bereits auf dieser Stelle befindlichen Truppen genommen werden konnte, gab er dem Obersten Alet den Befehl, mit dem ersten Schweizer-Regiment aus der zweiten Linie vorzurücken und die Reserven zur Unterstützung des Gehöftes zu senden.
Gegen dieses brachen jetzt die Piemontesen in aufgelösten Tirailleurschwärmen aus dem Gehölz vor. Ihr Feuer fügte den hinter den Gebäuden postirten Reserven bedeutenden Schaden zu, bis Becdelièvre mit dem Rest seiner Truppe sie nochmals in das Gehölz zurückwarf.
Unterdeß wird das von General Lamoricière befohlene Manövre der Infanterie zwar ausgeführt, aber nur das erste Bataillon der Jäger und das zweite Bataillon Bersaglieri, Deutsche aus den österreichischen Werbedepôts, erreichen das Gehöft.
Die Schweizer sind bis auf die Offiziere nicht mehr die alten - nur der Name ihrer unverbrüchlichen Treue, die einst die Marmorstufen von Versailles und der Tuillerieen mit ihrem Blute färbte, existirt noch - nicht der Geist selbst. Es sind nicht mehr die Söhne der Waadt
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und der katholischen Cantone, sondern zusammen geworbenes Gesindel aus aller Herren Länder, das die Werbedepôts in Frankreich gesammelt, nachdem die Bundesregierung den Söhnen der Berge das alte Recht genommen, in Rom, Paris und Neapel die Revolution zu bändigen. Noch einmal tönt aus den Reihen des Regiments, während der Held von Constantine an ihnen vorübersprengt, das kühne »En avant!«, aber kaum ist es deployirt und die ersten Granaten der Piemontesen krepiren in seinen Reihen, den Tod verbreitend, als es in wilder Flucht auseinanderstäubt und das Reserve-Echelon mit sich fortreißt.
Vergeblich werfen sich der Ober-General, der tapfere Oberst Alet und die Schweizer-Offiziere den Fliehenden entgegen, - das Beispiel derselben wirkt ansteckend und die Cacciatori, die feigen Isaliner, folgen der wilden Flucht der Esteri38.
Nur die deutschen Bersaglieri unter ihrem braven Major Fuchtmann halten Stand.
Der Verrath scheint nur diesen Moment erwartet zu haben.
Bei dem Rest der Artillerie, der auf der Chaussee hält, kommandirt der neapolitanische Offizier, der am Abend vorher mit dem Principe Caracciolo den Irländer belauschte.
Kaum sieht Kapitain Negroni jene Flucht, als er befiehlt, die Geschütze zu wenden und zu retiriren. Die Kanoniere versuchen vergeblich auf der Chaussee umzukehren, da dies
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nicht geht, schneiden sie auf den Befehl ihres verrätherischen Offiziers die Stränge durch und jagen querfeldein mit den Pferden davon.
Inmitten dieser allgemeinen Flucht versucht der Ober-General vergeblich, die Infanterie hinter Aufwürfen und Häusern zu sammeln. Die Obersten Cropt und Alet halten zu Pferde in dem fließenden Strom, aber sie haben jede Autorität über das feige Gesindel verloren. Lamoricière befiehlt ihnen endlich, den Versuch jenseits des Musone hinter den Ufern und Dämmen zu erneuern und mit den gesammelten Truppen die Furth am Aspio zu passiren und den Weg nach Umana einzuschlagen.
Währenddem folgt Sturm auf Sturm der Piemontesen, die sich nun in Masse entwickeln, auf das von General Pimodan besetzte Gehöft, in dem sich jetzt die Deutschen an der Seite der Franco-Belgier schlagen. Cialdini haßt die Franzosen - ein Triumph über zwei französische Generale ist ihm willkommen nach der Rolle, die ihn die Franzosen in der Krim und der Lombardei spielen ließen!
Zwischen den Gebäuden sammelt General Pimodan die Reste seiner Schaar zu einem letzten Vorstoß gegen die dunklen Kolonnen der Bersaglieri, die wiederum den Abhang herab ziehen. Es sind die dezimirten Carabinieri, zwei Compagnien seines Jäger-Bataillons, die Franco-Belgier und die deutschen Bersaglieri des Major Fuchtmann. Eine Kugel hat ihn schon früher unter dem Auge verwundet, das Gesicht ist mit Blut überströmt, aber dennoch behält er das Kommando. Vierzehn piemontesische Geschütze sprühen jetzt ihre Kartätschen gegen die tapfere
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kleine Schaar. Der Baron von Becdelièvre bittet ihn, zurückzugehen und sich verbinden zu lassen. »Es ist Nichts, Kinder! - Vorwärts!« - Da trifft eine zweite Kugel seinen rechten Arm. Er nimmt den Degen in die Linke und kommandirt weiter. Begeistert von diesem Beispiel, werfen sich die Soldaten gegen den anstürmenden Feind - er weicht!
Da trifft eine dritte Kugel den General in's rechte Bein. Er schwankt im Sattel - sein Adjutant eilt herbei. Aber der Tapfere hebt den Degen hoch in der Linken. »Gott ist mit uns, Kinder! vorwärts! vorwärts!« und erst die vierte Kugel mitten durch den Leib wirft ihn todt vom Pferde39.
Die Piemontesen weichen nochmals.
In diesem Augenblick kommt der General en chef herbei. Er hat keine Zeit, dem gefallenen Freunde mehr als einen Blick des Bedauerns zu widmen. Er übergiebt das Kommando dem Obersten Graf Coudenhove mit dem Befehl, sobald er sich nicht mehr halten könne, gegen den Fluß zurückzugehen und womöglich die Artillerie zu retten.
Um ihn darin zu unterstützen, eilt er zur Cavalerie in der Ebene. Aber er findet von dieser nur noch die Schwadron Cheveaulegers - Deutsche! - geführt vom Grafen Zichy, und die Guiden - die italienischen Dragoner haben Kehrt gemacht!
Die Auflösung und Flucht ist jetzt allgemein! Ein großer Theil der Flüchtlinge lief den Musone hinab, ohne auf die andere Seite zurückzukehren. Zum Glück
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verhinderte noch der Pulverrauch und das Gebüsch den Feind, die Desorganisation zu sehen und sich zu Nutze zu machen. Der Ober-General beauftragt die Kapitains Lorgeril und Lepri und den Lieutenant Maistre, zu versuchen, die Ausreiher zu sammeln.
In dem Augenblick, wo er selbst im Grunde hält und sieht, daß Graf Coudenhove eben seinen Rückzug beginnt, taucht aus dem Pulverdampf eine seltsame Gestalt neben ihm auf, ein Landmann im weiten Leinenrock, darunter die Sammetjacke und den rothen Brustlatz der Banditen von Subiaco. Der Mann sitzt auf einem bis zum Aeußersten abgetriebenen Pferde von edelster Race, das unter ihm zusammenzubrechen droht.
»General, der Weg durch die Berge über Umana ist frei!«
Der General wendet sich erstaunt um und sieht ihn an.
»Sprechen Sie die Wahrheit? Wer sind Sie? wo kommen Sie her?«
»Von Ancona selbst. Dieser Herr hier wird mich kennen« - der Landmann weist auf den jungen Herzog von Ragusa - »und das arme Thier, das ich reite, kennt Euer Excellenza selbst!«
»Bei Gott - es ist der Mann, der gestern Abend Lieutenant O'Donnel[l] mit der Depesche nach Ancona geleitete!«
Die Stirn des Generals wirft eine drohende Falte. »Und wenn Sie glücklich nach der Festung gelangt sind,
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warum hat man meine Befehle nicht erfüllt? Wo ist der treulose Offizier?«
»Schwer verwundet in den Händen des Feindes. Erst diesen Morgen gelang es mir, in die Festung zu kommen.«
»Und meine Depesche?«
»Sie ist unter dem Schwanz Ihres Pferdes durch die sardinische Armee passirt, ich habe sie statt des braven Offiziers dem Kommandanten überliefert.«
»So war es immer noch Zeit. Wenn der Graf von Quatrebarbe meine Befehle erfüllt hätte, wären wir jetzt nicht geschlagen!«
»Excellenza,« unterbrach der Brigante ehrerbietig diesen Ausruf an seine Umgebung - »ich weiß zwar nicht, was die Depesche enthielt, - aber seit diesem Morgen wird Ancona von der sardinischen Flotte bombardirt! Ich bin zurückgekehrt, Ihnen dies zu melden.«
Ein allgemeiner Ruf des Erstaunens begleitete diese Erklärung des Ausbleibens der erwarteten Hilfe.
General Lamoricière sah einige Augenblicke starr vor sich nieder - die Hand des gewaltigen Geschicks streifte über den glänzenden Lorbeer von zweiundzwanzig Siegen am Atlas!
Dann erhob er sich wie ein Held, der auch das Unglück mit eherner Stirn trägt.
»Ich danke Ihnen für den Dienst, den Sie der Sache der heiligen Kirche geleistet. Kennen Sie eine Furth im Aspio, durch welche wir den Weg nach Umana erreichen könnten? denn die Brücke ist unter dem Feuer ihrer Batterieen.«
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»Ja, General!«
»So bringen Sie diesen Mann zu dem Grafen Zichy, Herr Herzog, und lassen Sie die Furth aufsuchen und besetzen. Dorthin, meine Herren, muß Alles dirigirt werden, was wir noch zusammen raffen können. Ein Rückzug nach Loretto wäre das sichere Verderben.«
»Aber die Flüchtigen jenseits des Musone?«
»Versuchen Sie, zu retten, was möglich ist, Kapitain Chevigné, jede weitere Disposition muß ich Ihnen überlassen.«
Der General sprengte vorwärts; Marmont gab dem Briganten ein Zeichen, ihm zu folgen, als dieser sich an den Offizier wandte, der eben den Auftrag wegen der Flüchtigen jenseits des Musone erhalten hatte.
»Signor Capitano,« sagte er, »darf ich mir erlauben, Ihnen einen Rath anzubieten?«
»Sprechen Sie, - Sie scheinen eben so gewandt als muthig!«
»Dann wäre es der, sich in die Berge meiner Heimath zu werfen. Es würde ebenso schwer sein, Rom wie Ancona zu erreichen, und in den Abruzzen können Sie dem Feinde mehr Schaden zufügen, als hinter den Wällen einer Festung. Wenn Sie Ihre Leute nach Civita-Nuova führen wollen, werde ich Sie morgen früh dort treffen, sobald ich den General bis Umana geführt habe.«
»Also ein Briganten-Krieg? Parbleu, ich nehme es an! Was meinen Sie, Marmont, das man von dem Banditenchef Chevigné im Faubourg St. Germain und im Feuilleton der France erzählen wird?«
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»Ich wünschte, ich könnte mit Ihnen gehen! Und nun Gott befohlen, auf Wiedersehen in Rom oder in einer andern Welt!«
Sie sprengten nach verschiedenen Richtungen davon.


Wir haben jetzt den Frauen zu folgen, die sich in das Getümmel der Schlacht gewagt, um sich dem Marsch nach Ancona anzuschließen.
Der Vetturin, welcher die englische Dame nach Loretto gebracht, hatte sich geweigert, sie weiter zu fahren, und Miß Mary ihm kurz entschlossen Wagen und Pferde zu einer unverschämten Summe abgekauft. Dies war das Gefähr, was der lange Diener oder Begleiter der Dame jetzt leitete, unterstützt von der polyglotten Suada des kleinen Kuriers, der zum Gelächter der Trainsoldaten und der Eskorte in vier oder fünf Sprachen bat, drohte und schimpfte, um seinem Wagen einen guten Platz in der Kolonne zu sichern, was ihm auch vollständig gelang.
Der Wagenzug hatte zur größeren Hälfte bereits die Furth über den Musone oberhalb des Aspio passirt, als die Flucht der päpstlichen Truppen begann und bald allgemein wurde. Die Eskorte trieb jetzt vorwärts und es entstand die größte Unordnung, die noch vermehrt wurde, als ein umgeworfener Munitionskarren den ohnehin in schlechtem Stande befindlichen Feldweg sperrte und einige Granaten zwischen die Wagen einschlugen. Alles fuhr jetzt wild durcheinander, querfeldein oder suchte den Rückweg über den Musone zu gewinnen.
Scheu gemacht durch den Lärmen der Schlacht ließen
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sich die Pferde von der Hand des Master Wilckens nicht mehr halten und rasten querfeldein durch das Thal auf die Brücke über den Aspio zu, die von sardinischer Kavalerie besetzt war, während von dem Hügel daneben eine Batterie die päpstlichen Reserven mit Granaten bewarf.
Von dieser Stelle aus leitete General Cialdini den Kampf, und am Ufer des Flusses hatte die Ambulance ihre blutige Werkstätte aufgeschlagen.
Mit Verwunderung hatte man den einzelnen Wagen heranrasen sehen, dessen Aussehen darauf schließen ließ, daß er zur Equipage eines der feindlichen Oberoffiziere gehörte, und der Chef des Stabes sandte sofort einen Offizier ab, um sich zu erkundigen; denn eben hatten dicht an der Brücke die vor der Cavalerie zurückprallenden Pferde die Kalesche umgeworfen, die sofort von einem Schwarm Soldaten umringt war.
Der General en chef war nicht wenig erstaunt, als er zehn Minuten später eine junge schöne Dame in steifer englischer Haltung trotz der etwas derangirten Toilette am Arme eines seiner Ordonnanz-Offiziere auf sich zukommen sah, gefolgt von Monsieur Jean, dem Kourier, der von seinem Purzelbaum eine tüchtige Beule an der Stirn davon getragen hatte, und von einem Kapuziner-Mönch.
Der Offizier führte Miß Mary bis dicht zu dem Pferde des Generals, machte ihr eine Verbeugung und trat dann lächelnd zurück, indem er sich begnügte zu sagen:
»Madame, voilà le général en chef!«
Die Tochter Großbritanniens begnügte sich mit einem leichten Kopfnicken, sah den General an und frug:
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»Sprechen Sie Englisch, Sir?«
»Ein Wenig. Wer sind Sie? was wollen Sie? Hier ist kein passender Ort für Damen und ich habe keine Zeit für Klagen!«
Miß Judith wendete sich statt der Antwort zu dem Kurier um.
»Meinen Paß, Master Jean!«
»Directly, directly, Euer Gnaden! San Pancratio, mort de ma vie! wo steckt denn gleich das verdammte Papier! Ah excusez Madame - ich habe es in mio sombrero stecken, den ich bei dem verdammten Fall verloren. In un momento, Signora et messieurs - ich bin immediatamente wieder da!« und er begann mit seinen kurzen Beinen eilig nach der Stelle zurück zu traben, wo der Wagen umgestürzt war, unter dem Gelächter der ganzen Suite.
»Zum Henker, was sollen die Narrheiten! wer sind Sie?« schrie der General erbost in italienischer Sprache.
»Ah Sir, - Sie sind kein Gentleman, wenn Sie in Gegenwart einer Lady fluchen!« sagte die Dame in bestem Italienisch. »Wenn Sie nicht Englisch verstehen Sir, warum sagten Sie es nicht? Ich bin Lady Judith Hoghborn aus London, und muß nach Ancona!«
»Da können Sie jetzt nicht hin! Ancona ist eine belagerte Stadt und man passirt nicht durch die Linien,« erwiderte der General grob.
»Oh doch, Sir - ich werde mich bei unserem Consul beschweren!« Der General hatte einen grimmigen Fluch auf den Lippen, verbiß ihn aber, da er das Zucken des
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Lachens auf den Gesichtern seiner ganzen Umgebung sah. Dabei fiel sein Blick auf den Kapuziner und sein ganzer Aerger brach gegen diesen los.
»Was will der Pfaffe hier? Wie kommen Sie hierher? ich habe Ihnen doch befohlen, bei dem gefangenen Offizier zu bleiben?«
»Ich war auf dem Verbandplatz, wo ich hin gehöre, zum Trost der Verwundeten und Sterbenden. So war ich Zeuge des Unfalls dieser Dame, und da ich glaubte, dieselbe verstände nur Englisch, begleitete ich sie hierher, um nöthigenfalls als Dolmetscher zu dienen.«
»Wir haben unsere Feldgeistlichen und brauchen Sie nicht!« brauste der General auf. »Da Sie so gut Englisch sprechen, haben Sie wahrscheinlich erfahren, wie der Gefangene heißt?«
»Lieutenant Terenz O'Donnel[l], ein Irländer! Er liegt augenblicklich im Wundfieber unter der Pflege der Pächterin, und wenn Euer Excellenza einen Arzt befehlen wollten -«
»Terenz O'Donnel[l]?« unterbrach ihn die Lady. »Wo ist dieser Herr?«
»Er liegt verwundet in einem Casale, eine Miglie von hier!«
»Well! well! Dann brauche ich nicht nach Ancona! Verzeihung Sir, daß ich Sie belästigt! - Er ist mein Verlobter, ich bitte, führen Sie mich zu ihm!«
Und mit dem leichten hochmüthigen Kopfnicken gegen den General wandte sie ihm den Rücken, winkte dem Pater, sie zu begleiten, und ging nach dem Wagen zurück.
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den Master Wilckens unterdeß mit Hilfe der Soldaten wieder aufgerichtet hatte und in den man eben einige Schwerverwundete hob.
Diesmal genirte sich der General en chef nicht, mit einem derben Fluch alle verrückten Engländerinnen bis in die unterste Tiefe der gewöhnlichen Heimath aller bösen Plagegeister zu verwünschen, und sprengte unter dem Kichern seiner Offiziere davon, von denen mancher sehr gern die Stelle des Kapuziners als Führer der schönen Lady vertreten hätte. - -
Graf Zichy mit seiner Schwadron, von der ein Zug im Gewirr abkam, ohne sich wieder anschließen zu können, hatte mit der Hilfe des Briganten eine Furth im Aspio gefunden, dieselbe passirt und als Vorhut der Infanterie die Richtung nach Umana eingeschlagen, wohin sich jetzt Alles dirigirte, was nicht bereits gefangen oder jenseits des Musone zurückgegangen war. Ueberall ließ der Ober-General Offiziere zurück, welche den zerstreuten Truppen die Route angeben sollten, die er genommen.
Graf Coudenhove hatte mit dem Rest der Division Pimodan noch einige Zeit das am Anfang des Gefechts genommene Gehöft behauptet, dann aber dieses verlassen und, die Artillerie voraus, sich nach dem Musone zurückgezogen. Hierbei bildete das deutsche Bersaglieri-Bataillon die Arriere-Garde und rettete durch seine entschlossene Haltung die Division nebst dem größten Theil der Geschütze, von denen nur drei zurückgelassen werden mußten, weil die Führer mit den Pferden entflohen waren.
Die Artillerie, welche zuerst wieder die Furth passirte,
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schlug eiligst die Straße nach Loretto ein, ohne sich um die von dem General aufgestellten Offiziere zu kümmern. Die Infanterie folgte in Auflösung diesem Beispiel. Die Generalstabsoffiziere, welche kein Gehör fanden, verließen zum Theil die Truppen, um wieder den General zu erreichen.


Wir haben erzählt, wie beim Beginn des Gefechts die Schwester des Irländers mit der westphälischen Klosterfrau und ihrem geistlichen Begleiter sich anschickte, dem Train über den Musone zu folgen, um Ancona zu erreichen, und wie einer der Stabsoffiziere sie dem Schutz eines jungen Guiden übergeben hatte.
Der junge Edelmann, aus einer der ältesten Legitimisten-Familien Frankreichs, zählte kaum siebenzehn Jahre, aber die Thränen seiner Mutter, der vornehmen Marquise, die zurückgezogen auf ihrem Schloß in der Vendée dem einzigen Sohne und Erben lebte, hatten nicht vermocht, ihn zurückzuhalten, als der Nothruf des bedrängten Oberhaupts der katholischen Christenheit erklungen war.
Der Auftrag, den er erhalten, schien ihm große Freude zu machen, denn mit hoher Röthe auf dem jugendlich feinen Gesicht und den Hut in der Hand näherte er sich den beiden Frauen und erklärte, daß er zu ihren Befehlen stehe. Er frug die Nonne, ob sie von seinem Pferde Gebrauch machen könne, und erst als diese sich mit Bestimmtheit weigerte und der Vicar ihm erklärte, daß ein Gelübde die fromme Schwester verpflichte, auch den Rückweg nach der fernen Heimath zu Fuß zurückzulegen, ließ er sich bewegen,
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wieder sein Pferd zu besteigen, und bat nun die beiden Frauen, ihm dicht zur Seite zu bleiben.
»Wir haben keine Besorgniß, Monsieur, unter dem Schutz eines so tapfern Ritters,« meinte die Irländerin lächelnd, »und wollen hoffen, daß die Kanonenkugeln der Piemontesen so galant sind wie Sie.«
Der Vikar, der den französischen Unterricht des Alumnats zum Theil vergessen, sah unwillig auf die leichtsinnige Sprecherin.
»Die Gnade Gottes und der Heiligen ist es, der wir in dieser großen Noth vertrauen müssen,« sagte er unwillig. »Es ist Frevel, Gott zu versuchen und wir hätten in dem Kloster bleiben sollen, bis die Männer des Krieges das Feld geräumt.«
»Ei, hochwürdiger Herr, haben Sie Furcht?« frug lächelnd Miß Mary.
»Niemals, wo es die Erfüllung meiner Pflicht gilt. Nur meine ich, wir hätten warten sollen, bis die Schlacht entschieden war!« Er sah mit finsterm Blick auf die barmherzige Schwester.
Sie hörte den Vorwurf nicht, oder wollte ihn nicht hören. Hoffte das junge, gebrochene Herz vielleicht, daß eine mitleidige Kugel sich verirren würde? Ohne aufzusehen, schritt sie vorwärts. Selbst die rohen Soldaten schienen Respekt vor ihrem ernsten bleichen Gesicht zu haben, mehr als vor dem Guiden des Generals, und gedenkend der aufopfernden Pflege, welche die Frauen ihres Ordens den Kranken in den Lazarethen widmeten, machten sie ihr sorgsam Platz, halfen ihr durch die Furth und
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warnten sie vor den gefährlichen Stellen, wo die Kugeln der feindlichen Batterieen einschlagen konnten.
Der Augenblick, in welchem sie mit dem Ende der Wagen-Kolonne durch die Furth auf das jenseitige Ufer des Musone und in das Thal des Aspio gelangten, war derjenige, in welchem das erste Fremden-Regiment sich zur Flucht auflöst, die Jäger mit sich fortreißt und ein Theil der Kanoniere feig seine Geschütze verläßt.
Alles ist Pulverdampf, Verwirrung, Schrecken. Die Soldaten des Fremden- und Schweizer-Regiments sind von panischer Furcht ergriffen, vergebens stemmen sich die Offiziere der wilden Flucht entgegen, ihre Stimme verhallt ungehört, sie werden mit fortgerissen, ja - wo sie sich mit Gewalt zu widersetzen suchen, braucht man die Waffen gegen sie!
Der Strom der Flüchtigen hat auch die kleine Gruppe in seine Strudel gezogen und droht sie mit fortzuziehen. Vergebens sucht der junge Guide seine Schutzbefohlenen daraus zu retten, der Ansturm drängt auch ihn zur Seite. Ein verwundeter Offizier wankt auf seinen Säbel gestützt daher - er kann nicht weiter und lehnt sich auf einen umgestürzten Munitionskarren, von dem der Führer die Pferde abgeschnitten hat und entflohen ist.
»Verdammtes Gesindel! nicht werth, daß ein ehrlicher Mann einen Schuß daran verwendet!«
Der Ausruf in deutscher Sprache trifft das Ohr der Nonne. »Heilige Madonna - Vetter Kerssen! - Sie sind verwundet?«
Die barmherzige Schwester reißt sich los von der
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Hand des Vikars, sie kniet neben dem langsam Sinkenden und bemüht sich, das Blut zu stillen, das aus einer Schußwunde im Schenkel quillt.
»Amalie - barmherziger Gott, wie kommen Sie in das Getümmel? Retten Sie sich, fliehen Sie zurück nach Loretto - ich fürchte, die Schlacht ist verloren!«
»Nicht ohne Sie, Vetter - kommen Sie, stützen Sie sich auf meine Schulter. Man wird mein Gewand achten und uns beistehen!«
Sie bemüht sich, ihn aufzurichten - eine aufgelöste Reitercolonne braust daher und bricht sich zum Glück für das Paar an dem niedergeworfenen Karren. Sie hat die Nonne und den Offizier von den bisherigen Begleitern der ersteren getrennt, die vergeblich im Rauch und Getümmel sie suchen. Es sind die italienischen Dragoner des Fürsten Caracciolo, die so feige Kehrt gemacht, ohne angegriffen oder verfolgt zu sein.
»Gott sei Dank, hier ist ein Offizier! Zu Hilfe Signor, einem verwundeten Kameraden!«
Der Principe parirt einen Augenblick sein Pferd an dem Zufluchtsort der Nonne, er beugt sich nieder, um in dem Pulverdampf besser ihr und dem Verwundeten in's Gesicht zu sehen.
»Cospetto! mein Kampfhahn von gestern! Nun, ich hoffe, Du hast Deinen Theil und die Piemontesen haben mich der Mühe überhoben, Dich Respekt zu lehren!«
Mit Hohnlachen wendet er das Pferd zur Seite und galopirt weiter.
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»Feiger Schurke!« murmelt der Verwundete, und eine Ohnmacht umfängt seine Sinne.
Der tapfere Nobile ist kaum zweihundert Schritt weiter gesprengt, als er zum zweiten Mal sein Pferd anhält.
»Diavolo - ist das nicht die Schöne von gestern? Das wäre ein glücklicher Streich!« und er jagt hinter dem Guiden her, der, den Maulesel am Zügel, die schöne Reiterin aus dem Gedränge zu führen sucht, während der Vikar sich an der Halfter festhält.
»Sieh da, schöne Donna! - Erlauben Sie, Herr Kamerad, dieses wandernde Dämchen in Sicherheit zu bringen, soll meine Sorge sein!« und er entreißt dem jungen Guiden den Zügel.
»Herr - was unterstehn Sie sich? Zurück, die Dame steht unter meinem Schutz!«
»Sie müssen erst einen Bart haben, ehe Sie auf Weiber ausgehen. Fort, Bursche!« der Verräther hat bereits das Thier der jungen Irländerin mehre Schritte mit fortgezogen, die um Hilfe ruft.
Im Nu ist der junge Edelmann an der Seite des Italieners. »Feiger Schurke - weg die Hand oder ich stoße Dich nieder!«
Und ritterlich blitzt die Klinge des jungen Mannes gegen den Wüstling.
Da kracht zweimal ein Revolverschuß - der junge Marquis öffnet die Arme und sinkt auf den Hals seines Pferdes.
»Mörder!«
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Der Principe hat den Zügel des Maulesels losgelassen von dem sich die Irländerin heruntergeworfen, - die begangene That jagt ihn ohne weiteren Versuch gegen sie in die Flucht und er verschwindet im Pulverdampf. Der Vikar, der hinter ihnen drein gestürzt, findet den unglücklichen blutenden Jüngling in den Armen des bebenden Mädchens.


General Lamoricière, mit den Guiden und den Offizieren, die sich um ihn reihen konnten, hat sich zu der Infanterie-Colonne begeben, die unter den Ausreißern zu sammeln den Stabsoffizieren gelungen ist. Es sind ihrer etwa 4- bis 500 Mann und sie nehmen die Richtung nach Umana durch die Furth des Aspio, die der Kapitain Graf Zichy mit seinen Reitern besetzt hat. Die Majors Dupasquier und Bell kommandiren die kleine Kolonne, der sich Alles anschließt, was ihr begegnet. An ihrer Spitze neben den Tambours, welche den Regimentsmarsch schlugen, marschirte der Kapitain Delbeck mit der geretteten Fahne des ersten Schweizer-Regiments. Die alten Soldaten desselben, die vieux troupiers, die Wenigen, welche der Flucht widerstanden, hatten sich um ihr altes Banner gesellt und waren guten Muthes. Die Spitze der Cavalerie überzeugte sich bald, daß die Route nach Umana frei sei, wie der Brigante es angegeben.
Es war ein trauriger Zug für den Feldherrn, der so der Siegesgöttin, der steten Begleiterin seiner früheren Jahre, den Rücken wendete.
Die kleine Kolonne war beim Verlassen des Schlachtfeldes
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wohl kaum vom Feinde bemerkt worden. Erst als sie die Hügel erreichte, erschienen plötzlich piemontesische Bersaglieri, deren Tirailleurs die linke Flanke und die Queue der Infanterie beunruhigten. Dupasquier läßt wiederholt Halt machen und antwortet durch Gliederfeuer. Das Gefecht dauert so an drei Viertelstunden, - endlich von der Uebermacht gedrängt flieht die Infanterie mit den meisten Stabsoffizieren gegen das Meer und streckt die Waffen.
Nur die 80 Mann, welche um die Fahne und den Kapitain Delbeck sich geschaart haben, setzen ihren Marsch fort, der Schwadron folgend, und nehmen von Sirola ab ihren Weg auf dem beschwerlichen Fußsteig hoch am Meeresufer entlang nach Ancona.
Der Angriff der Bersaglieri hatte auf's Neue die meisten Nachzügler der kleinen Truppe zerstreut - und Jeder suchte sein Heil, so gut er konnte, die Meisten sich wieder rückwärts wendend nach dem Aspio oder der zweiten Furth des Musone, wo noch keine Feinde zu bemerken waren.
Zu diesen Versprengten gehörte eine Gruppe von drei Personen, die jetzt an der Hügelreihe entlang zogen, denselben Weg zurück, den am Abend vorher der irländische Offizier mit dem Brigante genommen hatte. Es war die Schwester des Ersteren mit dem deutschen Kaplan und dem armen jungen Franzosen, der bei ihrer Vertheidigung so tückisch verwundet worden war, und den das wackere Mädchen nicht verlassen wollte. Der Vikar hatte vorgezogen, ihr zu folgen, da in der herrschenden Verwirrung und wo Freund und Feind noch das Aspio-Thal füllten, ohnehin
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keine Aussicht war, seine eigenen Schutzbefohlenen wieder zu finden.
Der erste Revolverschuß des verrätherischen Offiziers hatte den rechten Arm des jungen Marquis getroffen, der andere aber seine Brust durchbohrt, und der Feldscheer, der während des Anschlusses der kleinen Caravane an den Zug des Generals auf die dringenden Bitten des Mädchens einen Verband angelegt, hatte die Achseln gezuckt und gemeint, es werde schwerlich viel helfen. Der junge Marquis hatte darauf bestanden, nicht in den Händen des Feindes zurückgelassen zu werden, und so hatte man ihn denn in den Frauensattel des Maulesels gehoben und ihn mit Unterstützung zweier Soldaten dem Zuge nachgeführt, während die Irländerin und der Vikar nebenher gingen.
Aber während des Angriffs der Bersaglieri hatten die beiden Söldner sich aus dem Staube gemacht, und das Mädchen mit dem Priester führten jetzt, so gut es gehen wollte, den Verwundeten allein weiter, der schwankend und todtenbleich sich nur mit Mühe im Sattel hielt.
»Mademoiselle,« sagte er schwach - »ich kann nicht weiter. Seien Sie gesegnet für Ihre Aufopferung - aber lassen Sie mich hier nieder, es ist gleichgültig, wo ich sterbe, und retten Sie sich selbst!«
»Reden Sie nicht vom Sterben, Herr,« bat das Mädchen »und fassen Sie Muth! Kommen Sie mir zu Hilfe, ehrwürdiger Herr und helfen Sie mir unsern armen Kranken weiter bringen. Es muß sich doch hier in der Nähe ein Haus finden, und wir werden einen Arzt herbeischaffen.«
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»Beati moribundi pro sancta ecclesia!« murmelte der Vikar, indem er den Verwundeten auf der andern Seite stützte.
»Vergeblich, Mademoiselle - ich beschwöre Sie!«
»Muth, Muth, mein junger Freund, der Sie so tapfer sich eines armen Mädchens angenommen! Ha, der Schurke! ich wollte nur, mein Bruder wäre zugegen gewesen! Aber er wird ihn finden! - Sehen Sie, da oben ist ein Gebäude - halten Sie noch einen Augenblick fest, dort wollen wir Sie niederlassen!«
Sie deutete nach der Krone des Hügels, wo aus dem Buschwerk Mauern sich zeigten, und leitete so sanft als möglich das Thier den Pfad empor, der nach dem Hause oder an diesem vorüber zu führen schien.
Leider sollte sie sich getäuscht haben, als sie hier menschlichen Beistand zu finden hoffte. Es war die Ruine der alten Kapelle oder Klause, welche schon am Abend vorher der Schauplatz jenes Abenteuers ihres Bruders gewesen war, das ihn veranlaßte, den geistlichen Spion zu verfolgen.
Miß O'Donnel[l] sah jedoch ein, daß es unmöglich war, den Verwundeten weiter zu schaffen. Nachdem sie sich überzeugt, daß das Gemäuer gänzlich verlassen war, obschon die verkohlten Brände bewiesen, daß noch vor Kurzem Menschen hier gewesen, hoben sie den jungen Mann vom Sattel und trugen ihn in das Innere. Rasch entschlossen warf die Irländerin ihre Kutte ab und bereitete ihm von dieser und zusammengerafftem Laub eine möglichst bequeme Lagerstätte.
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Ein dankbarer Blick des armen Jünglings lohnte ihr, wie sie so eifrig bemüht war, ihm zu helfen und dazwischen ihm Trost und Ermuthigung einsprach. Dann sah sie sich, die Höhe hinter dem Gemäuer erklimmend, in der Gegend um, die jetzt von der sinkenden Sonne mit einem rothen Schein übergossen wurde, der noch einmal an das geflossene Blut erinnerte.
Der Thalgrund der beiden Flüsse war jetzt von Truppenabtheilungen der piemontesischen Armee bedeckt, die gegen den Musone zogen, um Loretto zu cerniren, wohin sich Oberst Graf Coudenhove mit einem großen Theil der Versprengten zurückgezogen hatte und das er zur Vertheidigung einrichtete, um wenigstens eine ehrenvolle Kapitulation zu erzwingen, die ihm auch später wurde. - Noch immer irrten Versprengte einzeln oder in kleinen Abtheilungen umher, gewannen glücklich das andere Ufer oder fielen in die Hände der Sieger. An verschiedenen Stellen waren Ambulancen aufgeschlagen, an andern übten bereits die dunklen Nachtreter der Schlachten, die Todtengräber, ihr trauriges Werk.
Miß O'Donnel[l] bemerkte, daß die Seite der Hügel, auf der sie sich befand, gänzlich unbeachtet blieb, und der Zug der Verfolgten und der Verfolger sich nicht hierher mehr richtete.
Als sie zurückkehrte in das Gemäuer, sah sie den Vikar neben dem Verwundeten knieen. Er wandte sich sogleich gegen sie.
»Meine Tochter,« sagte er - »ich bitte Sie, noch einen Augenblick uns allein zu lassen, die heilige Handlung,
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in der wir begriffen sind, verträgt nicht die Anwesenheit eines Dritten.«
Der Leidende streckte die Hand nach ihr aus. »Verzeihung, meine treue Helferin, für eine letzte Bitte. Wenn ich recht gesehn, war am Fuß dieses Hügels eine Quelle - ein Trunk Wasser wäre ein Labsal!«
Sie wandte sich rasch um, die Thränen zu verbergen, die in ihren Augen standen, und eilte wieder hinaus. In ihrem Filzhut brachte sie nach zehn Minuten eine Fülle klaren frischen Wassers.
Der junge Edelmann hatte sich von dem Vikar mit dem Oberkörper gegen die Mauer lehnen lassen, das Athmen aus der verwundeten Brust wurde ihm so leichter. Die Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf ihn durch die ehemaligen Fensteröffnungen des Gemäuers und zauberten die Farbe des Lebens noch einmal auf das jugendlich schöne, aber blutleere Gesicht.
Der arme, dem Tode verfallene Jüngling trank das frische Wasser mit Gier. Es ist bekannt, daß die durch Schußwunden Verletzten von fieberischem Durst gepeinigt werden.
Der Geistliche hatte sich an den Eingang der Ruine gesetzt und las in seinem Brevier. Während seine Lippen mechanisch die Gebete seiner Kirche in articulo mortis murmelten, erhob sich sein Auge von Zeit zu Zeit auf die traurig anmuthige Gruppe im Innern, und jedesmal, daß dies geschah, trat eine fliegende Röthe auf seine knochige Stirn und auf sein breites grobes Gesicht, und sein eigener Athem wurde kürzer.
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Der Guide hatte der Irländerin gewinkt, sich zu ihm zu setzen und sie kniete an seiner Seite und ließ ihm die Hand, die er ergriffen.
»Ich habe die Pflichten gegen meinen Gott erfüllt, während Sie ein Werk aufopfernder Nächstenliebe thaten,« sagte er mit schwacher Stimme, - »ich habe jenem Priester gebeichtet und durch seinen Mund die Tröstungen der heiligen Kirche empfangen, so gut seine geringe Kenntniß der fremden Sprache sie ihm zu geben gestatteten; denn wie ich gehört, ist er ein Deutscher. Jetzt habe ich eine andere Pflicht, die: Ihnen zu danken Mademoiselle für Ihre Sorge und Theilnahme an einem Fremden!«
»Um meinetwillen wurden Sie verwundet!«
»In der Ausführung der Ordre meines Offiziers, ich sterbe als Soldat der Kirche und für ihre heilige Sache. Ich bin noch jung Mademoiselle, und hätte gern länger gelebt, aber Gott hat es anders bestimmt. Ich sterbe als ein ächter Laroche auf dem Felde der Ehre, für Gott und meine Dame! - Nur meine arme Mutter dauert mich - im Schloß meiner Väter an den Küsten der Bai von Bourgneuf wird sie vergeblich den Sohn erwarten und ihr meine letzten Grüße zu bringen und ihr zu sagen, wie ihr Sohn gestorben, das Mademoiselle, ist meine letzte Bitte an Sie!«
»Sie werden nicht sterben, Monsieur, Ihre Jugendkraft wird sich erholen!«
»Suspice Domine servum tuum in locum sperandae sibi salvationis a misericordia tua!« murmelte der Vicar aus seinem Brevier.
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»Hören Sie - er denkt anders!« flüsterte mit leichtem Lächeln der Leidende - »es sind die Sterbegebete unserer Kirche, ich kenne sie wohl und hörte sie schon als Kind am Bett meines Vaters, den ich wieder sehen werde, ehe jene Sonne neue Strahlen auf die Erde sendet. Sagte man uns nicht, daß General Pimodan gefallen?«
»Die feigen Flüchtlinge riefen es zur Entschuldigung ihrer Schmach!«
»Dann ist ein Held mir voran gegangen, er war ein Freund meines Vaters. In der Brieftafel Mademoiselle in der Brusttasche meiner Uniform finden Sie die Adresse meiner Mutter und wenige Papiere - eine Anweisung auf Torloni von 20,000 Franken. Verwenden Sie dieselbe zu Gunsten der guten Sache und meiner Kameraden und - wenn Sie nach Frankreich kommen, bringen Sie selbst meiner Mutter den letzten Gruß ihres Kindes. Sie hat nur wenige Verwandte noch - schon die Guillotine hat aufgeräumt unter den Beauvoirs und in Rußland fiel der Sohn meiner einzigen Großtante - ein altes Geschlecht erlischt mit dem armen Burschen, dem hier die Hand einer Fremden die Augen schließen wird!«
Aus den ihren stürzten unverholen die Thränen und rollten nieder auf seine kalte Hand - länger und länger wurden draußen die Schatten und Dämmerung füllte den Raum!
»Muth, Muth, mein junger Freund! Die Heiligen werden uns beistehen. Sie werden leben!«
»Muth? - glauben Sie, daß kein Muth zum Sterben gehört, wenn man so jung ist? - Dort zuckt der
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letzte Strahl der Sonne und roth glühen die Wolken wie Ströme von Blut! - Drüben am andern Meer blutet das Königthum - hier sinkt die Kirche, alle Heiligthümer meiner Väter verzehrt von dem Lavastrom der Rebellion - was soll ein Laroche in der veränderten Welt -«
»Um Ihrer Mutter willen - regen Sie sich nicht auf, Ihre wunde Brust erträgt es nicht!«
»Mag es fließen das Blut! Ströme werden ihm folgen! Den Krämern und Advokaten machen die Ritter Platz - das rothe Hemd siegt über den Purpur und der freche Zweifel stürzt Sanct Peters Stuhl - die Untreue gewinnt und der Verrath bricht den letzten Thron der Lilien! Ein Beauvoir geht zu seinen Vätern!«
»Barmherziger Gott - er stirbt! Zu Hilfe! zu Hilfe!«
Der Kopf des Jünglings war hintenüber gesunken - seine Hand, die krampfhaft die ihre festgehalten, öffnete sich - -
Der Vikar stand an der Seite des Sterbenden. »Warum wollen Sie ihm das Märtyrerthum mißgönnen für die heilige katholische Kirche? Er fahre in Frieden - droben erwarten jeden Kämpfer Petri die himmlischen Heerschaaren!«
Noch einmal zuckte das entfliehende Leben kräftig auf in dem jugendlichen Leib.
»Mutter - Mutter - ein Schurke, wer flieht! - Vorwärts, Guiden - - -«
Die Hand griff in die Luft, ein warmer Strom kam über die Lippen und färbte die Hand der Irländerin, die
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sein Haupt zu stützen suchte - ein kurzes Röcheln - ein letzter Schauder der jungen Glieder -
»In manus tuas Domine commendo spiritum suum!« Der jugendliche Kämpfer der Kirche hatte geendet!


Die Sichel des ersten Mondviertels spiegelte sich in den Wellen der Adria, auf deren Wässern einst die Söhne Italiens so manchen Kampf für das bedrängte Rom gegen den Halbmond geschlagen - desselben Italiens, das jetzt drohend am Felsen Petri rüttelte, - und grollend herüber dröhnte das Rauschen der Brandung von dem kaum fünfzehnhundert Schritte entfernten Ufer.
Aus der mit Wachtfeuern bedeckten Ebene scholl von Zeit zu Zeit Waffenklang oder der Anruf einer Schildwach.
Seltsam!
Hier kniete die Schwester im stillen Gebet am Todtenlager des jungen Kriegers der Kirche und neben ihr stand die dunkle Gestalt des fanatischen Priesters dieser Kirche, Fluch schleudernd auf ihre Feinde, aber wilde unheilige Gelüste in der hochathmenden Brust, - und drüben, in dem Casale, nicht zwei Miglien von der Stelle entfernt, saß auch ein Weib an der Seite eines wunden Kämpen Sanct Peters und ein anderer Priester stand neben ihr, den Lobpsalm für den Sieg der Feinde in den strahlenden Augen, aber das warme Empfinden der Güte und Theilnahme für die Leiden des Einzelnen im Herzen, und die Hand am Puls des in wilden Fieberphantasieen liegenden Kranken.
Die Augen der Dame hoben sich von diesem und
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richteten sich fragend auf das Gesicht des Kapuziners. »Wird er die Krisis überstehen, Signor Padre?«
»Er hat sie überstanden, Mylady! Der Puls läßt bedeutend nach. In fünf Minuten wird er die Augen aufschlagen, - diese urwüchsige Riesennatur hat nur kurze Zeit der Gewalt des nothwendigen Fiebers erlegen!«
»Dann ist es Zeit, daß ich mich entferne!«
»Aber warum dies, Mylady? Sie selbst sagten mir, daß er Ihr Bräutigam ist.«
Sie hatte sich erhoben - kein Aerger, kein Lächeln zog über ihr kaltes, ruhiges, schönes Gesicht. »Das wohl, Signor Padre,« sagte sie. »Es ist nur ein Umstand dabei, der ihm beim Erwachen schaden könnte.«
»Und der wäre? - Die Freude schadet nie.«
»Oh - no - ich glaube nicht, daß meine Anwesenheit ihm viel Freude machen wird.«
»Wie?«
»Die Sache ist einfach, Signor Padre, der Gentleman hier mag mich nicht! Aber er soll mich dennoch heirathen!«
Und ruhig, als handelte es sich um eine Whistpartie, nicht um ihr ganzes Lebensglück, verließ sie das Zimmer.
Der Kranke schlug die Augen auf.


Sie hatten die Leiche des jungen Kriegers mit Zweigen bedeckt und sahen jetzt Beide am Eingang der Ruine, berathend, was nun geschehen solle. Miß Mary hatte sich geweigert, den Todten zu verlassen, bis sie Gelegenheit fände, ihn nach Loretto zu schaffen, um ihm dort in
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geweihtem Boden eine besondere Ruhestätte geben zu lassen, welche die Mutter aufzufinden vermöchte. Die Brieftafel des Todten, einen Ring von seinem Finger und eine Locke seines Haars hatte das junge entschlossene Mädchen bereits an sich genommen.
So hatten sie denn - ohnehin mit der Gegend zu unbekannt, um im Dunkel einen Versuch zu machen, Hilfe zu holen, - beschlossen, an der traurigen Stelle den Aufgang der Sonne zu erwarten, da die Irländerin fürchtete, bei dem Aufsuchen eines der Wachfeuer rohen Soldatenspäßen zu verfallen.
Der Vikar saß bald auf einem Stein am Eingange der Ruine, bald stand er auf und ging mit hastigen Schritten umher, eine innere Unruhe schien ihn zu treiben, und wenn sein hervortretendes Auge auf die schöne üppige und doch schlanke Gestalt des trauernden Mädchens fiel, schien das Blut ihm zu Kopf zu steigen und er wandte sich hastig um und strich mit der Hand über die breite eckige Stirn. Plötzlich blieb er stehen vor ihr.
»In welches Kloster werden Sie eintreten, Miß?« frug er in seinem schlechten Englisch.
»In welchem Kloster? - Wie meinen Sie das?«
»Sie sind doch nach Italien gekommen, um eine Gottesbraut zu werden, gleich der frommen Schwester, die ich hierher begleitet.«
»Die Naturen, hochwürdiger Herr, sind verschieden. Ich beabsichtige nicht, in ein Kloster zu treten!«
»Das ist die Stimme der Welt, die noch aus Ihnen spricht. Blicken Sie auf zu dem Sternenhimmel, - wo
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ist ein größerer Frieden als in dem Versenken in ihn! - Sehen Sie hin auf jenes Feld voll Schmerzen und Tod das zu unsern Füßen liegt. Mahnt nicht jedes Bild desselben die schwache Menschenseele, sich ungestört in das Wesen des Heiligen, des Ewigen zu versenken? - O, meine Schwester, was bietet Ihnen die Welt? bedenken Sie das Glück, vereint mit den Frommen, den Heiligen eine seelige Gottesbraut zu sein!«
Er war mit geöffneten Armen ihr näher getreten, das helle Mondlicht zeigte die dunklen Flammen auf seinem Gesicht.
Die Jungfrau hatte sich erschrocken erhoben, gewarnt von dem geheimnißvollen Instinkt der Reinheit, wich sie unwillkürlich zurück.
»Mein Charakter, meine Denkungsweise passen nicht für das Kloster,« sagte sie ängstlich.
»Die Heiligen werden Dein Herz lenken zur richtigen Erkenntniß, Mädchen. Welche Freuden sind so süß, als das Aufgehen in dem himmlischen Bräutigam? - Laß mich Dich einführen in die ewigen Wonnen - wo was die Blinden und Unreinen im Geist Sünde nennen, nur die Verschmelzung der Herzen, das Aufschwingen der Seele aus der niedern Sinnenlust ist! wo die Befriedigung der menschlichen Sinne nur das Mittel zur geistigen Erhebung über sie wird - -«
»Sir - Sie sind wahnsinnig! Verlassen Sie mich im Augenblick!«
»Seelenbraut, welche die Heiligen mir gesandt haben. Alle Schrecken des Todes haben uns vereint, aus dem
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Leichenfeld erblühe unser Brautbett! - So sollst Du denn mein sein, auf daß Du die Welt und ihren Rausch verachten lernst! Indem ich Dich an mein Herz nehme, will ich in Dir und mir den bösen Geist tödten und im Genuß triumphiren, daß er uns nicht zu unterjochen vermag!« -
»Zurück, Elender!«
»Die Streiter der wahren Kirche gehen nicht der Versuchung aus dem Wege, sondern erdrücken sie in ihren Armen! Die Versuchung ist mir nahe getreten, wie dem heiligen Antonius von Padua, aber stärker als er, wende ich mein Auge nicht ab, sondern bezwinge den Satan, indem ich ihn mir unterthan mache!«
Er hatte sie in seine Arme gefaßt und versuchte ihren Mund mit Küssen zu bedecken, um seinen Angstschrei, seinen Hilferuf zu ersticken!
»Thörichtes Weib, willst Du freveln gegen den Geist, der mich treibt?! Ergieb Dich - oder ich brauche Gewalt! Indem ich Deinen Leib zwinge zur Ergebung, rette ich Deine Seele der Buße!«
Noch einmal war sie seinen starken Armen entschlüpft, die den schlanken üppig geformten Leib zu umfassen suchten, und um Hilfe rufend flüchtete sie in das Gemäuer, da er ihr den Weg vertrat.
Bei dem Todten hoffte sie Schutz zu finden gegen die brutale Gier, die das Heiligste mißbrauchte zum Deckmantel der so lang unterdrückten, jetzt beim Ausbruch bis zur Raserei sich steigernden Sinnenlust.
Der freche Angriff des verrätherischen Principe am Abend vorher hatte ihr nur Ekel und Unwillen erregt -
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die brutale Exaltation dieses Mannes der Kirche verursachte ihr Furcht und Schrecken, daß alle Kraft ihrer sonstigen Energie zu entschwinden drohte.
»Ungeheuer - was wagen Sie! Vergessen Sie, daß Sie Priester sind? Wollen Sie in Gegenwart dieses Todten ein Verbrechen begehen?«
»Aus dem Tode sprießt das Leben! Auch er wollte Dich lieben und darum ist er gestorben! Nicht dem Laien gehört das Himmlische! Tödten sollst Du in mir die Sinnenlust, damit wir Beide heilig werden!«
»Hilfe! Hilfe!«
Seine derbe kräftige Faust hatte sie erfaßt, - als sie ihr entfliehen wollte, strauchelte sie und stürzte über den Todten.
»Du bist mein! mein! Seelenbraut - Körperbraut!«
Sie wand sich unter seiner frechen Hand. »Lieber den Tod!«
»Leben! Leben!«
Ihr Angstruf erstickte. »Heilige Jungfrau, errette mich und ich will allein die Deine sein!«
Eine kräftige Faust erfaßte den Kragen des Vikars. »Heda! was soll das heißen? Wer wird ein Weib zwingen, wo es ihrer gutwillige genug giebt! - Zurück, Schurke!«
Der Hinzugekommene riß den Vikar empor und schleuderte ihn zur Seite. Die junge Irländerin sah sich von der brutalen Gewalt kaum befreit, als sie aufsprang, und aus der Ruine stürzte in das volle freie Mondlicht; dort
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brach sie in die Kniee, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und schluchzte wie ein Kind.
Der Fremde hatte den sich mit aller Gewalt sträubenden Verbrecher aus dem Dunkel gezogen. »Cospetto, Bursche, sind das die Heldenthaten der Soldaten der spada d'Italia, daß sie wehrlose Weiber überfallen?«
»Lassen Sie mich - wagen Sie nicht, Hand an mich zu legen!«
»Diavolo! - ein Pfaffe!«
Der Vikar blieb vor Ingrimm stehen. »Gehe Deiner Wege, Mann - Niemand verlangt Dich hier! Der Bann der Kirche soll Dich treffen, wenn Du es wagst, ihren Diener zu verletzen! Dieses sündige Weib ist hier mit ihrem eigenen Willen!«
Der Unbekannte wandte sich an das schluchzende Mädchen.
»Signora - hat dieser Pfaffe Macht über Sie?«
Die Irländerin raffte sich gewaltsam empor. »Hülfe! Barmherzigkeit, Monsieur! Retten Sie mich von diesem Ungeheuer!« flehte sie französisch.
»Per Baccho - eine Fremde, wie mein braver Kumpan von letzter Nacht!« Er wiederholte seine Frage in französischer Sprache.
»Wer Sie auch sein mögen, Monsieur, bei dem Andenken an Ihre Mutter und Schwester beschwöre ich Sie, mich zu schützen! Ich bin die Schwester eines Offiziers in der päpstlichen Armee, und dieser Verworfene hat die Abwesenheit meines Bruders und meine Schutzlosigkeit mißbrauchen wollen zu einem Verbrechen!«
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»Schweige, Weib!« drohte der Vikar finster - »Du lügst!«
Der Fremde kümmerte sich nicht um die Einsprache. »Sie sind eine Engländerin, Signora?«
»Ja!«
»Und Ihr Bruder - ist er vielleicht der Offizier, der gestern Abend Loretto im Auftrage des General Lamoricière verließ?«
»Ja, Monsieur - wissen Sie von meinem Bruder? ich beschwöre Sie, bringen Sie mich zu ihm!«
»Das geht so leicht nicht! Und dieser schurkische Pfaffe hat gewagt, Hand an Sie zu legen?«
»Der abscheuliche Bösewicht, - er will ein Priester sein der heiligen Kirche!«
»Ah per Baccho! Die Sorte kennen wir im Römischen zur Genüge und wissen sie zu behandeln.«
»Frecher - Du wagst es?«
»Nichts für ungut Riverenza,40 aber wenn Sie mich zwingen, von diesem Pistol Gebrauch zu machen, wird es Ihre Schuld sein!« und die Linke streckte dem entlarvten, alle Demuth der Kirche vergessenden Sünder das gespannte Pistol entgegen, während die Rechte fortfuhr, mit kräftigen Hieben ihm Arme, Brust und Rücken zu bearbeiten, bis der Vikar, heulend vor Wuth und Schmerz, unter den grimmigsten Verwünschungen und Drohungen sich eilig davon flüchtete, noch eine Strecke verfolgt von dem unermüdlichen Stock des Fremden.
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Dieser kehrte zu der Irländerin zurück, welcher die eben vollzogene Execution volles Vertrauen in die Person ihres Retters gegeben hatte.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken kann, Monsieur,« sagte sie, seine Hände fassend. »Sie werden den Werth meiner Rettung aus den Händen dieses Bösewichts verdoppeln, wenn Sie mir sagen wollen, wo ich meinen natürlichen Beschützer, meinen Bruder, finden kann!«
»Sein Namen?«
»Lieutenant Terenz O'Donnell!«
»Dann ist es der Rechte. Aber Mademoiselle, es ist unmöglich, Sie zu ihm zu bringen.«
»Wo ist er?«
»Verwundet in den Händen der Feinde!«
»Um so mehr muß ich zu ihm.«
»Ich wiederhole Ihnen, es wäre in diesem Augenblick gefährlich für Sie und ihn. Aber Ihr Bruder ist ein wackerer Bursche und um seinetwillen werde ich Sie nicht obne Schutz lassen. Wollen Sie mir vertrauen, Signora?«
»Sie haben mir mehr als das Leben gerettet!«
»Ihr Bruder schenkte mir gleichfalls volles Zutrauen, obschon ich nur ein armer Brigante bin. Ich war sein Führer bei dem Ritt und habe seinen Auftrag nach Ancona gebracht, als er gefangen und verwundet wurde. Er befindet sich in der Pflege einer wackern Frau, und ich verspreche Ihnen, so bald wir in Sicherheit sind, sofort Erkundigungen über seinen Zustand und seinen Willen in Betreff Ihrer Person
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einzuholen. Jetzt aber dürfen wir nicht länger hier verweilen. Wollen Sie mich begleiten?«
»Wohin?«
»Zunächst nach Porta Recanati, oder Civita Nuova, wo ich einen Theil der zersprengten Armee anzutreffen hoffe. Von Recanati wollen wir einen Boten an Ihren Bruder senden.«
»Ich bin bereit, mit Ihnen zu gehen - aber ich habe hier eine Pflicht zu erfüllen.« Mit einigen Worten theilte sie ihm den Tod des jungen Marquis und ihren Wunsch mit, die Leiche nach Loretto zu schaffen.
Der Brigante sann einen Augenblick nach. »Das wird sich machen,« sagte er dann. »Auf unserem Wege am andern Ufer des Musone wohnt ein Gärtner, den ich kenne. Seinen Sohn will ich nach dem Weiler schicken, wo Ihr Bruder verwundet liegt. Der Alte wird gern bereit sein, für ein Stück Geld die Leiche des armen Franzosen nach Loretto zu schaffen und dort begraben zu lassen, sobald die Piemontesen die Stadt verlassen haben. Kommen Sie denn Signora und verlassen Sie sich auf mich!«
Ein kurzes Gebet verrichtete das Mädchen noch an der Seite des Todten, dann sagte sie ihm Lebewohl und folgte hastig dem Führer, der sie mit großer Vorsicht aus den Hügeln nach der Seite des Meers zu und bis an die Furth brachte, die er am Abend vorher mit ihrem Bruder überschritten. Er trug sie auf seinen Armen durch das Wasser und erreichte glücklich die einsame Gärtnerwohnung, von der er gesprochen. Hier erhielten sie einige Nahrung, die ihnen Beiden dringend Noth that, und die Nachricht,
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daß Loretto zwar von dem Grafen Coudenhove mit dem Rest der von Castelfidardo zurückgeführten päpstlichen Truppen besetzt, daß es aber unmöglich war, es zu erreichen, da die sardinischen Posten bereits zwischen ihnen und der Stadt standen und diese bei dem ersten Angriff fallen mußte.
So wurde denn beschlossen, daß Miß Mary unter der Obhut der Gärtnersfrau ein Paar Stunden ruhen sollte und daß sie bei Tagesanbruch nach Recanati ihren Weg fortsetzen wollten. Zugleich sollte sich der Sohn der Gärtnersleute mit einem Briefe der jungen Irländerin nach dem Weiler bei Rochetto aufmachen und den gefangenen Offizier zu sprechen suchen. -
Wir müssen das Paar hier verlassen und noch einmal auf das Schlachtfeld und zu dem Augenblick der völligen Auflösung der päpstlichen Armee zurückkehren.
Die Artillerie, welche unter dem Schutz des allein noch zusammenhaltenden deutschen Schützen-Bataillons zuerst ihren Rückweg durch die Furth angetreten hatte, war sogleich auf der Straße gegen Loretto zurückgefahren, unbekümmert um die von Lamoricière aufgestellten Offiziere, welche ihr die von dem Ober-General eingeschlagene Route angaben.
Ein Deutscher, Lieutenant Uhde, entschlossen, womöglich die seinem Befehl anvertrauten Geschütze zu retten, mit denen er während des Gefechts wacker agirt hatte, war mit denselben, die Fahrer scharf unter der Mündung seiner Pistolen haltend, sofort über Loretto hinaus und zunächst nach Porta di Recanati gefahren, wo er versuchen wollte,
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sich mit den Geschützen einzuschiffen, um nach Ancona zu gelangen. Als er in dem kleinen Hafen keine Schiffe fand, setzte er sofort seine Fahrt weiter an der Küste entlang nach Civita Nuova fort.
Er hatte eben Monte Santo passirt und also die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er auf einen von drei römischen Gensd'armen und ihrem Wachtmeister escortirten Wagen stieß, der von vier Maulthieren gezogen wurde.
Die Gensd'armen sind anerkannt schon von früher her die Elite aller päpstlichen Truppen, aufmerksam und treu im Dienst und durch ihre ewigen Kämpfe mit den Banditen der Berge und den Verschwörern der Städte an Thätigkeit und Aufmerksamkeit gewöhnt, außerdem sehr gut equipirt und beritten.
Der Wachtmeister und der Offizier, Beide einige hundert Schritt ihrem kleinen Zuge voraus sprengend, parirten ihre Pferde, als sie einander erreichten.
»Halten zu Gnaden, Signor Luogotenente,« sagte der Wachtmeister, »können Sie mir Nachricht geben von dem General en chef und wo ich ihn finde?«
»Auf dem Wege nach Ancona oder in den Händen der Piemontesen.«
»Diavolo! Das wollen Gott und die Heiligen verhüten. Wir hörten Kanonendonner und glaubten, daß eine Schlacht geschlagen würde, aber -«
Der alte Soldat zögerte, fortzufahren.
»Sie wollen sagen,« unterbrach ihn der Offizier finster, »da sie diesen Geschützen begegnen, die in die Schlacht gehörten, statt hierher, könnten Sie nicht daran glauben.
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Nun, Signor Sergente, wenn Sie meinen Kanonen ein Wenig in's Maul sehen wollen, werden Sie finden, daß sie gebellt haben, und wenn Sie eine halbe Stunde warten, werden Sie genug Ihrer Landsleute begegnen, um mir's noch zu danken, daß ich meine Geschütze ohne auf sie zu warten, in Sicherheit bringe.«
»Beim Blut Christi, Signor - sagen Sie, was ist geschehen?«
»Wir sind geschlagen und die päpstliche Armee ist zersprengt. Diese Schurken sind gelaufen wie die Hasen!«
»Also die Schlacht ist verloren?«
»Total, mein Lieber, und ich möchte Ihnen rathen, nicht weiter vorwärts zu gehen.«
»Mein Gott, was soll ich thun? ich befinde mich da in der größten Verlegenheit!«
»Was escortiren Sie dort?«
»Es ist der Wagen des Ober-Generals, ich bin mit meinem Leben, oder schlimmer, mit meiner Ehre dafür verantwortlich gemacht.«
»Der Wagen kann bei so viel größeren Verlusten nicht von Werth sein.«
»Der Wagen nicht, aber der Inhalt.« Der alte Soldat beugte sich näher zu dem Offizier. »Es sind die Portefeuilles des Generals darin und zehn Kistchen mit Goldscudi's.«
»Zum Henker, das ändert die Sache! - Dann drehen Sie um und fahren Sie, woher Sie gekommen sind.«
»Ich fürchte, die Feinde werden mich bald einholen und leichter machen, wenn ich ohne Schutz bleibe. Der
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Inhalt des Wagens muß nach Ancona - aber wie? - Darf ich Sie fragen, welche Richtung Sie einschlagen?«
»An der Küste entlang, bis ich Schiffe finde, die mich und meine Kanonen nach der Festung bringen. Wollen Sie unser Geschick theilen und Ihre Ladung mir anvertrauen?«
»Mit tausend Freuden!«
»Und Ihre Gensd'armen sind zuverlässig?«
»Sie werden sich tödten lassen auf ihrem Posten.«
»Desto besser! ich wünschte, ich könnte eben so auf meine ganze Mannschaft vertrauen. Lassen Sie umwenden, begleiten Sie mich nach Civita Nuova und sorgen Sie dafür, daß Ihr Wagen auch da unmittelbar in der Nachbarschaft der Geschütze bleibt. Wir werden dort hoffentlich Nachricht einziehen können, ob es dem General gelungen, sich nach Ancona durchzuschlagen, und ich werde dann Mittel finden, meine Geschütze und den Inhalt Ihres Wagens dahin zu bringen.«
Die Verständigung der beiden braven Soldaten war rasch erfolgt und sie setzten den Weg nach dem Hafen jetzt gemeinsam fort. -
Bereits am Abend des unglücklichen Tages gelang es dem umsichtigen und entschlossenen Offizier, ein genügend großes Küstenfahrzeug in Civita Nuova aufzutreiben, um die Geschütze an Bord bringen zu könnm. Während dies mit den beiden Kanonen durch die Artilleristen geschah, ließ der Offizier im Dunkel durch die Gensd'armen einen Munitionskarren leeren und den Inhalt des zum Transport zu beschwerlichen Wagens in diesen überladen. Erst nachdem
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er selbst den Verschluß bewirkt und den Karren an Bord geleitet hatte, gönnte er sich einige Ruhe, entschlossen, am andern Tage abzufahren, sobald er weitere Nachrichten eingezogen hätte.
Noch während des Abends und während der Nacht trafen zahlreiche Versprengte ein, die Kapitain Chevigné gesammelt und dorthin dirigirt hatte. Um Mitternacht kam er selbst an und stellte sofort einige Posten auf den Straßen nach Loretto und Macerata aus, um nicht etwa von einem Streifcorps der Piemontesen überrascht zu werden.
Eine Stunde nach Sonnenaufgang herrschte bereits wieder ein reges Leben auf dem Kirchplatz des kleinen Städtchens. Kapitain Chevigné musterte die aus allen Waffengattungen bestehende Truppe der Versprengten, die Lust und Muth zeigten, bei ihm auszuharren und den Kampf weiter zu fechten. Es war dies jedoch nur noch eine ziemlich kleine Zahl, denn die Meisten hatten vorgezogen, während der Nacht oder am frühen Morgen ihre Flucht weiter fortzusetzen und sich nach allen Richtungen zu zerstreuen.
Kapitain Chevigné berieth sich eben mit dem Artillerie-Offizier, ob er versuchen solle, diesen Trupp, etwa achtzig Mann, gleichfalls zu Schiff nach Ancona zu bringen, wozu freilich augenblicklich noch ein weiteres Fahrzeug fehlte, oder nach dem Vorschlag des Fremden, den dieser ihm während der Schlacht gemacht hatte, sich zur Etablirung eines Guerillakrieges in die Berge zu werfen, als Lärmen und Rufen
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vom Eingange des Städtchens her neue Ankömmlinge verkündete.
»Muth, Bursche!« sagte eine kräftige Stimme, - »die heilige Jungfrau wird uns das nächste Mal sicher den Sieg geben, und wenn sie es nicht thut, wollen wir selber dafür sorgen, den gestrigen Tag an diesen ungläubigen Schuften zu rächen. Unterdeß gafft die Signorina hier nicht so unverschämt an und sagt mir lieber, wo ich den tapfern Kapitain Chevigné finden kann?«
»Kapitain Chevigné ist hier,« sagte dieser sich nähernd. »Sieh da, mein Braver, Ihr habt also Wort gehalten, und wen haben wir hier? - Ah - pardon, Madame, ich habe Sie in diesem Anzuge nicht gleich erkannt!«
Er verbeugte sich höflich vor der jungen Irländerin, die statt der Nonnenkutte, auf welche sie den Sterbenden gebettet, jetzt den Anzug eines Landmädchens der Gegend trug, den sie von der Gärtnerfrau eingehandelt hatte, um auf diese Weise weniger auffällig ihren Weg fortsetzen zu können.
»Wenn ich die Ehre habe, von Ihnen gekannt zu sein, Herr,« sagte das Mädchen, »so darf ich als die Schwester eines Offiziers um so mehr auf Ihren Schutz rechnen!«
»So viel ein Flüchtiger ihn selbst gewähren kann, steht er Mademoiselle zu Diensten! - Und nun, mein wackerer Mann, welche Nachrichten bringt Ihr uns von General Lamoricière? Ist er den Feinden entkommen?«
»Ich habe den General bis Sirola begleitet. Wir haben unterwegs mehre Angriffe abzuschlagen gehabt und
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der größte Theil der Eskorte ist zu Gefangenen gemacht, aber der General ist mit etwa fünfzig Reitern über Sirola entkommen und von dort ab hatte es keine Gefahr weiter, in die Festung zu gelangen, die noch immer von den Schiffen bombardirt wurde!«
»Und hat er Euch noch Aufträge gegeben?«
»Ich sollte mich nach seinem Wagen umsehen, den er gestern vergeblich in Loretto erwartete, und wenn ich Euer Excellenza träfe, Ihnen sagen, daß er ganz einverstanden mit unserem Plan wäre und Ihnen volle Freiheit zu handeln gäbe, wie es Ihnen gutdünkt!«
»Und wie lautet Euer Plan? Euer Name, mein Wackerer?«
»Tonelletto, der Brigante!«
»Richtig - ich hörte davon. - Da Sie zu den Unseren gehören, Mademoiselle, und bereits Proben Ihres Muthes abgelegt, werden Sie nicht verschmähen, unserem Kriegsrath beizuwohnen.«
Er lud sie ein, um den Steintisch unter dem Kastanienbaum Platz zu nehmen, der vor der Osteria stand.
Durch die Ankunft des Banditenhäuptlings, der gar keinen Anstand nahm, sich zu rühmen, daß er aus seinem langjährigen Kriege mit der päpstlichen Polizei her alle Schlupfwinkel der Gebirge von Loretto bis Gaëta und in den oberen Abruzzen kannte, überall Verbindungen habe und leicht wieder eine Bande von fünfzig Köpfen auf die Beine bringen könne, - hatten sich die Aussichten für den Erfolg des von dem kühnen und abenteuerlustigen Franzosen beabsichtigten Unternehmens wesentlich geändert.
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Man konnte freilich noch nicht wissen, ob die sardinische Armee sich nach der Zersprengung des päpstlichen Heeres gegen Rom selbst wenden würde, indeß mußte man daran zweifeln, da dies ein Angriff gegen Frankreich gewesen wäre. Dagegen ließ sich erwarten, daß man eine Vereinigung der nördlichen Armee mit den Truppen Garibaldi's entlang den Apenninen versuchen werde, und hierbei bot sich allerdings für ein Freicorps reiche Gelegenheit, durch Ueberfälle und kleine Angriffe dem Feinde stark zu schaden. Auf den Rath Tonelletto's wurde beschlossen, von den Soldaten nicht mehr als höchstens sechszig Mann und zwar die entschlossensten und gewandtesten an dem Unternehmen zu betheiligen, für den Rest der Schaar, die der leichteren Bewegung halber höchstens etwa hundert Köpfe stark sein sollte, erbot sich der Brigante, durch Werbung in den Gebirgsdörfern zu sorgen, indem er erklärte, daß auf seinen Wink ihm augenblicklich die doppelte Zahl zu Gebote stehe.
Nachdem dieser Beschluß gefaßt war, wollte Lieutenant Uhde nicht länger zögern, und ging mit seiner Felucke in See. Wir wollen hier gleich beifügen, daß er glücklich den feindlichen Schiffen entging und in Ancona ankam, wo ihn General Lamoricière zum Dank für die Rettung seiner Papiere und der Kriegskasse zum Kapitain ernannte.
Chevigné und der würdige Vetter des mächtigen Kardinals benutzten den Tag, um aus den Flüchtigen die für ihre Absichten geeignetsten Männer zu wählen, sie mit den nöthigen Waffen und Vorräthen auszurüsten und einige Maulthiere zum Transport derselben anzuschaffen.
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Miß O'Donnel[l] hatte das Portefeuille des jungen Marquis geöffnet und darin das Vermächtniß an seine Kameraden gefunden. Sie nahm keinen Anstand, dem Willen des Sterbenden gemäß die Summe zu verwenden und die Anweisung in die Hände des Kapitains Chevigné niederzulegen. Dieselbe wurde sofort zu Gelde gemacht, und mit den Mitteln, die man jetzt hatte, konnte man die kleine Truppe genügend ausrüsten und die nöthigen Vorräthe bestellen.
Darüber war der Tag hingegangen, ohne daß die Piemontesen so weit nachgedrungen wären. Durch die noch immer eintreffenden Versprengten und Landleute hörte man, daß es dem Obersten Grafen Coudenhove gelungen war, einen großen Theil der Versprengten in Loretto zu sammeln und sich dort zur Vertheidigung einzurichten. Allerdings hatte er, die Uebermacht des Feindes kennend, dies nur gethan, um eine günstige Kapitulation zu erlangen, und General Cialdini, der einen Angriff auf Loretto scheute, schon um nicht durch die Zerstörung dieses, in der ganzen katholischen Christenheit gefeierten Wallfahrtsortes die öffentliche Meinung zu sehr gegen sich aufzuregen, hatte sich beeilt, diese Kapitulation zu bewilligen.
Nachdem die Päpstlichen aus Loretto mit klingendem Spiel ausgezogen waren, hatten sie die Waffen niedergelegt und wurden als Kriegsgefangene nach Livorno geführt, von wo die Mannschaft nach Alessandria geschickt, die Offiziere aber nach Genua eingeschifft wurden.
Sehnsüchtig hatte die junge Irländerin auf eine Nachricht von ihrem Bruder gewartet. Endlich gegen
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Abend, als sie wieder unter dem Kastanienbaum vor der Osteria saß und hinaus sah auf's Meer, bereits entschlossen, am andern Morgen unter allen Umständen den Versuch zu machen, die von Tonelletto ihr bezeichnete Meierei zu erreichen, kam dieser mit eiligen Schritten über den Platz, auf dem eben Kapitain Chevigné den kleinen Trupp zum Abmarsch sammelte, und mit ihm der Sohn des Gärtners vom Ufer des Musone, den sie in der Nacht vorher auf Kundschaft ausgesandt hatten.
»Gute Botschaft, Signorina,« sagte munter der ehrliche Brigante. »Ihr Bruder lebt und befindet sich besser und seine Braut ist bei ihm!«
»Seine Braut?«
»Nun ja - so sagt hier der kleine Jacopo. Aber hier ist ein Brief, in dem wohl das Nähere stehen wird.«
Die junge Miß nahm hastig das mit Bleistift geschriebene Billet und erbrach es.
Der Inhalt war mit unsicherer Hand gekritzelt und lautete:
»Der heiligen Jungfrau und San Patrik Dank, daß Du gut davon gekommen, aber ich liege hier wie ein gestochenes Kalb und kann mich nicht rühren. Das Schlimmste ist, daß sie mich richtig erwischt hat, der Teufel und seine Großmutter mögen wissen wie! und der verdammte Bettelpfaffe, der mir sein Messer zwischen die Rippen gestoßen, sonst ein verteufelt guter Kerl, macht mir die Hölle heiß und will durchaus seinen Seegen über uns sprechen, obschon sie eine Ketzerin ist, weil er meint, so bequem würd' ich's nicht wieder finden. - Akuschla Liebling, wenn der Spitzbube Tonelletto bei Dir ist, hab' ich keine Bange um Dich, da er sich als ein ehrlicher Bursche
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erwiesen hat. So magst Du Dich ihm anvertrauen, bis ich wieder selbst für Dich sorgen kann, was einstweilen eine Unmöglichkeit ist, da sie mich wie ein Kind behandeln und nach Rom oder sonst wohin schaffen wollen. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich ihr nicht doch entwische, sobald ich nur erst kriechen kann, und des Kardinals Diebesvetter dreh' ich den Hals um, wenn er sich nicht wie ein braver Kerl gegen Dich beweist, der er ist! Laß mich also bei dem Burschen in Rom, der unsere Paar Pfunde in seinen Klauen hat, Deine Adresse wissen und erinnere Dich, daß unser Vater Joe O'Donnel[l] hieß und direkt von irgend einem Könige der Smaragdinsel herstammt, wenn's auch lange her ist, und daß in einer schlimmern Klemme, wie Du steckt
Die junge Dame wußte in der That nicht, ob sie über die saubere Epistel lachen oder weinen sollte. Da sie aber selbst von heiterer und kecker Gemüthsart, und auf ihrem abenteuerlichen Umherzuge mit dem Bruder schon in manche Lage gekommen war, die einen raschen und selbstständigen Entschluß forderte, zog sie das Erstere vor und wandte sich zu ihrem bisherigen Begleiter.
»Sie ziehen also in das Gebirge, um einen Brigantenkrieg zu führen, Signor Tonelletto?«
»So ist's, Madonna! Schade, daß Sie uns nicht begleiten - das Banditenleben ist nicht so schlimm, als man's macht, und Sie würden Manches dabei zu sehen bekommen, das sich der Mühe lohnt!«
»Und wer sagt Ihnen, daß ich Sie nicht begleite?«
»Wie, Signorina - Sie wollen mit uns ziehen?«
»Ei nun,« sagte sie lachend, »ich sehe nicht ein, weswegen es immer nur Fra-Diavolo's geben soll, es wird
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Ihrem Ruf nicht schaden, wenn Sie auch einmal einer Diavolina gehorchen, und wenn Sie mir auf Brigantenehre versprechen, daß ich sicher unter Ihnen bin vor Beleidigungen - nun dann Signor Tonelletto, dann zieh ich mit Ihnen in die Abruzzen!«
Der Vetter des Kardinal Staatssekretairs that einen Luftsprung. »Excellente! - Auf Banditenehre, Signora - der soll meinen Dolch bis an's Heft zu kosten bekommen, der Sie nur schief anzublicken wagt. Um Vergebung, Signorina, Ihr Name?«
»Maria!«
»Wie die Madonna von Loretto, die uns den Sieg bringen wird!« - Er warf den Hut in die Luft. »Herbei, Kameraden! Evviva la capitana Maria!«
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Villa Eugénie.

Wir haben bereits Gelegenheit gehabt, die Lage der Villa Eugénie, das vor fünf Jahren erbaute Geschenk der kaiserlichen Galanterie an die schöne Spanierin, zu erwähnen, müssen aber noch einige nähere Angaben hinzufügen, um dem Leser den Schauplatz der nächsten Scenen möglichst deutlich vor Augen zu führen, um so mehr, als derselbe im Verlauf unseres Buches mit dieser ersten Einführung nicht zum letzten Mal das Terrain der Ereignisse abgeben wird. Die kaiserliche Villa liegt, wie schon erwähnt, zwischen den Bädern und dem Leuchtthurm, in einer breiten Einbuchtung des hohen Ufers, mit der Front gegen das Meer, während die Seitenflügel rückwärts ein offenes Oblong bilden. Gartenanlagen umgeben auf allen Seiten das Meerschloß, vor dessen Front eine Terrasse von mäßiger Breite liegt, deren Balustrade die Wand gegen das Meer bildet. Eine Steintreppe läuft hinunter von dieser zu dem von den Wellen bespülten Strand, an dem an entfernterer
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Stelle einige Bo[o]te von der wachsenden Fluth geschaukelt werden. Zwei Balkone treten an der Front hervor.
Das Parterre bewohnen der Kaiser und die Kaiserin, der Kaiser die Zimmer des linken, südlichen Flügels - die Ecke nach dem Bade zu wird von dem Speisesaal eingenommen, dann folgt das Arbeitszimmer, das Schlaf- und das Badezimmer des Kaisers; - die Kaiserin die Zimmer des rechten oder nördlichen Flügels, an der Front liegt das Arbeits- und Schlafzimmer dahinter (im Flügel) ein Wohnzimmer, das Zimmer der Prinzeß Agnes Mürat und die Garderobe der Kaiserin.
Die Mitte der Front nehmen der große und der kleinere Salon ein; aus beiden führen Glasthüren auf die vorspringenden Balkone, - überall gewähren die großen, zum Boden reichenden Fenster die Aussicht auf den prächtigen Golf und die Felsen dieses Amphitheaters. Wie das gewaltige Athmen einer Riesenbrust schlägt das unaufhörliche Brausen der Brandung herüber und herauf an das Ohr der Bewohner.
Die Wohnungen des Kindes von Frankreich und des größten Theiles des Hofstaats und Kabinets befinden sich im oberen - dem einzigen - Stockwerk.
Es war Schlag 8 Uhr, als der Wagen, welcher den jungen geheimnißreichen Abenteurer, der sich Graf von Lerida und John Waterford nannte, zur kaiserlichen Villa führte, an der innern Auffahrt hielt. Bevor die zuspringenden Lakaien den Schlag öffnen konnten, hatte sich der griechische Steward der Victory vom Bock geschwungen und diesen Dienst verrichtet.
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Während die Dienerschaft neugierig die prächtige farbenreiche Tracht des reichen albanesischen Anzugs bekrittelte, trat der junge Cavalier in die Vorhalle, wo ihm bereits Graf Tascher entgegen kam.
»Willkommen Señor Conde, Sie haben als Seemann die Tugend des Soldaten, die Pünktlichkeit. Ihre Majestäten erwarten Sie und der ganze Hof, namentlich die Damen, kann ich Ihnen sagen, thut das Gleiche mit Ungeduld. Wie ich sehe, haben Sie eine Probe Ihres eigenen romantischen Hofstaats mitgebracht.«
»Meines Hofstaats?«
»Der höchst interessant sein soll, eine wahrhaft kosmopolitische oder ethnologische Sammlung. Oder glauben Sie, daß wir uns um die Badeneuigkeiten hier gar nicht bekümmerten?«
»Ah, Monsieur, ich zweifle nicht, daß Ihre Polizei so vortrefflich ist, wie Ihre Douane!« Es lag ein leiser Anflug von Sarkasmus in der Antwort.
»Ah - Pfui Graf, wer wird gleich immer an die Polizei denken. Die ist gut für Paris! Oder glauben Sie, daß Kammerzofen und Lakaien nicht Augen im Kopf und eine französische Zunge im Munde haben, um ihren Damen die Chronik von Biarritz zu melden? - Aber erlauben Sie mir, Ihnen den Herrn Maréchal des Palastes, Kommandant Aupèrement, vorzustellen!«
Die Herren verbeugten sich.
»Ist es gefällig - daß wir näher treten?«
Die Flügelthüren öffneten sich und der spanische
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Kammerdiener der Kaiserin meldete Sua Excellenza el conde de Lerida!
Mit der Tournüre des vollendeten Kavaliers, der Gewandtheit des Hofmanns und doch wieder einem gewissen freien kühnen Wesen, das den Abenteurer bezeichnete und ihm jenes romantische Lustre gab, dem nur selten die Männer, niemals die Frauen widerstehen, trat der Kapitain und Eigenthümer der Yacht in den Salon, in welchem der Hof versammelt war.
Es war der kleine Salon der Kaiserin, der sich zwischen ihrem Arbeitszimmer und dem großen Salon mit den prächtigen dreihundertjährigen Gobelins von Fontainebleau befindet. Madame Eugénie saß im Kreise ihrer Damen an der geöffneten Thür des Balkons, durch deren Flügel der kühle Seewind und jener eigenthümliche, so kräftigend auf die Nerven wirkende Hauch des Meeres mit dem Geräusch der mehr und mehr schwellenden Wogen herein drang, während sie die dunklen Wolkenmassen beobachtete, die am Mond vorüberjagten und weite Schatten auf die Fläche des gewaltigen Meeres legten. An ihrer Seite stand der päbstliche Hausprälat, der am Nachmittag ihr Begleiter gewesen war, und mit dem sie sich über die Aussicht unterhielt, die ihr Auge hier überflog.
Die Kaiserin, zu deren Füßen der junge Prinz auf einem Tabouret saß, den Kopf an die Knie seiner Mutter gelehnt, wandte sich bei der Anmeldung des Grafen sogleich um und der Kaiser verließ die Gesellschaft einiger Herren und trat ihm zwei Schritte entgegen.
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Der Graf von Lerida verbeugte sich tief vor dem Herrscher.
»Wir sind Ihnen zu neuem Dank verpflichtet, Herr Graf,« sagte der Kaiser überaus huldreich, »daß Sie es möglich gemacht haben, unserer Einladung Folge zu leisten. Die Kaiserin erwartet Sie.«
Er nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu der schönen Spanierin, die graciös den Fächer neigte.
»Wir sind so sehr in Ihrer Schuld, Señor Conde,« sagte sie, »daß mein Gemahl ernstlich darauf denken muß, Sie Ihren Irrfahrten abspenstig zu machen und an Frankreich zu fesseln, damit wir recht oft Gelegenheit haben, Ihnen unser Wohlwollen zu beweisen.«
»Euer Majestät Gnade für einen so unbedeutenden Dienst, der allein meine Dreistigkeit entschuldigen konnte, mich an jener Stelle finden zu lassen, ist so groß, daß ich es darauf wagen will, um eine besondere Gunst für mich zu bitten.«
»Desto besser, Herr Graf, sprechen Sie!«
»Dann bitte ich Euer Majestät demüthig, den kaiserlichen Prinzen nicht der Vorsorge seiner bisherigen Oberhofmeisterin für ein so geringes Versehen berauben zu wollen.«
»Ah - die Frau Admiralin!« - Sie wandte sich an den Kaiser, »Sie haben gehört, mein Herr!«
Der Kaiser schien die nur halb versteckte Kälte, mit der ihn seine Gemahlin ansprach, mit sichtlicher Zuvorkommenheit in bessere Laune verkehren zu wollen, denn er beugte sich, ihre Hand zu küssen und sagte halblaut: »Ihre
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Wünsche Madame, sind mir Befehl.« - Dann sich wieder aufrichtend, hob er die Augenlider und warf einen Blick über den Damencercle.
»Madame la Duchesse,« sagte er zu der Dame, derselben, die der Oberkammerherr dem Spanier in den Bädern als die Herzogin von Rochambeau bezeichnet hatte, »ich sehe Ihre Frau Tante nicht. Sie werden uns verbinden, wenn Sie nachsehen wollen, ob sie etwa durch Unwohlsein verhindert wird, zu erscheinen und Louis seiner Bonne zu übergeben.«
Die schwere Seidenrobe der jungen Herzogin rauschte in der tiefen Verneigung, mit welcher die junonische Figur zusammensank und dann mit stolzem sicheren Schritt den Kreis verließ.
Aber indem sich die Dame erhoben, hatte ein Blick den Spanier getroffen. Es war ein kurzer rascher Strahl aus dem kalten grauen Auge, aber in dem Moment, den er herüberflog, schien er zu einem elektrischen Funken geworden, unter dem unwillkürlich der Abenteurer erbebte.
Eine leichte Röthe stieg auf seine Stirn, aber sie verschwand im Augenblick wieder unter der großen Sicherheit, die er besaß.
Der Blick der Herzogin war nicht die einzige Beobachtung, die er gemacht hatte.
Er hatte bemerkt, daß die Hand der Kaiserin sich ziemlich heftig aus der des Kaisers los gemacht hatte, und daß auf der Stirn desselben trotz der Galanterie, die er geübt, die schwere Falte, die schon bei seinem Eintritt darauf gelegen, noch tiefer wurde, während ein Zug von
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Befriedigung über das hagere Antlitz des ehemaligen Rektors der Jesuiten von Bologna lief.
»Haben Sie Dank, Herr Graf,« sagte die Kaiserin, - »ich wußte, jenseits der Pyrenäen wohnt noch immer eine ritterliche Gesinnung für die Frauen. Und Sie, Sire, da Sie sich in so gefälliger Stimmung befinden, werden vielleicht die Güte haben, mir zu sagen, ob es wahr ist, daß heute Abend noch ein Kurier nach Paris geht?«
»Marschall Randon selbst wird um 10 Uhr mit Extrazug dahin zurückkehren. Haben Sie Befehle für ihn, Madame?«
»Ich wünsche, daß er bei der Todtenfeier des tapfern General Pimodan in meinem Namen einen Kranz auf den Sarg des Helden der heiligen Kirche legt, da ich selbst es nicht thun kann. Der Frau Marquise werde ich schreiben.«
Der Kaiser biß leicht die Lippen zusammen. »Der Herr Marschall wird Ihre Befehle entgegen nehmen, wenn er sich beurlaubt,« sagte er. »Einstweilen ist er noch in meinem Kabinet beschäftigt.«
»Ah - es scheinen also Depeschen von Wichtigkeit! - Nun, Herr Graf,« wandte sie sich abbrechend zu diesem zurück - »in unserem kleinen Cercle hier herrscht vollkommene Freiheit. Ein Jeder sucht sich zu unterhalten, wie es ihm gefällt. Thun Sie also dasselbe, wir haben hier die Freiheit der Villeggiatura. Indem ich Sie jetzt dem Kaiser und allen jenen Herren überlasse, hoffe ich, daß Sie der politischen Gespräche recht bald müde werden, und zu uns zurückkehren.«
Der junge Cavalier verstand die Entlassung und trat
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mit einer Verbeugung zurück. Der Kaiser verweilte noch einige Augenblicke.
»Wollen Sie nicht das Fenster schließen lassen, Eugénie?« frug er besorgt. Die Luft ist rauh, und es hat sich ein scharfer Wind erhoben, der, wie Kapitain Blainville sagt,« - er deutete mit einem Kopfnicken nach einem Seeoffizier, der in einer der entfernteren Herrengruppen stand, - »der leicht zum Sturm diese Nacht werden könnte. Sie werden sich erkälten, Madame! Es ist ohnehin schon zu spät in der Jahreszeit für einen längern Aufenthalt an der Küste, und ich denke, wir kehren bald nach Paris zurück.«
»Ah - Sire - Sie verschweigen mir Etwas. Ich sehe es deutlich!«
Die Worte waren mehr geflüstert - ohnehin war der Kreis der Damen, als das hohe Paar jetzt zu einander sprach, mit einer geschickten Bewegung, die jeden Anschein von Absichtlichkeit ausschloß, zurückgetreten.
»Sie irren, Madame! - wie kommen Sie darauf? - es sind Verwaltungsgeschäfte!« -
»Bah - gehen Sie! ich lasse mich nicht täuschen. Seien Sie versichert, daß ich mich nicht irreführen lasse. - Ah - kommen Sie Frau Admiralin. Es ist Zeit, daß Louis zu Bett gebt.«
»Ich will hier bleiben!« sagte das Kind.
»Du weißt Louis, daß Du heute schon einmal ungehorsam gewesen bist. Nehmen Sie ihn, Frau Admiralin, und übergeben Sie ihn seiner Bonne!«
Der kleine Knabe fing an zu weinen und verlangte nach seinem Vater.
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Aber der Kaiser hatte bereits die Gelegenheit zu einem Rückzug benutzt.
Er hielt sich einige Augenblicke in dem Kreise auf, der sich um den Fremden an der Thür des großen Salons gebildet hatte und in dem der Oberkammerherr ihn verschiedenen Anwesenden vorstellte.
»Der Herr Kommandant, Graf Bretanne - der Herr Graf Juan da Lerida.«
Der stattliche stolze Offizier, auf dessen Gesicht seit der furchtbaren Katastrophe in der griechischen Villa der Bucht von Therapia41 sich selten ein Lächeln mehr zeigte, verbeugte sich.
»Wenn ich nicht irre, habe ich das Vergnügen gehabt, diesen Herrn bereits in Varna zu sehen, in der Begleitung des General Prim - aber man nannte mir einen andern Namen. Man vergißt ausgezeichnete Physiognomien nicht!«
»Es geht mir mit der Ihren so, Herr Graf,« sagte der Spanier verbindlich. »Ich war damals im Gefolge des Grafen Prim. Meine Familie heißt Lerida Icunha de la Rosa, und ich machte also blos von meinem Familiennamen Gebrauch, da ich den Titel noch nicht führte.«
»Und ich hatte die Ehre, Sie als den Herrn von Roccabruna vor Sebastopol zu kennen,« sagte ein anderer Offizier.
»Eine Besitzung meines Oheims, des verstorbenen Marquis von Heresford, eines Freundes Seiner Majestät. Er
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zog es vor, daß ich als Italiener in der sardinischen Armee die Belagerung mitmachte. Aber obschon ich die große Ehre zu schätzen weiß, mich so unverhofft in einem bekannten Kreise zu finden, erinnere ich mich doch in diesem Augenblick nicht ...«
»Unsere Begegnung war allerdings nur flüchtig,« sagte der junge Ordonnanz-Offizier - »aber ich erlaube mir, Sie an die Jagd auf die wilden Hunde im Labordonaga-Grunde zu erinnern, am Tage des Sturms auf den Mamelon.«
»Ah richtig - ich war mit einigen englischen Freunden in der Gesellschaft. Es war bei der Gelegenheit, als Kapitain Cavendish einen so unglücklichen Tod fand.«
»Ja - er wurde vergiftet, wie man sagte, durch das Uriasgeschenk eines indischen Brahminen. Die englischen Offiziere erzählten von einer seltsamen Geschichte, die er erlebt, von einem interessanten Jagdabenteuer mit einem Tiger, aber man hat nie das Ende erfahren, da er verhindert wurde, mitzutheilen, wie er aus jener verdammten Falle entkam.«
»Wenn es Sie interessirt,« sagte lächelnd der Spanier, »kann ich Ihnen dies Entkommen mittheilen. Ich hörte es in Indien.«
»Wie, Sie waren auch in Indien?«
»Mein Oheim schickte mich bald nach dem Fall Sebastopols mit einer Botschaft an einen der indischen Fürsten - richtig, es war Nena Sahib selbst, nach Bithoor. Es war eine Art ehrenvoller Verbannung für einige Jugendstreiche in Europa.«
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»So haben Sie den indischen Aufstand dort erlebt? Sie fochten gegen die Rebellen? waren bei Delhi oder Lucknow?«
Das Interesse für den jungen Abenteurer hatte sich jetzt auch der Männer bemächtigt, - man war in den großen Salon getreten und ein Kreis umgab ihn.
»Wie meinen Sie das, Monsieur?«
»Ich frug, ob Sie unter Havelock oder Colin den schändlichen Mord von Cawnpoor rächen halfen?«
»Aber par Dieu! was denken Sie denn von mir, meine Herren? Glauben Sie denn, daß ich gegen die Indier gefochten habe?«
»Aber - sie sind doch, wie wir hörten, ein halber Engländer?«
»Goddam - mein Oheim hätte mich enterbt, wenn ich nicht auf Seite der Unterdrückten gestanden hätte. - Zu Ende des Jahres 57, nachdem Delhi gefallen, erhielt ich den Befehl meines Oheims, schleunigst nach England zurückzukehren, aber leider hatte ihn bereits die Mörderhand in Paris getroffen, und ich fand Nichts als das Testament, das sein Vermögen zwischen mir und meinem Vetter theilte. Wenn Sie mir das Vergnügen machen, meine Herren, morgen auf meiner Yacht zu dejeuniren, kann ich Ihnen ein Exemplar eines ächten indischen Thugg's zeigen, den ich gezähmt und zum Andenken an Indien mit mir genommen habe, ebenso wie den Neffen des berüchtigten smyrniotischen Räubers Jan Katarchi, den ich in Konstantinopel mit einigen Mahmuhd'ors aus den Händen des Polizeimeisters loskaufte und der jetzt mein Stewart ist.«
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»Ah - der junge Albanese, Ihr Diener! Der Herr Maréchal erzählte uns davon und wir müssen uns ihn ansehen. Sie sollen eine ganz famose Bootsmannschaft haben.«
»Very well! ich habe sie wohl an zehn verschiedenen Punkten der Erde oder vielmehr des Meeres aufgelesen, denn es sind sämtlich tüchtige Matrosen.«
»Wissen Sie auch, Herr Graf,« sagte der Marquis de la Houdinière, der junge Ordonnanz-Kapitain, derselbe der mit dem Gast an der Jagdpartie im Labordonaja-Grund42 Theil genommen, »daß Sie uns vorkommen, wie ein Doppelgänger Ihres berühmten Dichter Byron?«
»Oder wie die Personificirung seines Don Juan,« meinte ein anderer der Herren.
»Ich habe allerdings das Unglück, Juan zu heißen, aber ich habe in meinem Leben noch kein Gedicht gemacht.«
»Warum nennen Sie den Namen ein Unglück?«
»Ei - Damned! er erweckt Vorurtheile bei den Damen und ich muß gestehen, meine Herren, das thut mir sehr leid!«
Die Worte waren mit einer so sichtbaren Naivetät gesagt, daß der ganze Kreis in Lachen ausbrach.
»Vorsicht, meine Herren,« mahnte der Ober-Kammerherr, der eben vorüberging - »sehen Sie nicht, daß Seine Majestät in ernster Unterhaltung sind?«
»Was um Himmelswillen, hat es denn gegeben?« frug
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der Prinz Mürat. »Ich habe schon den ganzen Abend bemerkt, daß der Kaiser verstimmt ist. Haben Sie Mocquard noch nicht gesprochen - was hat er gebracht?«
»Er hat sich in das Kabinet des Kaisers eingeschlossen gleich nach der Rückkehr von dem Spaziergang.«
»Parbleu - macht Plonplon vielleicht wieder Streiche? Hat er eine unnütze Rede gehalten?«
»Sie werden sich noch den Mund verbrennen, Marquis.« Der Maréchal neigte sich zu dem Ohr des Prinzen. »Es sollen unangenehme Nachrichten aus Italien eingelaufen sein. Sehen Sie, wie angelegentlich sich der Kaiser mit Pietri und dem Minister unterhält.«
»Von General Goyon?«
»Ich glaube, es sind bereits Befehle zum Einschiffen von Verstärkungen abgegangen.« Er flüsterte ihm zwei Worte in's Ohr; der Prinz fuhr erstaunt zurück. »Wie - so bald? Und die Kaiserin?«
Er hatte den Maréchal am Arm genommen und promenirte mit ihm vorwärts.
»Sie scheint noch Nichts davon zu wissen. Passen Sie auf, das giebt einen Sturm.«
»Wie den da draußen, der zu wachsen scheint. - Wie Kapitain, wo wollen Sie hin?«
Der Kapitain des kaiserlichen Dampfers, der draußen in der Nähe des Leuchtthurms lag, war herangetreten. »Ich möchte den Herrn Ober-Kammerherrn bitten, mich bei Sr. Majestät zu beurlauben. Es ist zwar nur ein starkes Wehen, aber ein Offizier gehört bei ungünstigem Wetter auf sein Schiff.«
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»Oh, vor der Morgenwache wird es Nichts auf sich haben - erst dann kann der Wind umsetzen.«
Der alte Marine-Kapitain warf dem Engländer einen ziemlich unfreundlichen Blick zu. »Was ich zu sichern habe, Mylord, ist Eigenthum des Staates, nicht eines Privatmannes, wie Ihre Yacht. Meine Herren, vergessen Sie nicht Ihr Versprechen, mich an Bord zu besuchen.«
»Der brummige Seebär,« sagte der Marquis zu dem Gast, an den er sich vertraulich anschloß - »da sind Sie in der That ein anderer Mann und gewiß ein so guter Wetterkundiger wie er. Aber sehen Sie, da kommen die Fregatten, die wir am Liebsten sehen, mit vollen Seegeln in unsern Hafen. Kommen Sie, ich will Sie meiner Cousine, der kleinen Kervague, vorstellen, die ein ganz allerliebstes Mädchen sein würde, wenn sie nicht so verteufelt fromm wäre und Alles glaubte, was ihr die Schwarzröcke in's Ohr hängen.«
Die Kaiserin hatte ihren Cercle verlassen und war in den großen Salon getreten; es schien sie eine gewisse innere Unruhe zu treiben.
Zugleich mit ihrem Erscheinen begann die Gesellschaft, die bisher sich mehr abgesondert hatte, während die Dienerschaft den Thee umherreichte, sich in gemischten Gruppen zu zerstreuen. Der Ober-Kammerherr präsentirte die Karten, aber die hohe Dame schützte Kopfweh vor und lehnte es ab, zu spielen. Sie hatte Herrn von Thouvenel, der von der Seite der Apartements des Kaisers hereingetreten war und einige Worte mit diesem gewechselt hatte, in Beschlag genommen, während der Marschall mit dem Kaiser
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sprach, aber von Zeit zu Zeit ziemlich ungeduldig nach der Uhr sah, deren Bronceaufsatz Napoleon in Egypten darstellt.
Der Marquis hatte seinen alten Bekannten in den anstoßenden Salon geführt, wo eine junge Dame an einem der Fenster stand und träumerisch hinausblickte auf das dunkle Meer.
Es war die junge Blondine in dem duftigen blauen Kleide, nach der am Nachmittag in dem Felsenrondel des alten Bades der Spanier den Grafen Tascher de la Pagerie gefragt hatte.
»So einsam, meine schöne Cousine? - An was denken Sie - wie, gar eine Thräne in Ihrem schönen Auge?«
Sie wandte sich langsam um. Es war eine schlanke ätherische Gestalt mit kindlich unschuldigem Gesicht, was wie eine erst halb erschlossene Maiblüthe unter diesem vollen glänzenden Kamelienstrauß des Hofes erschien. Ein helles blondes Haar fiel in einer langen Seitenlocke über den in zarten lichtblauen Flor gehüllten Busen. In dem sinnenden verschwimmenden Auge lag eine Welt voll süßer Unschuld und Schwärmerei.
»Ich habe noch nicht Gelegenheit gehabt, es Ihnen zu sagen, Cousin Armand,« erwiederte sie. »Herr von Mocquard hat mir Briefe aus Paris mitgebracht und einer davon enthält die traurige Nachricht, daß ein Spielgefährte meiner Kindheit, der einzige Sohn der Freundin meiner verstorbenen Mutter, der Marquise von Laroche-Beauvoir bei Castelfidardo gefallen ist.«
»Wie - der junge Etienne? ich erinnere mich, ihn bei meinem Aufenthalt in der Bretagne auf dem Schloß
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Ihres Vaters gesehen zu haben. Ist die Nachricht offiziell? Er kann vielleicht unter den Gefangenen oder in einem Lazareth sein. Ich hörte davon, daß er trotz aller Abmahnungen nach Rom gegangen war.«
»Eine irländische Dame hat Frau von Laroche die traurige Nachricht mitgetheilt - sie ist Zeuge seines Todes gewesen.«
»Das ist das Loos, dem der Soldat wie der Seemann sich aussetzt. Da Sie Beides sind, Herr Graf, haben Sie gewiß doppelt oft dem Tode in's Auge gesehen. Erlauben Sie mir Cousine Angelique, Ihnen hier unseren kühnen und gewandten Ritter von heute Nachmittag, den Herrn Grafen von Lerida vorzustellen.«
»Der um eine gleiche Thräne aus so schönem Auge mit Freuden dem Tode entgegen gehen würde,« sagte der Graf galant.
»Wie kann ein armes unbedeutendes Mädchen wie ich, anders das heroische Opfer ehren, das der Mann allein das Recht hat, auf dem Altar einer großen Sache niederzulegen. O wahrlich, meine Herren, es muß schön sein, für die Sache der heiligen Kirche gleich den Märtyrern der Vorzeit sein Leben zum Opfer zu bringen. Und dennoch kann die menschliche Schwäche es nicht überwinden, ein so junges Leben zu beweinen. - Uns armen Frauen ist es versagt, für das Hohe und Edle zu kämpfen.«
»Aber sie können es im Herzen tragen und zum Kampfe dafür uns Männer begeistern,« sagte der Graf mit warmem Ausdruck.
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Der Marquis lachte. »Ich glaube wahrhaftig, Sie haben Anlage zum Schwärmer, Mylord. Nun dann, muß ich Ihnen sagen, können Sie keine bessere Gesellschaft finden, als Angelique von Kervague, und da ich leider sehr materiell bin und weniger gewohnt, mich in so ätherischen Regionen zu bewegen, als in dieser sehr schönen und vorzüglichen Welt soliden Vergnügens, nehme ich meinen Abschied und salvire mich als Weltkind vor jeder Verführung!«
Ehe die junge Bretagnerin ihn zurückhalten konnte, war er fort.
Eine leichte Röthe überzog das schöne feine Gesicht der jungen Dame, als sie sich mit dem interessanten Fremden allein sah, der zweifellos seit Stunden das Thema aller Unterhaltung der Hofdamen gewesen war.
War es der Zauber wirklicher Unschuld, süßer unerschlossener Blüthen des Herzens, der ihn bewältigte, - der gewandte kecke Mann blieb stumm.
Als das Fräulein endlich erstaunt über dieses, den gewöhnlichen Regeln der Gesellschaft widersprechende Benehmen schüchtern die Augen erhob, begegnete sie zwei dunklen Strahlen, die mit jener dämonischen Gewalt der Schlange, welche ihr Opfer fesselt, auf sie gerichtet waren.
Das junge Mädchen erbebte unter diesem magnetischen Blick und hob unwillkürlich die Hand nach ihrem Herzen.
»Herr Graf,« sagte sie endlich stammelnd, die Augen nieder geschlagen, - »Sie haben sich heute ein so hohes Verdienst um Frankreich erworben ...«
»Glauben Sie das wirklich, Fräulein von Kervague?«
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Nochmals wagte sie, die Augen zu ihm aufzuschlagen, nochmals bohrte sich die dunkle Gluth seines Blicks wie ein elektrischer Strom in ihre Seele und wiederum mußte sie die seidenen Wimpern sinken lassen.
»Ich habe es ja gesehen - wir waren Alle so erschrocken - Sie waren der Einzige, der die Kraft und die Entschlossenheit hatte, einer Mutter ihr Kind zu retten.«
»Das ist etwas Anderes!« sagte er fast hart. »Das war's, was ich that - nicht Frankreich einen unberechtigten Erben!«
»Herr Graf - - um aller Heiligen willen, bedenken Sie, wo wir sind!«
»Sollte wirklich Fräulein von Kervague, die Tochter des Tapfern, der die Herzogin von Berry mit seinem Leben gegen die Gendarmen Louis Philipps vertheidigte, weniger Legitimistin sein, als ein Fremder?«
Ein Ausdruck von Freude zuckte über ihr liebliches Gesicht. »Wie, Herr Graf,« sagte sie flüsternd - »Sie sind ein Freund der vertriebenen Königsfamilie?«
»Ich bin Bourbonist und als solcher wundert es mich, eine Dame Ihres Namens hier zu sehen.«
»Ich schulde der Kaiserin persönlich Dank - ich liebe sie. Ihr Fürwort hat meinen einzigen Bruder gerettet und ich durfte nicht undankbar ihre Güte ablehnen. Selbst mein Oheim, der Bischof von Rennes wünschte es, daß ich die Stelle einer Hofdame annehmen sollte, obschon ich wußte, daß ich mich hier nicht glücklich fühlen würde.«
»Und wo würden Sie sich glücklich fühlen?«
»O gewiß - in meiner geliebten Bretagne - darum
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stimmt mich der Anblick dieses dunklen Meers so traurig. - Aber in der That, mein Herr - es ist das erste Mal, daß wir uns sehen, und dennoch - seltsamer Weise, - haben wir Geheimnisse ausgetauscht - -«
Sie schwieg verwirrt.
Sein Blick schien sie näher und näher zu ziehen, ein unwiderstehliches magnetisches Fluidum auf sie auszuströmen, wie der kleine zitternde Vogel immer näher zum Rachen der Klapperschlange flattert.
»Mein Fräulein - haben Sie nie nachgedacht über die Sympathie der Seelen?«
»Herr Graf - - -«
»Als ich Ihnen vorhin sagte, daß ich mit Freuden für eine Thräne aus solchen Augen in den Tod gehen würde, glaubten Sie nicht, daß ich die Wahrheit sprach?«
»Mein Herr - eine bloße Galanterie -«
Wiederum schoß einer jener überwältigenden Strahlen aus seinen Augen.
»Männer meines Schlages,« sagte er mit tiefer Stimme, »vergeuden ihre Zeit und ihre Worte nicht an leere Galanterieen. Juan da Lerida hat Angelique Kervague vor fünf Stunden zum ersten Mal gesehn, und seit fünf Stunden liebt er sie und weiß, daß sie sein werden muß!«
Ein leiser Schrei - vielmehr nur ein wie um Beistand rufender Seufzer aus der schwer bewegten geängsteten Brust kam über ihre Lippen, während sie wie vernichtet auf den Sessel in der Fensterbrüstung sank, auf dessen Lehne sie sich bisher gestützt.
Der Spanier wendete sogleich sein Auge von ihr, und
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es schien dieser sensiblen nervösen Natur eine förmliche Erleichterung zu gewähren, daß sein Blick nicht mehr auf ihr ruhte. Die leichte Farbe kehrte auf ihre Wange zurück und ihr Auge begrüßte mit einer gewissen Freude den päpstlichen Prälaten, der von dem andern Ende des Salons herbeikam.
Don Lerida trat sofort mit einer Verbeugung zurück, als verabschiedete er sich von der Hofdame.
Der Prälat hatte kurz vorher von einem der aufwartenden Lakaien eine Tasse Thee genommen. Dabei waren die Hände des hohen Würdenträgers der Kirche und des Dieners nach einem bezeichnenden Blick des letzteren in Berührung gekommen und ein schmaler Papierstreifen war in die Hand des ersteren übergegangen.
Während der Geistliche den Thee schlürfte, hatte er den Inhalt des Papiers gelesen, das nur eine Zeile enthielt. So vollkommen seiner Herr auch der päpstliche Prälat war, er schien ihn doch tief zu bewegen. Die Falten zwischen seinen buschigen, bereits ergrauenden Brauen wurden noch schwerer und er dachte einige Momente mit fest auf den Boden gehefteten Augen nach.
Dann schritt er auf die junge Bretagnerin zu.
»Meine Tochter,« sagte er leise, sich neben sie setzend, »welche von den Damen Ihrer Majestät hat diesen Abend bei der Toilette den Dienst?«
»Ich, Monsignore.«
»Wollen Sie der heiligen Sache der Kirche einen wichtigen Dienst erweisen?«
»Mit Freuden, Monsignore.«
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»Dann bitte ich Sie, diesen Zettel, ohne ihn zu lesen, an einen solchen Ort zu legen, wo Ihre Majestät ihn noch vor dem Zubettgehen bemerken muß.«
»Da er von Ihnen kommt, glaube ich kein Unrecht damit zu begehen!«
»Gewiß nicht. Ich bitte Sie nur darum, weil ich die Nachricht, die Ihre Majestät damit erhält, nicht selbst zu geben wünsche. Es ist deshalb auch nöthig, daß Sie darüber unbedingtes Schweigen beobachten.«
Das Fräulein von Kervague verneigte sich; sie hatte das Papier in ihrem Busen verborgen.
In dem großen Salon machte sich eine Bewegung bemerklich; - der Kriegsminister Marschall Randon verabschiedete sich eben vom Kaiser und der Kaiserin. Der Wagen wartete auf ihn, um ihn nach der Station zu führen, wo der befohlene Extrazug seiner harrte.
Der scharfe Wind, der von der See her wehte, hatte eine jener Pausen gemacht, die häufig eintreten, ehe seine Kraft sich gewaltiger erhebt. Die Wolken verhüllten die Mondsichel nicht mehr und ihr milder Schein versilberte den Park und das Meer.
»Blainville ist zu besorgt gewesen,« sagte der Kaiser, indem er seinen Arm in den des Ministers legte. »Die Wolken verziehen sich und wir werden noch eine schöne Nacht haben. Kommen Sie, Marschall, ich will noch einige Augenblicke des frischen Seehauchs genießen und werde Sie bis zum Ausgang des Parks begleiten. Lassen Sie den Wagen dahin vorausfahren, Marquis!«
Der Stallmeister, Marquis de Caux, beeilte sich,
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dem Befehl Folge zu leisten; auf einen Wink des Kaisers öffnete einer der Kammerdiener die bereits geschlossene Glasthür nach der Terrasse.
»Meine Beduine, meine Damen, ich bitte!«
Der Kaiser, der bereits in der Thür war, wandte sich rasch um.
»Ich kehre sogleich zurück, Madame, Sie werden sich erkälten.«
»Gehen Sie doch, Louis - in diesem Klima! Ich bin nicht so verwöhnt und will gleichfalls noch etwas der Luft genießen.«
Der Kaiser kniff die Lippen, aber er ließ sofort den Arm des Marschalls fahren und reichte den seinen der Kaiserin.
Der größte Theil der Gesellschaft folgte dem hohen Paar in's Freie, wo in der That eine köstliche milde Frische herrschte.
Der Graf von Lerida war im Begriff, als einer der Letzten aus dem Salon zu treten, als ein eleganter Handschuh sich leicht auf seinen Arm legte.
»Einen Augenblick, mein Herr!«
Sich umwendend sah er sich vor der Oberhofmeisterin des Kindes von Frankreich und ihrer schönen Verwandten. Don Juan glaubte im ersten Augenblick, er habe den Damen den Weg versperrt und trat mit einer ehrerbietigen Verbeugung zurück.
Aber beide Damen blieben vor ihm stehen; ein flüchtiger Blick überzeugte ihn, daß der Salon bis auf die Dienerschaft leer war.
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»Herr Graf,« sagte die ältere Dame, »Ihre Delikatesse hat Sie offenbar verhindert, sich uns vorstellen zu lassen und unsern Dank in Empfang zu nehmen. Von der Frau Herzogin weiß ich, daß ich Ihnen diese so baldige Beseitigung der allerdings nicht verdienten Ungnade verdanke. Rechnen Sie dafür auf mich und die Meinen für jeden Dienst.«
»Madame - Sie beschämen mich!«
»Ich muß der Kaiserin folgen - die Frau Herzogin wünscht Ihnen gleichfalls zu danken.«
Sie ging voraus.
»Darf ich die Gnade haben, der Frau Herzogin meinen Arm zu bieten?«
Ein stolzes reservirtes Neigen des junonisch schönen Hauptes ertheilte ihm die Erlaubniß. Die Hand der hochmüthig kalten schönen Dame stützte sich leicht auf den Arm ihres Cavaliers.
»Lassen Sie uns gerade aus gehen, Monsieur,« sagte sie - »ich brauche den Herrschaften nicht zu folgen und ich liebe jene Stelle.«
Er führte sie dem Befehl gemäß nach der Balustrade; die ganze Gesellschaft hatte sich über den Platz zerstreut, nur die nächsten Damen und Cavaliere folgten den kaiserlichen Herrschaften.
Das Paar blieb an der Marmorgalerie stehen, die über der sich unter ihr an der Granitwand brechenden Brandung hängt.
Unwillkürlich, wie sehr auch die stolze kalte Schönheit an seiner Seite seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm,
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ließ der Kapitain der Victory doch einen minutenlangen scharfen Blick über das Meer schweifen.
Die weite Fläche war von majestätischer Ruhe in dieser ewig rastlosen Bewegung. Der kundige Blick des jungen Seemanns zeigte ihm jedoch in den höher und rascher auf einander folgenden Fluthwellen, daß das gewaltige Element bereits begonnen hatte, mehr als im gewöhnlichen Zustand sich aufzuregen. Der Mondschein tanzte und funkelte in Silberlichtern auf den sich überstürzenden weißen Kämmen der mächtigen Wogen, die wie in langen Angriffslinien weithin, so weit das Auge reichen konnte, gegen den Strand zogen und sich immer und immer wieder erneuerten, wenn sie am Ufer sich zu millionenperlendem Schaum geschlagen.
Drüben unterm Leuchtthurm, am Cap de la Fregatte, lag die dunkle Masse des kaiserlichen Dampfers und ein scharfes Auge konnte selbst ihr Auf- und Niederwogen am Horizont erkennen; vor ihnen ragten durch das Hochaufspritzen des Schaums erkennbar die dunklen Massen des St. Martin-Felsens und des Hizzard aus der bewegten Fluth.
In flüchtigem Gedanken berechnete er die Zeit, - das Gig mit Miguel, dem Schmuggler, und seinen Genossen mußte jetzt bereits im Schatten des Cap de la Fregatte liegen und Seespinne schon mit seiner gefährlichen Aufgabe beschäftigt sein, das Tau um die Schaufeln der Schiffsschraube zu legen und sie so für die Nacht unbrauchbar zu machen. Auch der Steuermann der Victory mußte mit der Barkasse auf der Höhe der südlichen Bucht angelangt
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sein und dort kreuzend die Boote des Schmugglerschiffs erwarten.
Auch die Dame hatte einige Augenblicke ihre Augen langsam über das eigenthümlich schöne Schauspiel wandern lassen, und richtete sie jetzt auf ihren Cavalier.
Die Herzogin von Rochambeau war eine Schönheit eigenthümlicher Art. Sie mochte etwa sechs- oder siebenundzwanzig Jahre zählen, vielleicht auch ein oder zwei Jahr mehr, - bei einer Pariserin läßt sich selbst ein halbes Decennium schwer unterscheiden, namentlich da von dem kaiserlichen Vorbild aller Toilettenkunst selbst für die jungen Schönheiten die abscheuliche Schminke und Paste so sehr in Mode gebracht ist. Sie war von einer hohen gebieterischen Gestalt und hatte in ihrem ganzen Aeußeren etwas Stolzes, Zurückweisendes - jede ihrer Bewegungen zeigte diesen Charakter. Ihr Haar war ein halbdunkles Braun, grau das große und leicht hervortretende, aber fast unbewegliche Auge in dem Gesicht, das nach dem Schnitt der Condy's und Croy's, von denen sie ihre Abstammung herleitete, etwas Adlerartiges hatte, indem Stirn und Nase gewölbt einen leichten Bogenabschnitt bildeten, während der voll und schön gespaltene Mund mit dem kurzen, in der Kehle verschwindenden Kinn bis zum schön geformten kräftigen Halse die Absenkung des Bogens bildete. Gesicht, Hals und Büste hatten einen leichten Bluttein und die Herzogin schien zu verschmähen, denselben durch die gewöhnlichen Lagen von Reispuder zu entstellen, ja nicht einmal der schwarze Schatten über der hochmüthig aufgeworfenen vollen Oberlippe war verborgen.
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Man sagt, daß es die schöne Spanierin, die auf dem Throne Frankreichs sitzt, liebt, sich mit contrastirenden Schönheiten zu umgeben!
Während ihr Cavalier selbstvergessen noch immer die bewegte Fläche des Meeres durchforschte, jenes gewaltige Bild der Menschengeschichte, dessen einzelne Wellen auf- und abrauschen, jeden Augenblick geboren werden und vergehen, oft vom Sturm zu Bergen gepeitscht und doch auch dann nur eine verschwindende Bewegung in der Unermeßlichkeit und der ewig thätigen Ruhe des Ganzen - hatten sich ihre Augen von dem Meer abgewandt und maaßen jetzt den Mann an ihrer Seite.
Dabei änderte sich der sonst so kalte gemessene Ausdruck dieser Augen nach und nach auf eine eigenthümliche Weise, er bekam etwas von dem des Falken, der eine Beute sieht, und es war, als ob eine höhere Blutwelle in diesen Bluttein der junonischen Büste aufstiege.
Als sie sprach, hatte die sonst etwas tiefe Stimme der unstreitig schönen jungen Frau einen vibrirenden Ton. Ihre Augen blieben auf die Brust des Cavaliers geheftet, über dessen Gilet die goldene Doppelkette der Uhr mit einem reichen, phantastisch aus zierlichen und kostbaren Bijouterieen zusammengesetzten Berlocque im Mondstrahl blitzte.
»Herr Graf,« sagte die Herzogin, »ich habe Ihnen gleichfalls meinen Dank zu sagen. Die Frau Admiralin Bruat ist meine Verwandte.«
Der Graf war bei dem ersten Laut ihrer Stimme sofort wieder der Cavalier, nicht mehr der Seemann.
»Ich wußte es, Frau Herzogin, und ich will offen
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gestehen, daß dies der Grund der Freiheit war, welche ich mir gegen die erlauchten Personen erlaubte.«
»Und wer hat es Ihnen gesagt, da Sie doch fremd in unserem Kreise schienen?«
»Der Herr Ober-Kammerherr, den ich nach dem Namen der schönen Dame frug, welche zuletzt die Terrasse des alten Bades verließ.«
»Das war dreist - indeß es ändert an meiner Schuld Nichts. Ich erlaube Ihnen, zum Dank meine Hand zu küssen.«
»Madame - Sie machen mich sehr glücklich!«
Er beugte sich über die feine volle Hand, die sie reichte und drückte einen Kuß auf den Handschuh.
Plötzlich, ohne die Hand fallen zu lassen, fuhr er, wie von einem elektrischen Funken getroffen, zurück und blickte erstaunt empor.
Der kleine Finger der rechten Hand der Dame hatte sich in eigenthümlicher Weise über dem des Cavaliers gekreuzt.
Ohne den fragenden Blick zu beantworten, zog die Herzogin langsam ihre Hand zurück.
»Nach dem Blitzen jener Edelsteine zu schließen, scheinen Sie allerliebste und gewiß auch sehr interessante Erinnerungen an dieser Kette zu tragen, Herr Graf,« sagte sie abbrechend von dem bisherigen Gegenstand. »Ich liebe jene Albums von Gold und Rubinen. Darf ich diese Zierlichkeiten betrachten?«
Der Graf, noch immer stumm, aber mit flammenden Augen, löste die Kette von seinem Gilet, und reichte ihr das Berlocque. Die zierlichen kostbaren Nichtigkeiten liefen
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durch ihre Finger, das Mondlicht war hell genug, sie zu erkennen. Einen Gegenstand behielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger und sah scharf auf ihn nieder.
Es war ein Ring von antiker Form von grün oxydirtem Gold, aus zwei mehrfach umeinander gewundenen Schlangen bestehend, deren gemeinsamen Kopf ein rother korallenartiger Stein bildete.
Jetzt zum ersten Mal hob die vornehme Dame die Augen und richtete sie voll und fest auf das dunkel geröthete Gesicht des Cavaliers.
Langsam erhob sich zugleich ihre linke Hand, faßte die feine venetianische Kette, an der ihr goldenes Lorgnon hing, und zog dieselbe empor.
An der Kette unter dem Lorgnon hing an besonderer Nebenkette gleichfalls ein Berlocque.
Ohne ihr Auge von dem glühenden des Spaniers abzuwenden, suchten ihre Finger in diesem Berlocque, bis sie einen Gegenstand gefunden.
Diesen hielt sie neben den Ring in ihrer rechten Hand.
Es war derselbe - das grüne Gold - die Schlangen - der rothe Stein - - -
Der Graf stieß - fast athemlos - ein Wort aus ...
Ein zweites aus dem Munde der Herzogin antwortete ihm - - -


»Das ist ein kaum gehofftes Glück, Madame!« sagte der Graf. »Darf ich hoffen ...«
»Daß Sie mir gefallen? Wäre ich sonst hier? Die Gesetze der Gesellschaft der freien Seelenbräute dulden
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keine Prüderie. Ich bin bereit, den Dank, den ich Ihnen schulde, mit der Hingebung einer Nacht zu lösen. An Ihnen ist es, die Mittel zu finden. - Soll ich morgen unter einem Vorwand nach Bayonne oder Bordeaux fahren?«
»Nein, Madame - es ist unmöglich. Ich bin bereit, mein Leben einzusetzen - aber ich bin gewohnt, den Becher zu leeren, sobald ich ihn zu den Lippen erhoben! Ich fordere mein Glück, mein Recht hier zur Stelle, oder niemals!«
»Sie reden wie ein Unsinniger - diese Nacht - hier? - das ist unmöglich!«
Der Graf lächelte mit übermüthigem Trotz. »Für was trüge ich den Namen des berühmten Helden der Mozart'schen Oper, wenn an dem einfachen Unmöglich eines Frauenmundes mein glühendes Verlangen scheitern sollte. Eine Frau wie Sie, hat Muth!«
»Ich habe ihn - und dennoch ...«
»Ich wiederhole Ihnen, heute oder nie! Wer weiß, welche Woge und welcher Sturm mich morgen jagt. Der ist ein Thor, der einen Himmel auf das Morgen verschiebt. Wo ist Ihr Schlafgemach?«
»Ueber dem Arbeitszimmer der Kaiserin im ersten Stock.«
»Zeigen Sie mir das Fenster!«
»Dort. Das vierte von der Ecke.«
»So ist der Zugang von dem Salon des obern Stockwerks?«
»Mein Zimmer stößt daran - es hat eine Thür nach dem Salon und dem Corridor.«
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»Und Sie können zu dem Balkon gelangen?«
»Er gehört wie die Estrade im Parterre zu einem Salon, der gemeinschaftlich ist für die Damen der Kaiserin, wie der anstoßende für die Cavaliere.«
»Sagen Sie mir - der junge Prinz, wo schläft der Prinz?«
»Aber, mein Himmel, was kümmert uns der Knabe?«
»Sehr viel. Wo ist das Zimmer des Prinzen?«
»Das Eckzimmer - nur durch ein anderes getrennt von dem meinen. Das Fräulein von Kervague ist meine Nachbarin, allerdings - diese Nacht - sie hat den Dienst - auf der andern Seite sind die Zimmer der Oberhofmeisterin und der andern Palastdamen.«
»Vortrefflich. Um welche Stunde ist Alles zur Ruhe?«
»Sie sind wahnsinnig, Graf! - Die Kaiserin ist gewohnt, um 11 Uhr ihr Coucher zu halten - um Mitternacht ist freilich Alles in Ruhe, aber -«
»Nun?«
»Es ist unmöglich, daß Sie im Schloß bleiben können. Es würde auffallen - man würde es bemerken -«
»Pardioux! ich beabsichtige auch nicht zu bleiben, sondern zurückzukehren. Wollen Sie um Mitternacht eine Schnur von der Balustrade des Balkons am rechten Pfeiler herunterlassen?«
»Zu welchem Zweck?«
»Nur um eine stärkere daran zu befestigen. Ich bin Seemann, und gewohnt, mein Leben oft dem dünnsten Tau zu vertrauen.«
»Das ist Alles Thorheit, so verwegen und verführerisch
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es klingt. Wie wollen Sie in den Park gelangen, wenn Sie das Schloß verlassen haben? An allen Zugängen stehen des Nachts Posten.«
»Auch dort?« Er wies hinab auf die an der Marmorwand sich brechende Brandung.
»Das wäre überflüssig. Die letzte Schildwach steht an den Stufen des Gartenkanals bei den Barken. Hier hindert die Brandung jede Annäherung.«
»Das ist wahr,« sagte er ruhig, während er das Gesicht abwandte, um das Lächeln, das um seinen Mund zuckte, zu verbergen. »Aber sorgen Sie nicht darum, ich warte der Schnur und dann -«
Seine Augen sprühten Feuer - die Herzogin hatte ganz wieder ihre kalte stolze Haltung gewonnen.
»Lassen Sie uns zum Salon - dort kommt die Kaiserin zurück. Finden Sie nicht auch, daß die junge Dynastie sich ein vortrefflich aristokratisches Air zu geben versteht?« -
Der Wind hatte sich auf's Neue gehoben und trieb jetzt in ziemlich heftigen Stößen dunkle Wolken vor sich her, die rasch den Mond verfinsterten und einen leichten Regen niedersprühen ließen. Alles flüchtete eilig in die Salons; - der Kaiser war sehr besorgt, daß seine Gemahlin üble Folgen des abendlichen Spazierganges verspüren möchte.
Während die Lakaien eine Collation präsentirten, war der junge Ordonnanz-Offizier wieder zu dem Spanier getreten.
»Ich muß gestehen, Mylord, Sie haben Glück. Ich
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glaube, seit den acht Tagen, daß wir hier sind, hat jene kalte Schönheit mit uns Allen zusammen noch nicht so viel Worte gesprochen, als ich sah, daß sie Ihnen bei dem Spaziergang gönnte. Ich bin wirklich neugierig, zu erfahren, was dieses röthliche Marmorbild dazu bewogen?«
»Sie hatte die Güte, den kleinen Dienst zu erwähnen, den ich ihrer Verwandten geleistet. - Ist die Frau Herzogin Wittwe?«
»Fragen Sie lieber, ob der Herzog von Rochambeau Wittwer ist! Parbleu - hätte er nicht sein petite maison in Auteuil, ich glaube, der arme Herzog würde trotz der fünf Jahre, die er verheirathet ist, noch nicht einmal wissen, daß es zweierlei Geschlechter giebt!«
»Sie scherzen!«
»Auf Ehre nicht. Er hat sich noch vor zwei Monaten bitter beklagt bei mir, als wir im Boudoir von Mademoiselle Finette plauderten und der Champagner ihm die Zunge gelöst hatte. Madame la Duchesse führt den Spottnamen l'inapprochable! Sehen Sie dort Madame von Valence - sie wechselt in Paris trotz ihrer vierzig Jahre jeden Monat ihre Liebhaber, und man sagt, es soll ihren Papa ein Heidengeld kosten, um all' die kleinen Skandale wieder zu vertuschen und den Ehemann mit dieser Hörnerfabrik en gros zu versöhnen.«
»Sie haben eine schlimme Zunge!«
»Nicht mehr, als um mich meiner Haut zu wehren. Ich weiß, daß man alles mögliche Schlimme von mir sagt, warum sollte ich mich nicht revangiren? Die Coulissen der großen Oper sind eine ganz vortreffliche Lästerschule.
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Diese Damen vom Tricot haben einen wahren Fanatismus, über ihre offiziellen Rivalinnen herzuziehen, und ich kann Sie versichern, daß diese ihnen Nichts schuldig bleiben. Aber natürlich, Sie kennen Paris?«
»Seltsamer Weise, nein. Lord Heresford, mein Oheim, hatte die unglückliche Marotte, mich lieber an allen Ecken der Welt bei Türken und Heiden umherzuschicken, als mir zu erlauben, meine Bildung in Paris zu vollenden. Deshalb, Herr Marquis, müssen Sie Nachsicht mit einem unbeholfenen Seemann haben.«
»Nun, parbleu - was das anbetrifft, da geben Sie uns mehr als eine Pferdelänge vor. Aber im Ernst, wenn Sie wirklich noch nicht in Paris waren, soll es mir großes Vergnügen machen, Sie in die Geheimnisse des Café anglais, des Maison d'Or, der Straße Breda und des Bois de Boulogne einzuweihen.«
»Ich werde Sie beim Wort nehmen, denn ich gedenke nächstens nach Paris zu kommen. Ich bin bereit, mich in St. James oder Madrid zu revangiren, - ich würde hinzufügen: in Stambul, aber das kennen Sie ja.«
»Leider. Eine gewisse Nacht in Therapia liegt mir noch in den Gliedern. Aber das erinnert mich, daß Sie uns den Ausgang jener Tigerjagd des armen Cavendish erzählen wollten, den die Brahminen-Rache von Bombay bis an den Redan verfolgte. Wissen Sie - die Kaiserin wird gleich das Zeichen zum Aufbruch geben, eben beurlaubt sich dort der fromme Kardinal in spe von ihr, um nach Bayonne zurückzukehren, wo er sicher nach des Kaisers Wunsch besser geblieben wäre, als hier Lärm zu
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schlagen für den heiligen Vater; - ich lade Sie ein, mit de Caux, der ein vortrefflicher Gesellschafter ist, bei mir noch eine Cigarre zu rauchen und eine Flasche Beaune zu trinken, ehe Sie in Ihr Quartier fahren.«
»Ich nehme mit Vergnügen die Einladung an unter einer Bedingung.«
»Und die ist?«
»Daß man Niemand meinetwegen incommodirt und Herr de Caux mir erlaubt, den kurzen Weg bis zu meiner Wohnung zu Fuß zurück zu legen.«
»Zugestanden! de Caux hat ohnehin schon Gesichter geschnitten, daß seine faulen Mastgäule den Marschall nach der Station fahren mußten. Uebrigens könnten Sie dessen Zimmer nehmen, wenn der Regen stärker werden sollte. - Aber still - da kommt der Kaiser. Er sucht Sie, Herr Graf!«
»Unser einfaches Badeleben, Mylord,« sagte der Kaiser, »wird allerdings für einen an Abwechselung so gewöhnten Mann spärlichen Reiz haben. Doch hoffe ich, daß Sie es sich einige Tage an unserer Felsenküste gefallen lassen werden.«
»Euer Majestät Erlaubniß ist mir Befehl.«
»Wenn es Zeit und Wetter gestatten, werde ich morgen mit der Kaiserin auf unserem Dampfer eine kleine Spazierfahrt machen und hoffe dabei, Ihre hübsche Yacht in der Nähe zu sehen.«
»Wenn ich es wagen dürfte, Ihre Majestäten zu bitten, an Bord meiner Yacht das Lunch einzunehmen, würde es mich sehr glücklich machen.«
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»Wagen Sie es immerhin - die Kaiserin bedarf der Zerstreuung und unsere Damen brennen vor Neugier auf Alles, was mit Ihrem romantischen Schiff in Beziehung steht. Schade, daß Blainville schon fort ist, ich hätte ihm dann gleich meine Befehle geben können. Ich hoffe, Mylord, bei der nächsten Saison in Compiègne mich für Ihre Einladung zu revangiren, wenn Sie dann erreichbar und nicht an irgend einem entfernten Ende der Welt sein werden.«
»Wo es auch sei,« erwiederte der Graf mit einer tiefen Verbeugung - »Eurer Majestät siegreicher Flagge würde ich jetzt überall begegnen.«
Der Kaiser, obschon sonst für Schmeicheleien äußerlich sehr gleichgültig, konnte sich eines beifälligen Lächelns nicht erwehren.
»Demnach - auf Wiedersehen, Herr Graf!«
Er reichte ihm freundlich die Hand. Auch die Kaiserin, obschon sie auffallend zerstreut schien, bezeigte ihm, ehe sie sich in ihre Gemächer zurückzog, ihr besonderes Wohlwollen.
Als die Damen der Kaiserin folgten, wendeten sich zwei zu gleicher Zeit wie zufällig um und ihre Augen suchten auf einen flüchtigen Moment den schönen Abenteurer.
Der Blick der jungen Bretagnerin war schüchtern, ängstlich und doch voll Seele, als wolle er noch einmal das Bild eines theuren Gegenstandes auffassen.
Der der Herzogin fest, zuversichtlich, verheißend.
Von dem Gegenstand dieses stummen Abschieds, der
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mit einer tiefen Verbeugung antwortete, wendeten sich die Blicke beider Damen auf einander, gleichsam als hätte ein Instinkt, ein magnetischer Rapport die eine in der anderen die Rivalin errathen lassen.
Die junge Bretagnerin erröthete tief und senkte wie demüthig die Augen, - die Herzogin von Rochambeau rauschte heftig an ihr vorüber. Der Abenteurer wußte jetzt, daß die verhängnißvolle Schnur nicht fehlen werde.
Ehe er mit dem Marquis noch weitere Bemerkungen tauschen konnte, näherte sich ihm der Oberkammerherr.
»Mylord,« sagte er verbindlich, »ich habe das Vergnügen, Ihnen anzuzeigen, daß Se. Majestät der Kaiser Sie zum Ritter der Ehrenlegion ernannt hat. Erlauben Sie mir, Ihnen das Kreuz zu überreichen.«
Der Graf von Lerida verbeugte sich. »Ich hoffe morgen Gelegenheit zu haben, Seiner Majestät für diese Auszeichnung zu danken. Ich denke, sie redressirt meinen schlimmen Ruf als Schmuggler bei den kaiserlichen Beamten!«
Graf Tascher lachte. »Richtig, ich hatte es schon ganz vergessen. Nun, für diese Nacht wenigstens sind unsere Douaniers sicher, da wir den König der Schmuggler in guter Verwahrung haben!«
Die Gesellschaft trennte sich in voller Heiterkeit, der Spanier folgte seinem neuen Bekannten nach dessen Quartier im oberen Stock.
Am Fuß der Treppe fand er seinen griechischen Diener, um dessen Regalirung und Unterhaltung die hübschen
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Zofen der Hofdamen sich unterdeß großes Verdienst erworben hatten.
Der Graf sah ihn bedeutsam an.
»Ist Etwas vorgefallen?« frug er in neugriechischer Sprache.
»Nein, Excellenza!«
»Suche die Parole der Wache zu erlauschen, bemerke genau, wie viel Mann auf Posten, und wo diese stehen. Erforsche, wer von der Dienerschaft in der ersten Etage schläft.«
»Es soll geschehen, Herr!«
»Gut, Du hast eine Stunde Zeit - dann gehen wir.«
Er folgte dem Ordonnanz-Offizier die Treppe hinauf zum ersten Stock.
Es war halb eilf Uhr; der Graf hatte versprochen, eine Stunde in der Gesellschaft zu bleiben, indem er sich damit entschuldigte, daß er für den nächsten Tag noch Vorbereitungen zu treffen und Briefe zu schreiben habe. Indem er mit seinem Wirth die Treppe hinaufstieg und nach dem Zimmer desselben ging, suchte er sich möglichst genau mit der Lokalität vertraut zu machen und durch gleichgültige Fragen oder das Lesen der angeheften Adressen die Bewohner der Gemächer zu ermitteln.
Im Zimmer des Offiziers fanden sie bereits den Stallmeister und Monsieur Mounier, den Erzieher des Prinzen. Die Unterhaltung war bald lustig in Fluß und wechselte in der Erzählung von Abenteuren und der Chronique des Hofes, wobei selbst die höchstgestelltesten Damen übel wegkamen. Es ist bekanntlich keine Gesellschaft reicher
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an Klatsch- und Scandalgeschichlen, als die sogenannte gute von Paris.
Endlich sah der Held der Gesellschaft nach der Uhr. »Es ist die höchste Zeit, daß ich aufbreche, Messieurs. Dieses letzte Glas auf alle schönen Damen von Paris! Wenn das Wetter es irgend erlaubt, hoffe ich mich morgen am Bord meiner Yacht zu revangiren!«
Marquis de Eaux war an das Fenster getreten und hatte es geöffnet.
»Es ist schlechte Aussicht dafür - der ganze Himmel ist umzogen und es regnet noch immer, wenn auch leicht. Ich werde auf jeden Fall für Sie anspannen lassen, Herr Graf!«
»Unter keinen Umständen - ich werde nicht einmal zugeben, daß Sie sich mit einer Begleitung incommodiren.«
»Aber ich muß Sie durch den Posten an der Parkthür bringen, das verkürzt Ihren Weg.«
»Ich werde Sie dieser Unbequemlichkeit gewiß nicht aussetzen, Kapitain und ihn allein finden, wenn Sie mir das Paßwort sagen. Ich bin ja so gut Soldat, wie Seemann.«
»Mit Vergnügen, Mylord, es heißt: Serrano!«
»Ah - der Exliebhaber der Königin! und nun besten Dank, meine Herren!«
»Eben fällt mir ein, ich komme wahrhaftig wieder um den Schluß der Tigergeschichte, den Sie uns im Salon versprochen.«
Der Graf hatte den Hut bereits in der Hand. »Oh
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von dem armen Cavendish! - Das ist leicht erzählt! Wie weit kennen Sie sein Abenteuer?«
»Bis zu dem Augenblick, wo sein tapferer Jagdgefährte Lieutenant Staunton, in Folge des gegen diesen gefallenen Looses sich für ihre Rettung opferte, und Cavendish den verwundeten Tiger, wenn auch leider zu spät, durch einen Revolverschuß in den Kopf tödtete.«
»Goddam - Cavendish hatte an dem Tage Glück - er nahm zwei Felle aus den Ruinen von Bidjeapur mit sich. Hier haben Sie in einigen Worten den Schluß seines Abenteuers.
Sie erinnern sich, daß Cavendish, auf den Rath seines sterbenden Kameraden die Dschungel in Brand gesteckt hatte, um den Tiger durch diesen Flammengürtel von der Rückkehr zu seinem Lager in den Ruinen abzuhalten, daß aber der Sterbende mit jener wunderbaren Schärfe der Sinne, welche zuweilen kurz vor der Agonie des Todes eintritt, noch das Herannahen des Tigers vernahm und Cavendish im Licht der Morgendämmerung und der brennenden Dschungel die Bestie mit rauchendem Fell heranstürzen sah.
Es war, wie sich nachher ergab, einer der größten Tiger, die seit Menschengedenken im Dekan erlegt worden waren.
Cavendish war hilflos dem Unthier preisgegeben, denn der Revolver konnte gegen eine solche Bestie unmöglich eine genügende Waffe genannt werden.
Obschon die Steinbarrikade, welche die Freunde vor der Oeffnung des Gewölbes zusammengebaut, schon von
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dem Angriff der Tigerin auseinander gerissen und zerstört worden war und keine Zeit blieb, sie wieder herzustellen, flüchtete der Offizier doch hinter ihre Reste, und erwartete hier, allen Muth zusammen raffend, auf dem Leichnam seines Freundes und der Tigerin den neuen Feind, das heißt: den sichern, gräßlichen Tod.
Der Tiger sprang mit gewaltigem Satz aus der Gluth der brennenden Sträucher und Gräser und ließ seine grünlichen Augen umherrollen.
Im nächsten Moment hatte er den unglücklichen Jäger erblickt.
Er schüttelte das rauchende, funkensprühende Fell, that einen zweiten Sprung und fiel etwa sechs Schritt weit vor dem Eingange des Gewölbes nieder.
Der nächste Satz mußte ihn zu seinem Feinde bringen!
Die Augen des Manns und des Thiers begegneten sich, - der junge Engländer befahl seine Seele Gott, und die Bestie kauerte sich auf die Hinterpranken zum letzten Sprung.
In diesem Augenblick flammte es zwischen dem Thier und dem Jäger mit Zischen wie eine Feuerwolke empor; - als sich der Dampf verzog, sah der erstaunte Jäger das vor Schmerz heulende Thier sich im Kreise fortwährend um sich selbst drehen.
Erstaunt betrachtete er dies seltsame unerwartete Schauspiel - der Gedanke überkam ihn, daß ein wunderbarer Zufall ihm zu Hilfe gekommen sein könnte.
Während er noch darüber nachdachte, sprang der Tiger mit entsetzlichem Geheul in kurzen Sätzen bald hierhin,
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bald dahin, wie zweck- und ziellos, und kauerte endlich, den Kopf mit den Vordertatzen zerkratzend, nieder.
Der britische Offizier machte eine Bewegung - die Bestie rührte sich nicht; - eine zweite Bewegung - dieselbe Nichtbeachtung! Er wagte es, vorsichtig über die Steine zu steigen und die Wölbung zu verlassen, um unter freiem Himmel den Todeskampf zu fechten - der Tiger heulte fort, schien ihn aber nicht der geringsten Beachtung zu würdigen, ihn nicht einmal zu sehen!
Zu sehen - -
Wie ein Blitzstrahl durchleuchtete ein Gedanke seine Seele - der Tiger konnte nicht mehr sehen - der Tiger war blind!
Das Wunder seiner Rettung erklärte sich ihm. Die Bestie war bei dem letzten Sprung wahrscheinlich dicht vor der Stelle niedergefallen, wo der rachsüchtige Brahmine in der Hast die wohlgefüllten Pulverhörner ausgeschüttet hatte. Indem das wüthende Thier sich schüttelte, waren Funken, welche noch von dem Durchbrechen der brennenden Dschungel an seinem Pelz hingen, wahrscheinlich auf das Pulver gefallen, das die beiden Engländer früher im Dunkel der Nacht nicht bemerkt hatten, und hatten dasselbe entzündet. Die Flamme hatte der Bestie Bart und Augen verbrannt und sie entweder für einige Zeit geblendet, oder vielleicht ganz erblindet.
Der Engländer hätte sich jetzt wahrscheinlich flüchten können, aber eine unbeschreibliche Wuth erfaßte ihn, als sein Blick auf den zerstümmelten Leichnam seines Gefährten fiel. Er nahm das noch blutige Jagdmesser in die
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Rechte, schlich sich hinter die brüllende, sich hin und her wälzende Bestie, und hieb ihr, den Augenblick warnehmend, mit glücklichem Schlage die Knieflechse des rechten Hinterbeins durch.
Mit raschem Sprung war er aus dem Bereich des sinnlos umher wüthenden Thiers, das durch die Flamme selbst die Witterung verloren zu haben schien. Der glückliche Erfolg des ersten Versuchs ermuthigte ihn und es enspann sich jetzt ein verzweifelter Kampf. Der Engländer, jede Ruhe des blinden Tigers benutzend, griff ihn mit Messer und Revolver an, erhielt zwar einige leichte Verletzungen, brachte ihm aber, immer wieder zur Seite springend, so viele Stiche und Wunden bei, daß die Bestie immer kraftloser wurde und nur noch kriechend sich wehren und umherschleppen konnte, da ihr jetzt beide Hinterfüße gelähmt waren. Nach einer halben Stunde war der Tiger todt - sein Fell, das Cavendish noch in der Krim als Lagerdecke benutzte, zeigte nicht weniger als dreiundzwanzig Verletzungen. So vieler hatte es bedurft, das zähe Leben der Bestie zu enden!
Ich kann den Rest kurz fassen.
Lieutenant Cavendish hatte kaum die letzte Revolverkugel auf den Tiger abgeschossen und sich überzeugt, daß er ihn getödtet, als die fieberische Spannung seiner Nerven zum zweiten Mal einer gänzlichen Apathie wich, und er neben seinem schrecklichen Gegner zu Boden sank, fast eben so leblos wie dieser selbst. So fanden ihn im Laufe des Vormittags seine Kameraden, die endlich, erstaunt über das Verschwinden der Beiden, sich aufgemacht hatten, sie
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zu suchen. Die Nachricht eines indischen Bauern, der sie zufällig auf dem Ritt gesehen hatte, führte sie auf die Richtung, und als sie am Rande der Dschungel die beiden Pferde mit durchschnittenen Halsadern todt, aber unberaubt gefunden hatten, war ihre Besorgniß auf's Höchste gestiegen. Die Fußspuren der beiden Jäger hatten in die jetzt abgebrannte Dschungel gewiesen, und man verschaffte sich jetzt eiligst Führer und andere Hilfsmittel, um sobald es der Zustand des Podens gestattete, weiter zu dringen. Die Annahme, daß die beiden Offiziere das Lager des Tigers erfahren und aufgesucht hätten, lag nahe; und die Eingeborenen wiesen auf die Ruinen hin, als das wahrscheinliche Ziel der beiden Jäger. So gelang es endlich, die Stätte des furchtbaren Kampfes zu erreichen.
Als Cavendish aus langem schweren Gehirnfieber erwachte, wucherte bereits üppig das Gras auf dem Grabe seines Freundes. Aber das Leben in Indien war ihm vergällt, und auf den Rath seiner Freunde nahm er, sobald es irgend sein Zustand gestattete, Urlaub und ließ sich zu einem andern Regiment versetzen.
Daß der arme Bursche damit dennoch nicht der teuflischen Rache des Brahmmen entging, wird Ihnen unser Freund hier bereits erzählt haben; und somit gute Nacht meine Herren, und träumen Sie von schönen Damen und Festen in Ihrem reizenden Paris, statt von indischen Tigern und mordgierigen Thuggs. Au revoir Messieurs!«
Er schloß die Thür hinter sich und sprang die Treppe hinab.
Im Flur des Schlosses stand bereits Mauro mit den
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Dienern - die nur noch des Wegganges des Fremden harrten, um sich auch zur Ruhe zu begeben. Juan ließ ein reiches Trinkgeld in die Hand des kaiserlichen Lakaien gleiten, der ihm den Mantel umlegte und die Thür des Foyers öffnete.
»Werden Euer Gnaden auch den Weg finden?«
»Unbesorgt - ich will Sie nicht in diesem Wetter bemühen!«
Die Thür der Halle schloß sich, der Kapitain der Victory und sein Stewart waren allein.
Es war ganz gegen das gewöhnlich wunderschöne Wetter der September- und Oktober-Tage und Nächte an dieser Küste, unangenehm. Die Luft schien nach dem warmen Tage mit Elektrizität gefüllt, aber der scharfe Wind ließ die Sammlung derselben nicht zu und jagte die tief hängenden Wolken vor sich her.
Der Regen rieselte mild und warm nieder und erhöhte die Dunkelheit. Der kühne Abenteurer überzeugte sich, daß man wenig über fünfzehn bis zwanzig Schritte weit sehen konnte.
»Kennst Du die Parole?«
»Es ist ein Name: Serrano!«
»Ich sehe, Du bist ein offener Kopf. Wie viele Ausgänge hat der Park?«
»Drei, Signor, einen im Norden nach dem Leuchtthurm zu, im Osten den Fahrweg und nach Süden zu dem Ufer. An allen dreien stehen bei Nacht Posten, außerdem ein Posten am Boothaus.«
Der Graf blieb stehen und blickte sich sorgfältig um.
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Nichts war zu hören, als das Rieseln des Regens und das mächtige Rauschen der Brandung.
»Jetzt höre mich, Mauro, und präge Dir jedes meiner Worte ein, denn es handelt sich um Tod und Leben.«
»Das ist man gewohnt in Ihrem Dienst, Excellenza.«
»Nimm meinen Mantel!«
»Excellenza -«
»Gehorche! Er verdeckt Deinen Anzug. - Gieb mir die Strouka!«
Er hing die rauhe zottige Wolle um seine elegante Toilette.
»Die phrygische Mütze!«
Er reichte dem Griechen den Hut.
»Wo sind die Revolver, die ich Dir mitzunehmen befahl?«
»Hier, Excellenza!«
Als der Graf sie in die innern Taschen seines Fracks steckte, athmete er tief wie im Gefühl der Sicherheit. »Caramba,« sagte er - »das macht mit dem meinen fünfzehn Schüsse und das muß genügen.«
Er fühlte in seine Taschen, wie als wolle er sich überzeugen, daß Alles, dessen er bedurfte, vorhanden sei. »Die Schnur,« murmelte er - »der Knebel - die Phiole und der Schwamm - so!« Er ließ seine Uhr repitiren. »Noch zehn Minuten bis Mitternacht! - Jetzt höre!«
»Befehlen Sie!«
»Du gehst aus dem Park durch die östliche Thür, den Fahrweg, hüllst Dich in Deinen Mantel, grüßest die Wache und giebst die Parole. Hast Du verstanden?«
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»Ich begreife. Excellenza wünschen, daß man glauben soll, Sie selbst hätten sich entfernt.«
»So ist es. - Sobald Du außer Gesicht der Schildwach bist, verläßt Du den Weg und ersteigst den nächsten Abhang zu Deiner Rechten.«
»Ich werde ihn finden.«
»Auf der Höhe läuft ein Weg nach dem Hôtel Gardères, und dem Ort, den Du später zu nehmen hast. - Auf der Höhe wartest Du, bis die Glocke der Kirche das erste Viertel schlägt. Du verstehst zu Deinen vielen andern Künsten das Geschrei der Möwe nachzumachen?«
»Vortrefflich, Excellenza. Wie oft haben wir Knaben uns damit am Strand von Smyrna belustigt!«
»Sobald die Uhr geschlagen, ahmst Du möglichst laut zwei Mal den Schrei der Möwe nach.«
»Ah - Diavolo! das Signal für den Elephanten Miguel. Aber werden sie's in dieser Entfernung hören?«
»Sie werden trotz des Windes - denn Du stehst über der Küste und das Wasser befördert den Schall. Im schlimmsten Fall bleibt mir immer noch dasselbe Zeichen. Ich will nur vermeiden, die Aufmerksamkeit der Posten zu erregen.«
»Was habe ich weiter zu thun?«
»Nichts - als Deinen Weg dann fortzusetzen nach dem Hause, aus dem wir gekommen sind. Du steigst die Treppe hinauf in mein Zimmer. Marga - die Dame des Hauses wird uns erwarten.«
»Aber wenn ich allein komme ...«
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»Du sagst, daß man im Schloß mich noch zurückgehalten. Sie möge sofort die blaue Lampe anstecken.«
»Die blaue Lampe?«
»Ja - es ist das Signal für Deine Kameraden. Dann heiße sie in meinem Namen Dich nach der Meerkammer hinab zu lassen.«
»Nach der Meerkammer?«
»Ja - Du hast sie noch nicht betreten. John hat Dir doch den Eid abgenommen?«
»Ich habe geschworen, aber Excellenza wissen, daß es dessen nicht bedurft hätte.«
»Du findest dort Rafael und den rothen Portugiesen. Was auch geschehen möge, Ihr müßt Euch dort verborgen halten, bis Ihr Weisung von mir bekommt.«
»Und die Doña?«
»Welche Nachfrage auch geschieht, sie weiß weder von Dir noch von mir und hat uns nicht gesehen, seit der kaiserliche Wagen uns abgeholt hat.«
»Wird sie auch schweigen können? Frauenzungen sind leicht beweglich.«
»Thor! Man könnte sie ihr mit glühenden Zangen aus dem Halse reißen, und sie würde Nichts verrathen. So - nun hast Du Deine Instruktion. Befolge Sie pünktlich und geh!«
Mauro zögerte.
»Excellenza -«
»Was willst Du noch?«
»Wenn Ihnen Gefahr droht - wollen Sie mich nicht lieber in Ihrer Nähe behalten? - Sie wissen, daß
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ich treu sein kann, obschon ich ein Grieche bin, und ich kann der Gefahr in's Auge schauen. Ich habe den Yatagan des türkischen Mörders über dem Haupte meines Oheims blitzen sehn und nicht gebebt, als ich ihm das verhängnißvolle Wort zurief43. Ich will auch treu zu Ihnen stehn!«
»Narr -« sagte der Graf - »ich hoffe, so weit soll es nicht kommen, obschon es möglich genug ist! Aber Deine Anwesenheit würde nur die Gefahr vermehren. Du dienst mir besser, indem Du meinen Auftrag ausführst. Und jetzt fort mit Dir, denn die Minuten sind kostbar!«
Ohne weitere Widerrede entfernte sich der Steward.
Der Graf wartete, bis er ihn nicht mehr sehen konnte. Dann kehrte er um und ging mit leichtem vorsichtigem Tritt über den Rasen zurück nach der Villa.
Als er in ihre Nähe kam, beugte er sich fast bis zur Erde, indem er weiter schlich. Jede seiner Bewegungen war vorsichtig und berechnet wie die des Fuchses, wenn er seine Beute beschleicht. Als er sich der Stelle des Schloßflügels gegenüber befand, an welcher sich das Arbeits- und Schlafzimmer des Kaisers befinden mußten, hielt er, am Boden niederkauernd, inne.
Durch die Jalousieen schimmerte ein schwacher Lichtstrahl.
»Ah - er arbeitet noch, vielleicht an den Commentaren Cäsars!« murmelte er höhnisch. - »Caramba, er thäte besser, sich in diesem Augenblick mit dem Britannicus
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zu beschäftigen! - Es ist unangenehm, daß er noch wach ist!«
Vorsichtig schlich er weiter und um die Ecke des Gebäudes. Hier konnte er sich freier bewegen, das Rauschen der nahen Brandung verbarg das Geräusch seiner Schritte und der dunkle Grund seine Gestalt.
Er ging am ersten Erker vorüber und näherte sich dem zweiten, als plötzlich durch die geschlossenen Jalousieen des kleinen Salons ein Lichtstrahl fiel.
Sein Mund murmelte eine Verwünschung, während er einen Schritt näher trat, um sein Auge an die Oeffnung der nächsten Jalousie zu legen.
Das, was er sah, fesselte ihn so sehr, daß er eine Zeitlang regungslos stehen blieb, selbst nachdem der Lichtstrahl verschwunden oder vielmehr vorüber gezogen war nach dem großen Salon und dem Speisezimmer hin.
»Sie geht zu ihm,« murmelte er - »der Ausdruck ihres Gesichts war sehr erregt, das schwarze Auge drohte förmlich. Goddam - das ist eine unangenehme Verzögerung, es bedarf doppelter Vorsicht! - Doch - hier giebt es etwas, mich für das Warten zu entschädigen!«
Die Worte galten dem leisen Husten von der Höhe des Balkons.
Er antwortete mit dem gleichen Zeichen - im nächsten Augenblick hörte er das leichte Klappern eines Schlüssels, der an der Mauer niedersank und er fühlte den dünnen Faden, an welchem derselbe hing.
Mit unhörbarer Bewegung öffnete er sein Gilet und begann eine starke seidene Schnur abzuwickeln, die er unter
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diesem um seine Hüften gewickelt getragen hatte. Schon während der Arbeit knotete er einzelne Schlingen hinein.
Seine Geschicklichkeit als Seemann half ihm dabei. Die Schnur war von Seide, von der Dicke einer starken Gänsespule, aber ungemein fest gedreht. Die Schlingen, welche er mit großer Geschicklichkeit in der Entfernung von etwa 2 Fuß von einander in die Schnur warf, waren groß genug, den Fuß eines Mannes aufzunehmen.
Es dauerte etwa 5 Minuten, bis er deren etwa ein Dutzend geknüpft hatte; dann band er das Ende der Schnur um den Schlüssel und gab ein zweites Zeichen. Sogleich wurde der Faden aufgezogen und die einfache, freilich nur für die Gewandtheit eines Seemanns gangbare Leiter, stieg in die Höhe.
Einige Augenblicke - »Fest!« klang es leise vom Balkon herab.
Die Hand des Abenteurers öffnete die erste Schlinge, der Fuß setzte ein - so die zweite, die dritte - in Zeit von drei Minuten schwang er sich über die steinerne Balustrade.
Eine Frauengestalt in einen weiten Bournous gehüllt, erwartete ihn - eine weiche warme Hand faßte die seine. »Kommen Sie!«
»Einen Augenblick!« Vorsichtig zog er den Seidenstrick empor und barg ihn im Schatten der Balustrade.
»Jetzt! schöne Königin der Liebe und Freude!«
Leise öffnete sie die Glasthür des Salons und schloß sie wieder. Die weiche warme Hand zog ihn hinter sich drein - eine Seitenthür öffnete sich, durch die Falten der
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Portière drang heller Lichtglanz - ehe er noch recht wußte wie, war er im Boudoir der schönen Frau.
Eine kurze Zeit blendete ihn der Lichtglanz nach der tiefen Dunkelheit. Das Zimmer war - wie die ganze Ausstattung der Villa - einfach decorirt, Möbel und Vorhänge von dunkelblauem Seidenstoff, die Fenster waren dicht verhangen, auf dem Tisch brannte ein schwerer silberner Armleuchter; dies und der silberne Credenzteller mit Crystallflaschen, in denen das braune Gold und die rothe Gluth spanischer Weine funkelte, waren der einzige Luxus außer der prächtigen vergoldeten Spiegeltoilette vor einem der Fenster und der reichen Frauengarderobe, deren Stücke in Unordnung auf Stühlen und Sesseln lagen.
Dort an der Wand - der Thür gegenüber, durch die sie eingetreten, stand eine andere offen; - der Schein der Kerzen fiel auf die seidenen Pfühle, das blendende weiße Linnen zwischen den geöffneten Vorhängen - -
Als der Graf den rauhen nassen Mantel fallen ließ und sich umwandte, bot sich ihm ein Anblick, der seine Sinne entflammte.
Die schöne Frau mit dem Marmorgesicht, die stolze Aristokratin, deren kalter schroffer Blick sonst jedes Gefühl zu ertödten schien, stand vor ihm mit glühenden Wangen, mit loderndem Feuer in den sonst so eisigen Augen. Der Bournous, der ihre ganze hohe Gestalt verhüllt hatte, war gesunken, nur ein leichtes weißes Nachtgewand verhüllte die schlanken und doch üppig geformten Glieder; der wogende Busen in seiner auf- und niederfliegenden Gluth hatte bereits die lästige Hülle zurückgedrängt, ihre weißen
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nackten Arme streckten sich aus dem wallenden Gewand, umschlangen und zogen ihn an diese Genuß heischende Brust, ihre Lippen hefteten sich fest glühend auf die seinen.
»Freund meiner Seele, schönster der Männer!« grollte sie, als sie sich endlich von den seinen gelöst, - »meine Sehnsucht konnte den Augenblick kaum erwarten! O wie lange habe ich entbehrt - wie bin ich seelig, daß ich Dir begegnet, süßer, starker, unwiderstehlicher Mann!«
Und nieder zog sie ihn auf den breiten Divan, ihre liebezitternde Hand schenkte klirrend die Gläser voll mit dem feurigen Wein, sie hob das Glas zu ihren Lippen, sog den entflammenden Trank und heftete ihren Mund dann auf den seinen, Wollust und Wein strömend in ihn.
Nur mit gewaltsamer Anstrengung riß er sich los von ihr, während ihre erzitternde Hand sein Herz suchte.
Er gedachte seines Zwecks - der großen, welterschütternden That, die er sich gestellt.
»Wissen Sie, Herzogin, wen ich gesehen?«
»Pfui des Namens - ich bin Claire - Claire für Dich - die freie Seelenbraut! Was kümmert's mich, wen Du gesehen, wenn ich Dich hier halte, in meinen Armen!«
»Die Kaiserin - sie ging durch den Salon!«
»Was geht mich die Spanierin an mit ihrem kraftlosen Gatten! Du bist mein Ideal! - Es wird eine Scene geben voll Bitterkeit und Groll, während wir hier des Höchsten uns freuen!«
»Wissen Sie Näheres, Claire? Sagen Sie es mir!« Er küßte ihre entgegendrängenden Lippen.
»Warum sollte ich es nicht wissen? Frauen wissen
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Alles! Die Spanierin ist außer sich, weil man ihr die Nachricht verheimlicht hat!«
»Welche Nachricht?«
»Von Ancona glaub' ich - es ist gestern erobert oder hat capitnlirt! Sie will fort, morgen schon - nach Schottland! aber ich gehe nicht mit ihr - bei Dir ist Leben! - Seyn!«
»Wie - Ancona ist gefallen?«
»Was kümmert das uns, süßer Liebling! Drängt es Dich nicht zu mir? Fort mit Allem, was uns hindert an der Vereinigung unserer Seelen!«
Er ermannte sich mit Gewalt - der Gedanke blitzte ihm durch die Seele, welchen großen gewaltigen Umschwung es geben mußte trotz aller Siege der Revolution, wenn - -
Er mußte frei sein, Herr seines Willens - der günstigen Gelegenheit - -
Seine Hand faßte in die Brusttasche - die Finger suchten das Flacon, den mit Aether getränkten Schwamm - -
Aber schon war sie fort von ihm - in dem halbdunklen Rahmen des Kabinets stand sie - wie Wolken, vom Sturm verweht, flogen die Nachtgewänder von dem entzückend schönen Leib - sie hob die Arme, der weiße Leib bäumte sich in wilder Lust -: »die Seelenbraut ruft Dich - die Seeligkeit - zu mir -«
Auf dem Lager wand sich ihr schwellender Leib - jeder Gedanke war Vergessenheit in ihm, jede Fiber eine Gier - jedes Empfinden ein Vulkan - Vernichtung im Erschaffen - -
Was kümmerte ihn jetzt der Bischof von Taragona -
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das Geschick der Bourbons - das Kind Frankreichs, und wenn ihrer hundert wären - - Genuß - Seeligkeit, das war Alles, was er dachte, - das Feuer, das in seinem Hirn tobte! - nicht ein Atom seiner Gedanken dachte an das befohlene Signal des Griechen, an die Treuen, die im Sturm, jeden Augenblick bedroht mit dem Zerschellen des kleinen Nachens am Fels von San Martino lauerten - - -


Die Uhr im Zimmer schlug die erste Stunde nach Mitternacht, als er emporfuhr und sich gewaltsam aufraffte aus der Erschlaffung von Körper und Geist.
Die Kerzen waren zur Hälfte niedergebrannt - ihr matter Schein fiel auf das schöne Weib, das regungslos, gebrochen, zum Tode erschöpft, an seiner Seite ruhte.
Der weiße volle Arm war um das halb zurückgebogene Haupt mit den dunklen gelösten Haaren geschlungen - tiefe Schatten lagen über den gebrochenen Augen - nur der halb geöffnete Mund schien noch Verlangen zu athmen, nur der langsam, schwer auf- und niedersteigende Busen zeigte, daß noch warmes Leben war in diesem erschlafften Körper!
Der kühne Abenteurer war mit einem Sprung von dem Lager, und schlug sich wild vor die Stirn. »Verdammt diese Sirene und meine Thorheit!« murmelte er - »sie haben Recht, wenn sie sagen, daß die Weiber stets meine beste Kraft ertödten werden. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät!«
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In weniger als fünf Minuten stand er in seinen Kleidern, die Stronka umgeworfen, den Fuß zum Fortschleichen erhoben. Noch einmal fiel sein Auge auf den Alkoven, auf die schöne Schläferin - er zögerte, er faßte auf's Neue nach dem Flacon.
»Sie könnte aufwachen - aber nein, sie schläft zu fest, jede Fiber in ihr bedarf der Ruhe. Aber ich werde es brauchen, den Kammerdiener zu betäuben, der im Vorzimmer schläft, oder die Bonne. Der Schlaf des Alters ist selten fest!« Er öffnete das Flacon, hielt es auf Armeslänge von sich und goß einige Tropfen auf einen kleinen Schwamm, den er wieder in der Tasche barg. Dann löschte er die Lichter aus bis auf das eine tief herabgebrannte, das er in der hohlen Hand trug, schob die Portière zurück und drehte vorsichtig den Schlüssel.
Er stand in dem Salon der Damen.
Das Erste, was er that, war an das Fenster zu treten und hinunter in den Park zu sehen.
Ein so scharfes Auge er auch hatte, mußte er sich doch erst an das Dunkel wieder gewöhnen. Die Nacht schien noch immer rauh, der Mond war von Wolken verhüllt und der Wind blies schärfer als vorhin.
»Sie werden sich an dem Felsen nicht haben halten können,« murmelte er - »sie werden sich entfernt haben.«
In dem Augenblick sah er eine dunkle Gestalt sich in dem Garten bewegen.
»Caracho! - wirklich - da sind sie noch - das muß Miguel sein! Vorwärts, Juan - die nächste Minute entscheidet über mehr als eine Krone!«
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Er ging mit raschen unhörbaren Tritten durch die beiden Salons und näherte sich der Thür, welche aus dem zweiten in die Gemächer des kaiserlichen Prinzen führte.
Einen Moment noch blieb er hier stehen, überlegend, was er zu thun habe bei dem gefährlichen Werk, das er ausführen wollte.
Dann, den gelöschten Lichtstumpf unter dem Mantel verbergend, versuchte er mit der Rechten, leise die Thür zu öffnen.
Der Griff drehte sich geräuschlos - die Thür öffnete sich - er stand in dem Zimmer.
Hinter einem Schirm brannte matt eine Nachtlampe und verbreitete einen matten Schein über das ziemlich große Zimmer, in dem Spielsachen aller Art umherstanden und lagen. So gering auch das Dämmerlicht war, konnte er doch erkennen, daß auf einem Feldbett in einer Ecke ein alter halbangekleideter Mann lag. An der linken Wand stand eine Thür halb offen und ließ in ein dunkles Zimmer sehn, aus dem bei der herrschenden Stille zwischen dem eintönigen Geräusch der Brandung das tiefe regelmäßige Athmen eines Schlafenden hervordrang.
Dort war das Zimmer der englischen Bonne - dort schlief das Kind.
Entschlossen that er einen Schritt nach dem Lager des alten Dieners, den äthergetränkten Schwamm aus der Tasche ziehend.
In dem Augenblick erklang deutlich von unten her ein heller schriller Schrei.
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Gleich darauf hörte man heftig eine Thür schlagen. In dem Schlafzimmer regte es sich.
»Master Duroulin hörten Sie Nichts?«
Der alte Kammerdiener drehte sich auf seinem Lager - er war nur halb wach geworden von der Frage der Bonne.
»Was giebt's, Madame?«
Mehr hörte der Graf nicht. Mit einem Schritt war er im Schutz des Halbdunkels zurück an der Thür, mit einem zweiten hinaus - und drückte die Thür geräuschlos in's Schloß.
Aber unter ihm wurde es lebendig - er hörte deutlich in dem großen Salon eine Männerstimme, die nach den Frauen der Kaiserin rief -
Der Abenteurer begriff, daß das Spiel verloren war, - verloren durch seine eigene Thorheit, welche die günstige Stunde versäumt in den Armen der Wollust, wenn er auch noch nicht die Ursach kannte.
Jetzt galt es nur noch, zu entkommen - er durfte hier nicht gefunden werden.
Im Nu war er an der Thür des Balkons und suchte nach dem Griff.
Er konnte ihn nicht finden - sein Tasten war vergeblich - schon hörte er die Thür zur Linken gehn und das Hüsteln des alten Kammerdieners.
Sollte er zurück zur Herzogin?
Aber sicher kam man dorthin - um keinen Preis durfte er sie compromittiren.
Vielleicht ließ sich durch die untere Halle selbst
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entkommen. So schnell wie der Gedanke kam, hatte er die Thür des Salons nach dem Flur geöffnet und glitt hinaus auf den dunklen Flur. Noch war unten Alles finster - er tappte nach der Treppe umher - aber eben als er sie gefunden, wurde es licht unten in dem breiten Treppenhause. Der Weg war versperrt.
Einige Augenblicke stand er rathlos - man kam die Treppe herauf - kaum hatte er Zeit, sich in eine der Fensternischen des Korridors zu drücken.
Es war eine Kammerfrau mit Licht in der Hand. Sie ging dicht an dem Versteckten vorbei nach der nächsten Thür und klopfte an.
»Mademoiselle de Kervague!«
»Wer ist da?« frug eine zarte Stimme.
»Jeannetton! Die Kaiserin ist unwohl geworden - kommen Sie eilig herunter; ich muß den Doktor rufen. Wollen Sie Licht?«
Der Versteckte hörte die Thür öffnen, er sah eine zarte weiße Hand sich herausstrecken und mit der angezündeten Kerze wieder verschwinden. Die Kammerfrau kam dicht an ihm wieder vorüber, ohne ihn zu bemerken und ging eilig nach dem andern Flügel.
Ueberall wurde es jetzt lebendig - Thüren gingen - man hörte Personen hastig hin- und herlaufen - in wenigen Minuten mußte er entdeckt werden.
Zurück zu dem einzigen Zufluchtsort, der ihm blieb, dem Zimmer der Herzogin, konnte er nicht mehr - denn in dem Salon war bereits der alte Kammerdiener des
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Prinzen zu hören und kam an die Thür, Madame Jeannetton zu fragen.
In dieser höchsten Noth fuhr ihm ein Gedanke durch den Sinn und im nächsten Moment war er ausgeführt.
Vom Eingang des Salons aus, wo die Beiden sprachen, konnte man eines großen Schranks wegen die Thür des Zimmers nicht sehen, an die vorhin die Kammerfrau geklopft hatte. Wie ein Schatten huschte er aus seinem Versteck über den Korridor, hinter den Schrank, an die Thür und öffnete sie.
Eingetreten, schob er den Nachtriegel vor.
Er befand sich in einer kleinen Antichambre, in die Licht aus dem anstoßenden Zimmer des jungen Mädchens fiel, das eben ein Negligée überwarf.
Sie hatte den Rücken nach der Thür gekehrt und schlang das gelöste Haar zum Knoten - offenbar glaubte sie, daß es die Kammerfrau wäre, die sie zu Eile treiben wollte.
»Gleich, liebe Jeannetton - ich bin im Augenblick fertig. Mein Gott - was ist denn geschehen?«
»Angelique ...!«
Erstaunt wandte sie sich um - der Schreck fesselte den Schrei auf den geöffneten Lippen.
»Keinen Laut Angelique - es gilt mein Leben!«
Das zitternde Mädchen war halb ohnmächtig in den Sessel gesunken, vor dem sie stand - unbewußt fuhren in erster Bewegung ihre Hände nach dem Nachtgewand, es schamhaft über dem jungfräulichen Busen zu schließen.
»Heilige Jungfrau, schütze mich!«
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»Angelique - um Himmelswillen - fassen Sie Muth! erkennen Sie mich nicht?«
Sie starrte ihn mit weit geöffneten Augen an. »Der Graf - der Graf!« stammelte sie endlich. - »Was wollen Sie hier - fort! Rühren Sie mich nicht an!«
Er kniete zu ihren Füßen. »Fassen Sie sich, Angelique! Ich schieße mir eine Kugel durch den Kopf, hier, zu Ihren Füßen, wenn Sie mich nicht retten!«
»Retten -? Sie?«
»Die Augenblicke sind kostbar! hören Sie mich! Ich liebe Sie, Angelique - wie eine Sturmfluth ist diese Liebe über mich gekommen, Sie wissen es! Ich klage mich selbst an, aber ich konnte nicht widerstehen! ich mußte in Ihrer Nähe sein - Sie noch einmal sehen! So schlich ich mich zurück in das Schloß - die Schwelle Ihrer Thür nur wollt' ich küssen, die Stelle, die Ihre Hand berührt! - Ein unglücklicher Zufall setzt das Schloß in Aufruhr - ich bin verloren, wenn man mich hier trifft!«
»Barmherziger Gott - und Sie dringen zu mir ein? was soll ich thun - ich bin entehrt!«
»Nicht, wenn Sie Ihre Fassung behalten. Niemand hat mich hier eintreten sehen. Können Sie mich auf eine Stunde, bis Alles wieder ruhig - verbergen?«
»Nein! nein - fort! fort!«
»Wollen Sie meinen Tod?«
»Heilige Jungfrau, erbarme Dich! was soll ich thun - ich - ich - -«
Sie rang verzweifelnd dls Hände. Er hatte den Arm
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um ihren jungfräulichen Leib gelegt und zog ihn zu sich, mit seinen brennenden Blicken sie verzehrend.
»Angelique - werden Sie mich lieben?«
Kraftlos, willenlos sank das Haupt des unglücklichen Mädchens an seine Brust.
Er hob ihr Engelsangesicht zu sich empor, er küßte ihre geschlossenen Augen, ihren bleichen Mund. Ein wilder dämonischer Triumph funkelte in seinen Blicken.
Entsetzt über ihre Schwäche fuhr das unschuldige Mädchen empor aus seinen Armen. »Ich beschwöre Sie - fort! fort! man wird kommen, mich zu holen - ich sterbe, wenn man Sie findet!«
»Nein, Angelique - nur einen Augenblick Ruhe! - Wohin führt dies Fenster?«
»Nach dem Garten - aber - es ist unmöglich -«
Sie klammerte sich an ihn, während er rasch nach dem Fenster ging, nachdem er das Licht auf der Toilette ausgelöscht.
»Juan - Juan - Sie tödten sich - und mich! - Juan - nicht dort hinab - Juan - ich will meine Ehre opfern - Juan - ich liebe Sie!«
»Muth! vertraue mir!« Er hatte das Fenster geöffnet und bog sich prüfend hinaus.
Es war hell genug, zu erkennen, daß etwa zwei Ellen unter der Brüstung ein breiter Sims um die Mauer lief.
»Muth - Geliebte! - Fassung! ich habe schon Schlimmeres gewagt. Auf Wiedersehen, Angelique!«
Er preßte einen heißen Kuß auf ihre Lippen und machte sich fast mit Gewalt los aus ihren umschlingenden
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Armen. Im Augenblick darauf war er schon aus dem Fenster und stand auf dem Sims.
»Dein Engel ist mit mir! Fassung, Angelique! daß Du Dich und mich nicht verräthst!«
Ein Sprung hinaus in die Nacht - ein schweres, aber elastisches Aufprallen auf den Rasen -
Die Bretagnerin lag weit hinaus über die Brüstung.
»Auf Wiedersehen - Angelique! schließe das Fenster - Vorsicht!«
Der kecke Sprung war dem gewandten Turner gelungen - er hatte sich wieder aufgerafft und glitt gebückt über den Rasen hin in der Richtung nach dem Meer - noch hörte er das leise Klingen des geschlossenen Fensters! -
»Halte-là - qui vive?«
Es war der Anruf einer Schildwach - aber er wurde ziemlich leise gethan.
Der Graf hatte den Griff eines Revolvers bereits in der Hand - aber er besann sich anders.
»Serrano!« sagte er, sich aufrichtend. »Kamerad - still, ich bitte Sie, machen Sie kein Lärmen. Ich bin ein Kavalier des Hofes, wie Sie aus dem Paßwort hören - ein Liebesabenteuer - ein Franzose verräth dergleichen nicht!«
»Ich dachte es mir fast,« sagte der Soldat. - »Es ist kein Unglück, Monsieur und nicht gegen die Instruktion. Aber es war ein verteufelter Sprung und Sie hätten Hals und Beine dabei brechen können.«
Er ging mit ihm einige Schritte über die Ecke des Schlosses hinaus.
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»Können Sie mir vielleicht sagen, Monsieur, was das Schießen da drüben zu bedeuten hat? Ich hörte es schon mehre Male trotz des Windes, und im Schloß scheint man es gleichfalls vernommen zu haben, da ich Lichter überall sehe. Deshalb kam ich auch von meinem Posten herüber.«
»Und es war die Ursach, Kamerad, daß ich mich Hals über Kopf aus dem Staube machen mußte. Aber es ist offenbar nichts Anderes, als ein Gefecht der Douaniers mit den Schmugglern, wie sie deren alle Augenblicke an dieser Küste vorkommen. Und nun Kamerad - darf ich Ihres Schweigens sicher sein?«
Er reichte ihm seine Börse.
»Nein, Monsieur,« sagte die Schildwach - »ein französischer Soldat läßt sich nicht bestechen! ich werde schweigen auch ohne dies. Das ist eine Privatangelegenheit, und ich hoffe, daß mein Offizier mich nicht danach frägt. Aber hier muß ich umkehren - ich wünsche, Monsieur, daß Sie unentdeckt wieder in's Schloß gelangen, die kleine Dame wird sich ängstigen genug!«
»Dank, mein Braver!«
Der Graf drückte ihm die Hand. Er athmete tief auf, als der Soldat sich entfernte. Einige Schritte that er noch, bis die Mauern ihn verbargen, dann schoß er mit eiligen Sprüngen tief gebückt über den Rasen nach der Balustrade am Strand; - in den Zimmern der Kaiserin war helles Licht, im großen Salon bewegten sich Personen eilig hin und her, wie er durch eine vom Winde wahrscheinlich offen gerissene Jalousie sehen konnte - auch in vielen oberen Fenstern war bereits Licht.
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Der Graf lauschte einige Augenblicke vorsichtig, ob eine Schildwach in der Nähe sei, dann schwang er sich behend über das eiserne Gitter, welches zur Nacht die Marmorstufen nach dem Strand hinunter schließt.
Er ahmte den Schrei einer Möwe nach - als er es angstvoll horchend zum dritten Mal that, löste sich ein dunkler Körper von einem vorspringenden Pfeiler der Steinwand.
»Costà, Capitano!«
»Ah - Stephano - Du bist's! - Wo ist das Boot?«
»Am Felsen dort - wir hielten es nicht für sicher, hier liegen zu bleiben. Aber sie haben Ihr Signal gehört, Seespinne hat das Ohr eines Fuchses! - da kommen sie. Soll Miguel Sie durch die Brandung tragen?«
Der Lastträger war gleichfalls aus dem Versteck getreten.
»Es ist keine Zeit zu solchen Thorheiten. Vorwärts. Wo ist der Strand passirbar?«
Der Schmuggler ging voran, der Kapitain folgte ihm, seine Waffen in die dicke Strouka bergend. Die heranströmenden Wogen schlugen ihnen fast über den Kopf und hätten ihn umgeworfen, wenn die Riesengestalt des Schmugglers nicht wie ein Wellenbrecher vor ihm gestanden, bis sie das Gig erreicht hatten.
Miguel hielt es fest, bis der Kapitain und der Malteser eingestiegen, dann schwang er sich selbst hinein. Das kleine Fahrzeug schwankte von der gewaltigen Last und wurde von der Brandung auf und nieder geschleudert.
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»An die Riemen, Bursche!«
Die vier Matrosen warfen sich auf die Ruder mit aller Kraft, Miguel hatte sich ohne weiteren Befehl wieder an das Steuer gesetzt und die Spitze des Boots gegen die heran brausenden Wellen gerichtet. Aber es brauchte der ganzen Kraft der gewandten Seeleute, um dem furchtbaren Andränge zu widerstehen und sie zu durchschneiden. Nur die große Kenntniß des Lastträgers, der jeden Fußbreit, jeden Stein zu kennen schien, vermochte sie im Dunkel zwischen den Klippen hindurch zu führen, ohne daß das leichte Fahrzeug zerschmettert wurde.
Der Graf hatte von dem Augenblick an, als er die Abfahrt befohlen, nicht mehr gesprochen. Er saß, während das Spritzwasser sie bei jeder neuen Welle überschüttete, und Seespinne zu seinen Füßen mit einem blechernen Gefäß eifrig das übergeschlagene Wasser ausschöpfte, auf der Sternbank und schien in finsterm Nachdenken verlieft. Im bittern Groll über sich selbst nagte er mit den Zähnen an der Unterlippe.
Erst als sie die Brandung glücklich durchschnitten und in ein verhältnißmäßig ruhigeres Wasser gekommen waren, brach er das Schweigen.
»Seespinne - junger Hund! merk' auf!«
Der mißgestaltete Knabe hielt sogleich mit seiner Arbeit inne.
»Hast Du den Befehl ausgeführt, den ich Dir gab?«
Der Kleine grinste höchst vergnügt, machte die Pantomime des Schwimmens und klatschte in die Hände.
»Er ist ein Teufel,« sagte der Malteser. »Wie ein
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Delphin schoß er davon mit dem Strick um seinen dürren Hals, und ich will kein Christ sein, wenn die hochmüthigen Offiziere der Corvette diese Nacht sie auch nur fünf Faden weit bringen.«
»Gut. - Und dann?«
»Als die Satanskrabbe hier wieder zum Gig gekommen, machten wir uns nach Euer Excellenza Befehl hinter den Felsen, den Miguel San Martino nennt, obschon der Heilige sich hoffentlich im Himmel einen bessern Posten ausgesucht hat, als diesen Stein, an dem die Brandung tobt, als wolle sie ihn aus dem Grunde reißen. Obschon wir im Lee des Felsens lagen, hatten wir doch nichts Anderes zu thun, als fortwährend das Spritzwasser aus dem Kahn zu schöpfen, wenn wir nicht versinken wollten. So ging's, bis Euer Gnaden das Zeichen gaben.«
Der Kapitain murmelte etwas von Mißverständniß. »Weiter!« befahl er.
»Wir legten dann zum Ufer und Miguel zeigte die Stelle, wo wir Grund fanden. Wir warteten lange Zeit, aber da Euer Gnaden Nichts hören ließen, wurde Miguel ungeduldig und wir stiegen in den Garten hinauf und schlichen nach dem Hause!«
»Schurken! so wart Ihr die Ursach?«
»Ich bin kein Schurke,« murrte der Lastträger. »Sie haben kein Recht, mich zu schelten!«
»Das wollen wir sehen! Erzähle weiter - die Wahrheit, Mann, bei Deinem Leben!«
»Diavolo - ich habe keinen Grund, sie zu verschweigen. Wir thaten Alles in der besten Absicht. Miguel
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kann Nichts dafür, daß als er neugierig durch's Fenster sah, eine Frau, die gerade mit dem Licht durch das große Zimmer ging, vor seiner Visage sich erschreckte und schreiend in Ohnmacht fiel.«
»Es war die Kaiserin!«
»Cospetto - Signore - Kaiserin oder Bettlerin, die Weibsleute sind alle schreckhafter Natur.«
»Ihr wißt nicht, was Ihr gethan habt, Ihr Buben!« zürnte der Kapitain - »ich sollte Euch peitschen lassen für Eure Neugier und Euren Ungehorsam!«
»Peitschen - mich?« rief der Bearner. »Bei der heiligen Jungfrau, den möchte ich sehen, der Hand an mich zu legen wagte!«
»Ich!«
»Sie, Kapitain? - Sie wissen sehr gut, daß ich nicht zu Ihrer Mannschaft gehöre!«
Die Stirn des Spaniers zog sich in finstere Falten.
»Nimm Dich in Acht, Mann,« sagte er, »ich bin Keiner, der Ungehorsam zu dulden gewohnt ist. Ich denke, Du kennst mich!«
»Gewiß kenne ich Sie - mehr vielleicht, als Ihnen lieb ist!«
»Ha! - das erinnert mich, daß Deine Zunge bei gewissen Gelegenheiten flinker ist, als Dein Kopf zu sein scheint! Nochmals - hüte Dich, Ungehorsam oder Verrath mich auch nur ahnen zu lassen! - Das Schießen wird stärker. Steuerbord, Mann - halte zwei Strich vom tron de Madame44 ab!«
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Der Lastträger ließ die Ruderpinne fahren. »Wenn Sie mir nicht trauen, so steuern Sie selbst, ich bin es müde!«
»Gehorche, Bursche!«
»Nein!«
»Gehorche!«
»In drei Teufelsnamen, nein!« Die riesige Gestalt hatte sich erhoben trotz der Schwankungen des Kahns, es blieb zweifelhaft, ob der Mann nur mit einem der Ruderer den Platz tauschen, oder ob er sich zur Wehr sehen wollte.
»Zum dritten Mal - gehorche!«
»Ich bin nicht Ihr Untergebener - ich will mir nicht befehlen lassen!«
Durch das Rauschen der Wogen knackte der Hahn eines Revolvers - aber der Lauf versagte.
»Sie wollen mich ermorden - eher ...«
Der Riese, aufrecht stehend, hob die Faust.
»Nur den Fischen ihr Futter senden!« Diesmal krachte der Schuß.
Ob und wie die Kugel getroffen, konnte man nicht sehen, der Lastträger aber stürzte mit einem Fluch über den Rand des Boots, denn noch ehe der Spanier schoß, hatte der boshafte Zwerg, der auf dem Boden des Gig kauerte, die Füße des Schmugglers umklammert und ihm fortgezogen.
Erschrocken hielten die Ruderer bei dem Sturz ihres Gefährten inne und das Boot gerieth in ein so heftiges
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Schwanken, daß nur die Geistesgegenwart des Kapitains es vor dem Umschlagen rettete, der sich rasch auf die andere Seite warf und mit fester Hand alsdann die Steuerpinne ergriff.
»Eingesetzt, Männer! - Streicht aus!«
Der feste energische Befehl überwältigte die an den strengsten Gehorsam gewöhnte Mannschaft, die um so leichter über die Blutthat wegkam, da der Gefallene nicht ihr Schiffskamerad war. Ohne zu fragen, ob sie nicht versuchen sollten, ihm Hilfe zu leisten, setzten sie die Ruder wieder ein und ließen das leichte Boot über die Wogen fliegen, nur scheue Blicke nach der Stelle sendend, wo die athletische Gestalt verschwunden war.
Keine Spur derselben war mehr zu erblicken.
Wir haben schon früher bemerkt, daß die Küste des Plateaus, auf und unter welchem der berühmte Badeort liegt, eine vielfach gewundene ist und aus zwei tiefen Hauptbuchtungen besteht, während ein - wieder leicht eingebuchteter hoher und breiter Vorsprung, auf dessen nördlicher Höhe die Kirche, auf dessen südlicher Wendung der Telegraph steht, - verhindert, von einer Bucht die andere zu sehen, so daß also was in der südlichen Bucht an der Cote Basque vorgeht, unmöglich in der Gegend der kaiserlichen Villa beobachtet werden kann.
Die eben erzählte That war etwa auf der Höhe der Kirche geschehen, nicht allzu entfernt vom Ufer, und die feste Hand des Kapitains hielt das Boot jetzt so weit von der felsigen Küste ab, als es die gefährlichen Stellen des Rocher de Cuirton und des Trou de Madame nöthig machten, wo
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die Brandung überwältigend schäumt, da er des Fahrwassers doch keineswegs so genau kundig war, wie der eingeborne Lootse, der eben verunglückt war.
Es gehörte übrigens alle Kraft, Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit geübter Seeleute dazu, dem gewaltigen Wogenschwall des unter den Schiffern aller Nationen so berüchtigten und gefürchteten biskaischen Meerbusens Trotz zu bieten. Die Mannschaft arbeitete für ihr Leben und glaubte nicht anders, als daß das Gig auf geradem Weg zur Yacht zurückkehren sollte. Um so mehr war sie erstaunt, als sie endlich bemerkte, daß nach Passirung der gefährlichsten Stellen das Boot zurück nach der Küste lenkte.
Als das Gig um den Ufervorsprung kam, auf welchem die früher erwähnte Telegraphenstation sich befindet, hatte man die ganze Buchtung der baskischen Seite vor sich, welche im Süden die Küste von Biscaya und Asturien begränzt.
An der Pinne des Ruders sich haltend, erhob sich der junge Kapitain der Yacht und beobachtete, wenn die Wogen das leichte Boot auf ihre Kämme hoben, die dunkle Fläche.
»Pardios! sie sind noch immer daran! Ich sehe deutlich das Feuern. Es kommt aus der Gegend der pierre gibeon - John hat sich sicher mit den Douaniers verbissen und will ihnen nicht weichen. Es ist seine Art! aber ich fürchte, sie werden diesmal zu stark für ihn sein und er thäte besser, Fersengeld zu geben.«
»Werden wir ihnen nicht zu Hilfe kommen, Signor
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Capitano?« frug der Malteser, der, als einer der Aeltesten, sich eine Freiheit herausnehmen durfte.
»Nein, Mann - ich denke, wir haben genug für diese Nacht!«
»Aber Euer Excellenza verfehlen die Richtung der Aacht. Die Victory liegt dort hinaus!«
»Dummkopf! als ob ich das nicht so gut wüßte wie Du! - Siehst Du dort das blaue Licht?«
»In der Casa? - Aber Excellenza werden doch nicht daran denken, bei diesem Wogenschwall den Höllenspalt zu passiren!«
»Hast Du Angst?«
»Das nicht, Signor - aber ich dachte nur, daß außer Meister John mit seinem einen Auge nur noch Miguel ein Boot hineinzulootsen verstände, und Miguel ...«
Er schüttelte sich.
»Carracho! dann sollst Du die Erfahrung machen, daß ich es eben so gut kann, wie die Einäugigen! Aber ich wette Zehn gegen Eins, daß einer von ihnen bereits den Fanghunden der Steuer entwischt und uns zuvorgekommen ist. Faßt die Ruder fest, Bursche, denn in wenig Minuten sind wir in der Brandung und ein falscher Schlag führt Euch Alle zur Hölle!«
Es herrschte eine tiefe Stille in dem kleinen Boot, als dasselbe jetzt auf den weitgedehnten Wogen gegen die hohe Felsenwand heranschoß, die sich wie eine ungeheure dunkle Masse vor ihnen aus dem Schaum und Gischt erhob.
Es erleichterte offenbar den vier Ruderern das Herz,
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daß sie mit dem Rücken gegen das furchtbare Ziel saßen, dem sie zueilten und höchstens ihre Blicke auf die Gestalt ihres muthigen jungen Kapitains richten konnten, der mit fest gespreizten Füßen im Hintertheil des Bootes stand, so die Fläche vor sich übersehend, während er sich an der niedern Steuerpinne selbst festhielt, das Auge unverwandt auf das blaue Licht geheftet, das in einem Hause auf der Höhe leuchtete; - er hätte sehr genau selbst die Stelle des Zimmers angeben können.
Sie waren etwa noch hundert Faden weit von der Felsenwand entfernt. Das Feuern an dem Gibeon-Stein hatte merklich nachgelassen, nur hin und wieder noch, sich immer weiter nach der Höhe der Rhede zu entfernend klang ein Schuß.
Alle hatten nur Aufmerksamkeit für den furchtbaren Weg, der ihnen bevorstand.
Plötzlich kam von Süden her quer die Wellen durchschneidend, ein großes Boot auf sie zu und ein Anruf erscholl durch das Brausen der Wogen.
»Halt, Schurken! ergebt Euch!«
Der Graf warf einen Blick zur Seite - dann wandte er wieder alle Aufmerksamkeit dem Steuer zu.
»Ihr sollt uns nicht länger narren! Legt bei, Schufte, oder wir feuern!« klang nochmals die Stimme.
Das Gig schoß jetzt mit den Wellen der äußeren Brandung dahin. »Nieder Männer - nieder auf Eure Riemen!« befahl der Kapitain - »zwei Schläge Backbord - auf mit den Rudern!«
»Feuer auf sie!«
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Vier Gewehre krachten hinter ihnen - die große Barke der Douaniers war in ihrem Fahrwasser, etwa fünf Faden entfernt.
Don Juan zuckte zusammen, als die Flintenkugeln um ihn her zischten - aber er drehte sich nicht um.
»Ich kenne die Stimme,« murmelte er - »es thut mir leid um ihn, aber wir oder sie!«
Brausender Gischt und Schaum flog rings an ihnen vorüber, war vor ihnen, hinter ihnen - das Brüllen der an zehn, zwanzig hervorragenden Felsen sich brechenden Wellen war jetzt so furchtbar, daß kein Befehl mehr hörbar gewesen wäre.
Der junge Seemann - denn ein solcher vom tüchtigsten Schlage mußte er unbedingt sein, da er in dieser Gefahr seine volle Kaltblütigkeit bewahrte, - hielt unverrückt sein Auge und die Spitze des Boots in gerader Linie auf das blaue Licht gerichtet.
Noch ein Schuß fiel von der verfolgenden Barke der Douaniers, dann wurde das Feuern eingestellt.
»Die Narren,« murmelte der Kapitain - »sie glauben, noch wenden zu können, aber sie haben sich zu weit vorgewagt - die Fluth reißt sie fort. Kannst Du etwas sehn von unsern Verfolgern, Stephano?«
So nah und kräftig die Frage gethan wurde, das Tosen der Brandung war zu gewaltig, um sie verstehen zu können.
Aber es bedurfte der Antwort nicht, um ihn das Schicksal der Unglücklichen wissen zu lassen.
Die Matrosen hatten jetzt die Ruder eingezogen -
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der Malteser schlug ein Kreuz - die anderen klammerten sich an die Planken, einer oder zwei der wilden, kein menschliches Gesetz achtenden Gesellen murmelten ein Gebet. Der kleine bucklige Knabe war schon während der Fahrt auf des Kapitains Befehl zwischen ihnen hindurch in die Spitze des Boots gekrochen, damit sein Herr geräumiger den Fuß stemmen konnte. Dort hockte er wie ein Affe, mit den Händen klatschend, wenn eine der an den Steinen sich brechenden Wellen ihn mit einer Fluth von Spritzwasser begoß, die auszuschöpfen dann sein Geschäft blieb.
Das Boot schoß jetzt in einem förmlichen Gange von Felsen und Steinen vorwärts, die rechts und links aus dem Wasser ragten, und die nur der Gischt der brechenden Wogen bezeichnete, die sich mit furchtbarer Gewalt in diesen Weg stürzten. Don Juan wußte, daß jetzt der entscheidende Moment gekommen war.
Die Dunkelheit in der Nähe der gigantisch emporsteigenden Uferwand war tiefer und dichter als draußen auf dem Meer, nur der phosphorartige weiße Schein der brechenden Wellen war sichtbar.
Jetzt - -
Der kühne Steuermann hielt knieend mit beiden Händen die Pinne des Steuers gefaßt, den Kopf hinten übergebogen - die Augen fest auf das blaue Licht in der Höhe gerichtet - -
In dem Augenblick, wo es verschwand, oder vielmehr von dem obern Rande der Felswand ihm verdeckt wurde, warf er mit aller Kraft das Steuer backbord.
Der Stoß erschütterte so gewaltig das kleine Boot,
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daß seine Planken auseinander zu gehen schienen und die Männer sich krampfhaft festhielten, Aber es war vortrefflich und sehr stark gebaut und das kleine Steuerruder so fest eingesetzt, daß im Augenblick das kleine Fahrzeug seine Schuldigkeit that, die Spitze sich rechts wendete und das Gig in eine Seitenströmung hinein trieb.
Kaum zwanzig Schritte weiter befanden sich die kühnen Schiffer in einem niedern finstern Gewölbe, das ihnen fast auf den Köpfen zu ruhen schien. Aber bevor sie noch dahin gelangten, gellte ein entsetzlicher furchtbarer Aufschrei - der Todesschrei von zehn Menschen durch das Donnern der Brandung in ihre Ohren.
Jeder wußte, was dieser Schrei zu bedeuten hatte, daß das Boot ihrer Verfolger - zu spät die Gefahr erkennend, und ohne Macht, sich ihr noch zu entziehen, - unbekannt mit dem Wege, der sie selbst dem Verderben entzogen, gegen den Felsen gerannt und in hundert Stücke zersplittert war!
Doch blieb jetzt keine Zeit, an fremdes Verderben oder an die eigene Rettung zu denken, wo es nur galt, alle Kraft und Aufmerksamkeit aufzubieten.
Der Strom, der sie forttrug, hatte sofort bei seinem Eintritt unter die Felswand an Heftigkeit verloren und bog in einer Windung zu einem zweiten Ausgang zurück. Der Kapitain that einen grellen Pfiff auf dem Finger und sogleich blitzte im Hintergrund ein Licht auf, dem bald der Schein einer Fackel folgte. Dieser ließ eine Art kleines Bassin mit fast ruhigem Wasser erkennen, in dem bereits zwei andere Boote lagen, und zwischen diese trieb der
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kühne und gewandte Steuermann das Gig, bis es auf dem knirschenden Sand des Bodens fest lag.
Es war eine ziemlich hohe und geräumige unterirdische Wölbung des Felsens, die wahrscheinlich der Andrang des Meeres seit Jahrtausenden ausgewaschen, und deren niederer Eingang selbst während der Ebbe von dem Wasser gesperrt blieb, so daß Niemand, der nicht mit dem Geheimniß vertraut war, auf den Gedanken kommen konnte, hier etwas mehr zu suchen, als eines jener kurzen Felsenlöcher, wie deren sich Hunderte an der Küste entlang, von den Wellen ausgewaschen, befinden.
Aus dem Sand und Kiesboden, der das kleine Wasserbecken umgab, - das der nach einem in dem Dunkel der Felsklüftung hier nicht sichtbaren Ausgang vorbei ziehende Strom füllte - stand eine Gruppe von Männern, deren Aussehen in dieser unheimlichen Umgebung und im rothen Schein der Fackel noch wilder und verwogener erschien, als es in der That schon war. Kühne, trotzige, wettergebräunte Gesichter, - Augen, aus denen Verwegenheit und Schlauheit funkelten - sehnige Gestalten in bunt zusammengewürfelter Tracht, bewaffnet mit Pistolen im Gürtel und den gefürchteten langen katalonischen Messern - sieben an der Zahl, darunter die beiden Männer von der Barkasse der »Victory«: der Rothkopf, ein wilder, verwegen ausschauender Irländer und Rafael, der Portugiese, - begrüßten die Ankommenden.
Per todos los Santos y Don Ramon!45 sagte ein
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kräftiger Mann in breiter baskischer Mundart - »Sie können von Glück sagen, Caballeros, daß Sie bei solcher See glücklich durch den Höllenspalt gekommen sind. Es hätte nicht viel gefehlt, so wären wir samt und sonders zerschellt worden, als wäre unser Boot nicht besser gewesen, wie die Schaale eines Möwen-Ei's. Steigen Sie aus, Señor!«
Der Sprecher wollte dem Kapitain die Hand reichen, fuhr jedoch erschrocken zurück, als zuerst der bucklige Knabe, der im Bug wie ein Bündel Waare gekauert, empor und auf den Sand sprang, wie ein Irwisch hin- und herfuhr und mit Armen und Beinen fechtend das Seewasser von sich schüttelte. Obschon der Baske den verkrüppelten Burschen nicht zum ersten Mal sah, betrachtete er ihn doch noch immer mit einer gewissen abergläubischen Scheu, die wenigstens eine Art von Kobold oder bösem Blick in ihm witterte und ihn seine Nähe meiden hich.
»Die heilige Jungfrau steh uns bei vor der verdammten Teufelskrabbe,« murmelte er. »Wenn diese dabei war, wundert's mich nicht, daß wir schlimmes Wetter hatten! Ich begreife nicht, Señor, wie Ihr Euch mit dem Hexenbalg befassen mögt!«
»Bah! er ist ein guter Diener und kennt meine Bedürfnisse,« sagte der junge Kapitain, der unterdeß den Kahn verlassen hatte. »Seid Ihr schon lange hier, Señor Don Rodriguez?«
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»Noch keine Viertelstunde, Kapitain. Die Douanen hetzten uns und waren dicht hinter unserer Barke, als sie unsere Spur verloren.«
»Und das Gefecht?«
»Wir haben einen Mann verloren, dem eine Kugel durch den Kopf ging. Sie mußten Wind von unserer Absicht haben, denn ihre Boote kamen von allen Seiten herbei, wie die Haifische, wenn sie einen Köder wittern. Wir hatten Mühe, uns ihrer zu erwehren, und um die Expedition wenigstens nicht ganz vergeblich sein zu lassen, brachten wir eine Ladung Saffian und Seidenzeuge in die Höhle.«
»Und Kapitain Jones?«
»Er ist mit uns und bringt eben die Ballen auf's Lager. Ihr Stewart erwartete uns mit diesen beiden Burschen. Sie legen die Güter in die Gewölbe.«
»Gut, Lieutenant Rodriguez. Aber Sie müssen in einer Stunde wieder in See, denn es ist nöthig, daß Sie vor Sonnenaufgang unter Seegel sind nach der baskischen Küste.«
»Kapitain Jones hat mich schon benachrichtigt. Es hat keine Schwierigkeit, durch den südlichen Ausgang zu entkommen, sobald nur erst die Boote der Douaniers das Feld geräumt. Haben Sie Nichts von ihnen gesehen?«
»Gesehen und gehört - aber kein menschliches Auge wird viele von ihnen lebendig wiederschauen!«
»Quien sabe!«
»Was ich sage, ist Wahrheit. Das Boot des Offiziers - ich erkannte den armen Burschen an der Stimme,
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mit der er uns befahl, uns zu ergeben, - folgte uns bis in die passage d'enfer und ist an den Felsen zu Grunde gegangen. Aber was treibt dort Dunkles auf dem Strom?«
Er unterbrach seine Rede und wies auf einen formlosen Gegenstand, der mit dem Strom durch das dunkle niedere Felsenthor hereingetrieben schien, und - nur undeutlich in dem Licht der Fackel erkennbar - an der Buchtung vorüberschwamm.
»Carracho! - es ist ein Mensch - ein Spion!«
Im Nu waren ein halbes Dutzend Pistolen und Flinten auf den Punkt gerichtet.
»Halt!« donnerte die mächtige Stimme des Anführers - »das Unglück ist heilig! - in's Wasser, Seespinne, und bring' ihn hierher!«
Er hatte den Knaben mit beiden Händen an Arm und Bein gefaßt und warf ihn kopfüber in die dunkle Fluth. Wie ein Delphin schoß der Bursche unter dem Wasserspiegel vorwärts.
Ehe die Zuschauer der seltsamen Scene noch ihre Meinung austauschen konnten, kam der Wasserkobold zurückgeschwommen und trieb vor sich her eine leichte Planke, um die krampfhaft der Arm eines menschlichen Wesens geklammert war. Als die Gruppe in den Bereich des Fackelscheins trat, tauchte ein todtenbleiches Gesicht mit schwarzem Bart und Haar aus den dunklen Wellen, schwammen die Schöße der verhaßten Uniform der Douaniers auf dem Wasser.
Don Juan war theilnahmvoll näher getreten - er
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hatte aber kaum dies blasse Gesicht erblickt, als er er schrocken zurückprallte.
»A todos los demonios!« fluchte er - »es ist, wie ich fürchtete! - es ist der junge Offizier - und es scheint noch Leben in ihm! - bringt ihn auf's Trockne und seht, ob er verletzt ist!«
Mehre der Schmuggler gehorchten und hoben den Körper aus dem Wasser und legten ihn auf den Boden, während Don Juan vorsichtig zurücktrat und sein Gesicht in die Strouka hüllte.
»Der Kerl hat einen Arm gebrochen und ist am Kopf hart beschädigt,« sagte der Lieutenant der Felucke. »Es ist ein Wunder, daß er noch so davon gekommen ist aus dem Strudel, der ihn an die Felsen geworfen! Es ist wahrhaftig noch Leben in ihm. Caramba - ich meine, es wäre das Beste, man hätte ihn gelassen, wo er war.«
»Dem ist leicht abzuhelfen, Señor Teniente,« sagte ein großer brauner Kerl mit wilder Miene, »wir brauchen ihn blos wieder dahin zurückschwimmen zu lassen, woher ihn die Teufelskrabbe geholt hat. Sterben muß er doch, auch wenn es nicht an den Wunden da geschehen sollte; denn Keiner, der den Schwur nicht geleistet, und unser Geheimniß kennt, darf am Leben bleiben. Also in's Wasser mit ihm!«
»Aber Kapitain Waterford - -«
»Zum Henker mit ihm - er hat uns Nichts zu sagen, wenn El Tuerto das Kommando führt!«
»Meinst Du, Bursche?« frug eine Stimme hinter ihm, bei deren Klang der wilde Schmuggler unwillkürlich
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erbebte. »El Tuerto, sag' ich Dir, ist mit dem Kapitain der Victory stets einer Meinung, und ich wollte Dir nicht rathen, etwas gegen dessen Willen zu thun, denn seine Hand ist so rasch, wie die meine!«
Der Mann, der gesprochen, war während jener Worte der Unzufriedenheit des Schmugglers hinzugetreten.
Alle kannten den Klang dieser Stimme - es war die des Mannes von der Victory, der zugleich Kapitain der Felucke San Martino war, wenn er oder Andere es für gut fanden, daß er mit dieser segelte und ihre Geschäfte nicht, wie häufig geschah, seinem ersten Lieutenant Rodriguez überließ.
Wir haben bereits bei dem ersten Auftreten dieses Mannes, als er mit der Barkasse der Victory am alten Hafen landete, gesagt, daß er einäugig war und daß dieser Umstand dem Kapitain des berüchtigten Schmugglerschiffs den Beinamen El Tuerto verschafft hatte.
Sein Verhältniß zu der Mannschaft der Felucke war übrigens ein ganz anderes, als das zu der Mannschaft der Victory, die gewohnt schien - wenn er an ihrem Bord war und dort das Amt eines ersten Steuermanns und Vertrauten des jungen Besitzers übernahm, - ihn mehr als einen vorgesetzten Kameraden zu betrachten, der eben so gut wie sie einen Herrn über sich hatte, während die spanische Bemannung der Felucke ihm unbedingt als ihrem Kapitain zu gehorchen hatte.
Daß im Ganzen das Verhältniß des Mannes zu dem Herrn der Yacht immer etwas Räthselhaftes, Ungewöhnliches behielt, ja mit einem gewissen Geheimniß umkleidet
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war, ließ sich nicht leugnen, hatte aber vielleicht gerade einen Reiz für diese wilden leidenschaftlichen Naturen, die das Geheimnißvolle lieben.
Das Aeußere des Einäugigen hatte sich nur dadurch verändert, daß er jetzt über der Seemannsjacke einen kurzen wasserdichten Rock und im Gürtel offen ein Paar Pistolen trug, während am Gelenk seiner rechten Hand mittels einer Lederschnur ein scharfer glänzender Tomahawk hing.
Ohne sich weiter um den gehörten Widerspruch zu bekümmern, wies er blos auf den noch immer bewußtlosen Douanen-Offizier.
»Kapitain Waterford,« sagte er streng, »wünscht, daß dem Mann hier kein Leid zugefügt werde, nachdem die Wuth des Meeres selbst sein Leben verschont hat. Bringt ihn in das zweite Gewölbe und reibt ihm die Schläfe. Du José, Bartholo und der Calvo46, er versteht sich am Besten auf Wunden und Verletzungen, und es ist besser für alle Fälle, daß der Mann hier nicht die Leute von der Victory sieht!«
Die vier Matrosen der Yacht, welche das Boot gerudert, hatten sich seit der Landung überhaupt ziemlich theilnahmlos verhalten. Obschon die furchtbare Gefahr, die sie eben bestanden hatten, ihre Gedanken von der blutigen That abgewendet, der sie beigewohnt, mochte die Erinnerung daran doch jetzt zurückkehren und sie von dem gewöhnlichen lärmenden Verkehr mit ihren Gefährten von dem Schmugglerschiff abhalten. Sie sahen mit ziemlich
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scheuen Blicken nach dem Platz, auf den sich ihr junger Kapitain zurückgezogen hatte, als der Körper des Douanenoffiziers aus dem Wasser gehoben wurde, - aber die Stelle war längst leer und Don Juan verschwunden, noch bevor der Einäugige unter die Wölbung getreten war.
Dies schien sie etwas zu erleichtern und sie begannen mit einander zu sprechen, als Mauro, der Stewart, aus dem Dunkel, in das sich das Gewölbe verlor, hastig hervorkam, zu ihnen trat und ihnen einen Befehl zuflüsterte. Dieser hatte offenbar auf den Gegenstand, von dem sie redeten, Bezug, denn sogleich endete ihr Gespräch und sie folgten ihm nach dem andern Ende der Höhle.
Der Einäugige befahl jetzt seiner Mannschaft, das Boot der Felucke in Stand zu setzen und zu beladen. Dies geschah in aller Ordnung mit französischen Fabrikaten, deren Einfuhr, seitdem auch in den baskischen Provinzen durch die gewaltsame Aufhebung der alten Landesfreiheiten, der Fuero's, das Zollsystem eingeführt worden, mit hohen Steuern belegt ist.
Es zeigte sich jetzt, daß diese unterirdischen Wölbungen, anfänglich durch die Natur geformt und später durch die Arbeit von Menschenhänden erweitert und zugänglich gemacht, zu einem förmlichen Waarenlager für den systematischen Betrieb des Schmuggels sowohl nach der französischen als spanischen Seite eingerichtet waren.
An die Höhle am Wasser, deren Eingang durch das Meer geschlossen war, stieß ein zweiter ähnlicher, nur größerer und höherer Raum, der mit mehreren Kammern in Verbindung stand, welche für die Aufbewahrung der
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verschiedenen Waaren und Vorräthe benutzt wurden. Der Boden der zweiten Höhle und der Kammern war so hoch über der Meeresfläche, daß selbst die höchsten Sturmfluthen ihn nicht überschwemmen konnten, Waaren und Menschen also vollkommen sicher waren. Unbekannte Ritzen und Spalten in dem mächtigen Felsenbau gewährten eine hinreichende Ventilation, und so wurde es möglich, daß die Schmuggler, wenn sie in Gefahr oder diese Theile der Küste zu streng bewacht waren, sich oft mehre Tagelang in den Felsenhöhlen verbergen konnten.
Keiner der lebenden Mitglieder der Contrabandista, jener geheimen Gesellschaft, die noch in den fünfziger Jahren über ganz Spanien und die französischen Küsten verbreitet war und zum Theil wahrscheinlich noch ist, und die nur die gesündere Politik der Staaten durch Freigebung des Handels und Herabsetzung der Zölle zu beschränken - wir wollen keineswegs sagen: zu beseitigen - vermocht hat, wußte genau zu sagen, wann jener geheime Stollen getrieben worden war, der die Verbindung zwischen den Räumen in der Tiefe der Felsen und dem obern Plateau vermittelte.
Es ließ sich eben nur annehmen, daß wahrscheinlich schon in früheren Jahrhunderten die unterirdischen Höhlen von kühnen Fischern entdeckt und vielleicht schon in den Religionskriegen benutzt worden waren zum Versteck Verfolgter. Der Gedanke eines geheimen Zugangs von dem Plateau der Küste hatte dann sehr nahe gelegen und war dann zum Zweck der Umgehung der früher noch strengeren Zollgesetze gebaut worden.
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Man hat Ursach, anzunehmen, daß die Karlistischen Agenten und Flüchtlinge - ja die Prätendenten selbst, mehr als einmal Aufnahme und Zuflucht in diesen unterirdischen Räumen gefunden haben, deren Geheimniß bis zu einer späteren Katastrophe streng bewahrt wurde.
Nach Verlauf von etwa einer Stunde war das Boot der Felucke unter der Aufsicht ihres Lieutenants beladen, der genaue Controlle und Notiz über die eingeladnen Gegenstände führte.
Der Kapitain der Felucke war ab- und zugegangen, um zur Eile anzutreiben. Wenn er in die größere, von zwei oder drei mit Wachskerzen besetzten schönen Girandolen erhellte Halle trat, aus der die Waaren herausgeholt wurden, wendete er sich stets zu einer der Seitennischen, die durch einen schweren Vorhang geschlossen war.
Diese war hell erleuchtet, und in ihr saß an einem mit verschiedenen Sachen bedeckten Tisch ein Mann und schrieb.
Dieser Mann war der Graf von Lerida, der Eigenthümer der Yacht.
»Das Boot ist beladen, Mylord.«
»Gut, Jones - und hier sind die Briefe. Ich will sie nur noch siegeln. In anderthalb Stunden kannst Du an Bord Deines Schiffes sein - in einer weitern halben Stunde die Anker gelichtet haben. Der Wind ist günstig und morgen Mittag kreuzest Du die Rhede von San Sebastian.«
»Und der Montgomery!«
»Sobald Du an Bord gekommen, läßt Du drei blaue
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Raketen steigen - Kapitain Clinton kennt das Signal und weiß, wohin er sich zu wenden hat.«
»Und Sie, Mylord?«
»Ich bleibe hier und denke den Rest der Nacht in dem Arm Margaritta's zu verschlafen!«
»Mylord Juan,« sagte sein Namensvetter, »das ist mehr als Tollkühnheit - das ist Uebermuth und Herausforderung der Gefahr. Ich weiß zwar im Grunde nicht, was eigentlich Ihre Absicht war, und begnüge mich, zu gehorchen. Aber so viel haben mir die getroffenen Anstalten doch gezeigt, daß es ein wichtiges Unternehmen war, das uns anscheinend mißglückt ist. In einem solchen Fall giebt es leicht schlimme Folgen, und bedenken Sie, wenn irgend ein Zufall auf ihre Spur führte.«
»Der Graf von Lerida bürgt für den Schmuggler!«
»Aber nicht -« der Einäugige hielt inne.
»Was meinst Du? heraus damit!«
»Mylord - die Leute munkeln von einer schlimmen That! Ihre Hand war zu rasch!«
»Goddam! Du willst sagen, daß ich den Verräther Miguel niederschoß?«
»Sie sagen es. - Ich fürchte, die That kann schlimme Folgen haben - er ist aus dem Ort und man wird ihn vermissen!«
»Er war ein Verräther und wagte es, sich aufzulehnen!«
»Das Alles ändert den Umstand nicht, daß sein Tod Nachfragen veranlassen kann. Die See kann seinen Leichnam an's Ufer spülen.[«]
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Dann heißt es, daß er bei dem Schmugglergefecht ertrunken oder erschossen ist. In Wahrheit, Jones, er war der Einzige, den ich wegen des Mißlingens dieses Abends zu fürchten hatte. Aber genug davon. Du weißt, wo Ihr die Waffenladung zu landen habt. Die Consignements sind bereits in den Händen der Besteller. Hier ist ein Beutel mit hundert Dublonen zur Löhnung der Mannschaft und zu den Schiffskosten für zwei Monate. So lange denke ich fort zu bleiben.[«]
»Sie kehren nach England zurück?«
»Nein - ich gehe nach Madrid. Die Victory wird mich in Cadix erwarten, um mich nach Italien zu bringen! Von Cadix erhältst Du Nachricht. Bis dahin habt Ihr Erlaubniß, den Schmuggel auf eigene Rechnung zu treiben und es wird gut sein, wenn man an diesen Küsten Einiges von El Tuerto hört!«
Der Schmuggler-Kapitain lachte.
»Das Possenspiel dauert nun länger als zwei Jahr und selbst die Rotte Galgenstricke vom San Martino schwört darauf; aber die Spanier haben ein Sprüchwort: tantas veces váel cántoro á la fuente und so weiter, und ich fürchte, unser Krug wird auch einmal brechen!«
»Laß es - die Welt ist weit und drüben über dem Ocean bereiten sich Dinge, wo Männer wie Du und ich immer Beschäftigung finden, selbst wenn das alte Europa einschlafen sollte, wozu in diesem Augenblick wenig Aussicht ist, da es an allen Enden glimmt und brennt. Master Clinton wird nicht unzufrieden sein, wieder nach New-Orleans zu kommen, da man ihn dort sicher braucht. Ich
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hoffte, es würde sich Alles anders wenden und ich hätte die Fäden in meiner Hand! Aber mein verdammter Leichtsinn - - bah! - was verfahren ist, läßt sich nicht ändern! - Diesen Brief an Seine Gnaden den Bischof von Tarragona übergieb unserem Agenten in Irun, daß er ihn rasch besorgt. Hier ist die Vollmacht für Plymouth, um neue Ladung zu erhalten, und diese Zeilen gieb im Vorbeifahren an der Yacht Master Knoxbridge, dessen Stelle Du zuweilen einnimmst zum Schaden seines ehrlichen Rufs und zu seinem bittern Aerger, und empfiehl ihm, kleine Heizung zu unterhalten, so daß der Dampf nicht auffällt und auf den Nebel oder die Schiffsküche geschrieben werden kann. Es wäre doch möglich, daß ich gezwungen wäre, Fersengeld zu geben, obschon eine dreiste Stirn viel vermag, wie ich erst gestern wieder gesehen!«
»Mylord,« sagte der Alte mit wirklicher Herzlichkeit - »Sie sollten sich nicht muthwillig in all' diese Gefahren stürzen, und dies tolle Leben aufgeben!«
»Du hast ein schlechtes Gedächtniß für Deine eigene Jugend und vergißt, daß ich sie aus mancher Erzählung meines Oheims kenne. Die spanischen Sierra's wissen so gut davon zu erzählen, als der Epirus, die westindischen Inseln und die Küste von Guinea.«
»Verdammt, es ist wahr, daß ich in meiner Jugend ein wenig von Allem war, Schmuggler, Soldat und, wenn Sie's so nennen wollen, Corsar. Aber ich habe mich wenigstens vor den Weibern gehütet und die werden Sie zu Grunde richten! Die Juden, die Pfaffen und die
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Weibsleute, das sind die drei Plagen, die der Herrgott für alle ehrlichen Burschen auf die Welt gesetzt.«
Der Graf lachte. »Was wären wir ohne die Drei - die Einen liefern das Geld, die Anderen die Intrigue und die Dritten das Vergnügen! ohne das wäre alles Leben schaal! Aber nun -« er sah nach der Uhr - »ist es Zeit, daß Du Dich fort machst, die Douaniers müssen längst das Feld geräumt haben! A propos - bei den Douanen fällt mir unser Schiffbrüchiger ein. Wie steht's mit ihm?«
»Mylord,« sagte der Schmuggler ernst - »ich glaube, Ihr guter Wille hat Ihnen da einmal wieder einen schlimmen Streich gespielt. Sie hätten den Mann lassen sollen, wo ihn die Hand Gottes in seinem Beruf getroffen. Ich machte mir in meiner Jugend auch nicht viel aus einem Menschenleben, weil ich eben bereit war, auch jeden Augenblick das meine einzusetzen. Indeß - jetzt - gerade heraus, wäre es kaltblütiger Mord!«
»Wie meinst Du das?«
»Der Douanenoffizier ist in Folge der von Ihnen befohlenen Bemühungen wieder zum Leben, zum Bewußtsein gekommen. Es ist natürlich, daß der Ort, wo er sich sieht, seine höchste Aufmerksamkeit erregt, - unmöglich, daß er nicht Mitwisser unseres Geheimnisses wird, ja, er ist es schon, da er Zeuge geworden von dem Transport der Waaren. Sie kennen unser Gesetz - nur wer den Eid des Schweigens geleistet, darf lebend Mitwisser des Geheimnisses dieser Höhlen sein. - Er muß sterben - und - Mylord - wenn er im Kampf gegen uns eine
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Kugel erhalten hätte, wäre er auf dem Schlachtfeld seines Berufs gefallen - jetzt -«
Der Graf sah ihn streng an. »Jetzt - was glaubst Du, das geschehen wird?«
»Mylord - Sie sind jung - Ihre Hand ist rasch - der Tod des Miguel - -«
»Ich habe Dir gesagt, daß der Schuft das beschworne Schweigen gebrochen, gleichgültig gegen wen! - daß er es wagte, mir zu drohen!«
Der Einäugige zuckte die Achseln. »Sie sind Herr Ihrer Handlungen, Mylord. Was ich sage, ist Nichts als eine Warnung für spätere Stunden. Was kümmert im Grunde mich ein Douanier - der Teufel hole sie alle, die das Recht der Menschen auf Handel und Verkehr mit Füßen treten. Haben Sie noch einen Befehl zu geben, Mylord? Die Ebbe ist eingetreten!«
Der Graf stand an den Tisch gelehnt - er streckte ihm die Hand entgegen.
»Gehst Du so von mir, John, mein alter Freund und Lehrmeister?«
»Der Teufel soll mich holen, wenn ich's thue, Sir Juan! Ich habe so oft mit meinem Namen für Ihre Tollheiten herhalten müssen, daß es gleichgültig ist, ob eine schlimme That mehr oder weniger auf mein Conto kommt! Nur um Sie bin ich in Sorge, Mylord, - den ich liebe wie meinen Sohn - und wenn Gefahr in der Luft ist, schicken Sie den wahren John Waterford nicht weg, ich bitte Sie darum!«
Ein sonniges Lächeln lag auf dem Gesicht des
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Abenteurers bei diesem Ausdruck treuer Anhänglichkeit. Er drückte dem alten rauhen Seemann herzlich die Hand.
»Geh unbesorgt, Alter, - Juan Lerida schwimmt auf den Wogen, nicht unter ihnen. Wenn wir uns wiedersehen, sollst Du zufrieden mit mir, und wenn ich Dich nöthig habe, sollst Du bei mir sein!«
Der alte Seewolf schüttelte die gereichte Hand, dann - wie, um sich selbst zu beruhigen, ließ er einen unter den Seefahrern des Südens üblichen Ruf des Allarms und der Aufmunterung ertönen, und verließ die Kammer.
Man hörte ihn draußen noch einige Befehle geben, und dann verklang seine rauhe Stimme in dem vorderen Raum.
Das wohl beladene und bemannte Boot des San Martino verließ das Gewölbe durch das zweite niedere Felsenthor, durch welches das einströmende Wasser seinen Abfluß hatte. -
Der Graf stand einige Minuten in tiefem Sinnen da - endlich, nachdem das Geräusch der Abfahrt längst verklungen, raffte er sich auf aus diesen Gedanken und schlug mit der Klinge eines Dolchs an eine Bronceglocke, die auf dem Tisch stand.
Im nächsten Augenblick stand Mauro, der Stewart, der Neffe des smyrniotischen Banditenchefs Jan Katarchi, vor ihm.
»Sind die Leute des San Martino fort?«
»Ja, Excellenza!«
»Wer ist im Gewölbe?«
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»Der Portugiese und der Malteser mit der Seespinne.«
»Und der Douanier?«
»Er ist verbunden, so gut als möglich, und besteht darauf, zu wissen, was sein Schicksal sei.«
»Der Thor! - als ob das Einer von sich überhaupt wissen könnte! Aber wir müssen zu einem Ende kommen damit. - Er selbst soll über sein Schicksal entscheiden. Nimm die Beiden mit zu den Anderen in die vordere Höhle und laßt mich allein mit ihm!«
Der Grieche verschwand. Der Graf trat an einen kleinen Schrank, der an der Felswand angebracht war und beschäftigte sich dort kurze Zeit.
Als er jetzt den Vorhang hob, war er ein verwandelter Mann! - - -
Der Douanenoffizier hatte sich auf der Matratze, auf welcher die Menschlichkeit der Schmuggler ihn gebettet, auf den gesunden Arm gestützt - es war das einzige Glied, was er ohne Schmerzen bewegen konnte, so zerschlagen und zerstoßen war der ganze Körper von dem furchtbaren Anprall an die Felsen.
»Lieutenant Dalbond!«
»Was wollen Sie von mir?«
»Sie wissen, wo Sie sich befinden?«
»Es wäre thöricht, es zu leugnen. Ich bin in dem Versteck der Contrabandista, das wir so lange vergeblich gesucht!«
»Und wer, denken Sie, das vor Ihnen steht?«
»El Tuerto - der Schmugglerchef,« sagte muthig
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der junge Mann. »Aber glauben Sie nicht, daß ich den Tod fürchte, der mir bevorsteht. Ich sterbe in Ausübung meiner Pflicht, und meine Kameraden werden mich rächen!«
Er sah muthig zu dem Gefürchtsten empor, bei dessen Anblick zehn Anderen das Herz gebebt hätte.
Es war wirklich der Kapitain des berüchtigten Schmugglerschiffs, der vor ihm stand - derselbe Rock - das schwarze Pflaster über der leeren Augenhöhle, der dichte schwarze krause Bart um Mund und Kinn, während der niedere Schifferhut tief in die Stirn gedrückt, die Züge beschattete.
Dennoch kam ihm das Gesicht des Schmuggler-Kapitains gegen früher verändert, gleichsam jünger, frischer vor.
»Lieutenant Dalbond,« sagte der Contrebandier - »wenn wir Ihren Tod beabsichtigten, so hätten wir Sie blos Ihrem Schicksal zu überlassen brauchen, ohne daß wir unser Gewissen beschwerten. Kein Mann, der in Ihrem Boote athmete, als Sie uns so thöricht verfolgten, ist noch am Leben!«
»Warum haben Sie dann das meine gerettet?«
»Weil ich Ihnen wohl will - weil ein Schmuggler in dem Douanier zwar den Feind seines Gewerbes sieht, aber auch seinen Mitmenschen. Weil Sie hilflos auf dem Wasser trieben, eine Beute der See, wenn ich nicht die Hand ausstreckte, und weil es feig und grausam von mir gewesen wäre, wenn ich diese Hand nicht ausgestreckt hätte!«
»Sie reden so ganz anders, als ich Sie mir gedacht habe, Señor,« sagte der unglückliche Offizier, »und als
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der Ruf Sie schildert. Sagen Sie mir offen als Mann, was soll mein Schicksal sein?«
»Sie fühlen, daß Sie widerstandlos in meiner Gewalt sind?«
»Mit einem gebrochenen Arm und halbzerschmetterten Gliedern bin ich hilflos wie ein Kind!«
»Und was - Lieutenant Dalbond! auf Ihre Ehre! - was würden Sie thun, wenn man Sie noch diese Nacht frei an die Schwelle Ihrer Wohnung brächte?«
Der junge Offizier zögerte einige Augenblicke, er begriff, daß von dieser Antwort Tod und Leben abhängen könnte. Dennoch hatte er den Muth, zu sagen: »Ich müßte meinen Vorgesetzten sagen, wie ich dahin gekommen bin!«
»Und was Sie entdeckt hätten?«
»Und was ich entdeckt habe!« -
»Das ist gesprochen wie ein Mann, der den Muth hat, dem Tode in's Auge zu sehen. Nur glaube ich, daß Sie vielen Ihrer Vorgesetzten einen schlechten Dienst damit leisten würden. - Haben Sie von der Contrabandista gehört?«
»Es ist die geheime Gesellschaft, die den Schmuggel in Spanien und in einem Theile Frankreichs betreibt und weite Verbindungen haben soll.«
»Und von dem Viejo?«47
»Es ist ihr Anführer, wie man mir sagte.«
»So ist es, Herr, und dieser Mann hat eine Macht,
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die der eines absoluten Königs gleicht. Ich bin zwar nicht der Viejo - aber meine Macht ist in vielen Stücken dieselbe. Im Namen des Viejo biete ich Ihnen an, in unsere Gesellschaft zu treten!«
»Niemals - das wäre ehrlos!«
»Hören Sie mich erst an, Monsieur Dalbond. Viele Ihrer Kameraden, Ihrer Vorgesetzten bis in die höchsten Spitzen hinauf gehören der Contrabandista theils als Mitglieder, theils als Stillbetheiligte an, indem sie nicht sehen wollen, was sie nicht sehen müssen, und uns so ihren Schutz gewähren. Gold, Beförderung und Schutz ist dafür ihr Lohn, denn die Contrabandista läßt nie einen der Ihren im Stich. Lieutenant Dalbond, ich verpfände Ihnen mein Wort, daß Sie nicht der Erste auf Ihrem Posten hier in Biarritz sind, der ein Freund der Contrabandista war!«
»Dann war der Beamte ein Schurke!«
»Sagen Sie das nicht - er hatte blos eine freiere Ansicht über Handelspolitik, zu der die Regierung über kurz oder lang gleichfalls kommen und damit allem Schmuggel am Besten ein Ende machen wird! Aber - um zu einem Resultat zu gelangen, - Sie wissen, daß Sie in unserer Gewalt sind, daß wir Ihr Schweigen über das Geheimniß haben müssen! - Leisten Sie den Eid der Contrabandista, und Ihr kärgliches Gehalt soll jährlich um zweitausend Franken vermehrt werden!«
»Dieses Anerbieten ist eine Schmach!«
»Bedenken Sie es wohl! ich biete Ihnen Leben, - Wohlstand - Glück! wir wissen, daß Sie Margaritta
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Labeule, die Tochter des früheren Douanen-Inspekteurs, lieben - sie soll die Ihre sein!«
»Das versprechen Sie mir - Sie - von dem man sagt, daß er der Mörder Ihres Vaters war!?«
»Herr Labeule fiel im ehrlichen Kampf der Contrebandiers! Wie wir unser Wort halten, ist unsre Sache, aber es wird geschehen! Entschließen Sie sich!«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Dann - so leid es mir thut - Lieutenant Dalbond - müssen Sie sich zum Tode bereiten!«
»Wie - Sie wären grausam genug, einen unbewaffneten hilflosen Mann zu morden?!«
»Ich habe Ihr Leben gerettet - ich kann es wieder nehmen. Jeder ist sich selbst der Nächste! - Dennoch will ich nicht Hand an Sie legen - ich werde Sie zurückbringen lassen mit der nämlichen Planke, die Sie trug, - auf die Fluth, der ich Sie entrissen! Will Sie Gott erretten - es sei! mein ist die Schuld nicht!«
»Das ist Frevel! Sie wissen sehr wohl, daß mich dem Meer preisgegeben, mich tödten heißt!«
»Carracho! Sie sind der Schmied Ihres Schicksals!«
»Ich muß meine Pflicht erfüllen, wenn ich die Macht dazu habe. Aber handeln Sie als Mann, lassen Sie mich wenigstens wie den Soldat auf seinem Posten sterben - ersparen Sie mir die Qual des furchtbaren Todeskampfes - ein Zug an dem Drücker Ihrer Pistole - und ich bin nicht mehr!«
»Lieutenant Dalbond - schwören Sie!«
»Nein!«
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»Ich bitte Sie, ersparen Sie mir eine finstre That - schwören Sie!«
»Nein!«
»Dann komme Ihr Blut über Sie selbst - Sie müssen sterben!«
Seine Hand lag an dem Kolben des Pistols - seine Augen blickten finster auf das unglückliche Opfer.
Der junge Mann riß mit der gesunden Hand das Hemd auf. »Schieß zu, Mörder!«
Und »Verfluchter! stirb Du selbst!« gellte es schrill neben den Beiden. »Fahre zur Hölle, Mörder meines Vaters!«
Ein kräftiger Dolchstoß, obschon nur von Frauenhand geführt, traf mit solcher Gewalt seine Brust, daß er einen Schritt zurück taumelte. »Margaritta - Du hier?!«
»Heilige Jungfrau, diese Stimme -«
Ehe der Schmuggler-Kapitain sich erheben konnte, langte eine Hand über seine Schulter hinweg und riß mit einem Griff Hut und Bart und Pflaster von seinem Haupt.
»Sehen Sie her - wer El Tuerto ist! Hier steht der Mörder Ihres Vaters!«
»Heilige Jungfrau, beschütze mich! Juan - Juan!?«
Wie ein Tiger, den die Meute der Hunde plötzlich überfällt, wandte der Graf sich gegen den fremden Feind.
Es war Miguel, der Lastträger, der vor ihm stand, das Gesicht blutleer, voll drohenden, entschlossenen Ausdrucks, die linke Schulter und den Arm in Bandagen, die
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rechte Hand noch gegen ihn ausgestreckt, in den Fingern die Zeugen seines Betrugs.
»El Tuerto - der Lord von Lerida, der Gast des Kaisers!« rief entsetzt der Douanen-Offizier. Der Entlarvte sagte kein Wort, nur seine Augen schossen Blitze. Der Ausdruck seines Gesichts hatte etwas Furchtbares, Dämonisches.
Zwischen den Zähnen that er einen scharfen gellenden Pfiff, und augenblicklich stürzten die Männer der Victory, die sich im vorderen Gewölbe befanden, herbei.
»Nehmt sie! bindet sie! - den Mann! das Weib!« Einen Augenblick standen die wilden Männer, zaudernd, bestürzt. Der Anblick des Lastträgers, den sie erschossen, in das Meer gestürzt wähnten, erfüllte sie anfänglich mit Grauen.
»Gehorcht!«
Mauro war der Erste, der im blinden Gehorsam auf den Riesen lossprang und Hand an ihn legte. Ohne auch nur eine Bewegung zu seiner Vertheidigung zu machen, ohne einen Laut des Schmerzes bei der Berührung der kranken Schulter auszustoßen, ließ Miguel von seinen bisherigen Gefährten sich fesseln.
Margaritta's Hand hatte bei der furchtbaren Entdeckung, daß ihr Geliebter, der Vater ihres Kindes, der berüchtigte Schmuggler-Kapitain El Tuerto selbst, der Mörder ihres Vaters sei, kraftlos den Dolch fallen lassen, dessen Klinge sich noch so eben mit dem Bluts Dessen gefärbt hatte, der ihr das Theuerste auf Erden und in der Ewigkeit war.
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»Juan! Juan!«
»Bindet sie!«
Der Douanen-Offizier richtete sich mit Gewalt empör. »Erbärmliche Feiglinge! an einem Weibe Euch zu vergreifen! O daß ich nicht ein Krüppel wäre, daß ich eine Waffe hätte in meiner Hand!«
Der Graf that einen Schritt auf ihn zu. »Lieutenant Dalbond,« sagte er streng - »hier ist die Waffe, die Sie verlangen!« Er warf ihm das Pistol zu. »Zweimal ist an diesem Abend bereits mein Blut geflossen - das erste Mal -« er warf den Rock auf und zeigte das mit Blut befleckte Gilet, - »als Sie einen Mann, der Ihnen nie etwas zu Leide gethan, mit Ihren Kugeln verfolgten, - das zweite Mal von einem Weibe, das ich liebte, - blos weil ich im ehrlichen Kampf einen Verräther an seinem Eid erschlagen! - Hier haben Sie die Waffe, rächen Sie die nach meinem Leben dürstende Frau dort und nehmen Sie dem das Leben, der vor einer Stunde kaum das Ihre gerettet hat!«
»Juan! Juan! Mörder meines Vaters - erbarme Dich mein! Laß mich sterben, weil ich Dich ewig hassen und lieben muß!«
Die Hand des Douanen-Offiziers zuckte nach der Waffe, als er das Weib, das er längst im Stillen geliebt, verloren für sich, vor seinem Feinde kuieen sah. Aber die Hand hatte die Waffe noch nicht berührt, als sie sich scheu zurückzog.
»Wer Sie auch sind - Lord oder Corsar - nein, ich irre mich nicht - jetzt erkenne ich Sie, worüber ich
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seit gestern gesonnen, Sie sind der garibaldinische Offizier, um den vor fünfzehn Monaten Theresa Logroni sich den Tod gab! - Verfluchter! Würgengel der Unschuld und der weiblichen Ehre - vollenden Sie Ihr Werk, das diese Dame unterbrochen! ich bin bereit zu sterben!«
Don Juan blickte finster auf ihn - ein dämonischer Hohn zuckte um seinen Mund, wie er das dunkle Antlitz der gefallenen Engel entstellen mag.
»Lieutenant Dalbond,« sagte er endlich - »Sie sollen nicht sterben! - Das Leben wird Ihre härteste Strafe sein, wenn Sie wissen, daß Die, welche Sie lieben, nicht die Fleckenlose ist, die Sie in ihr sahen! Nach zwei Tagen werden Sie frei sein und mögen Ihre Wunden heilen lassen, bis dahin soll Ihnen jeder Beistand werden und diese Dame hier - sie mag ihre Zärtlichkeit darin üben, daß sie Ihre Pflegerin ist. Ich schenke ihr das Leben und Sie müssen später wissen, ob Ihre sogenannte Pflicht sie zwingt, auch ihr Geheimniß zu denunciren. Was Dich betrifft« - er wandte sich zu dem Lastträger - »so weißt Du sehr wohl, daß Du den Tod verdient hast durch Ungehorsam und Verrath. Aber da ich niemals zwei Mal die Hand gegen einen Mann erhebe, bist Du sicher. - Bringt die Gefangenen in die dritte Felsenkammer und stellt eine Wache davor, dann kommt hierher, denn diese Nacht muß noch Vieles geschafft werden, da Keiner von uns diese Felsen wiedersehen wird.«
Während die drei Gefangenen an den bezeichneten Ort gebracht und dort bewacht wurden, ließ der Graf die beiden Streifwunden, die er erhalten, so gut es ging, verbinden.
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Der Schuß war zwischen Körper und Arm hindurchgegangen und hatte eine leichte Fleischwunde gerissen. Härter hatte der Dolchstich der Geliebten ihn getroffen, dessen tödtliche Wirkung wohl nur durch das dicke Theertuch des Seemannsrocks und eine Bewegung zur Seite verhindert worden; doch beschränkte sich auch diese Wunde auf einen Fleischriß und hatte keine edleren Theile verletzt.
Schon während des kurzen Verbindens entwickelte der kühne Abenteurer eine fieberische Thätigkeit. Er schien seine bestimmten Entschlüsse gefaßt zu haben und ertheilte demgemäß seine Befehle.
Das Gig der Victory und das zweite Schmugglerboot, das für besondere Fälle in der unterirdischen Bucht festlag, wurden mit den werthvollsten Sachen beladen, die sich noch in den Höhlen befanden. Außer der Mannschaft des Gig waren die beiden Matrosen in der Höhle, die im Hause zurückgeblieben waren. Der Graf befahl, daß die beiden letzteren das Gig rudern und Seespinne an das Steuer nehmen sollten, während die andere Mannschaft das Schmugglerboot führen müsse. Dem Malteser wurde die Ordre gegeben, an der Victory anzulegen, die Sachen - im Fall der San Martino bereits unter Seegel gegangen - auf der Yacht unterzubringen und dann mit neuer Mannschaft und dem Wundarzt des Schiffs das Gig auf offenem Wege zurückzusenden.
Wie gewöhnlich in dieser Gegend hatte sich das Wetter nach der Zerstreuung oder Entladung der elektrischen Stoffe rasch verzogen und die Bewegung der See war, wie das erfahrene Auge der Seeleute selbst in dem
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abgeschlossenen Raum bemerken konnte, um Vieles ruhiger geworden.
Es war gegen 5 Uhr Morgens, als die Mannschaft der Yacht mit den befohlenen Arbeiten zu Ende war und Don Juan beide Boote durch die Ausfahrt die Höhle verlassen ließ. Sobald sie fort, rief er Mauro von seinem Posten ab.
»Was treiben die Gefangenen?«
»Die Frau brütet stumm vor sich hin, - sie weint nicht, sie spricht nicht - ihre Augen sind starr auf einen Fleck gerichtet; es ist ein Jammer, sie anzusehn!«
»Und die Anderen?«
»Miguel versucht sie zu trösten und zu ermuthigen. Der große Kerl spricht mit ihr, wie die Amme mit einem Kinde. Aber er redet in dem Patois seiner Berge, das ich nicht verstehen kann. Der Douane liegt im Fieber und redet irre.«
»Es wird bis zur Ankunft des Doktor Sommarina sich gelegt haben. Um 8 oder 9 Uhr kann das Gig zurück sein. Stelle Wasser in den Bereich der Drei und dann komm zurück.«
Als dies geschehen, brachte der Graf eine kleine Quantität von Schießbaumwolle in einer Gummiblase vorsichtig in eine der Spalten des Gewölbes, das über der Einfahrt hing, eben so in das der Ausfahrt. Die Contrebandiers schienen für die Stunde der Gefahr diese Vorsichtsmaßregel wohl und mit großer Kenntniß der Wirkung vorbereitet zu haben, denn es waren solche Stellen gewählt, welche trotz der großen Wirkungskraft dieses Sprengmaterials eben nur
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die Wirkung nach unten leiten und durch das Loslösen einiger Felsenblöcke den Eingang versperren mußten, ohne daß die kolossale Felsenwand, die sich über ihnen befand, eine Erschütterung erleiden konnte. An beiden Punkten befand sich über der Stelle, auf welche der Spanier das Sprengmaterial gelegt, ein schwerer Stein in der Schwebe, dessen Stütze durch einen an der Wand hinlaufenden Drath fortgezogen werden konnte.
Es ist eine Entdeckung der neuesten Zeit, die aber hiernach schon den geheimen Besitzern dieses Schlupfwinkels bekannt sein mußte, daß die Schießbaumwolle im freien Zustand durch einen Stoß oder Schlag auch nach Unten eine zehnfach größere Wirkung als das Pulver übt.
Nachdem diese Vorsichtsmaßregeln getroffen waren, die der junge Grieche nicht ohne ein geheimes Grauen betrachtete, da er ihren Zweck nicht kannte, ging der Graf zu der Stelle im zweiten Gewölbe zurück, wo hinter einer gewaltigen Wand des Gesteins die Versenkung sich öffnete, durch welche die Schmuggler die Güter an das Tageslicht oder aus diesem herab schafften und mittels deren der geheime Verkehr mit dem Hause stattfand.
Die Platte der Versenkung war noch niedergelassen, wie Margaritta und der Lastträger ihr entstiegen waren, nachdem Miguel, ein gewandter Schwimmer und durch den Revolverschuß des Spaniers nur verwundet, sich an's Ufer gerettet und Margaritta durch seine Andeutungen zu der Fahrt in die unterirdischen Gewölbe bewogen hatte, die sie seit dem Tode ihres Vaters nicht wieder betreten.
Der Graf befahl dem Griechen, auf die Platte zu
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treten - dann drückte er die Feder in der Wand und die Maschine stieg langsam in die Höhe, den Herrn und seinen Diener mit sich führend, indem sie ihre drei Gefangenen erbarmungslos in Groll und Unruhe zurückließen.


Wie der junge Kapitain voraus gesehen, war das Wetter am andern Morgen klar und prächtig. Der Horizont war fast wolkenfrei und nur eine frische Brise strich noch über den Golf, jedem Schiffer eine willkommene Erscheinung.
Es war 9 Uhr, als der Graf von Lerida in dem Zimmer im Hause der Margaritta Labeule saß, das er am Nachmittag vorher eingenommen, und das in früheren Tagen so manche Stunde seines Glücks gesehen.
Der kühne Abenteurer war von allen jenen Gegenständen des Luxus und der Behaglichkeit umgeben, an die sein abwechselnd sybaritisches und wildes Leben ihn gewöhnt hatte, - duftender Kaffee und Liköre standen auf dem Tisch, die Hand, während er in träumendem Sinnen da saß, hielt den gold- und seideumsponnenen Schlauch eines Nargileh zwischen den Fingern und führte von Zeit zu Zeit das mit Edelsteinen besetzte dicke Mundstück von weißem Bernstein an seine Lippen.
Ein tiefes finsteres Sinnen lag auf der Stirn des Mannes, zuweilen von einem spöttischen oder triumphirenden Aufleuchten der Erinnerung durchkreuzt. Welche Ereignisse, welche aufregenden Scenen waren seit kaum zwanzig Stunden an ihm vorüber gegangen, nicht ohne
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Eindruck, obschon er an ein abenteuerliches Leben gewöhnt und die Aufregung dessen Odem war.
Mit Gewalt sich losreißend sprang er endlich von dem Divan auf, warf die Pfeife von sich und trat an die offene Glasthür der Veranda, von der hinaus sich der weite unermeßliche Horizont des Meeres bot.
Der »San Martino« war von der Rhede verschwunden, - selbst das Perspectiv des alten Cocles hätte die Spieren des geheimnißvollen amerikanischen Dampfers nicht mehr zu entdecken vermocht, - dagegen schaukelte sich lustig und munter die »Victory« auf ihrem Ankerplatz.
Das Boot der Victory war schon vor einer Stunde mit neuer Mannschaft zurückgekommen. Nur Seespinne hatte sich wieder einzuschmuggeln gewußt und war zu seinem Herrn zurückgekehrt.
Der Graf blickte einige Zeit hinaus auf das Meer. »Noch wäre es möglich, den Streich auszuführen,« sagte er sinnend, - »wenn sie sich entschließen, die Yacht zu besuchen. Eine halbe Stunde Zeit, um die Kessel zum Sieden zu bringen und ich spotte ihrer Dampfcorvette. - Aber - sie wären meine Gäste, und es wäre ehrlos, ihr Vertrauen zu täuschen - und wenn ich alle sechs Bourbonen mit dem einen Schlage wieder auf ihre Throne setzen könnte, - ich würde mich immer für gebrandmarkt halten! - Gestern - das war etwas Anderes - da stürzte ich mich in die Gefahr und war der Angreifende! - Zum Henker mit dem Mitleid, das mich bewog, den hitzköpfigen Narren aufzufischen. Unser Spiel ist vorbei an diesem Ort - Margaritta würde den Tod ihres
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Vaters nie vergessen, auch wenn ihre Leidenschaft ihren Durst nach Rache besiegt! - Freilich - wenn sie dazu einen Beweis der Untreue hätte - sie ist eine Spanierin im schlimmsten Sinne des Worts! - Aber - zum Henker! was mache ich mir für Gedanken - dieser Bruch ist ein Glück für mich und sie - sie mag Dalbond heirathen und vergessen! für was strebe ich meinem großen Vorbild und Namensvetter nach, wenn eine so kleine Rücksicht mich binden sollte! - Und dennoch - wenn sie das Abenteuer mit der kleinen Savoyardin erfährt - nun meinetwegen! Wenn Herr Dalbond Lust hat, die Rolle Leporello's mit dem Register zu spielen zum Dank für die Rettung seines Lebens, mag er es thun. Ich wäre nicht Don Juan, wenn ich mir um diese Elvira eine Sorge machen wollte. Nur der Genuß ist Leben und die Welt ist reich an reizenden Weibern, von denen, beim Himmel! die kleine Kervague jetzt die Königin ist!«
Der frevle Uebermuth sollte eine Antwort finden.
An der Thür, die aus dem Innern des Hauses in den Salon führte, klopfte es zwei Mal.
»Ah - Mauro! Tritt ein! was willst Du?«
»Excellenza - eine kaiserliche Equipage hält auf der Straße. Ich soll diese Karte abgeben!«
»Ah - Monsieur le capitain Marquis de la Houdinière, officier d'ordonnance de sa Majesteé l'Empereur« las der Graf. »Natürlich - ich lasse bitten! Führe den Herrn die äußere Treppe herauf! - Der Vetter der schönen Angelique! - Noch Eins, Mauro!« Der Stewart blieb stehen.
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»Hat Doktor Sommarina den Douanier verbunden?«
»Der Bursche steckt in Schienen, wie ein Huhn in einer Bretterkiste!«
»Und Margaritta?«
»Sie hat noch immer nicht nach dem Kinde gefragt. Ich habe wie Euer Excellenza befohlen, allen Dreien die Bande abgenommen; der Doktor und der Indier bewachen sie.«
»Und das Mädchen hier im Hause?«
»Sie hat meinen Worten glauben müssen, daß ihre Herrin nach Bayonne ist und morgen zurückkehren wird. Im Uebrigen kann keine Katze aus dem Haus und wir halten scharfen Ausguck auf beiden Seiten der Straße.«
»Gut! führe den Offizier hierher!«
Der Graf benutzte die kurze Zeit bis zum Erscheinen des Besuchs, seine Toilette zu vervollständigen. Als er den Offizier auf dem Corridor der Veranda hörte, ging er ihm rasch entgegen.
»Willkommen Marquis! eine angenehmere Ueberraschung hätte mir nicht werden können. Sie sehen, daß ich als Wetterprophet etwas mehr Erfahrung habe, als bei sonst unbestrittenen Verdiensten Kapitain Blainville von Ihrer Corvette, denn das Wetter ist prächtig, und ich hoffe, Sie bringen mir den Befehl Sr. Majestät, Alles auf meiner bescheidenen Yacht zum Empfang der Herrschaften bereit zu halten.«
»Ich bedauere, Sie enttäuschen zu müssen,« sagte der junge Offizier höflich, aber mit einer sichtbaren Kälte. »Der
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Hof verläßt noch diesen Nachmittag Biarritz und geht zurück nach Paris.«
Der Besitzer der Yacht hatte sehr wohl bemerkt, daß der Ordonnanz-Offizier beim Empfang, Säbel und Hut in den Händen, vermieden hatte, ohne gegen die strengsten Formen der Höflichkeit anzustoßen, seine ihm entgegengestreckte Hand zu berühren.
Der Graf änderte geschickt die Bewegung, aber eine tiefe Falte zeigte sich für einige Augenblicke auf; seiner Stirn und ein drohender Blick schoß auf seinen Besucher.
Dies dauerte jedoch nur einen Moment, im nächsten war er ganz wieder der zuvorkommende Hausherr, nur hätte ein scharfer Beobachter leicht bemerken können, daß seine Haltung unter den zuvorkommendsten Formen eine noch reservirtere wurde, als sie der kaiserliche Offizier gezeigt.
»Ei das muß ganz plötzlich gekommen sein! Gewiß eine wichtige politische Nachricht mit dem Telegraphen! Aber wollen Sie nicht Platz nehmen Marquis, und eine ächte Manilla - oder ziehen Sie Cigaretten vor? ich bitte, bedienen Sie sich, und erlauben Sie mir, nach Chokolade zu schellen!«
»Bemühen Sie sich nicht, Mylord - meine Zeit ist sehr beschränkt.« Er hatte Platz genommen und fuhr in steifer Haltung fort. »Zunächst läßt Seine Majestät der Kaiser Sein und der Kaiserin Bedauern aussprechen, durch die Abreise verhindert zu sein, Ihr Schiff zu besuchen und die Einladung zum Besuch in Compiègne zu wiederholen.
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Zugleich läßt Seine Majestät Ihnen für die Nachricht danken, die Ihr Brief heute in aller Frühe gegeben.«
»Bah - eine kleine Neuigkeit, die ich in meinem Geschäft als Schmuggler erfahren!«
»Dann wissen Sie wahrscheinlich auch, daß diese Nacht ein Gefecht zwischen den spanischen Contrebandiers und unserer Douane hier an der Küste stattgefunden hat?«
»Ich müßte taub und blind sein, wenn ich es nicht bemerkt hätte, da es hier fast unter meinen Augen vorfiel!«
»Es wäre ja möglich gewesen,« bemerkte der Offizier, sein Vis à vis scharf beobachtend, »daß Sie noch nicht hier in Ihrer Wohnung gewesen wären, von der man allerdings den Schauplatz vollständig übersehen kann. Wir haben einen wackeren Beamten und sechs seiner Leute verloren, die bei dem heftigen Wogenschwall in der Brandung an den Felsen verunglückt sein müssen.«
»Ich habe davon gehört!« Der Graf, der dem Fenster den Rücken zuwandte, sah ruhig den blauen Ringen seiner Strohcigarre nach.
»So waren Sie also so zeitig zu Hause, Mylord?«
»Früh genug, um noch die Schüsse Ihrer Douaniers blitzen zu sehen. Es scheint, daß die Contrebandiers sich aus dem Staube gemacht haben; denn als ich heute Morgen aufwachte, war jenes Ihren Beamten verdächtige Schiff auf und davon.«
»Es heißt,« fuhr der Offizier fort, ohne das Auge von dem Gesicht des Grafen zu verwenden, - »die Schmuggler hätten selbst die Dreistigkeit gehabt, die kaiserliche Villa nicht zu verschonen - vielleicht auf der Flucht oder aus
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andern Gründen. Man will während der Nacht fremde Personen im Park bemerkt haben. Die Kaiserin selbst ist von einer solchen Gestalt erschreckt worden und hat während mehrerer Stunden einen hysterischen Anfall davon gehabt!«
»Bah - Ihre Damen haben eine reiche Phantasie! - für was haben Sie denn Schildwachen?«
»Das sagte ich mir, in Folge eines seltsamen Umstandes auch, - und demnach hielt ich es für Pflicht, ihnen etwas näher auf den Zahn zu fühlen, um mehr zu hören, als sie zur Rechtfertigung ihrer Fahrlässigkeit zu sagen für gut befunden.«
Der Graf hatte eine aufmerksamere Stellung angenommen, - er war im Zweifel, was kommen könne.
»Bitte, fahren Sie fort - Ihre Erzählung fängt an, mich zu interessiren. Sie revangiren sich in der That für meine indische Geschichte.«
Der Ordonnanz-Offizier schien den leisen Spott nicht zu bemerken, der in dem Ton lag.
»Jener Umstand, Mylord, der mich zur nähern Nachfrage veranlaßte, war, daß ich in der Nacht, als die Unruhe durch die Erkrankung der Kaiserin uns Alle weckte, zufällig auf den Balkon des oberen Stockwerks trat, und dort im Winkel eine Art seidener Strickleiter fand!«
»Die Sie sofort zum Besten gaben?«
»Bewahre, Mylord - die ich sehr diskret an mich nahm und verwahrte. Nur gab sie mir die Ueberzeugung, daß man den armen Schmugglern Unrecht gethan und
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daß ein galantes Abenteuer die Ursache der Störung gewesen sein mußte!«
»By jove! Ihre Geschichte wird immer interessanter, Herr Marquis. Darf ich Ihre weiteren Entdeckungen erfahren?«
»Das sollen Sie, denn ich bedarf zum vollständigen Resultat Ihrer Hilfe!«
»Der meinen?«
»Ja, Mylord! - Zunächst also, wie ich schon die Ehre hatte, Ihnen zu sagen, kam ich auf den Gedanken, die Schildwache etwas näher in's Gebet zu nehmen, und da erfuhr ich denn von dem Posten am nördlichen Flügel der Villa, daß allerdings zwischen ein und zwei Uhr ein Fremder im Schloß gewesen war, denn -[«]
»Nun?«
»Denn er war bei dem entstandenen Lärmen aus einem Fenster und fast in die Arme der Schildwach gesprungen, eines im Uebrigen sehr diskreten Burschen, der ein Liebesabenteuer witterte und sich daher mit dem Paßwort und der Versicherung des kecken Springers begnügte, daß er zu den Cavalieren des Hofes gehöre!«
»Ihr Soldat, Herr Marquis,« sagte lächelnd der Spanier, »scheint nach diesen Details doch nicht sehr diskret gewesen zu sein für einen Franzosen.«
»Oh - parbleu! sicher, aber Sie werden selbst wissen, daß ein Soldat seinem Offizier den Rapport nicht verweigern darf. Der Offizier ist dann der Verwahrer seiner Ehre. Genug, ich überzeugte mich am Morgen, daß die Rabatte unter den Fenstern unserer Hofdamen eine
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arge Zerstörung erlitten, und hatte Mühe, sie einigermaßen zu vertuschen.«
»Sie verdienen, General-Intendant der kaiserlichen Gärten zu werden, Herr Marquis! Aber ich begreife in der That nicht, warum Sie sich so viele Mühe gaben bei einem Abenteuer, das sich vielleicht auf ein Rendezvous und eine angenehme Nacht mit einer der hübschen Kammerzofen beschränkt.«
»Warum ich mir diese gab, Mylord, will ich Ihnen sagen. Es geschah, weil die Eindrücke jenes Sprunges sich gerade unter dem Fenster des Fräulein Angelique von Kervague befanden, das mir außerdem der Posten ganz bestimmt als dasjenige bezeichnete, aus welchem die Dame den Herrn entwischen ließ!«
»Ah!«
»Und weil,« fuhr der Offizier mit tiefer drohender Stimme fort, »Fräulein Angelique von Kervague meine Cousine ist!«
Der Graf verbeugte sich kalt. »Ich erinnere mich, dies gestern Abend von Ihnen gehört zu haben und muß gestehen, ich bin eben so erstaunt wie beschämt über das große Vertrauen, was Sie mir mit diesen Details schenken!«
»Mylord ...!«
»Herr Marquis?«
Der Offizier faßte sich mit Gewalt. »Ich habe noch vergessen, mein Herr, Ihnen zu sagen, daß ich unter den Blumen der Rabatte, dicht neben den Fußspuren dieses elfenbeinerne Karten-Etui fand!«
Er zog den Gegenstand aus der Tasche seiner Uniform
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und reichte ihn seinem Gegner hin, der ihn mit den Fingerspitzen geziert empfing.
»Tausend Dank Herr Marquis für diese Gefälligkeit. Es hätte mich in der That sehr geschmerzt, die hübsche Kleinigkeit verloren zu sehen. Es ist aus dem Elfenbein des ersten Elephanten gemacht, den ich auf Ceylon schoß!«
Die Stirn des Franzosen hatte sich dunkel geröthet, während seine Hand sich ballte bei der wegwerfenden Ruhe seines Gegners. »Spielen wir nicht länger Komödie, Herr,« sagte er gepreßt. »Ich habe weder die Lust noch das Recht, mich zum Sittenrichter unserer Hofdamen zu machen ...«
»Es würde vielleicht ein allzumühsames Amt sein!«
»Aber ich habe Ihnen bereits wiederholt, daß Fräulein von Kervague aus dem Blut meiner Mutter stammt, und ich frage Sie? wann Sie gedenken, bei der Kaiserin um ihre Hand anzuhalten?«
»Wie - ich - Fräulein von Kervague heirathen?«
»Was sonst?«
»Aber ich kenne sie ja viel zu wenig, zu kurze Zeit, um auf solches Glück auch nur hoffen zu dürfen!«
»Nun zum Teufel - wenn Sie das wenig kennen nennen!! aber - ich bin nicht hier, um mich narren zu lassen! wollen Sie Angelique heirathen oder nicht?«
»Nein!«
»Dann Herr sind Sie ein verfluchter Sch...«
Der Graf kam ihm zuvor. Er legte die Hand fest auf seinen Arm und sah ihm finster in das sprühende Auge.
»Kein Schimpfwort, Monsieur - sprechen Sie wie
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ein Gentleman zu einem andern! ich liebe es nicht, mich beleidigen zu lassen!«
»Dann ...«
»Still! jede Genugthuung soll Ihnen werden, obschon Sie kaum das Recht haben, sich in die Angelegenheiten der Dame zu mischen. Nur habe ich eine Frage an Sie zu thun?«
»Welche?«
»Weiß Fräulein von Kervague um Ihren Schritt? Haben Sie dieselbe befragt?«
»Nein, - ich wollte ihr die Beschämung ersparen, und noch jetzt weiß ich kaum, wie es möglich ist, da sie stets als ein Muster von Sittsamkeit und Tugend mir erschien.«
Der Graf verzog keine Miene. »Monsieur le Marquis,« sagte er ruhig - »ein Mann wie Sie, wird wissen, daß Schwachheit der Name der Frauen ist! - Genug davon - gehen wir von dem Vergnügen zu dem Ernst des Lebens! - Ich könnte Ihnen sagen, daß Fräulein von Kervague so rein wie ein Engel blieb und nur aus einem edlen Gefühl ihres Herzens den bösen Schein auf sich geladen! Was nutzt das - die Sache ist geschehn! Ich würde vielleicht ein sehr verständiger und glücklicher Mann sein als der Gatte des edlen und liebenswürdigen Fräuleins von Kervague, obschon ich Don Juan heiße; aber Sie selbst haben mir die Brücke zu diesen häuslichen Tugenden abgebrochen, denn - und bei meiner Ehre, ich habe nur das eine Wort! - ich bin nicht gewohnt, mich zwingen zu lassen, von keinem lebenden Wesen der Erde,
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verstehen Sie wohl, Herr Marquis, und der Ton, den Sie angeschlagen, erlaubt nur eine Lösung!«
»Diese ist mein Wunsch!«
»Also ein Duell!« - Der Offizier bejahte.
»Gut! Ich will Ihnen sagen, daß ich das Duell achte als einen Gottesgerichtskampf, wo zwei Gegner um ihre höchsten Interessen ringen, ich verachte es als die ultima ratio oft für lächerliche Beleidigungen zwischen zwei Personen. Sei dem aber, wie ihm wolle, der Codex der modernen Ehre zwingt mich, ihm Gehorsam zu zollen. Also - ich stehe zu Ihren Diensten. Doch - erlauben Sie - -«
Er deutete nach dem zweiten Holzpfeiler der Veranda, indem er eine auf dem Tisch zwischen ihnen liegende kurze Pistole ergriff.
»Sehen Sie dort jenen braunen Knorren - das Astloch - la voilà!«
Er hatte im Augenblick das Pistol erhoben und schoß, ohne nur einen Moment zu zielen.
Ein dunkler Flecken, mitten im Ast, zeigte, wo die Kugel getroffen.
»Sie sehen, Herr Kapitain, daß ich meines Schusses unbedingt sicher bin. Es wäre also nur Mord von meiner Seite! Wollen Sie deshalb mir erlauben, die Bedingungen zu unserem allerdings nicht zu vermeidenden Rencontre festzusetzen?«
Der Offizier verbeugte sich. »Ich bin vollkommen mit allen Bedingungen einverstanden, schieße aber auch ziemlich sicher; nur habe ich die Ehre, Ihnen anzuzeigen,
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daß ich um 11 Uhr mit dem Zug nach Madrid mit Depeschen des Kaisers abzureisen habe, das Duell also in diesem Augenblick, oder nach meiner Rückkehr von Madrid stattfinden muß!«
Der Graf lächelte. »Vamos! ich glaube, ich weiß ziemlich genau, welche Nachricht Sie nach Madrid zu bringen haben; aber 2000 Gewehre für die Carlisten mehr oder weniger können hierbei nicht in Betracht kommen, nur der Umstand, daß Sie im Dienst sind. Aber Sie werden bald zurückkehren?«
»Sofort!«
»Schön! Sie sind also morgen in Madrid, haben übermorgen Audienz und können am Freitag wieder abreisen.«
Der Offizier bejahte.
[»]Dann bitte ich Sie, den Expreßtrain über Sarragoza nach Pamplona zu wählen. Ich werde die Ehre haben, Sie am Sonnabend auf dem Bahnhof zu Pamplona zu erwarten.«
»Aber wozu alle diese Umstände?«
»Ich bin von einem alten Freunde am Maldabich, dem berühmtesten Bärenjager Navarra's, Romero Castillos, zu einer Bärenjagd geladen - es ist jetzt die Zeit, wo er ihnen vor dem Winterlager in den Schluchten der Pyrenäen nachzustellen pflegt. Sie nahmen so vielen Antheil an der Tigerjagd des armen Cavendish, daß ich mir erlaube, Ihnen vorzuschlagen, unser Duell mit Meister Braun auszufechten, statt wie ein Paar Thoren auf einander Scheibe zu schießen! Ueberdies ...«
»Nun?«
»Ueberdies sparen wir so die Sekundanten, die immer eine unangenehme Beigabe sind, wo es sich um den Ruf einer Dame handelt; Niemand erfährt von unserem Streit, und Fräulein von Kervague kann ihre kleinen Füße auf eine weiche Bärenhaut setzen, ohne dabei sich stets erinnern zu müssen, daß ein Vetter oder ein Anbeter den Anderen getödtet hat, - es müßte denn sein, daß Ihnen die Bärenjagd zu beschwerlich oder - gefährlich erscheint!«
Das letzte Wort bestimmte den Entschluß des Offiziers.
»Ich nehme den Vorschlag - so seltsam und abweichend er auch von allen Regeln der Gesellschaft ist, - an« - sagte er fest. »Ich werde am Sonnabend in Pamplona sein, nur von meinem Diener begleitet. Ich erwarte, Sie dort zu finden, Mylord!«
»Seien Sie dessen versichert!«
Der Kapitain verbeugte sich und verließ das Gemach, von seinem Gegner auf das Höflichste bis zur ersten Stufe der Treppe begleitet.
»Wahrhaftig,« sagte lachend der Graf, als er zurückkehrte, »ich glaube, der selige Don Quichote ist ein Spießbürger gegen mich!« - Aber ich durfte ihn nicht über den Haufen schießen, wenn ich nicht für immer auf die schöne Angelique verzichten und mir ein schlimmes Entré in Paris bereiten wollte. Der Herr Marquis, der so gut meinen sardinischen Namen behalten, mag in den Armen einer Bärenmutter seine Einmischung büßen, die wenigstens das Gute gehabt hat, meine Unvorsichtigkeit zu repariren!
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- Die Abreise des Hofes nach Saint Cloud hat übrigens alle Fragen entschieden!«
Er ging nach der Seitenthür, schob die Portière zur Seite und ließ die Thür in ihren Falzen zurücklaufen. Der Anblick, der sich ihm bot, war eigenthümlich genug.
Der kleine Knabe, der seit der vergangenen Nacht die Wartung der Mutter entbehrte, hatte sich in Schlaf geweint und lag schlummernd in der Hängematte, als sein Wächter und Wärter aber hockte neben ihm am Boden die seltsame koboldartige Gestalt von Seespinne, der die luftige Wiege in leise schaukelnder Bewegung hielt.
Die Augen des Krüppels waren mit dem Ausdruck der zärtlichsten Sorge auf das ihm anvertraute Kind gerichtet, und er bedeutete eifrig durch allerlei groteske Winke und Bewegungen seinen Herrn, ja kein Geräusch zu machen, um den kleinen Schläfer nicht zu wecken.
Es war ein eigenthümliches Bild: der wilde, von Natur und Menschen mißhandelte, als Auswurf und Spielball betrachtete Knabe, verhöhnt und verabscheut, boshaft und heftig, von der Laune seines Herrn jeder Gefahr preisgegeben und seinerseits mit Tod und Gefahr spielend, - hier mit der Sorge für ein noch hilfloseres Wesen, als er selbst betraut, und in diesem Gefühl plötzlich zu Hingebung und fast zärtlicher Aufopferung sich erhebend! Eine Affenmutter kann für ihren Sprößling nicht mehr Sorgfalt zeigen, als der sonst so eigenwillig tückische Krüppel für das Kind bewies.
Dieser Gedanke erhob sich unwiderstehlich in der Seele des Abenteurers, als er die seltsame Scene vor sich
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sah, und blieb nicht ohne Einfluß auf seine eigene Stimmung. Er näherte sich mit vorsichtigem leisem Schritt der andern Seite der Hängematte und betrachtete das in seinem unschuldigen Schlummer reizend schöne Kind mit jener erwachenden Liebe, welche die Natur so heilig und tief in die Menschenbrust gepflanzt hat, und der sich selbst der Frevel und Leichtsinn nicht zu entziehen vermag: mit der Liebe des Vaters zu seinem Kinde!
Dieser Mann, jung, abenteuerlich, verwegen - mit allen göttlichen und menschlichen Gesetzen spielend und bisher nur dem Genuß als seinem Gott gehorchend, empfand ein Gefühl der Beschämung, als er das Geschöpf seiner Laune so zärtlich besorgt sah für das kleine Wesen, das so großen Anspruch auf seine eigene Zärtlichkeit hatte, und dem er sie bei seinem ersten Erblicken so wenig bewiesen, daß selbst die blinde Liebe der Mutter dies bemerken mußte. Er, von Jugend auf zum Egoisten erzogen, der nicht einmal seinen Wohlthäter, dem er doch Alles verdankte, aufrichtig geliebt, fühlte plötzlich das Bedürfniß des Herzens, sich ein Wesen zu erziehen, das ihm selbst Liebe und Dank schulden sollte für Last und Sorge, die er damit auf sich lud.
Wenn es vorher vielleicht schon seine Absicht gewesen war, die Mutter zu strafen, indem er ihr das Kind entzöge, wurde diese Absicht jetzt aus edleren Motiven zum festen Entschluß.
»Was denkst Du dazu, Seespinne,« frug er nach einer Pause, »würdest Du Dich wohl zu einer Kindermagd bei diesem kleinen Burschen hier eignen?«
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Der Krüppel sah ihn verwundert an. Dann gab er durch Zeichen zu verstehen, daß er von seinem Herrn sich nicht trennen könne.
»Aber wenn ich Dir nun erlaubte, diese Puppe mit auf die Victory zu nehmen?«
Seespinne machte einen Sprung und klatschte vergnügt in die Hände.
»Nun - es ist so! Die Victory geht heute Abend unter Seegel und ich will dieses Kind mit ihr schicken. Es ist alt genug, sich der Mutterbrust zu entwöhnen, und in San Sebastian oder Bilbao mögt Ihr eine Ziege an Bord nehmen, um ihm Milch zu sichern. Stöbere hier umher und packe Alles zusammen, was an Wäsche und Kleidern für den kleinen Kerl gehört, und binde es zusammen. Das Kind soll in meiner eigenen Kajüte von der Mulattin Juno, der Frau unseres schwarzen Kochs, verpflegt werden, bis ich weitere Befehle ertheile. Du aber sollst über dasselbe wachen und Dich seinem Dienst widmen, bis ich wieder mit der Victory zusammen treffe.«
Seespinne machte ein Zeichen, ob er ihn nicht begleiten solle?
»Nein - jetzt nicht! ich sage Dir, daß Du das Kind bewachen sollst. - Sieh - es ist aufgewacht. Jetzt, Seespinne, zeige Deine Talente. Es wird Hunger haben und Du mußt ihm Milch schaffen. - Sieh nach, wer klopft?«
Der Graf hob, während Seespinne zur Thür sprang, selbst den kleinen Knaben von seiner Matratze, setzte ihn auf seinen Schoos und begann mit ihm zu spielen. Das
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Kind sah den fremden Mann mit großen Augen an und verzog das Gesicht. Als ihm aber sein Vater zusprach und die Berlocques der goldenen Uhrkette in die Händchen gab, wurde ein kindliches Lächeln aus dem Weinen und es griff nach dem Spielzeug.
Einige Minuten ergötzte sich der Abenteurer an der harmlosen Scene, indem er neckend dem Knaben die Kette zureichte und wegzog, - seit seiner Jugend vielleicht lag zum ersten Mal wieder unschuldige Freude auf seiner Stirn.
»Er soll mich begleiten, wo immer es möglich,« sagte er leise - »ich fühle, daß ich dies Kind lieben könnte, und vielleicht ist es bestimmt, mein guter Engel zu sein, wo so viel böse und verlockende um mich herstehen, und mich von mancher Thorheit zurück zu halten! - Vielleicht, daß Angelique ...«
Er sprach so sicher, als stände ihm nicht ein Kampf auf Leben und Tod bevor.
Seespinne hüpfte herein auf seinen dünnen Beinen, in der einen Hand ein Glas mit Milch, in der andern auf einem Teller einen Brief. Die Augen des kleinen Unholds waren sogleich auf das Kind gerichtet, das er mit lebhaftem Vergnügen betrachtete, und vor dem er zu dessen Vergnügen allerlei Kapriolen zu schneiden begann, um es zu belustigen, nachdem er die Milch auf einen Tisch gestellt und seinem Gebieter den Brief gereicht hatte.
»By Jove,« sagte dieser munter, »so früh schon ein Billetdoux nach Farbe und Form zu schließen!« Er nahm das Rosa-Couvert, das von Fleur d'Orange duftete und mit einer Herzogskrone geschlossen war und öffnete es.
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Es enthielt nur wenige Worte:
Merci à la discrétion du beau fugard! Au revoir à Paris.
                        Cl. de R.      
»Claire de Rochambeau!« sagte er lachend. »Madame la Duchesse wird gewiß sehr neugierig sein, wie ich entkommen bin und hat am wenigsten eine Ahnung, daß es durch die Hilfe ihrer schönen Nebenbuhlerin geschehen ist. Ich würde auf den Bahnhof gehen, um das schaamhafte Roth Angeliques zu bewundern und zu sehen, ob die Frau Herzogin auch Rouge aufgelegt hat, um eine gewisse Mattigkeit zu vertuschen, wenn es nicht gegen den Takt wäre nach dem kleinen Rencontre mit dem Herrn Marquis! So ...« er war aufgestanden und reichte das schöne Kind dem mißgestalteten Knaben hin, als durch Festhalten der Berlocques sich das Hemdchen des strampelnden Kleinen verschob und das dunkelrothe Mal sichtbar wurde, das am Tage vorher seinem Vater die Mutter als eine göttliche Mahnung zur Rache gezeigt hatte.
Der Anblick zuckte wie ein elektrischer Schlag durch alle Fibern des Mannes und er hätte fast die unschuldige Ursach dieser Erregung fallen lassen, wenn Seespinne nicht den Kleinen aufgefangen hätte, der jetzt erschrocken über die hastige Bewegung zu weinen anfing. Während der Krüppel das Kind wieder zu beruhigen suchte, schleuderte der Graf ärgerlich das zusammengeballte Billet der schönen Herzogin in einen Winkel und ging mit hastigen Schritten im Salon auf und ab.
»Es kann nicht sein,« murmelte er - »es würde mich immer erinnern an die That! - Die Frau des
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Gärtners auf meinem Schloß zu Roccabruna ist eine würdige Matrone, ich muß ohnehin mit der Victory in Nizza anlaufen, und ihr will ich das Kind zur Pflege übergeben, dann ist es in guten Händen, - in bessern vielleicht, als bei seiner Mutter, deren Haß und Reue es nur nähren würde. Wer kann ein Weib ewig lieben! mag sie vergessen, wie ich!«


Im Laufe des Tages hatte der Hof Biarritz verlassen und der ganze Schwarm, den er dahin gezogen, beeilte sich, mit den nächsten Zügen ihm zu folgen.
Dies Ereigniß des Tages diente dazu, das Ereigniß der Nacht: das Gefecht der Contrebandiers mit den Douanen und das Verunglücken des Bootes in den Hintergrund treten zu lassen. Was frugen diese vornehmen Damen und Herren der Badewelt, die hohen Würdenträger und Beamten, die nur auf den Wink des allmächtigen Gebieters lauschten, ob zwei oder drei Wittwen um ihre Gatten klagten, ob weinende Kinder am Meeresstrand die tückischen Wellen anflehten, ihnen den Vater und Ernährer zurückzugeben, sei es auch nur als starrer Leichnam, der in der Erfüllung seiner Pflicht den Tod gefunden hatte!
Der Graf von Lerida hatte sich den Tag über mit einer ausgedehnten Correspondenz beschäftigt, einen Boten nach Bayonne abgesandt und gegen Abend das Gig nach der Yacht zurückgeschickt.
Er selbst war bei der Abfahrt des Bootes zugegen, welches die Koffer wieder zurück an Bord nahm, deren
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Ankunft am Tage vorher den Groll des alten Cocles erregt hatte. Der Alte humpelte eben wieder an der Stelle vorüber und sah mit grimmigem Blick auf das bunt und phantastisch gekleidete Schiffsvolk.
»Wollen Matrosen sein, Seeleute, und sehen aus, wie die Zigeuner und Hanswürste, die draußen in Indien sich rumtreiben, wo die Heiden und Menschenfresser wohnen,« brummte er. »Kielholen will ich mich lassen oder ein Spielvogel heißen, wenn das Pack diese Nacht nicht seine Hand dabei im Spiele gehabt und seinen Kameraden auf und davon geholfen hat!«
Der Kapitain der Victory war zu dem alten Seewolf getreten. »Nun Maat, wie geht's?« frug er - »hat man noch keine Nachricht von Lieutenant Dalbond und ob er wirklich verunglückt ist?«
Der Alte knurrte wie eine Bulldogge, die sich streicheln lassen muß und gern zuschnappen möchte.
»Werden's vielleicht besser wissen, wie ich! Die verfluchten Engländer sind doch an allem Unheil schuld!«
»Die Engländer? aber was zum Henker haben die mit dem Unglück dieser Nacht zu thun?«
»Was sie damit zu thun haben? Der Teufel soll mich holen, wenn's nicht wahr ist! Wenn sie den großen Kaiser nicht hätten auf Helena vergiftet, wären Die drüben über den Pyrenäen eben so gut französisch wie wir, und wir hätten weder Schmuggler noch Douanen!«
Der Graf lachte über diese Logik.
»Und das große Schiff, das Ihr gestern am Horizont
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zu sehen glaubtet, Mann - ist es näher gekommen, oder war es vielleicht der fliegende Holländer?«
»Sie sind kein ächter Seemann, Herr,« brummte der Stelzfuß, »wenn Sie mit solchen Dingen Spott treiben können. Suchen Sie sich einen Andern dazu, als den alten Cocles, der bei Navarin mit Ehren sein Bein verloren, wenn es auch nur gegen die Türken war!«
»Damned, Alter, wer wird gleich so gallig sein! ich hoffe, Ihr werdet trotz alles Grolls einem Seemann nicht abschlagen, noch einmal für diesen Napoleon auf das Wohl des Lebenden zu trinken, um so weniger, als ich Euch noch diesen Abend verlasse.«
Der Stelzfuß ließ ohne Gewissensbisse das Goldstück in seine weite Hosentasche gleiten. »Nichts für ungut, Monsieur,« murmelte er - »Ihr mögt ein ganz guter Kapitain sein, aber ich sehe gern freie Flagge und klaren Strich. Was das Gold betrifft, nun, da hat sich noch niemals ein Franzose bedacht, dergleichen einem Goddam abzunehmen!«
Er tüpfte an den Hut und stelzte weiter. »Der alte Kerl hat ein scharfes Auge,« murmelte der Graf, »und es ist gut, daß wir ihm aus dem Gesicht kommen. Vorsichtig, Seespinne - komm her zu mir!«
Der Krüppel näherte sich seinem Herrn. Er trug sorgfältig in seinen Armen einen kleinen länglichen Korb, der wohl bedeckt war.
»Ist das Kind wohlverwahrt?« flüsterte der Graf.
Der Krüppel nickte.
»So hüte es wie Deinen Augapfel! In zwölf Tagen
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treffe ich Euch in Cadix! Ich schneide Dir die Ohren von Deinem Froschkopf, wenn dem Kleinen Etwas passirt! Jetzt - vorsichtig steig' ein und passe auf Deinen Dienst, und Du sollst eine neue Jacke haben mit Silber gestickt, daß Du den Großmogul selbst neidisch machen könntest. Fort mit Dir!«
Der Krüppel stieß einen unartikulirten Laut aus, der sein Entzücken ausdrückte, und that einen Freudensprung. Dann eilte er nach dem Kahn. Von dem Sprung schien es aber in dem Korbe lebendig zu werden, denn es ließ sich das Geschrei einer Kinderstimme hören.
»Hört Nachbarin,« sagte einer der Zuschauer - »der Hexenbalg kräht wie ein wirkliches Kind!«
Die Matrosen hoben den Knaben mit seiner Last in das Boot. »Abgestoßen!« kommandirte der Graf, und dahin strich das Gig durch die Brandung, das letzte Glück der armen Mutter mit sich davon tragend. - - -
Als Don Juan zu dem Hause zurückkehrte, fand er Mauro seiner warten.
»Sind die Maulthiere bestellt?«
»Der Arriero wartet außerhalb des Orts auf der Straße von Bayonne.«
»Und Louison?«
»Das Mädchen fängt an, bange zu werden, weint und frägt fortwährend nach seiner Gebieterin.«
»Sperre sie in die hintere Kammer, dort hört Niemand ihr Gekreisch. Hole den Mantelsack aus dem Zimmer, die Pistolen und den katalonischen Dolch, der auf
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dem Brief liegt, den ich auf den Tisch gelegt, und bringe Alles hierher.«
Nach wenigen Minuten war der Befehl erfüllt. Don Juan schloß die Thür der Küche, in der eine einsame Lampe brannte. Dann ging er zur Wand und drückte an dem Knopf, wie der Einäugige am Abend vorher gethan.
Der Heerd begann sich von der Stelle zu schieben, nach kurzer Zeit war der Raum über der Versenkung frei.
»Jetzt Bursche, aufgepaßt! Siehst Du hier in der Ecke am Boden diesen Knopf?«
»Ja, Excellenza!«
»Du bleibst hier auf Wache und rührst Dich nicht von der Stelle, was Du auch hören magst. Lösche die Lampe, laß Niemand eintreten und weiche nicht von Deinem Platz!«
Er hatte eine der Pistolen und den katalonischen Dolch in die Seidenschärpe um seine Hüften gesteckt und nahm eine kurze fackelartige Wachskerze in die Hand, die er an der Lampe anzündete.
Dann stellte er sich fest auf die Platte der Versenkung.
»Setze Deinen Fuß auf den Knopf und drücke ihn nieder!«
Der Grieche that, wie ihm befohlen; wie am Abend vorher senkte sich langsam die Platte und der Graf verschwand in dem gähnenden Schlund.
Nicht ohne ein gewisses Bangen, obschon sein Muth trotz seiner Jugend in mancher wilden und blutigen
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Scene gestählt war, harrte der Neffe des smyrniotischen Räubers, ohne sich zu rühren, am Rande des Abgrunds, - jetzt in tiefes Dunkel gehüllt.
Es vergingen fünf Minuten - nur das ferne Brausen des Meers drang mit dem kalten, feuchten Luftzug aus der Oeffnung zu ihm empor.
Wieder fünf Minuten - dann - plötzlich - schien die Erde unter seinen Füßen zu beben und ein dumpfer dröhnender Schlag, dem im Nu ein zweiter folgte, drang zu ihm empor.
Der wilde Sohn des Olymp war in die Knie gesunken an dem gähnenden Abgrund!


Als Don Juan mit seiner Leuchte den Boden der Gewölbe erreichte, hakte er vorsichtig die Maschinerie in ihr Schloß und trat in den nur spärlich von den Girandolen erhellten unheimlichen Raum. Er wußte, wo er seine Gefangenen zu suchen hatte, und einige Augenblicke darauf stand er vor ihnen.
Auf seinen Befehl hatte man allen Dreien schon am Morgen die Bande abgenommen, die sie zuerst gefesselt hatten. Der Douanier war von dem Wundarzt der Yacht sorgfältig verbunden worden, sein gebrochener Arm hing jetzt in einer geschickt improvisirten Schienung, um den Kopf wanden sich weiße Tücher, die dem blassen Gesicht ein unheimliches Aussehen gaben. Er lag auf einem Teppich am Boden, den Kopf in die unverletzte Hand gestützt.
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In geringer Entfernung auf Steinen saßen der Lastträger und die unglückliche Tochter Labeule's.
Miguel war die gleiche Hilfe zu Theil geworden, auch seine Wunde war sorgfältig verbunden. Er hatte sich erst geweigert, es thun zu lassen, aber ein Wort der jungen Frau hatte ihn willig wie ein Lamm gemacht. Dieses Wort war das erste Zeichen der wiederkehrenden Theilnahme an den äußeren Ereignissen um sie her seit der furchtbaren vernichtenden Entdeckung, die sie gemacht. Es hatte gelautet: »Ich will es! ich brauche Dich!« und Miguel hatte gehorcht wie ein Sclave seinem Herrn.
Margaritta saß an der andern Seite des Beamten; - seit der Wundarzt in den unterirdischen Räumen gewesen war, hatte sie sorgsam ihren beiden Gefährten jeden Beistand geleistet, den am Besten eine weibliche Hand zu üben vermag, auch an ihrem Gespräch Theil genommen, aber vermieden, die Fragen des Douaniers über die Schmuggler, ihre Verbindung mit diesen und die Art und Weise, wie auch sie in diese Gewölbe gekommen sei, zu beantworten. Sie hatte sich auf die Erwiderung beschränkt, daß ein Eid sie verbinde, das Geheimniß zu bewahren und daß sie ihn bitten müsse, nicht weiter in sie zu dringen. Das Geräusch der Tritte hatte sie jetzt aufgeschreckt - eine jähe Röthe überflog ihr Gesicht, als sie ihren Verführer, ihren Geliebten und Feind erkannte, und wechselte mit tiefer Blässe. Hastig barg sie das Gesicht in den Händen.
»Margaritta,« sagte der Graf - »folge mir, ich habe mit Dir zu sprechen!«
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Die junge Frau kämpfte sichtlich einige Augenblicke mit sich selbst - endlich, die Stirn gebeugt, ohne ihn anzusehen, die Hand auf die Brust gepreßt, sagte sie fast tonlos:
»Was wir noch zu sprechen haben in diesem Leben, können diese Männer hören. Sie wissen bereits, daß ich Dich geliebt habe, mehr als ich durfte, daß ich Dich noch liebe - warum sollte ich es leugnen. Nur der Beweis, daß Du mich betrogen, als Du mir noch vor wenig Stunden schworst, daß Du mich liebst, wie ich Dich, könnte meine Liebe in Haß verkehren, nicht das Verbrechen, das Du begangen hast. Aber es trennt uns auf Erden, bis mein ermordeter Vater dort oben uns Beiden vergeben hat! Diese Hand traf nur den Mörder Henry Labeule's, nicht Deine Brust, Juan. Was kümmert es mich, ob Du ein Schmuggler warst, oder ein vornehmer Herr - ich liebte Juan! Aber Juan ist gestorben für mich, seit ich weiß, daß er El Tuerto heißt!«
»Ich fühle, was Du sagst! - darum komme ich, Dir Lebewohl zu sagen! Lebewohl auf immer!«
»Lebewohl?« sie sprang empor - sie streckte die Hände nach ihm - ein krampfhaftes Schluchzen durchbebte ihren ganzen Leib. Sie fiel in seine Arme, an seine Brust, sie barg die Thränenströme an seinem Halse - und der Mann des Augenblicks, des Genusses, fühlte mit ihr, er preßte die schöne junge Frau an sich, selbst eine Thräne mischte sich mit den ihren.
»Juan, wirst Du mich immer lieben?«
»Margaritta - ich gehöre Dir, auch wenn ich fern von
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Dir bin! ich werde Dein gedenken in Liebe und Gott bitten, Dich zu trösten!«
Er küßte sie heiß auf die Stirn und legte die Schluchzende in die Arme des finster dareinschauenden Lastträgers.
Dann, mit der Hand über das Gesicht fahrend, als müsse er diese Eindrücke abstreifen, denen seine eigene selbstsüchtige, flüchtige und doch leidenschaftliche Natur sich unzweifelhaft mit voller Aufrichtigkeit hingegeben, wandte er sich zu dem Douanier.
»Sind Sie im Stande, mich zu begleiten, Herr?« frug er.
»Wohin?«
»Das werden Sie sehen.«
Der Beamte raffte sich empor, wies jedoch seine Unterstützung dabei zurück. Don Juan nahm die Kerze und ging ihm voran, der Andere folgte ihm mühsam, aber mit festem entschlossenem Schritt nach der äußeren Höhle.
Der Graf steckte die Kerze in einen Spalt. »Herr Dalbond,« sagte er ernst - »rekapituliren wir kurz die Thatsachen. Zunächst - Sie selbst werden kaum glauben, daß ich ein Schmuggler des Schlages bin, der für gewöhnlich Ihrer Aufsicht unterliegt.«
»Der Ober-Kammerherr der Kaiserin hat Sie mir selbst als den Gast Seiner Majestät bezeichnet. Von Anderen habe ich gehört, daß Sie ein vornehmer englischer oder spanischer Herr sind. Aus eigener Wahrnehmung weiß ich, daß Sie der Kapitain von Roccabruna, El Tuerto und ...«
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»Sprechen Sie ungescheut!«
»Und ein böser Geist sind, der die Ehre und das Leben der Frauen vernichtet!«
»Sie lassen mich da die Rolle einer Art von Vampyr spielen, Herr Dalbond,« sagte der Graf lächelnd, »aber ich versichere Sie, daß ich wenig von einem Grabbewohner an mir habe und auch den Ruf eines Bluttrinkers nicht verdiene, es müßte denn sein in demselben Recht, mit dem Seine Majestät der Großherr, der siebenhundert Frauen hat, noch den Namen des großen Bluttrinkers führt! Aber die Naturen sind verschieden, Herr, der Eine liebt wenig, der Andere viel. Es bleibt sich gleich, wenn er nur, so lange er liebt und genießt, wirklich liebt! - Der Zufall hat uns zwei Mal unsere Wege kreuzend zusammen geführt. Aus den Alpen von Piemont erinnern Sie sich wahrscheinlich meiner besser, als ich Ihrer Person. Ich weiß nicht, ob Sie auch die arme Theresa liebten, aber ich weiß, daß Sie Margaritta Labeule lieben. Hier wie dort bin ich Ihnen zuvorgekommen - das ist nicht meine Schuld. Theresa Legroni ist todt - ich muß es Ihnen überlassen, ob Sie von Ihrer Kenntniß jenes Verhältnisses jetzt einen eifersüchtigen Gebrauch machen wollen - es kann hier Nichts ändern! - Aber ich fordere zwei Dinge von Ihnen!«
»Sie haben bereits meine Antwort erhalten - ich thue Nichts gegen meine Pflicht!«
»Die Sache steht nicht mehr so. Wollen Sie über das, was Sie durch meine Rettung Ihres Lebens entdeckt haben, Schweigen geloben, wenn ich es in Ihre Gewalt
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gebe, die fernere Benutzung dieses Geheimnisses durch Andere zum Schaden Ihres Dienstes für immer zu verhindern?«
»Wie meinen Sie das, Herr?«
»Sie sehen jene Stelle, wenigstens können Sie erkennen, daß dort der Strom der Brandung herein fluthet, und daß dies der Weg ist, auf dem in vergangener Nacht wir und Ihr lebloser Körper herein kamen.«
»Ich vermuthete es.«
»Und Sie trafen das Rechte. Es ist der geheime Eingang. Und dort - links strömt die Fluth hinaus, die Boote des San Martino haben dort diese Höhlen verlassen. Ich leugne nicht, daß es in den Felsen selbst noch einen geheimen Zugang zu diesen Räumen giebt, aber dieser muß Ihnen Geheimniß bleiben und wird nutzlos für die Contrabandista, wenn der Zugang von der See her verschlossen ist. Nun wohl - ich gebe Ihnen das Mittel, diesen Zu- und Ausgang für immer zu verschließen und diese Höhlen können dann nie wieder von den Contrebandiers benutzt werden, - wenn Sie geloben wollen, von ihrer Existenz zu schweigen, - nicht um meinetwillen, denn ich werde schwerlich je wieder hierher zurückkehren, sondern um Margaritta's, um Ihres eigenen Lebens willen!«
Der Beamte starrte unentschlossen in das Dunkel. »Es wäre allerdings ein so wichtiger Gewinn für das Interesse des Staats -«
»Entschließen Sie sich kurz Herr Dalbond - die Augenblicke, die ich Ihnen noch widmen kann, sind gezählt!«
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»Und wer bürgt mir dafür, daß uns Wort gehalten wird?«
»Sie selbst werden diese Zugänge verschließen, indem Sie die Steinmassen, die jetzt über ihnen hangen, durch eine Explosion sprengen. Die Batterie ist geladen, es bedarf nur der Bewegung eines Fingers - und die Mine explodirt.«
»Und wir selbst?«
»Kümmern Sie sich nicht um uns! Noch diese Nacht werden Sie sich unverletzt auf der Schwelle Ihrer eigenen Wohnung wiederfinden.«
»Aber was kann ich meiner vorgesetzten Behörde sagen, ohne die Unwahrheit zu sprechen?«
»Daß Sie mit dem Boot verunglückt, daß Sie in der Gefangenschaft der Contrebandiers gewesen sind. Daß man sie zurückgebracht, Sie wüßten selbst nicht, wie.«
»Und Mademoiselle Labeule,« frug der junge Mann zögernd - »ich würde ihr wirklich einen Dienst leisten durch mein Schweigen?«
»Sie wäre verloren ohne dasselbe! Schon deshalb dürfen Sie im Weigerungsfall nie mehr das Licht der Sonne erblicken.«
»Mylord,« - sagte der Beamte - »ich bin zwar nur ein geringer Diener des Staats und es kommt auf mein Leben wenig an. Aber ich hoffe, daß seine Erhaltung einigen Werth hat, wenn ich dem Staat damit einen wichtigeren Dienst leisten kann, als wenn ich es opfere. Ich nehme Ihre Bedingungen an, wenn sie ehrlich gemeint sind!«
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»Sie schwören demnach, das Geheimniß dieser Höhlen zu bewahren?«
»Ich schwöre es!«
»Ich danke Ihnen! - Was das Geheimniß der Person El Tuerto's betrifft, so mögen Sie darin handeln wie Sie wollen. Jetzt treten Sie einen Augenblick hinter jenen Vorsprung des Felsens!«
Der Douanier gehorchte. Als sich der Graf allein sah, zog er rasch das Flacon, das er schon in der Nacht vorher benutzt hatte, und tränkte nochmals den Schwamm. Dann trat er hinter den breiten gewaltigen Pfeiler und erhob das Licht.
»Sehen Sie diese beiden Drähte, die in einem Knopf zusammenlaufen?«
»Ja!«
»Wenn Sie daran kräftig ziehen, spielt der mechanische Apparat und die Explosion erfolgt.«
»Aber Mademoiselle Labeule - sollten wir sie nicht davon benachrichtigen? sie wird allzusehr erschrecken!«
»Ein tüchtiger Schreck wird sie vielleicht aus ihrer Agonie reißen. Vorwärts denn, Herr, - ich warte!«
Der Douanier legte - nicht ohne Herzklopfen, da er die Tragweite der Explosion nicht kannte, - die Hand an den Knopf.
»In Gottes Namen denn - es sei!«
Er zog mit aller Kraft - - im Nu erfolgte ein furchtbarer Schlag, ein zweiter - ein Rollen und Stürzen, als bräche die ganze mächtige Bergwand über ihnen zusammen.
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Staub, Steinsplitter und spritzender Wasserschaum erfüllten wie eine dicke Wolke den ganzen Raum - die Erde schien unter ihnen zu wanken - der Luftdruck war so gewaltig, daß der Douanenoffizier, ohnehin noch geschwächt von seinen Verletzungen, dem Spanier in die Arme sank. Durch das rollende Echo der Explosion erklang ein heller Schreckensruf: »Heilige Jungfrau, erbarme Dich mein! Juan - wo bist Du? laß mich sterben mit Dir!«
Der Graf hielt den halb bewußtlosen Beamten kräftig in seinem Arm. »Hab' ich Wort gehalten?«
»Ja, Mylord, aber - was thun Sie mit mir? ich ...«
Der äthergetränkte Schwamm lag vor seinem Mund - noch ein - zwei tiefe Odemzüge in der stickenden Luft, dann verlor er vollständig das Bewußtsein, jede Lebensthätigkeit schien erlahmt, er hing schwer wie ein Leichnam in den Armen des Spaniers.
Der furchtbare Luftdruck hatte alle Lichter ausgelöscht, - die absolute Finsterniß, die sie umgab, machte die Scene noch schrecklicher.
»Miguel!«
Die Stimme klang so fest und befehlend, daß der Lastträger, gleichfalls zum Tode erschrocken und glaubend, daß ihr Aller Ende gekommen sei, trotz seines Grolls aus hoch aufathmender Brust selbst mit einer gewissen Freude sofort antwortete.
»Hier, Señor!«
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»Ihr wißt, wo Ihr Feuerzeug findet - zündet sofort Licht an!«
»Juan, wo bist Du? Um aller Heiligen willen, was ist geschehn?«
Jetzt blitzte ein Funken - dann ein dünner Lichtstrahl, kaum sichtbar noch in der dicken, stauberfüllten Luft.
Aus der Wolke von Dampf und Staub kam langsam, die schwere Last des Douaniers auf den Armen, der Graf, selbst bleich von dem furchtbaren Ereigniß, denn noch konnte auch er nicht wissen, ob die Erschütterung nicht größer gewesen war, als man berechnet hatte. Miguel hatte mit schlotternden Gliedern ein zweites, drittes Licht angezündet, ihr Schein zeigte nur die schreckensbleichen Gesichter.
Margaritta lag mitten im Gewölbe auf den Knieen, - die riesige Gestalt des Lastträgers trat wie zum Schutz alsbald neben sie.
»Er hat ihn dennoch ermordet, wie er mich tödten wollte!« murmelte der Schmuggler, als er den leblosen Körper erblickte.
Der Graf schritt langsam, keuchend, an ihnen vorüber der Stelle zu, wo hinter der Felsenwand sich die Auffahrt zum Hause befand.
»Kommt!«
Es war Alles, was er sagte, mit heiserer Stimme, aber so drohend und befehlend, daß der Schmuggler nicht den geringsten Widerspruch wagte. Er hob die halbohnmächtige Frau empor und zog sie mit sich fort.
Ein Blick überzeugte Don Juan, daß die Wirkung
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der Explosion nicht bis hierher gedrungen war - die Versenkung hing fest in ihren Ketten und Seilen.
Hier, dicht neben dieselbe, legte er seine Last nieder.
»Der Augenblick des Scheidens ist da, Margaritta!« sagte er fest. »Sage ihr, Mann, wenn sie noch nicht im Stande sein sollte, mich zu verstehen, daß ich um das Leben dieses Menschen zu retten und sein Schweigen über das Geheimniß dieser Gewölbe zu erkaufen, die Zugänge von der See her für lange Jahre hinaus, vielleicht für immer zerstört habe. Sage ihr, daß er von dem Geheimniß des Hauses Nichts weiß und ahnt - an Dir und ihr wird es sein, dasselbe zu wahren. Dieser Mann wird vor einer Stunde nicht zum Bewußtsein erwachen - bis dahin kannst Du ihn leicht auf die Schwelle seines Hauses oder an einen anderen unverdächtigen Ort schaffen; - er liebt sie, und er wird schweigen von Euch! - Und nun - lebe wohl Margaritta, und Dank für manche süße Stunde!«
Er küßte sie auf die feuchte Stirn - sie hob die Hände empor - die noch wirren Augen - sie wollte auf und ihn erfassen, aber schon war er auf die Versenkung gesprungen und hatte die Kette gelöst. »In fünf Minuten dürft Ihr folgen, nicht eher!«
Die schwere Eichenplatte stieg empor mit ihrer Last - die unglückliche Frau versuchte noch mit einem markdurchdringenden Schrei, sich an ihren Rand anzuklammern, doch der Lastträger riß sie mit Gewalt zurück.
»Juan! Juan! höre mich -«
Aber aus dem dunklen Schlund nur klang es dumpf
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herunter ferner und ferner: »Lebe wohl auf Nimmerwiedersehen!«


Mauro kniete noch immer, bestürzt, betäubt von der Erschütterung der unterirdischen Explosion an der gähnenden Oeffnung, als aus der Tiefe langsam ein Lichtfunke empor zu steigen schien, der größer und größer wurde.
Einige Augenblicke darauf erschien das blasse angegriffene, aber entschlossene Gesicht seines Gebieters über dem Rand der Oeffnung, der Körper erhob sich zur vollen Höhe und der Graf sprang auf die Fließen des Flurs, während die Oeffnung sich wieder schloß.
»Cospetto!« rief er - »ich bin froh, daß ich wieder frische Luft athme. Nun an's Werk, Bursche!«
Der Grieche starrte ihn noch immer erschrocken an. »Bei der Panagia48, Excellenza - ich glaubte, es wäre ein Unglück geschehen und das ganze unterirdische Felsennest zusammengestürzt. Oh, Signore - es ist Ihnen doch Nichts passirt?«
»Nichts, was Dich bekümmern könnte! Aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Wo ist der Mantelsack?«
»Hier, Signor!«
»Und mein Brief liegt oben im Salon?«
»Wo Sie ihn selbst hingelegt, Excellenza, bei dem andern an Madame, mit dem großen Siegel, den am
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Nachmittag der Postbote brachte als von Bayonne gekommen.«
»Irgend eine ihrer weitläuftigen Gerichtsschreibereien, die uns nicht kümmert. Gieb mir den Mantel her!«
Mauro legte ihm den leichten Halbmantel um die Schultern.
»So - nimm den Mantelsack auf - öffne die Thür und sieh' an dem Gartenthor, daß uns Niemand belauscht!«
Der Stewart that, wie ihm befohlen. Er hatte kaum die Küchenflur und das Haus verlassen, als der Graf kräftig auf den Knopf im Winkel trat und die Fallthür sich sofort wieder zu senken begann.
Noch einen Blick warf der Abenteurer rings umher - einen zweiten in die Tiefe!
»Zum letzten Mal - Adieu Margaritta,« sagte er halb laut, - »der jetzt scheidet, ist ein freier Mann!«
Er sprang über die Schwelle und warf die Thür hinter sich in's Schloß.


Der treulose Flüchtling konnte kaum die Straße erreicht und seinem Diener den Befehl gegeben haben, ihm zu folgen, als die Versenkung wieder emporstieg und die drei in der Tiefe zurückgelassenen Personen mit sich brachte.
Der Douanen-Offizier lag noch immer bewußtlos auf den Knieen des Schmugglers. Neben ihm stand die Herrin des Hauses.
Sobald die Bretter der Versenkung sich in ihre Fugen geschoben, trat die junge Frau in den Flur und der
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Lastträger folgte ihr, so gut es ging mit seinem gesunden Arm den Körper des Douaniers mit sich schleppend, den er sanft auf den Boden gleiten ließ.
»Schiebe den Heerd an seine Stelle, Miguel,« befahl das Mädchen, - »er könnte erwachen und mehr sehen als er darf.«
Der Lastträger that, wie ihm befohlen. Dann sah er sie fragend an.
Margaritta schien zu zögern, die obern Räume des Hauses zu betreten. »Es ist seltsam, daß Louison sich nicht sehen läßt,« sagte sie. »Aber sollten wir nicht wirklich versuchen, diesen armen Mann fortzuschaffen?« fuhr sie fort. »Er darf in diesem Hause nicht erwachen.«
»Aber wohin mit ihm?«
»Du weißt, Miguel, daß Monsieur Dalbond noch keine tausend Schritt von hier wohnt. Getraust Du Dich, ihn dahin zu tragen, oder soll ich Dir helfen?«
»Cordioux! Ihre Hilfe, Mademoiselle, würde mir wenig nützen. Ich bitte Sie blos, mir beizustehen, ihn auf meine rechte Schulter zu laden. Dann wird es gehen.«
Indem er nieder kniete, gelang dies, - Margaritta öffnete ihm die Thür, lauschte hinaus auf die Straße und da dieselbe leer war, weil die Explosion zu schwach gewesen, um auf die kolossale Bergwand selbst einen Einfluß zu üben oder in den entfernter liegenden Häusern verspürt zu werden, - trat Miguel mit seiner Last hinaus in's Dunkel, nachdem er der jungen Frau noch versprochen hatte, möglichst bald zurückzukehren.
Jetzt endlich sah sich Margaritta allein. Noch einige
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Augenblicke zögerte sie, dann ergriff sie eine Kerze und stieg langsam die Treppe hinauf, die in die Wohnung des geliebten und verabscheuten Mannes führte, halb mit Sehnsucht, halb von Furcht erfüllt, daß sie ihn dort antreffen möge. Wenigstens glaubte sie Louison bei dem Kinde.
Ein Luftzug wehte ihr entgegen - die Thür stand offen - als sie die Portière zurückschlug und einen Schritt vorwärts that, - fand sie das Gemach leer.
Tief athemholend, die Hand auf das so schwer getroffene Herz gepreßt, setzte sie die Kerze auf den Tisch. Hierbei fiel ihr Auge auf zwei Briefe, die auf demselben lagen - der obere trug in kecken freien Zügen die Aufschrift »Marguerite!«
Sie kannte diese Schrift zwar nicht - sie hatte nie Ursach und Gelegenheit gehabt, Briefe von ihm zu erhalten, aber sie wußte dennoch, welche Hand sie geschrieben. In den Sessel sinkend, der vor dem Tisch stand, ergriff sie den Brief, preßte ihn unter einem heißen Thränenstrom an ihre Lippen und öffnete das Blatt.
Sie hatte aber kaum die ersten Zeilen gelesen, als sie wie von einem elektrischen Funken berührt, aufsprang und, einen heiseren Schrei ausstoßend, mit einem Sprung, gleich einer Wölfin, welcher der Jäger ihr Junges geraubt, an der Thür des Kabinets war und den Teppich zur Seite riß.
Und wohl war sie beraubt - die Thür war in ihren Falz zurückgeschoben, in dem matten Schein, der aus dem Salon herein fiel, konnte sie erkennen, daß eine
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Menge Gegenstände unordentlich umher gestreut lagen - daß die Hangmatte leer war -
»Mein Kind! mein Kind!«
Sie war mit dem grellen Aufschrei niedergesunken an der schwanken Seemannswiege, ihre fliegenden Hände warfen die kleine Matratze heraus, sie durchwühlten die Kissen des Bettes, - sie suchten in allen Winkeln des kleinen Gemachs - leer! Alles leer!
»Mein Kind! mein Kind!« - die jammernde Mutter eilte zurück in den Salon, - sie stürzte hinunter in die Küche - sie eilte wie eine Furie durch alle Räume. - »Louison! - wo bist Du? - mein Kind! mein Kind!«
Ein Stöhnen - ein furchtsames Rufen antwortete ihr endlich - es kam aus einer Kammer an der hinteren, der See zugekehrten Mauer des Hauses.
»Louison - wo bist Du?«
»Hier Madame - ach retten Sie mich! Die Welt geht unter!«
Ihre Hände tasteten im Finstern nach den vorgeschobenen Riegeln und rissen sie auf, - das Mädchen fiel halb leblos an ihre Brust.
»Der heiligen Jungfrau sei Dank, Madame, daß Sie da sind! Ach, ich habe mich so sehr gefürchtet, und sie drohten mir mit Schlägen, wenn ich weinte!«
Sie trug die kleine Dienerin mehr als sie dieselbe führte, hinaus in den Flur.
»Wo ist der Knabe - wo ist das Kind?«
»Das Kind?«
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»Mein Kind, das ich Dir anvertraute, bei dem ich Dich zurückließ, Ungetreue!«
Sie hatte beide Arme des Mädchens gefaßt und schüttelte es so heftig, daß dieses auf's Neue zu weinen anfing.
Endlich beruhigte es sich so weit, daß es erzählen konnte, der Kapitain - so nannte sie den Grafen - sei in der Nacht mit seinem Diener erschienen, habe sie am Morgen hinunter geschickt und die Wartung des Kindes dem Hexenkobold übergeben, der mit den Matrosen gekommen. Man habe ihr gesagt, daß die Herrin des Hauses nach Bayonne gefahren sei und erst am andern Tage zurückkehren werde, aber sie habe den ganzen Tag nicht aus dem Hause gedurft. Am Abend - als sie immer unruhiger geworden, und nach ihrer Herrin oder dem Kinde verlangt, - habe man sie unter Drohungen in die finstere Kammer gesperrt und hier habe sie bei den Donnerschlägen, die den Boden unter ihr erzittern gemacht, geglaubt, mit dem ganzen Hause untergehen zu müssen.
Das war Alles, was Margaritta von dem Mädchen erfahren konnte, - es hatte nicht einmal gesehen, daß das Kind, an dem es selbst mit großer Liebe hing, fortgebracht worden war.
Die Verzweiflung der jungen Mutter war gränzenlos. Wohl zwanzig Mal las sie den Brief des Mannes, der ihr auch das Letzte noch genommen, aber er war kalt und herzlos - herzloser als das mündliche Wort des Abschieds! Er schrieb ihr kurz, daß nach der Entdeckung, zu der sie sich so gewaltsam gedrängt, ihre Trennung erfolgen
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müsse, daß aber das Kind sie immer an ihn erinnern werde und daß er deshalb vorzöge, es mit sich zu nehmen. Er hoffe, daß sie nach kurzem Schmerz vergessen lernen und in einer andern Verbindung ein dauernderes und besseres Glück finden werde.
Der Schmerz der unglücklichen Mutter brachte sie nach all' den entsetzlichen Eindrücken der letzten vierundzwanzig Stunden fast zum Wahnsinn. In dieser schrecklichen Aufregung traf sie Miguel, als er von der Fortschaffung des Douanen-Offiziers zurückkehrte.
Margaritta sprang auf ihn ein. »Wo ist mein Kind? wo ist Juan, sein Vater? Ich beschwöre Dich, Mann, Du mußt es wissen! Ruf Deine Kameraden, ich will nach der Victory, seinem Schiff! Dorthin hat er es sicher gebracht! - Schnell - schaff mir die Ruderer und ein Boot!«
»Welches Kind? was meinen Sie damit, Mademoiselle?«
»Welches Kind? mein Kind - Juan's Kind! in Fluch geboren und gesäugt und dennoch das Einzige, was mir von ihm geblieben war - das Zeichen seiner Liebe zu der unglücklichen Margaritta!«
»Ihr Kind, Mademoiselle?«
Es überfluthete den Mann wie ein heißer Strom - es war ihm, als breitete sich über das Madonnenbild in der Kirche draußen am Platz, vor dem er zu beten pflegte, ein dunkler Schleier!
»Mein Kind, Miguel! hörst Du nicht - mein Kind! mein süßer holder Knabe!«
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Er beugte schmerzlich das Haupt. »Ich wußte es nicht, Madame! - und was ist mit dem Kinde?«
»Es ist geraubt, gestohlen! - Er hat es mit sich entführt. Ich will wissen, wo er ist! Noch kann er das Schiff nicht erreicht haben - ich werde ihn einholen - zu seinen Füßen werde ich um meinen Knaben betteln!« -
»Madame,« sagte der Lastträger mit trauriger Miene, - »ich glaube nicht, daß der Kapitain zu der Yacht zurückgekehrt ist. Ich traf vor fünf Minuten den Fischer Jérome Pencado, und er hat mir erzählt, daß er dem Señor, dem Seine Majestät der Kaiser so große Gunst erwiesen, daß er selbst die Nacht in seinem Schlosse zubringen durfte, - auf dem Wege nach Bayonne begegnet sei. Und was die Yacht anbetrifft, die draußen auf der Rhede ankert, so war Jérome Zeuge davon vor zwei Stunden, daß das Boot des Schiffes abgefahren von hier, und hat mit seinen eigenen Ohren von den Matrosen gehört, daß sie sogleich die Anker lichten sollten und der Kapitain erst wieder in vierzehn Tagen mit ihnen zusammentreffen wolle!«
Sie legte den Kopf auf den Tisch und schluchzte laut - sie begriff, daß keine Hoffnung war, den Flüchtling zu verfolgen, selbst wenn sie die Mittel dazu gehabt hätte. Wußte sie doch nicht einmal, in welcher Richtung, ob mit dem Schiff, ob zu Lande das Kind entführt worden.
Der rauhe schlichte Mann suchte sie vergeblich zu trösten - seine einfachen Worte verklangen unverstanden in ihrem Ohr.
Zufällig sah er dabei den Brief mit dem großen
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Siegel, der am Nachmittag von Bayonne gekommen, an die junge Frau adressirt war und noch immer uneröffnet auf dem Tisch lag.
»Hier ist ein Brief, Madame, Sie haben ihn noch nicht erbrochen!«
Sie schob ihn gleichgültig zurück.
»Aber es ist ein Gerichtssiegel darauf - bei Sanct Martin, ich kenne das Zeug, seit sie mir damit meinen kleinen Weinberg abdisputirt und mich zum Schmuggler gemacht haben!«
»Was kümmert mich das Gericht! lies selbst, wenn Du willst!«
»Das ist gerade nichts Leichtes,« meinte der Lastträger, »Sie wissen recht gut, Mademoiselle, daß das Schreiben und Lesen nicht meine starke Seite ist.« Dennoch öffnete er den Brief in der Hoffnung, vielleicht etwas zu finden, was sie von ihrem Schmerz ableiten könne, und begann das Schreiben zu studiren.
»Ei sehen Sie doch her, Mademoiselle, es ist von dem Gericht zu Bayonne, und darin liegt eine Schrift in spanischer Spreche, auf Stempelbogen geschrieben.
Sie zuckte ungeduldig die Achseln - ihr Auge starrte finster vor sich hin in das leere Kabinet auf die leere Wiege.
»Parbleu - wissen Sie, daß dieser Brief eigentlich nicht an Sie ist - er lautet an Madame Maria Santarez, verehelichte Labeule.«
»Es war der Name meiner Mutter!« antwortete sie, fast ohne zu wissen, was sie sprach.
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Der Schmuggler studirte immer eifriger in dem Schreiben. »Sie müssen selbst lesen, Mademoiselle, es geht Sie an und ist wichtig. Hatte Ihre Mutter einen Bruder?«
»Ich glaube - aber er ist seit länger als zwanzig Jahren verschollen.«
»Und er hieß Antonio Santarez?«
»Möglich! - ich erinnere mich!«
»Sie haben nie von ihm gehört!«
»Er soll nach den Antillen gegangen sein! Er zürnte meiner Mutter, daß sie ihr spanisches Blut mit einem Franzosen vermischen wollte, und ging darüber zur See!«
»Heilige Jungfrau, Deine Macht ist wunderbar. Ihr Oheim ist todt, Madame!«
»Gott schenke ihm im Grabe den ewigen Frieden, den wir im Leben hier vergeblich suchen.«
»Ihr Oheim, Mademoiselle, starb in der Havannah.«
»Was kümmert's mich! meine arme Mutter hat manche Thräne um ihn geweint! Zum Glück starb sie, ehe sie die Schande ihres Kindes gesehen!«
Ihre Augen schienen an einem Gegenstand zu haften, - sie stand langsam auf.
»Mademoiselle, Mademoiselle - dieser Mann, Ihr Oheim, war einer der reichsten Plantagenbesitzer auf Cuba geworden durch seine Heirath und seinen Fleiß!«
Sie bückte sich und hob unter der Hangmatte einen Gegenstand auf und trat damit zurück zum Licht -
»Mademoiselle - hier steht es - er hat Ihre Mutter auf dem Todtenbett zu seiner Erbin eingesetzt - -«
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Sie hatte den Gegenstand entfaltet, es war ein zusammengedrücktes Papier - von rosa Farbe, duftend nach fleur d'orange - -
»Heilige Jungfrau - wissen Sie, wie reich Sie sind?«
Ihre dunklen Augen hafteten krampfhaft auf dem Papier, dessen Inhalt sie las, während ihre Hand so zitterte, daß sie nur langsam die Buchstaben unterscheiden konnte! -
»Mademoiselle, um Gotteswillen, Sie hören mich nicht! -
Das Billet enthielt eine einzige Zeile - drei Buchstaben zur Unterschrift -
Der Schmuggler hatte ihren Arm gefaßt und schüttelte ihn.
»Fassen Sie sich, Mademoiselle, - ein solches Glück - hier steht's geschrieben -«
»Merci pour la discretion« ... -
»Zwei Millionen Piaster, - Mademoiselle, zwei Millionen - - -«
Ein gellender Aufschrei unterbrach ihn.
»Der Treulose! Der Verräther - Fluch! Fluch!«
»Margaritta -«
Sie streckte wild die Arme in die Höhe, sie ballte die Hände gegen den Himmel. »Verrathen! Verrathen! In den Armen einer Anderen, während ich für ihn litt, während er wußte ...«
Es war ein Stöhnen aus tiefem zerrissenem Herzen,
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ein so wildes Aufschluchzen heißer Leidenschaft, daß selbst der rauhe simple Mann sich erschüttert fühlte.
»Ich weiß nicht, was Sie so erschüttert, Mademoiselle,« sagte der Lastträger - »aber wenn Sie auf die Treue dieses Mannes gebaut haben -«
»Er ist treulos - er hat mich verrathen - hier - hier -« sie hielt ihm den duftenden Brief entgegen -
Er antwortete nur mit einem Achselzucken. »Sie hörten selbst, oder hörten es nicht in Ihrem Schmerz, wie Lieutenant Dalbond ihm vorwarf, daß er ihn in einem anderen Lande gekannt hätte, und daß ein armes Mädchen um ihn einen traurigen Tod gefunden hätte! -«
»Tod - was ist Tod? - Ich wäre hundert Tode für seine Liebe gestorben! - aber er hat mich verrathen, betrogen, er liebt eine Andere, während er noch gestern mir auf dieser Stelle Liebe und Treue schwur! - Aber ich muß Rache haben - Rache für den gemordeten Vater, für mein zertretenes Herz!« - Gleich einer Tigerin, die nach ihrer Beute verlangt, mit flammenden Augen, mit glühender Stirn wandte sie sich zu dem Schmuggler.
»Was sagtest Du von Millionen, Miguel, von Millionen, die mein Eigenthum wären?«
»Sie haben zwei Millionen Piaster geerbt, Mademoiselle, von Ihrem Oheim, das Gericht selbst meldet es Ihnen; das müssen mehr als zehn Millionen Franken sein, so viel ich rechnen kann!«
Sie fiel auf die Knie. »Heilige Jungfrau, habe Dank! ich bin reich! reich! Aber bei dem Grabe meines Vaters, bei der Seele meiner Mutter gelobe ich, jeden
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Sous dieses Reichthums will ich verwenden, ihn zu verfolgen, den Verräther, und sollte ich ihn über die weite Erde jagen! - Rache will ich haben, Rache für mein zertretenes Herz. - Wehe Dir, Juan - ich bin eine Spanierin!«

Zeitgeschichte.

Der Pariser Moniteur, das offizielle Organ der Kaiserlichen Regierung, enthält folgende Note:
               Paris, den 1. Oktober 1860.
»Der Kaiser hat verfügt, daß eine Division Infanterie, zwei Schwadronen Cavalerie und eine Batterie Artillerie unverzüglich in Marseille eingeschifft werden sollen, um das Besatzungscorps in Rom zu verstärken. Die Sardinische Regierung ist davon in Kenntniß gesetzt, daß die Instruktionen des Generals de Goyon diesen ermächtigen, seine Aktion so weit auszudehnen, als die militairischen Bedingungen; denen dieselbe natürlicherweise untergeordnet ist, es ihm gestatten können. Es wird nur dem Congreß der Großmächte zustehen, eines Tages über die Fragen sich auszusprechen, welche in Italien durch die Ereignisse gestellt worden sind; aber bis dahin wird die Regierung des Kaisers fortfahren, der Mission, die sie sich gegeben hat, gemäß die Pflichten zu erfüllen, die ihr ihre Sympathieen für den Heiligen Vater und die Anwesenheit
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unserer Fahne in der Hauptstadt der Katholizität auferlegen.«


Der General de la Moricière hatte gleich nach seinem Eintreffen in Ancona eine energische Vertheidigung der päpstlichen Festung etablirt - aber es fehlte an Allem, die Wälle und Bastionen befanden sich kaum in vertheidigungsfähigem Zustand, die Armirung war gänzlich ungenügend und nur mit der äußersten Anstrengung und durch die Bravour der deutschen und französischen Offiziere konnten das wiederholte Bombardement und die Landungsversuche der sardinischen Flotte in den nächsten Tagen nach dem Treffen von Castelfidardo zurückgewiesen werden.
Am 24. September cernirte die sardinische Urmee unter Fanti und Cialdini, 50,000 Mann stark, die Alles in Allem nur von 5,500 Mann vertheidigte Festung von der Landseite und begann sie mit gezogenen Geschützen zu beschießen. Vom 25. bis zum 29. dauerten die Angriffe fort, welche auf allen Seiten die geringe Zahl der Vertheidiger, trotz ihrer heldenmüthigsten Anstrengungen, von Position zu Position zurückdrängten. Die Flotte setzte während dieser Tage von Zeit zu Zeit ihr Bombardement fort und überschüttete die Werke an der Seeseite mit einem Hagel von Kugeln. Während eines solchen Bombardements auf den stark befestigten Leuchtthurm am 29. war es, wo Lieutenant Weißmantel den Heldentod fand, als er - ein Veteran aus den ungarischen Feldzügen - in der demontirten
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Kasemattirung das einzige noch brauchbare Geschütz, dessen Bedienung die Mannschaften vor den hereinschlagenden Kugeln weigerten, gegen den Feind richtete!
Prahlerei ist es, wenn Herr von La Euerronniere in den willigen Pariser Journalen behauptete: der Heldenruhm der Vertheidigung von Ancona gebühre den Franzosen!
Deutsches Blut war es zumeist, was hier im Kampf gegen die Revolution geflossen!
Am Nachmittag dieses Tages sprang ein Theil der Leuchtthurm-Batterien in die Luft - der Zugang des Hafens ward frei, während auf der Landseite die sardinischen Batterien die Bresche gelegt hatten.
Da erst hißte das Castell - das Hauptquartier - die weiße Fahne auf und La Moricière schickte eiu Boot mit der Parlamentair-Flagge an Bord des Admiralsschiffs des Grafen Persano, der Ancona überwunden, um zu kapituliren.
Das Feuer verstummte - auf allen Werken wehte die weiße Fahne der Capitulation; die seit vierzehn Tagen Tag und Nacht auf den Wällen kampirenden Vertheidiger fanden endlich die ersehnte Ruhe.
Aber sie hatten nicht auf eine Infamie gerechnet, wie sie selten unter ehrlichen Soldaten vorkommt, eine Handlungsweise, wie sie eben nur in italienischem Wortbruch, in welschem Verrath möglich ist, in der Gewohnheit des Mörderdolches gegen das ehrliche Schwert!
Der Mann, der sich diese Handlungsweise zu Schulden
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kommen ließ, der diesen Schimpf auf seinen Namen geladen - heißt Cialdini!
Der »tapfere« General mochte dem Admiral Persano, der Ancona eingenommen, nicht die Ehre gönnen.
Gegen 2 Uhr Morgens - obschon am Nachmittag vorher die weiße Flagge auf der Citadelle wehte, rief der Donner der feindlichen Geschütze von der Landseite die ermüdete Besatzung Ancona's von Neuem unter das Gewehr - nicht zum Kampfe, der längst auf allen Punkten aufgegeben war, sondern zum nichtswürdigen Massakriren. Lamoricière, in seinem ehrlichen Soldatengeist überzeugt, daß dieser Angriff nur auf einem Mißverständniß beruhen könne, eilt herbei und giebt die strengsten Befehle, das Feuer nicht zu erwidern. Er läßt auf allen Werken die weiße Fahne aufhissen und sendet Offizier auf Offizier zu Cialdini, um ihn auf die Kapitulation zu verweisen.
Aber obschon die weißen Flaggen überall dem Feinde sichtbar sein mußten, obschon die Vorwerke der Festung durchaus keinen Widerstand leisteten, rückten die Piemontesen immer weiter vor und setzten ihr Feuer fort. Sie versuchten die Thore zu sprengen und schossen aus ihren sicheren Stellungen die Vertheidiger der Festung auf dem Monte Capuccino wie wehrloses Wild nieder.
Erst um 9 Uhr - nach sieben Stunden verrätherischen, absichtlichen Mordens, sandte Herr Cialdini seine Adjutanten, das Feuer einzustellen.
Der Autor des Buchs ist ein Preuße und seine Wünsche waren sicher bei der großen Katastrophe von 1866 auch
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mit den Fahnen des Bundesgenossen Preußens! Aber niemals wird er einen Augenblick anstehen, zu sagen, daß der italienische General gehandelt wie ein feiger Mörder, nicht wie ein ehrlicher Soldat!
Graf Persano, dem sechs Jahre später die Cialdinische Partei die Niederlage von Lissa zuschrieb, zog, empört über den Angriff, seine Flottenmannschaft zurück, die bereits eine beherrschende Batterie am Land besetzt hatte. Als der Ober-General Fanti den auf das feindliche Admiralschiff sich zurückziehenden General Lamoricière begrüßte, hatte dieser nur ein Wort und schweigend nahm der Piemontese es hin: »Général, mes soldats n'ont pas été battus, ils ont été assassinés!«
Am Vormittag wurde die Kapitulation abgeschlossen - die Festung wurde übergeben, die Besatzung zog mit klingendem Spiel aus und legte erst vor der Festung ihre Gewehre nieder. Die Offiziere behielten ihre Säbel. Kein Geschütz war auf den Wällen noch brauchbar.
Schändlich, mit echt italienischer Wankelmüthigkeit, benahmen sich die Bewohner der Stadt - überall wehte die Trikolore und mit Brutalitäten aller Art begleiteten sie unter dem Schutz der Sieger die abziehenden Vertheidiger.
Die Regierung des König Ehrenmanns und des Herrn Cavour handelte nicht besser. Erst das Einschreiten des Preußischen Gesandten konnte die Innehaltung der Kapitulationsbedingungen gegen die Offiziere erzwingen.
So fiel Ancona, der letzte feste Punkt der päpstlichen Marken. Auf seinen Wällen wehte die grün-weiß-rothe
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Trikolore - und von der Engelsburg herab sanktionirte die Fahne Frankreichs den Raub.
Italienische und französische Soldblätter wetteiferten, Schmuz und Lüge auf einen tapferen Krieger und seine wenigen Getreuen zu häufen.
Nicht die piemontesischen Waffen, sondern der napoleonische Verrath und welsche Feigheit hatten den Helden von Constantine besiegt!

Footnotes:

1Kindchen, Töchterchen.
2Eine der Seiten des Königs-Neumarkt bildend.
3König Krok, der Vater Libussa's, auf die er seine Zauberkräfte übertragen haben soll.
4Geschah durch Note vom 2. Mai 1861.
5Geschah unter'm 31. Oktober 1861.
6Antrag des Herzogs unter'm 31. Oktober 1861.
7Die Noten erfolgten am 2. Februar 1862.
8Chinesen.
9Der Vertrag wurde im Januar 1861 ratifizirt.
10Der Teufel in Deine Seele, Du Aas!
11Mütterchen; tungusisch!
12Freunde.
13Mein Kind.
14Russen.
15Der Stamm der Manshu's, welcher zwischen der Schilka und dem Argun seinen Haupt-Wohnsitz hat.
16Eid.
17Russe.
18Verfluchter.
19Teufel.
20Geschlecht, Stamm.
21Sie brach am 26. December 1825 aus.
22Die oberste Gottheit der Tungusen.
23Inspektor.
24Schneegestöber.
25Postillon, Fuhrmann.
26Dummkopf.
27Die Entfernung der Stationen von einander.
28Offizier.
29Halt!
30Weiler.
31Weiler, Vorwerk.
32»Den Geist der sardinischen Proclamationen kennzeichnet diejenige, welche General Cialdini beim Einrücken in den Kirchenstaat gegenüber einem berühmten Führer wie Lamoricière (de la Moricière) erließ. Sie lautet:
»Soldaten! Ich führe Euch gegen eine Bande fremder Abenteurer, welche das Verlangen nach Plünderung und Raub in unser Land gebracht hat. Schlagt und zerstreut unerbittlich diese miserablen Mörder, damit sie durch Eure Hand den Zorn eines Volkes fühlen, welches seine Unabhängigkeit will. Soldaten! Perugia will eine Rache und soll sie, wenn auch spät, haben.
33Pächterin.
34Landwehr; die sogenannten Auxiliar-Truppen.
35Starrkopf.
36Die Gemahlin des General Pimodan stammt gleichfalls aus den ersten Legitimisten-Familien Frankreichs (Montmorency-Leval und Mirapoir) und ist die Tochter der verwittweten Marquise von Couronnel.
37Schützen; Cacciatori: Jäger.
38Fremde geworbene Truppen.
39Die Scene ist genau historisch.
40Ehrwürden!
41»Sebastopol«, Band IV., »Die Orgie.«
42»Sebastopol« IV. Theil, Seite 338.
43»Sebastopol«, II. Band: Ein Getreuer.
44Ein Wirbel in der Nähe des alten Hafens.
45Don Ramon Maria Narvaez, Herzog von Valencia! Es ist charakteristisch, daß die spanischen Schmuggler den berühmten Ministerpräsidenten, der die Karlisten besiegte und mehrfach das Schicksal Spaniens lenkte, als ihren Patron betrachten.
46Kahlkopf.
47Der Alte.
48Die Heilige Jungfrau.




Werke von Sir John Retcliffe

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