Sir John Retcliffe: Um die Weltherrschaft! Vierter Band
Biarritz.
Von
Sir John Retcliffe.
(Verfasser des Romans »Sebastopol.«)
Zweite Abtheilung:
Um die Weltherrschaft!
Vierter Band.


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Vom National-Verein!

(Fortsetzung aus Band III.)

Der Leser wird sich erinnern, daß die Fürstin H. dem berliner Journalisten bei der Begegnung am Abend vor den Kursälen angedeutet hatte, die Königin und die Großherzogin würden den Morgen des traurigen, in der deutschen Geschichte und namentlich der liberalen Agitation so schmachvollen 13. Juli in Lichtenthal zubringen, und daß der König Wilhelm deshalb seine gewöhnliche Morgenpromenade nach dem Brunnen in Begleitung des preußischen Gesandten in Baden dahin richten werde.
Weil der große Schwarm der Badegäste sich stets in die Nähe der Allerhöchsten Herrschaften zu ziehen pflegte, war leicht voraus zu sehen, daß um diese Zeit die inneren Promenaden weniger besucht sein und deshalb Gelegenheit zu einer unbemerkten, nicht durch Neugier oder unerwünschte Begegnungen gestörten Unterredung bieten würden.
Dies war in der That der Fall, und als der Journalist, der schon seit zwei Stunden die herrlichen
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Umgebungen durchstreifte und eben jetzt von dem Besuch Lichtenthals zurückkehrte, gegen 9 Uhr in der Nähe des Wassers promenirte, sah er zwei Damen die Alleen heraufkommen, von denen er sogleich die eine als die Fürstin schon in der Ferne erkannte. Auch sie hatte ihn bemerkt, denn bald darauf sah er sie ihre Begleiterin verabschieden, die nach dem Kursaal sich wandte, und sie selbst auf sich zueilen. Er begrüßte ehrerbietig die Dame, die sich jedoch bei den conventionellen Reden und Erkundigungen nicht lange aufhielt, sondern nach einem unbesuchten Nebengang einbog und ihn an ihre Seite winkte.
»Lassen Sie uns in dieser Richtung gehen,« sagte sie, - »es ist mir geglückt, für Sie eine halbe Stunde zu gewinnen, obschon der Fürst ziemlich aufgeregt ist wegen eines ärgerlichen Verlustes, den er gestern Abend gehabt hat, und deshalb jeden Augenblick die gewöhnliche Dauer seiner Ruhe abkürzen kann. Daß er sie selbst wegen jenes Aergers - er hat gestern Abend im Spielsaal eine werthvolle Dose verloren, oder sie ist ihm vielmehr gestohlen worden! - nicht ganz aufgiebt, dafür kennen Sie zur Genüge seinen behaglichen Charakter, der sich in der eigenen Bequemlichkeit und den Vorschriften für seine Gesundheit durch Nichts stören läßt. Also zur Sache, Doktor - Ihre wenigen Worte gestern Abend haben meine Nerven aufgeregt und mich in große Unruhe versetzt.«
»Durchlaucht erinnern sich, daß ich seit Februar nicht die Ehre hatte, Sie zu sehen, und daß ich der Verhältnisse wegen nicht an Sie schreiben durfte.«
»Ich weiß das Alles - Sie haben Alles dem Manne
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mitgetheilt, den ich damals in der großen Verlegenheit und Besorgniß, in welche uns die Androhung des famosen Romans in einem berliner Journal versetzte, direkt an Sie adressirte.«
»Hauptmann Herrmann« ...
»Lassen wir ihn bei dem Namen, er ist so gut wie ein anderer. Mit ihm wenigstens kann ich auf einem für Sie kein Interesse habenden Wege verhandeln. Er hat mir erzählt, was Ihnen damals in jenem Verbrecherkeller passirt ist und wie Sie den Mann jener Person aufgefunden haben, welche alle Papiere meiner Schwester stahl, nachdem sie die Vermittlerin und Vertraute bei jenem traurigen Verhältnisse gespielt hat, Papiere, die meine Schwester und - ich fürchte, meinen Vater noch im Grabe compromittiren können.«
»Aber ich verlor damals leider den Mann und das Frauenzimmer aus den Augen und hoffte vergeblich, daß er seinem Versprechen und Selbstanerbieten gemäß mich aufsuchen würde. Er war wie spurlos aus Berlin verschwunden, und selbst die Polizei war nicht im Stande, seinen Verbleib zu ermitteln.«
»Ich weiß, sie hatte um sich selbst genug zu sorgen, den Angriffen des londoner »Hermann‹ und seiner Bundesgenossen in der Kammer und der Indolenz des Grafen Schwerin gegenüber. Und Sie haben Nichts wieder von ihm erfahren? - Bis dahin bin ich auf dem Laufenden und wenigstens hatte jene Ermittelung Gelegenheit gegeben, meine arme Schwester zu beruhigen, da die gefährlichen Papiere jetzt in der Verwahrung eines Mannes sind, der eher
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sein Leben opfern würde, als sie in Hände fallen zu lassen, die Amalie compromittiren könnten.«
»Comteß Amalie - darf ich fragen, wo sie sich jetzt befindet, und wie es ihr geht?«
»Regina, so nennt sie sich ja jetzt, ist nach der Rückkehr ihrer thörichten Bußreise nach Loretto wieder im Stift und wird nächstens Kanonissin desselben werden!«
»Der arme Mann! er liebt sie noch immer und - ich glaube, er hofft noch immer!«
»Sie wissen, daß dies eine Unmöglichkeit ist nach dem traurigen Ausgang des Duells. - Doch das gehört nicht hierher; - die Nachrichten, die Nachrichten, die Sie mir geben wollen ...«
»Sie stehen damit in Verbindung - und würden eben jener Hoffnung einen Anhalt gewähren.«
»Zur Sache - zur Sache!«
»Nun - ich habe jetzt den schwarzen Springer wiedergefunden!«
»Jenen Mann - den Zuhälter ...«
»[...] der früheren Kammerfrau Jeannette!«
»Und sie selbst - erzählen Sie, erzählen Sie!«
»Nun, die Adresse, die ich ihm gab und das Versprechen waren doch nicht ohne Folgen. - Zwei Tage, ehe ich meine alljährliche Erholungsreise antrat, die uns armen geplagten Journalisten wohl zu gönnen ist, - erhielt ich mit der Stadtpost einen Brief, welcher frug, ob es mir noch Ernst sei mit der gebotenen Belohnung.«
»Und Sie?«
»Nun ich war natürlich am bezeichneten Ort - diesmal
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im Freien, am Kanal in der Nähe von Charlottenburg, an einer Stelle, wo der Schreiber Polizeimaßregeln auf eine Viertelstunde hätte vorhersehen können, deshalb hatte ich mich aller solcher sehr vernünftig enthalten und traf meinen Mann richtig zur Stelle.« -
»Aber das Weib?«
»Das ist das Schlimme. Genug er erzählt, - daß Jeannette, als er ihr von meinem Verlangen und der angebotenen Belohnung zum ersten Mal nach jenem Abend im Keller gesagt, ganz außer sich gerathen wäre und Nichts von der Sache habe wissen wollen, vielmehr hoch und theuer behauptet hätte, daß das Kind, ein Knabe - er würde jetzt etwa sieben Jahre zählen, - schon nach einem Jahre an einer Kinderkrankheit gestorben sei. Damit wäre die Sache freilich aus gewesen, um so mehr, als der Graf, Ihr Herr Vater Durchlaucht, im Besitz eines Todtenscheines des Kindes wäre, mit dem sie damals hatte verschwinden müssen.«
»Also doch - ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich stets geglaubt habe, mein Vater wisse um das Verschwinden des Kindes - und das ist auch die Meinung Amaliens. Aber selbst auf seinem Sterbelager wollte er Nichts davon wissen.«
»Er war ein starrer Charakter - und dennoch ...«
»Nun ...«
»Auf sein Leben war aber wahrscheinlich der ganze Plan gebaut, den das Weib hatte.«
»Sie sprechen in Räthseln!«
»Nun, als ich der erhaltenen Nachrichten wegen die
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weiteren Verhandlungen abbrechen wollte, rückte der schwarze Springer mit einer seltsamen Mittheilung heraus - sie gipfelte dahin: er glaube selbst nicht an den Tod des Kindes.«
Die Fürstin blieb aufmerksam stehen.
»Warum - weshalb? - So viel ich weiß, hat Jeannette die Bekanntschaft jenes Mannes, mit dem sie verschwand, erst nach jener Zeit gemacht.«
»Dies scheint doch nicht ganz richtig, wenigstens muß sie ihn schon vor der Zeit des - geheimen Aufenthalts der Comtesse in Schlesien, wohin man sie flüchtete, gekannt und diese Bekanntschaft später nur erneuert haben. Kurz, der schwarze Springer wußte mehr von der Sache, als Jeannette zu erzählen für gut befunden oder man ihr selbst erzählt hatte. Daß das Kind gelebt, das steht fest, er hat es selbst gesehen und es schien ihm kräftig und gesund. Später, es war zwei Jahre nach jener Katastrophe, traf er wieder, wie er behauptet durch einen Zufall mit Jeannette zusammen, und entführte sie, oder - vielmehr - sie entlief mit ihm aus dem damaligen Aufenthalt der Comtesse und der Botmäßigkeit Ihres Vaters, des Herrn Grafen.«
»Es war zur Zeit, als die Genesung meiner Schwester von der schweren Krankheit, der Geistesstörung, wenigstens der vollständigen Bewußtlosigkeit gelang, in die sie nach dem heftigen Nervenfieber gerieth, das sie nach jenem schrecklichen Auftritte mit meinem Vater befallen hatte. Ich muß gestehen, ich habe Jeannetten ihre Flucht kaum verdenken können bei der Abgeschlossenheit oder vielmehr förmlichen Gefangenschaft, in der mein Vater damals, selbst
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nach dem Tode des armen Kindes sie wie meine Schwester hielt. Aber alles dies ist kein Anhalt für das Leben des Kindes.«
»Hören Sie nur weiter, Durchlaucht. Springer behauptet, Jeannette hätte wiederholt in Stunden der Noth und des Mißmuths Aeußerungen gemacht, welche auf ein Geheimniß hindeuteten, das mit dem Tode des Kindes verknüpft sei, und ihnen noch viel Geld bringen könne. Auf dies hin sagte er Jeannetten gerade auf den Kopf zu, - das Kind sei damals nicht gestorben, der Todtenschein, den der Graf der Comteß Amalie gezeigt, und den sie mit den bewußten Papieren später entwendet habe, sei falsch, der gestorbene Knabe ein untergeschobener gewesen, und sie wisse das. Sie leugnete zwar beharrlich, ja verließ ihn bei dem heftigen Streit, der sich darüber entspann, und es hat ihm viel Mühe und Zeit gekostet, sie wieder aufzufinden, und deshalb war er so lange aus Berlin verschwunden und hat Nichts von sich hören lassen. Trotz alledem behauptet er, sich nicht von dem Glauben, daß er Recht habe, losmachen zu können und erzählt darüber sogar seine seltsame Geschichte.«
»Aber Jeannette? Sie wäre doch nach dem Tode meines Vaters die Einzige, die von der Wahrheit Auskunft geben könnte. Wo ist sie jetzt? Hat er sie wieder aufgefunden?«
»Er hat ihre Spur nach Böhmen verfolgt, in die Nähe der schlesischen Gränze, dorthin, wo die Comtesse dem Knaben das Leben gegeben hat und wo er unter der Pflege Jeannettens bis zu seinem angeblichen Tode
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geblieben ist. Ein förmlicher Instinkt oder ein fatalistischer Zug scheint den Vagabonden auf seiner Verfolgung Jeannettens dahin geführt zu haben.«
»Seltsam - Sie wissen, daß unsere Familie im schlesischen Gebirge eine kleine Besitzung hat und daß meine arme Schwester bei der unglücklichen Katastrophe dort untergebracht war, ja daß es dieselbe ist, die uns vor Jahren zum Besuch des Bades Warmbrunn veranlaßte, wo ich die Bekanntschaft meines Gatten und eigentlich auch zuerst die Ihre machte. Und dort hat er sie gefunden?«
»Ja - und wie er nicht zweifelt, in Nachforschungen nach dem Knaben, obschon sie es auch hier leugnete und sich lieber ihm wieder anschloß, als Geständnisse machte.«
»Aber Sie deuteten mir gestern Abend an, daß eine Spur hierher an den Rhein, ja nach Paris wies.«
»Ich sagte Durchlaucht bereits, daß der Springer mir dabei eine seltsame Geschichte erzählte, die er in Verbindung mit dem Leben und der Persönlichkeit des Kindes brachte. Ich werde vielleicht später Gelegenheit haben, diese ziemlich abenteuerliche und sich auf das Vagabondenleben des Mannes basirende Geschichte Eurer Durchlaucht zu erzählen. Augenblicklich genügt die Andeutung, daß das Kind damals einer Familie böhmischer Wildschützen oder einer wandernden Zigeunerbande übergeben zu sein scheint und daß er bei seinen jetzigen Nachforschungen auf diese Bande gestoßen ist und von ihr ermittelt habe, daß sie vor sechs Jahren allerdings in den Besitz eines kleinen Kindes gekommen sei, das sie nach Art dieser Leute an eine andere umherziehende Gauklerbande verkauft habe.
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Kinder sind für diese Leute Geld, und einer der Zigeuner oder vielmehr eine der Zigeunerinnen, denn diese Leute kommen weit umher und bleiben immer in einer gewissen Verbindung, sagte, daß der Knabe, der schön wie ein Engel geworden sei, sich jetzt bei einer Kunstreiter- oder Akrobaten-Gesellschaft befinde, die hier am Rhein oder in Frankreich Vorstellungen giebt.«
»Allmächtiger Gott!«
»Springer zog es vor nach Berlin zurückzukehren und erst mit mir zu sprechen, statt auf eigene Hand die Nachforschungen fortzusetzen, oder - offen gesagt - auf eigene Kosten, was ihm die Hauptsache zu sein schien. Jeannette selbst scheint über den Verbleib des Kindes, nachdem man es durch den angeblichen Tod aus ihrer Ueberwachung genommen, Nichts zu wissen und bliebe höchstens für den Fall eines Auffindens wegen Feststellung einer Identität des Knaben von Wichtigkeit, da sie ihn doch wenigstens ein Jahr lang in ihren Händen und unter ihrer Pflege gehabt hat, und leicht möglich in solchen Fällen ein Muttermaal oder ein besonderes Kennzeichen vorhanden gewesen sein kann, das im glücklichen Fall zu einer Wiedererkennung führen könnte. Die Geschichte ist jedenfalls sehr romantisch und dubios - vielleicht lohnt sie sich gar nicht der Mühe, in jedem Fall ...« - der Journalist schwieg und neigte lauschend nach der Gegend der großen Allee zu den Kopf, - die Fürstin hatte Nichts gehört - »in jedem Fall wollte ich erst Euerer Durchlaucht Meinung erfahren, selbst ehe ich dem Vater eine Mittheilung machte, und hielt mich nicht für berechtigt, die Mittel, die sich
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noch in meinen Händen befinden, für eine so zweifelhafte Nachforschung zu verwenden, die eben so leicht sich als bloße Spekulation ausweisen kann!«
»O nein, nein - wer fragt hier nach Geld, - das Geld spielt keine Rolle hierbei - benöthigen Sie mehr? - geben Sie dem Menschen, was er irgend braucht, - bedenken Sie das arme Kind - unser eigenes Blut, jede Spur muß bis zum Aeußersten verfolgt werden - das Kind meiner Schwester unter Vagabonden und gemeinem Volk - unter Gauklern und Komödianten, - denken Sie doch, das Kind einer ... unerträglich! Aber was horchen Sie - mir ist, als gehe dort drüben Etwas vor - als gäbe es Lärmen, ein Rufen ...«
Der Journalist hatte seine Aufmerksamkeit getheilt, denn in der That verbreitete sich von der Richtung der großen Allee her ein unbestimmtes Geschrei, dessen Bedeutung man noch nicht verstehen konnte. Auf der anderen Seite fesselte der in den Worten der Dame sich zeichnende Ausbruch des aristokratischen Hochmuths, der es nicht ertragen konnttz ein Wesen, das aus demselben Blut stammte, und wenn es selbst ein Kind der Schuld war - unter dem Pöbel, unter - dem Volk, wie sie es nannte, zu wissen. Der Gedanke an eine solche Schmach schien sie noch mehr zu treiben, als selbst die Liebe für die Schwester.
»Sie wünschen, Durchlaucht, daß ich dem Mann die Mittel gebe, die angedeutete Spur zu verfolgen, selbst auf die Gefahr hin, uns zu täuschen? Ich bitte um bestimmten Befehl.«
»Gewiß, gewiß - was kümmert mich das Geld -
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brauchen Sie mehr, so lassen Sie es mich wissen - nur darf unser Namen nicht compromittirt werden, - aber mon Dieu - es muß dort etwas Wichtiges vorgefallen sein - hören Sie doch - lassen Sie uns näher gehn - oder noch besser, verlassen Sie mich jetzt - man darf uns hier nicht zusammenfinden - ich bin so bekannt hier - es könnte allerlei Fragen veranlassen, - au revoir bester Doktor - tausend Dank, Sie, mein Getreuer!« Sie reichte ihm eilfertig und ängstlich die Hand, die er küßte. »Leben Sie wohl - ich muß in der That fort - es muß in Wahrheit etwas Ungewöhnliches geschehen sein!«
Sie bog hastig in einen Gang, der zur großen Allee zurückführte - der Journalist blieb stehen und sah ihr trotz der eigenen wachgewordenen Neugier kopfschüttelnd nach.
»Unter dem - Volk - unter den Komödianten!« murmelte er. - »Also das ist es, was sie treibt! Sie ist doch kaum besser als die Anderen! - Blaues Blut! blaues Blut! - und doch scheut sich dies hocharistokratische Blut nicht, jeden Augenblick zu diesen Komödianten herabzusteigen und sich mit ihnen zu vermischen, wenn es gilt, seinen Lüsten und Leidenschaften zu fröhnen. Oder ist die Primadonna der Oper und die Balletteuse weniger eine Komödiantin, als die Kunstreiterin oder Koriphäe auf Sattel und Seil in der fliegenden Bretterbude des Dorfcircus? - Doch in der That - Himmel - hör' ich recht? - Mord - der Name des Königs - meines Königs!«
Er eilte mit fliegenden Schritten gleichfalls der Richtung zu - wenige Augenblicke und er sah bestürzt Menschen, Spaziergänger, Herren und Damen in eleganter
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Promenadentoilette vorübereilen - mit bleichen Gesichtern und ängstlichen Mienen. Er hielt den Ersten an, der ruhiger vorbeikam - es waren zwei Männer, der eine noch jung, kaum dem Knabenalter entwachsen, mit höhnischem Ausdruck im Gesicht - der Andere groß, finster, eine markirte Physiognomie, vorsichtig umherblickend, Beide in aufgeregtem aber leisem Gespräch.
»Verzeihen Sie meine Herren - ist etwas Besonderes geschehen, das allgemeine Aufregung zu veranlassen scheint? - es ist doch kein Unglück?«
»Wenn Sie es so nennen wollen,« sagte höhnisch der Jüngere, »es heißt, der König von Preußen sei erschossen worden!«
»König Wilhelm?« -
»So heißt er ja wohl - ein Mitglied des National-Vereins soll auf ihn geschossen haben - so soll der Narr selbst erklären! - ich weiß noch nicht, ob der König getroffen oder bloß mit dem Schrecken davon gekommen ist! - Ein König ist ein Mensch wie ein Anderer!«
Trotz der Erregung des Mannes, des Preußen bei der furchtbaren Kunde, die ihn erst erstarrte, dann hastig weitertrieb, zischte es über seine Lippen: »Schurke!«
Der junge Mensch wollte sich auf ihn stürzen, aber sein älterer Begleiter hielt ihn am Arm und zog ihn zurück - »Kommen Sie, Blind! - Sie sprechen unvorsichtig!« Ohnehin war der Mann, der ihm die wohlverdiente Beleidigung zugeschleudert, bereits weit entfernt aus seinem Bereich und eilte nach der Menschenmenge, die sich jetzt
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überall zusammen drängte, und das Ereigniß besprach, frug, erzählte.
Zum Glück hatte der Journalist, dem bei der ersten Nachricht vor Schrecken die Füße den Dienst fast versagten, - es war das zweite Mal, daß er eine solche Scene erlebte! - gehört, daß zwar von einem Mordversuch auf den König die Rede, daß allerdings ein solcher Frevel von ruchloser Hand verübt worden war, daß aber jene allmächtige Hand, die aus den Wolken hervorreicht und ihre Auserwählten, schützt unter den Kugeln der Mörder und Fanatiker schützt, zu höheren Zwecken, auch hier ihre Macht geübt und den künftigen Erretter und Gründer des Deutschen Reiches vor dem Frevel eines überspannten Thoren bewahrt hatte. Obschon überall in der großen immer mehr anwachsenden Menge der höchste Schrecken, die höchste Entrüstung sich kundgab über die bübische That, war es dem Journalisten doch wohl, als er endlich auf ein ihm wohlbekanntes preußisches Gesicht stieß, auf dem diese Entrüstung sich noch in voller Kraft zeigte, und von dem er sicher zuverlässige Nachricht zu erhalten hoffte. Er umarmte ungestüm den Mann, der einem umdrängenden Kreise Details zu erzählen schien.
»Brandt - lieber Brandt! - Ist es wahr - ist der König auch wirklich unversehrt - außer Gefahr?«
Es war in der That der bekannte frühere Hôtelier, den der Redakteur hier traf, der Besitzer des Hôtel du Nord in Berlin, ein Mann von altbekannter loyaler und konservativer Gesinnung, der durch seine Geistesgegenwart in den jetzt fast vergessenen Märztagen des Jahres
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Achtundvierzig das nebenanliegende Palais des damaligen Prinzen von Preußen vor der Plünderung und Zerstörung des durch die Agenten der Revolution aufgehetzten und fanatisirten Pöbels rettete, und der, seit er sich zur Ruhe gesetzt, den Sommer häufig in den rheinischen Badern zubrachte, wo man ihn öfter von dem geliebten königlichen Herrn ansprechen sah, der wahre Treue und Hingebung in den Tagen der Gefahr und des Unglücks selten vergißt, obschon es bei dem Aufdrängen gerade aus diesen Kreisen Berlins, die erst lange nach der Wiederherstellung der Ordnung zum Bewußtsein ihrer Loyalität kamen und mit ihrem Verdienste nach Orden und Vortheilen spekulirten, - für den hohen Herrn eine schwierige Sache war, die Spreu vom Waizen zu unterscheiden! Darum trägt er vor Vielen den Hohenzollern-Orden, jenes Zeichen der Treue, mit dem König Friedrich Wilhelm IV. bei dessen Stiftung ihn ehrte.
Herr Brandt reichte dem Journalisten die Hand. »Danken Sie Gott mit mir, Doktor, der das entsetzliche Verbrechen so glücklich abgewendet hat. Ich komme eben vom Rathhause, wohin ich mit Graf Flemming den Thäter eskortiren half, denn ich war fast unmittelbar nach der That an Ort und Stelle, und habe dem ersten Verhör des Verbrechers beiwohnen können.«
»So hören wir ja das aus besten Quellen - bitte, erzählen Sie lieber Freund - doch vor Allem, ist Seine Majestät wirklich ganz unverletzt?«
»Gott sei Dank, ich kann es Ihnen verbürgen, Lauer hat bei der Rückkehr des Königs von Lichtenthal, die
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soeben mit Ihrer Majestät und der Großfürstin Helene nach Hôtel Mesmer erfolgte, die Verwundung untersucht und erklärt die Verletzung als eine unbedeutende Contusion, die keine Spur hinterlassen wird. Aber welches Unglück hätte diese Schandthat eines Fanatikers nicht herbeiführen können? Der König hat sich wie der Held benommen, der er ist - keine Minute hat ihn seine Ruhe verlassen, und er befahl auf das Strengste, sich jeder Mißhandlung des Thäters zu enthalten, und ihn nur in Haft zu nehmen. Aber eine solche Unthat mußte die Folge dieser fortwährenden Aufhetzereien des sogenannten Nationalvereins und der ungezügelten Klubreden werden.«
»So ist es also doch eine That des politischen Fanatismus? - es stand zu fürchten und ich habe eben ein Pröbchen dieser Gesinnungen selbst erlebt. Bitte, erzählen Sie!«
Der Kreis um den halben Augenzeugen hatte sich immer mehr vergrößert. »Urtheilen Sie selbst, der Thäter ist ein leipziger Student - man hat in seiner Brusttasche folgende Erklärung gefunden, welche die Absicht des politischen Mordes bekundet. Ich hatte Gelegenheit, das Papier bei der Verlesung seines ruchlosen Inhalts fast wörtlich nachzuschreiben - dieser deutsche Schwindel allein trägt die Schuld. Gott sei Dank ist der Thäter kein Preuße.«
Die Erwähnung der deutschen Frage als Ursache des Mordes hatte Viele verstummen machen - um so höher war das Interesse für das aufgefundene Papier gespannt. »Lesen Sie! Lesen Sie!« war der einstimmige Ruf.
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Der Berliner hatte den kleinen Zettel enfaltet, auf dem er den Inhalt des gefundenen Briefes mit Bleistift flüchtig nachgeschrieben und las ihn jetzt unter allgemeiner Aufmerksamkeit mit erhobener Stimme:
»Baden, 13. Juli 1861. Das Motiv, weshalb ich Seine Majestät den König von Preußen erschießen werde, ist, daß derselbe die Einigkeit Deutschlands nicht herbeiführen kann und die Umstände überwältigen, daß die Einigkeit stattfindet; - dieserhalb muß er sterben, daß ein Anderer es vollbringt. Man wird mich um der That willen lächerlich machen, oder für überspannt halten; ich aber muß die That vollziehen, um das Vaterland glücklich zu machen.«
Der Bösewicht hat sich mit vollem Namen unterschrieben: »Oskar Becker, Studiosus juris aus Leipzig.« Zweifeln Sie nun noch an dem politischen Charakter des Verbrechens?«
Der Journalist beantwortete die Frage nur mit der Wiederholung: »Gott sei Dank, wenn es kein Preuße ist, wie Sie sagen, - die Schande träfe unser Vaterland zu bitter. Aber woher ist er?«
»Er giebt an, aus Odessa zu sein, der Sohn eines ehemaligen Lehrers oder Professors am dortigen Lyceum, der jetzt als russischer Staatsrath in Dresden lebt; die Untersuchung wird das Weitere ergeben. Man hat bereits nach Leipzig telegraphirt, um die Angaben des Mörders über seine Person festzustellen.«
»Bitte, erzählen Sie mir wenigstens den Hergang,
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soweit Sie ihn wissen. Bei einem solchen Ereigniß ist jeder Umstand von Interesse.«
»O, ich werde noch heute an die Kreuzzeitung selbst schreiben. Die Königin macht, wie wohl den Meisten der Herrschaften bekannt ist, seit ihrem Hiersein, alle Morgen ihren Spaziergang nach Lichtenthal, und der König folgt ihr gewöhnlich dahin, nachdem er seinen Brunnen getrunken. Gewöhnlich wählt er - meist schon am Abend vorher - zu seinem Begleiter einen Herrn aus seiner Umgebung oder aus den Fremden, mit dem er sich über die Tagesereignisse oder gleichgültige Verhältnisse unterhält; denn bekanntlich liebt es der hohe Herr nicht, in der kurzen Zeit, die er für seine Erholung bestimmt hat, die politischen Fragen zu erörtern, und Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß der König jeder Sorge für seine persönliche Sicherheit entbehrt, so daß nicht einmal ein einziger preußischer Polizeibeamter sich hier befindet und sei es auch nur in Civil.«
»Das wäre in der That eine unverantwortliche Fahrlässigkeit seitens der berliner Behörden - namentlich in einer Zeit, der es an politischen Aufregungen wahrlich nicht fehlt.«
»Und doch ist es so. Ich weiß es durch Zufall ganz genau, daß Graf Schwerin und Herr von Winter ausdrücklich alle Vorsichtsmaßregeln, die man von anderer Seite vorschlug, als unnöthig abgelehnt haben. War doch selbst die Königin Victoria bei ihrem Besuch in Preußen von zwei englischen Polizei-Inspectoren begleitet, und was damals bei der Anwesenheit des Kaiser Napoleon in Baden für
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vorsorgliche Anstalten zu seiner persönlichen Sicherheit getroffen waren, ist bekannt genug.«
»Der König von Preußen hatte bisher nur die Hand eines Wahnwitzigen zu fürchten, nicht eines politischen Fanatikers.«
»Auch solche sind gefährlich - denken Sie an Tschech - es sind in diesem Monat grade 17 Jahre her - an Sefeloge! Aber lassen Sie mich lieber weiter erzählen; für diesen Morgen hatte unser Gesandte in Carlsruhe, Kammerherr Graf Flemming die Ehre der Allerhöchsten Begleitung.«
»Ich kenne ihn, von Neunundvierzig her, - er bildete damals mit Eulenburg und Herrn von Meusebach das berühmte behagliche Junggesellen-Kleeblatt in seiner Wohnung in der Behrenstraße.«
»Wohldenn - ich weiß nicht, wie es mit seinen staatsmännischen Talenten und Aussichten steht, aber er ist ein ganzer und überall sehr wohlgelittener Cavalier. Schon am Eingang der Lichtenthaler Allee begegnete dem König, wie mir der Graf nachher erzählte, ein unbekannter, aber anständig gekleideter junger Mann, der den König auf das Ehrerbietigste grüßte, worauf der hohe Herr freundlich dankte. Der Fremde muß ihm alsbald gefolgt sein, denn sie hatten noch nicht die Hälfte der Allee erreicht, als der Graf Flemming den hohen Herrn mit der Hand nach dem Kopf fahren sah und zugleich zwei schwache Schüsse hörte. Beide wandten sich sogleich um, und sahen nur wenige Schritte hinter sich jenen jungen Mann, der eben eine Bewegung machte, als habe er Etwas fortgeworfen und nun ruhig stehen blieb. Haben Sie
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geschossen?‹ frug der König. ›Ich!‹ - ›Auf wen - auf was?‹ - »Auf Euer Majestät selbst - ich habe eben das Pistol fortgeworfen - man wird es im Graben finden!‹ - Graf Flemming sprang auf den Mörder zu und faßte ihn am Kragen - zugleich kamen zwei andere Herren herbei - er ließ es ruhig geschehen. »Esist Nichts, lieber Flemming,‹ - sagte der König - »ich bin nicht verwundet, wenigstens nicht ernstlich - ich gehe, die Königin zu beruhigen, damit sie sich nicht unnütz ängstet, die Nachricht wird sie ohnehin genug erschrecken. Lassen Sie den Mann festnehmen, aber verhindern Sie alle Mißhandlungen!‹ Damit setzte er ruhig seinen Weg nach Lichtenthal fort. Ich glaube, jetzt erst fühlte er selbst, daß die eine Kugel ihn doch getroffen hatte. Er war wahrhaft königlich in seiner Ruhe und Unbekümmertheit.«
»Daran erkenn ich den königlichen Herrn - gleichgültig gegen die Gefahr, die ihn selbst bedroht hatte,« sagte der Journalist, »während sein ganzer Zorn, der Grimm eines Löwen erwacht war, als man das Leben seines königlichen Bruders bedroht hatte, damals bei der wahnwitzigen That Sefeloges - ich war selbst Zeuge, als der Prinz von Preußen zuerst dem Mörder begegnete, den man in ein Zimmer des alten Potsdamer Bahnhofs gebracht hatte, und wie er auf den Mann zustürzte und Hand an ihn legte: ›Schurke, was hast Du mit meinem Bruder gethan?‹ - Die Umstehenden mußten sich dazwischen werfen, ich glaube, er hätte den Mörder getödtet - ich habe nie einen majestätischeren Zorn gesehen.«
»Ich half dem Grafen und zwei Herren, die
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hinzugekommen,« fuhr der Erzähler fort, - »denn ich war eben jetzt herbeigeeilt quer über die Wiese und noch ganz außer mir, den Mörder in einen rasch herbeigeholten Wagen schaffen und setzte mich mit hinein. Ich muß gestehen, daß er nicht den geringsten Widerstand leistete. Dennoch konnte ich mich nicht enthalten, auf der Fahrt zu dem Amtshause ihn zornbebend zu fragen: »Warum haben Sie unsern König ermorden wollen?[‹]«
»Und er?«
»Er antwortete mit trockenem fast unbewegtem Ton, obschon er sehr blaß aussah: »Das werden Sie in meiner Brieftasche aufgezeichnet finden!‹ Dann gab er keine Antwort mehr, bis man ihn in dem Amtshanse untersuchte und er auf das vorläufig vorgenommene Verhör Auskunft über seine Person und seine Verhältnisse gab. Den Inhalt des gefundenen Papiers haben Sie bereits gehört. - Die erste Kugel scheint - vielleicht wegen Ueberladung des kleinen Doppelpistols bei solcher Nähe gar nicht getroffen zu haben, die zweite vom Rockkragen des Königs, - der hohe Herr trug wie immer hier, nur einen gewöhnlichen grauen Civilrock, - aufgefangen und abgeschwächt, denn, wie ich Ihnen sagte, ist nur der Kragen zerrissen und sie hat durch das schwarzseidene Halstuch nur eine kurze Contusion auf der linken Seite des Halses verübt. Möge unser König so allen Gefahren mit Gottes Schutz glücklich entgehen!«
»Das walte Gott!« sagte der Journalist mit ernstem Ton, - »denn es wird daran schwerlich fehlen. Kommen Sie, Freund, wir wollen nach dem Hôtel gehen - ich
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möchte dort selbst hören, daß Ihre beruhigenden Nachrichten sich bestätigen!« Er nahm den ihm Befreundeten unter den Arm und führte ihn aus der Gruppe der Neugierigen, die nicht müde wurden, immer wieder Weiteres zu fragen. »Ihre Aussagen,« warnte er, »gehören besser allein dem Instructionsrichter. Die unglückliche That wird das größte Aufsehen durch ganz Europa machen und kann bei allem Fluch, der sie begleitet, vielleicht von den bedeutsamsten Folgen in diesen Wirren sein. Sehen Sie um Himmelswillen die Menschenmasse, die sich vor dem Hôtel drängt.«
Das Hôtel Meßmer, in dem die Majestäten ihr Hoflager genommen, war in der That von Menschenmassen förmlich belagert - der Sonntag und das herrliche Wetter hatten aus der ganzen Umgebung ein unzähliges Publikum herbeigelockt und überall hörte man Rufe des Abscheues und bereits Berathungen und Pläne, wie man den hohen Herrschaften die allgemeine Theilnahme bekunden solle, um so mehr als, wie man vernahm, der Schrecken auf die Königin einen Besorgniß für ihre eigene Gesundheit erregenden Eindruck hinterlassen haben sollte, während der König dieselbe Ruhe zeigte, die er bei dem Vorgang selbst bewahrt hatte. Soeben waren der Großherzog und die Großherzogin von Baden im höchsten Schrecken von dem Schlosse her herbeigekommen und die großherzogliche Equipage hatte sich kaum durch die Menschenmasse Bahn brechen können. Nicht allein Alles, was an Celebritäten und Fremden von Bedeutung in Baden anwesend war, eilte herbei, - auch Hunderte von Personen aus bürgerlichen
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Kreisen drängten sich hinzu, ihren Namen in die in den Vorzimmern ausgelegten Bücher einzeichnen zu lassen. Unter den anwesenden preußischen Herren waren die Gesandten von Bismarck-Schönhausen und von Arnim, die Generale von Bonin und von Voigts-Rhetz, Graf Blücher und viele Andere zu bemerken, und überall wurde unter den Gruppen lebhaft und selbst mit Erbitterung, der politische Charakter der That debattirt. Depeschen flogen nach allen Seiten, das Telegraphenbüreau war förmlich in Belagerungszustand - eines der ersten Telegramme, die abgingen, war auf Befehl des Königs an den Kronprinzen gerichtet gewesen, der sich augenblicklich in England aufhielt, wo er sich zum Besuch des Hofes befand, denselben aber sogleich unterbrach, um nach Baden zu eilen, wo er bereits am nächsten Abend eintraf; - die Meldung der That nach Berlin erreichte bereits um 1 Uhr Nachmittags das auswärtige Ministerium, aber erst gegen Abend gelangte die Nachricht unter die Bevölkerung und verbreitete dort natürlich die größte Aufregung, der zuerst natürlich alle anderen Interessen wichen. Trotz der oppositionellen Stimmung, die damals in Berlin herrschte, sah man sofort überall preußische Fahnen und Embleme erscheinen und am späten Abend die Häuser illuminirt.
Bereits am Mittag des Tages hatte Herr Dejazet zur Feier der glücklichen Rettung von seiner Villa einen Luftballon steigen lassen, dem am Abend ein zweiter mit dem großen Namenszug des Königs folgte; Glückwunsch-Depeschen von Petersburg, Wien, London, Vichy trafen schon am Nachmittag ein, Offiziere und Soldaten der
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Garnison von Rastatt eilten mit den ersten Zügen herbei, um sich von der Rettung des geliebten Kriegsherrn durch Gottes Hand selbst zu überzeugen, und als am Abend um 7\frac12 Uhr das gewöhnliche Konzert im Kurgarten beginnen sollte, mußte die Musik auf das Verlangen des Publikums schweigen, bis sie mit dem preußischen Triumphmarsch den von der Bürgerschaft der Stadt rasch improvisirten Fackelzug empfangen konnte, der, an der Spitze den Bürgermeister und die Rathsherren, die Liedertafel zum Hôtel begleitete, und von mehr als 600 Fackelträgern aus allen Ständen und von jedem Alter gebildet wurde. Gegen 7 Uhr hatte der König mit seiner Tochter, der Großherzogin von Baden, im offenen Wagen eine Spazierfahrt gemacht und war auf dem ganzen Wege mit stürmischen Hurrahs begleitet worden, auch als später nach Empfang der Bürgerdeputation, während die Liedertafel wiederholt die preußische Volkshymne vortrug, der König mit der Königin mehrmals auf den Balcon heraustrat, wurde er mit stürmischem Enthusiasmus begrüßt, und erst spät am Abend verlief sich die Volks- und Fremdenmasse vor dem Hôtel.
Es war gegen 11 Uhr Abends, als der König sich aus dem Circle zurückzog, der zum Thee auf seinen ausdrücklichen Wunsch wie gewöhnlich sich aus dem Familienkreise, dem Hofe und befohlenen Fremden gebildet hatte, und in seinem Kabinet neben dem Adjutanten vom Dienst - es befanden sich damals, da der König von Baden-Baden aus zur Beiwohnung der großen Manöver am Rhein nach Schloß Brühl gehen wollte, in der königlichen
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Begleitung außer dem General-Adjutanten, Generalmajor von Alvensleben die Flügeladjutanten, Oberst von Boyen und Major Prinz Hohenlohe, - einen der Herren traf, denen wir bereits am Abend vorher begegnet sind.
»Guten Abend, Herr von Bismarck, haben Sie meinen Wunsch erfüllt?«
Der Gesandte verbeugte sich. »Euer Majestät Befehle sind vollzogen worden. Ich habe dem zweiten Verhör des Schuldigen beigewohnt und mit ihm unter Genehmigung des Gerichtsvorstandes selbst in seinem Gefängniß eine Unterredung gehabt.«
Der König winkte dem Adjutanten und dieser verließ das Arbeitszimmer. Der Monarch blieb mit seinem künftigen Staatsmann allein.
»Sie sehen, ich habe Hohenlohe entfernt Excellenz, um mich mit Ihnen ganz ungestört und vertraulich zu besprechen. Ich kenne Sie und weiß, daß Sie mir ungeschminkt die Wahrheit sagen und Nichts verhehlen werden. Was halten Sie von dem Menschen?«
»Er ist ein politischer Fanatiker, wie so viele Fürstenmörder waren, Ravaillac, Orsini, die Brüder Bandiera und Andere.«
»Also nicht bloß wahnsinnig, nichtzurechnungsfähig, wie Sefeloge, oder aus irgend einer persönlichen Rache?«
»Nein, Majestät, - es ist immer ein gewisser Wahnsinn dabei, wenn politischer Fanatismus zu einem solchen Gedanken ausartet - aber der Student Becker hat mit voller Ueberlegung und mit ganz bestimmter politischer Absicht gehandelt, - er selbst nahm keinen Anstand schon
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bei dem Verhör zu erklären, daß er Eure Majestät Ihrer persönlichen Eigenschaften wegen sehr hoch achte.«
Der König hatte sich in einem Stuhl niedergelassen und die Augen mit der Hand bedeckt. »Also in der That ein Mordversuch aus politischer Tendenz! Nicht einmal aus nationalem Haß, wie wir - zum Beispiel in Polen, in Ungarn erlebt haben.«
»Nein, Majestät!«
»Aber wofür? wofür? weil er mich in der That für unfähig hält, die Wünsche oder Pläne seiner Partei auszuführen - sagen wir es gerade heraus: des sogenannten Nationalvereins?«
Der Gesandte schwieg.
»Aber dann muß er einem Complott gehören, - einer Verschwörung, die auf diesem Wege mit Fürstenmord ihre Ziele verfolgt! Hat er Geständnisse gemacht, Complicen angegeben?«
»Majestät - er behauptet, keinen Mitschuldigen seiner Frevelthat zu haben. Nicht einmal ...«
»Nun - warum stocken Sie?«
»Nicht einmal - ganz Deutschland,« sagte der Diplomat leise.
Der König ging mit unruhigen Schritten auf und nieder. Dann blieb er vor dem Staatsmann stehen.
»Aber Eure Excellenz werden mir zugeben, wenn man für die Ziele einer Gesellschaft, einer Partei - einen Fürstenmord versucht, dann muß man einen Halt, Gesinnungsgenossen in dieser Partei haben, wenigstens Billiger einer solchen That.«
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»Majestät, die Geschichte des Menschengeschlechts, der Physiologie lehrt, daß die besten Gedanken, selbst die höchsten Enthusiasmen für Größe und Erhabenes in einzelnen Köpfen zu Ausartungen, ja zu Verbrechen führen können, welche die Menschheit als solche verdammen muß. Erinnern Sie sich an Cäsar, - selbst an Ludwig von Parma!«
»Mein Gott, ich bin doch kein Tyrann - kein Feind der Volksrechte, der Freiheit und der Entwickelung meines Volkes.«
Der Staatsmann ergriff die Hand des Königs und zog sie an seine Lippen. »Euer Majestät sind der gerechte, der gütige Vater und Regierer Ihres Volkes. Kann in einem fanatischen Kopfe selbst diese Ueberzeugung nicht in die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit eines Märtyrerthums ausarten?«
»Klar und kurz, - glauben Sie, daß dieser Mordversuch aus den Tendenzen des Nationalvereins hervorgegangen ist, mit seinen Zielen zusammenhängt?«
»Majestät - ja! aber nicht mit seinen Lehren.«
»Aber dann liegt die Verbindung, die Gefährlichkeit derselben für uns Fürsten auf der Hand!«
»Majestät - diese Lehren, diese Tendenzen sind nicht Früchte von heute und gestern, es sind die Ueberzeugungen vieler der Besten Ihres Volkes, der deutschen Nation. Ich möchte mit meinem Kopfe dafür bürgen, daß in der ganzen großen Partei des Nationalvereins die ruchlose That des Studenten Becker den größten Schmerz, das tiefste Bedauern verursacht, daß er, selbst unter der deutschen Jugend, die für die Idee eines großen, geeinigten Deutschlands
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enthusiasmirt ist, die That eines überspannten Kopfes, eines Meuchelmörders keine Mitwisser gehabt hat.«
»Aber man spricht im Publikum, wie ich höre, bereits von einer Verschwörung von 18 leipziger Studenten?«
»Majestät - ein Bericht der leipziger Polizei ist auf telegraphischem Wege bereits eingegangen. Die Wohnung und die Papiere des Studenten Becker wurden sofort versiegelt - aber der kurze Bericht der Polizei besagt, daß wenn er auch im Verdacht gewesen, als geborner Russe mit Herzen in London in Verbindung gestanden zu haben, er in Leipzig keiner Studentenverbindung angehört hat und, obschon er als finster, sich absondernd, ja als unangenehm gegolten, er doch nur seinen Studien gelebt, sich durch Correcturen ernährt, und mit Niemandem Verbindung und Umgang gehabt.«
»Aber die Folgen jener Lehren, jener Tendenzen - was in dem einem Kopf sich entwickelt, wird den Fanatismus auch in anderen hervorrufen!«
»Majestät,« sagte der Diplomat - »erinnern Sie sich, daß unter diesen Tendenzen und Wünschen bisher nicht die deutschen Fürsten gelitten, sondern nur jene Männer, die sie unter zahlreichem und oft sehr hartem Märtyrerthum, unter Todesurtheilen, Kerker und Verbannung, hegten, und daß unter Denen, die gelitten haben, nach 15 Jahren treuen Festhaltens und Bewahrens sich Männer befinden, die jetzt zu den Edelsten und Ersten der deutschen Nation gehören, daß selbst Euer Majestät hochseliger Bruder, ja Eure Majestät selbst die Wiedererhebung Deutschlands zu alter Größe als erhabenes Ziel stets betrachtet haben. -
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Ich selbst habe nicht umsonst an deutscher Universität in Göttingen studirt.«
»Ich bin gewiß kein Feind oder Unterdrücker des Nationalvereins und seiner Bestrebungen,« unterbrach ihn der König, »das hat noch vor wenigen Monaten mein Erlaß an Schleinitz auf die darmstädtischen Anträge am Bundestag zur Unterdrückung des Nationalvereins bewiesen. Aber ich bin durch die Gnade Gottes und das heilige Erbe meiner Väter, wenn auch ein deutscher Fürst, dessen deutsches Fühlen und Denken gewiß keinem jener hochtrabenden Wortführer des Nationalvereins nachsteht - ich bin ein König von Preußen und mein Land darf nicht das Opfer werden unbestimmter Träume und Ziele, deren Zeit - noch nicht gekommen ist!«
Der Diplomat erhob sich zu seiner ganzen Größe. »Das ist das richtige Wort und Gott segne Eure Majestät dafür! Dann wird auch die schlimme That des Studenten Becker einst beweisen, welcher falsche Wahn ihr zu Grunde lag.«
Der König blickte nachsinnend vor sich nieder. »Gott allein weiß alle Wege zum Besten zu lenken. Sagen Sie mir ehrlich, Herr von Bismarck, Sie ahnen bereits, welche Absichten ich mit Ihnen habe. Werden Sie, wenn ich Sie zu meinem Minister mache, mit dem Nationalverein Hand in Hand gehen?«
»Nein, Majestät! ich würde als Minister Preußens das Ehrenwerthe und Patriotische in ihm benutzen, aber seine Bestrebungen in keiner Weise über uns Herr werden lassen, sondern den Verein nur als Mittel für das Ziel
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betrachten. Daß aber ein großes Deutschland mit Preußen allein an seiner Spitze dieses Ziel bleiben müßte und mein Ziel sein würde, das, Majestät, bekenne ich offen, ist das Ideal meiner Jugend und wird das meiner Manneskraft bleiben. Die Wege des Nationalvereins können eben nur sehr untergeordnete Mittel der preußischen Staatspolitik bleiben. Ein so großes Werk erreicht sich nicht durch Klubreden und Volksversammlungen. Ich hatte bereits früher die Ehre, Euer Majestät meine Gedanken über die Bahnen zu jenem Ziel auszusprechen und habe bei weiterem Nachdenken immer mehr die Ueberzeugung gewonnen, daß zu einem solchen Werk Blut der Kitt sein wird, und ein oder vielmehr eine Reihe von Kriegen den Weg bilden werden. Aber ich habe noch eine weitere Ueberzeugung gewonnen und das traurige Ereigniß des heutigen Tages hat sie bestätigt.«
»Sie sprachen mir allerdings von der traurigen Aussicht auf das Bevorstehen schwerer innerer und äußerer Kriege, und andere treue und geprüfte Männer theilen Ihre Ansichten über eine solche Nothwendigkeit. Deswegen halte ich fest an meinem Werke der Armee-Reorganisation trotz aller Widersprüche und Kämpfe mit meinem Volke selbst.«
»Um Preußens Zukunft willen bleiben Euer Majestät bei diesem Entschluß - und müßten dabei Nationalverein und Kammern geopfert werden.«
»Ich hoffe, mein Volk wird zur Einsicht kommen und mir zur Seite stehen. Aber was ist die zweite Ueberzeugung, die Ihnen geworden, lieber Bismarck?«
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»Daß Gott mit Ihnen ist und die Vorsehung gerade Euer Majestät bestimmt hat, das große Werk der deutschen Wiedergeburt auszuführen, nicht daß eine andere Hand daran gelegt werden muß, wie jener Fantast meint.«
»Wie Gott will,« sagte der König fromm; »ich hoffte - die Last würde auf jüngere und kräftigere Schultern fallen. Aber wenn es noch meine Aufgabe ist - mein Leben gehört Preußens Zukunft; doch erinnern Sie sich, daß ich vierundsechszig Jahre zähle und - in dem Warten die Kraft liegt.«
»Ich hoffe, Deutschland wird die Zeit rascher reifen sehen, als Euer Majestät heute glauben. Der Nationalverein hat wenigstens das Gute, daß seine offenen Bestrebungen Preußens Neider zwingen, desto schneller die Maske zu lüften und Farbe zu bekennen. Auch Herr von Arnim warnt vor Oesterreichs Contreminen und der Absicht eines neuen Rheinbundes, zu dem leider diesmal auch die alten Freunde Preußens gehören werden. Die Politik von Hannover und Hessen ist voll Mißtrauen und Neid. Darum Majestät - nicht um den Sieg der preußischen Waffen hatte ich Besorgniß, nur um die Hindernisse, die Eifersucht und Uneinigkeit Preußen in den Weg werfen können und werfen werden, und wenn dies der gleiche Gedanke gewesen ist, der jenem jungem Fantast in seinem Briefe vorgeschwebt hat, so muß ich gestehen, daß ich ihm kaum soviel Verständniß der Situation zugetraut habe. - Das Eine wage ich noch Euer Majestät zu rathen, suchen Sie in der deutschen Frage eine Unterstützung Preußens nur in Rußland - nicht in England!«
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»Deswegen bleiben Sie eben noch vorläufig in Petersburg, auch während ich Compiegne besuche. Seien Sie unbesorgt lieber Bismarck, ich bleibe entschlossen nach der einen Seite wie nach der anderen - aber abwarten müssen wir die richtige Zeit, damit Preußen kein Vorwurf treffen kann und auch das Recht stets auf unserer Seite sei.«
»So haben Euer Majestät mir für heute Nichts mehr zu befehlen?«
»Nein, ich danke Ihnen für Ihren Eifer und für Ihre Gesinnung. Doch noch Eins, ich darf freilich den verirrten Mann nicht der Ahndung der Gesetze entziehen, und das Verbrechen als solches muß seine Strafe finden, aber sprechen Sie bei den baden'schen Gerichten den Wunsch aus, daß der - Mann nicht mit unnützer Härte um meinetwillen behandelt werden möge. - Gutenacht, Herr Gesandter. Sie haben meinem Herzen eine schwere Last abgenommen durch die Beseitigung jedes Gedankens an Mitschuld von Männern - deren Streben vielleicht unter meinem sonst so gerechten Vater zu harte Beurtheilung erlitten hat. Mein Schlaf nach dem Dank an den Allmächtigen für seinen so sichtlichen Schutz wird leichter und ruhiger sein, als er wahrscheinlich ohne diese Unterredung gewesen wäre. Sei es auch der Ihre!«
Und mit jenem Wunsch, der von dem gütigen Herzen des Königs zeugte, schloß die zukunftsschwere Unterredung[.]

Das Central-Comité.

Wir haben, um zu einer regelmäßigen Uebersicht der Zeitgeschichte zu gelangen, welche unser Buch in Form und Styl des Romans giebt, unseren Lesern jene Sitzung des polnischen Central-Comité nachzutragen, die Ende April, also mehr als zwei Monate vor den eben mitgetheilten Ereignissen am Abend jenes Empfangs in den Salons der Fürstin Czartoryski im Hôtel Lambert, und der Kaiserin Eugenie in den Tuilerien stattfand,1 und führen ihn zu diesem Zweck in das Lokal, dasselbe, das ganz in der Nähe der allgemeinen Versammlung der Emigranten lag und nur durch einen kürzen Corridor oder ein längliches Gemach von dem bereits beschriebenen Gartensaal getrennt war.
Wir haben auch bereits gesagt, daß dieser abendlichen Berathung außer den 43 Mitgliedern des Comité's noch verschiedene andere Personen beiwohnen sollten.
Die Namen der 43 Mitglieder waren der russischen
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Regierung keineswegs unbekannt - der Leser wird sich erinnern, daß zur Zeit der Zusammenkunft der drei Monarchen in Warschau der Polizeiminister der polnischen Hauptstadt seinem Gebieter die Liste dieses Centralcomité überreichte und wir haben selbst die 43 Namen dort aufgeführt. In dem Bewußtsein des Schutzes der französischen Regierung brauchten sie also nur wenig Vorsicht zur Sicherung oder Verheimlichung ihrer Person, und diese Vorsicht beschränkte sich daher blos auf Maßregeln gegen das Einschleichen russischer Spione, und da sich die Dreiundvierzig genügend untereinander kannten, waren diese Maßregeln sehr leicht zu treffen.
Der Raum, der früher zu einer mit dem Hôtel in Verbindung stehenden Orangerie gedient hatte, war sehr einfach ausgestattet; auf der einen Langseite erhob sich eine niedere Estrade mit einem langen, nur auf einer Seite mit sieben Sesseln besetzten Tisch, der gleich den Tafeln der gewöhnlichen amtlichen Sessionszimmer mit Tuch - hier jedoch nicht grünem, sondern purpurfarbenem bespannt war. Dem Tisch gegenüber befanden sich drei Reihen Bänke ziemlich nahe, so daß nur ein Raum von etwa zwei Schritten zwischen Tafel und Sitzreihen blieb und Jeder, der auf diesen seinen Platz hatte, ohne Anstrengung der Stickme sich an den Debatten des Ausschusses betheiligen und an den Tisch herantretend von Allen gehört werden konnte.
Drei Wände waren ohne jeden Schmuck, nur die Langwand hinter der Tafel trug gerade hinter dem Mittel-Platz des Vorsitzenden eine Dekoration von Fahnen in den
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polnischen Farben: Weiß und Purpur, oder Weiß, Blau und Purpur, welche das vereinigte Wappen von Polen und Litthauen: Das weiße Pferd und den geharnischten Reiter mit geschwungenem Säbel, beide in rothem Felde, umgaben.
An dem Tisch des Ausschusses waren augenblicklich nur drei Sessel besetzt, die übrigen vier noch leer.
Die drei Bänke gegenüber dagegen waren bis auf wenige Plätze von den vierzig Mitgliedern gefüllt.
Am Ende der Tafel saß ein alter Mann mit fast bis auf die Schultern herabhängenden weißen Haaren und einer blauen Brille. Er hatte einige Papiere vor sich und drückte eben die Feder eines kleinen Metallhammers, der auf eine silberne Glocke schlug, während die meisten Anwesenden noch vor ihren Sitzen standen oder sich in Gruppen mit einander unterhielten.
Der Hammer schlug drei Mal rasch hintereinander in scharfem Ton an.
»Ich bitte die Brüder, Platz zu nehmen.«
In wenigen Augenblicken war dies geschehen.
»Meine Herren und Brüder,« sagte der Alte: »Im Namen Gottes und der heiligen Sache Polens erkläre ich, als der Alterspräsident, die Sitzung unseres Comité's für eröffnet und bitte Sie, den heutigen Präsidenten zu erwählen, nachdem wir uns überzeugt haben, daß nur Mitglieder des Comité's anwesend sind. Bruder Morawski, als dem jüngsten Mitglied muß ich Ihnen diese Prüfung übertragen -«
Der Aufgerufene erhob sich, verglich die Zahl der
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Anwesenden mit der Liste und erklärte, daß drei Mitglieder fehlten.
»Graf Dzialinski,« bemerkte der Alterspräsident Mazurkiewicz auf die Namhaftmachung der fehlenden Mitglieder, »hat mich benachrichtigt, daß er noch kurze Zeit im Hôtel zurückgehalten werde; Bruder Guttry ist im preußischen Landtage von der Vertretung der wichtigen, nationalen Anträge zurückgehalten, welche die polnische Fraktion, wie Ihnen bekannt sein wird, dort gestellt und in diesen Tagen zu vertheidigen hat, und unser Bruder Nepomucen Janowski ist leider schwer erkrankt. Die beiden letzten Brüder haben jedoch Vollmachten gesendet. - Wir können also zur Wahl des Vorsitzenden schreiten, der dann die Schriftführer nach eigenem Ermessen wählt.«
»Wollen wir nicht auf die Prinzen warten?« frug einer der Theilnehmer von der untersten Bank.
»Ich protestire dagegen,« sagte eine andere scharfe Stimme von der obersten Reihe her. »Nach den Regeln der Sitzungen muß ein Mitglied des Central-Comité's selbst den Vorsitz führen.«
»Die Prinzen Czartoryski sind stets als Mitglieder des Central-Comité's betrachtet worden, General,« bemerkte der Alterspräsident.
»Aber nur als Ehrenmitglieder,« beharrte Jener, »wir hegen gewiß Alle vor der durchlauchtigen Familie Czartoryski den größten Respekt, bei den widerstreitenden Interessen der Fraktionen jedoch, welche heute hier zur Sprache kommen müssen, ist es unsere Pflicht, uns streng an die Vorschriften des Statuts zu halten.«
»Ich schlage also vor, die Wahl durch Akklamation wie in früheren Fällen eintreten zu lassen.«
»Wroblewski!«
Nur zwei Stimmen von der obersten Bank riefen: »General Mieroslawski!«
- »Ah, da kommt Dzialynski! - Graf Dzialynski!«
Der Schwiegersohn des alten Fürsten, der preußische Abgeordnete Graf Dzialynski trat in der That mit dem ältesten Sohn des Fürsten, dem Prinzen Witold durch eine Thür am oberen Ende des Saals ein. Alle Mitglieder des Comité's bis auf die der obersten Bank erhoben sich zu seiner Begrüßung.
Der General, der vorhin opponirt, neigte sich zu dem Ohr seines Nachbars. »Passen Sie auf, Antoni, die verdammte Adelscoterie wirft uns wieder ein Hinderniß dazwischen.«
»Graf Dzyalmski!« wiederholten mehre Stimmen, andere beharrten bei: »Wroblewski!«
»Ich bitte die Brüder,« sagte der Graf, »von mir abzusehen. Ich bin erst gestern von Berlin eingetroffen und wenn auch mit den warschauer Angelegenheiten au fait, doch von dem Stand der hiesigen noch nicht genug informirt. Ich bitte meine Stimme unserem würdigen Freunde Wroblewski geben zu dürfen.«
Der mit dem größten Vertrauen der Emigration beehrte Führer der gemäßigten Partei übernahm alsbald den Vorsitz und ernannte zwei der jüngeren Mitglieder zu Protokollführern.
»Brüder des Central-Comité's,« sagte er nach den
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formellen Einleitungen, »es stehen folgende wichtige Gegenstände zur Debatte unserer heutigen Versammlung:
Die Berichte unserer Freunde aus Warschau;
desgleichen unserer Freunde aus Petersburg und dem Auslande;
Die weiteren Instruktionen nach Warschau;
Die Aussichten einer Erhebung zur Befreiung Polens und die Frage der günstigsten Zeit dazu.
Ich glaube, daß die beiden ersteren Gegenstände die Verhandlung der beiden letzten bedingen werden, und ich habe Ihnen daher nur zuvor die Cardinalfrage zu stellen, ob unsere heutige Berathung eine ganz vertrauliche bloß unter den Mitgliedern des Comité's sein soll, oder ob sie die Herbeiziehung von Freunden unserer Sache gestattet, die nicht speziell zu den Mitgliedern gehören, deren Rath und Beistand uns aber von der höchsten Wichtigkeit ist!«
»Wie ich gehört,« sagte ein Theilnehmer der ersten Bank - der Adelsfraction, - »hat ein Mitglied des Comité's in Warschau selbst dessen Berichte überbracht. Seine mündlichen Rapporte werden uns leicht Ausführlicheres geben, als alle schriftlichen. Ich beantrage seine Zulassung.«
»Einer unserer zuverlässigsten Offiziere, der Kapitän Marian Langiewicz ist von Cuneo hier eingetroffen, um der Sitzung beizuwohnen,« erklärte Graf Dzialinski, »ich beantrage für ihn und den Herrn Grafen de Noël die Zulassung zur Berathung.«
»Ein Bevollmächtigter der Kurie, Abbé Calvati aus Rom erbittet gleichfalls den Zutritt,« sagte ein Dritter.
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»Der ungarische Diktator Kossuth wünscht der Sitzung beizuwohnen,« erklärte ein Vierter.
»Ein Mitglied der europäischen Liga aus Genf befindet sich im allgemeinen Saal!« ein Fünfter.
»Sein Name?«
»Ricciotti Garibaldi - der zweite Sohn des Generals!«
»Wollen die Brüder nicht etwa noch Graf Kisseleff einladen?« hörte man die scharfe spöttische Stimme des Generals Mieroslawski - »er würde vielleicht die einfachsten Wege zur Vertreibung der Russen aus Polen angeben können!«
Alle kannten zur Genüge die Eifersucht, welche der polnische Agigator[Agitator] gegen Garibaldi und seine Anhänger hegte. Die Sitzung drohte demnach schon in ihrem Beginn einen Conflict, doch löste ihn glücklich die Energie des Vorsitzenden.
»Wenn die Brüder keinen begründeteren Einwand gegen einen der Vorgeschlagenen zu erheben haben, werde ich dieselben eintreten lassen.«
Selbst die Partei des Berges schien sich des Widerspruchs zu schämen und der Präsident gab dem jüngsten Mitglied das Zeichen zur Einführung.
Wir kennen bereits die Bezeichneten bis auf das noch nicht genannte Mitglied des warschauer Central-Comité's, das mit großer Sicherheit eintrat und sofort dem Präsidenten sich gegenüberstellte, während der Ungar Kossuth mit der Anmaßung, die ihn charakterisirte, sofort auf den leeren Platz an der Tafel zuging und diesen einnahm, als
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gebühre er ihm selbstverständlich. Die Anderen nahmen auf einer Bank neben der Eingangsthür Platz. Nach wenigen Minnten der Begrüßung war die Ordnung wieder hergestellt.
»Wir wollen zuerst den Bericht aus Warschau hören,« sagte der Präsident.
Der Eingetretene vor dem Tisch wandte sich sofort halb gegen die Versammlung.
»Ich habe diese Berichte gebracht und bin bereit, sie zu erläutern. Ich bin Adam Prot Asnik, der frühere Präsident der »schwarzen Brüderschaft‹. Man wird von mir wissen! Ich saß in der Alexander-Citadelle gefangen, aber es ist mir gelungen, mich zu befreien und ich war bei dem Volk, als sich dieses am 27. Februar gegen die Mordthaten der russischen Schergen erhob. - Die Brüder werden mich kennen,« sagte er dreist und hochmüthig.
»Wir haben von Ihnen gehört,« bemerkte ruhig der Präsident des Central-Comité's. »In wessen Auftrag kommen Sie?«
Der Student sah den alten Mann verwundert an. Es schien ihn zu befremden, daß man bei der Nennung seines Namens ihn nicht gleich mit offenen Armen und besonderen Ehren aufnahm.
»In wessen Namen ich komme? im Namen aller warschauer Patrioten. Ich komme im Namen der Zehner, der Volksjunta, des Revolutions-Comité's, die allein die berechtigten Führer der Bewegung im Vaterlande bilden. Ich soll das Central-Comité auffordern, so bald als möglich Waffen und Geld zu senden. Die Erhebung ist vollkommen
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reif zum Ausbruch. Wir warten nur auf das Signal von Paris und daß man General Mieroslawski an unsere Spitze stellt. Hier ist das Verzeichniß der Kräfte, über die wir in den Woiwodschaften im Augenblick der Erhebung gebieten können.«
Der Präsident schüttelte etwas zweifelhaft den Kopf.
»Die Ernennung des Generals ist noch nicht erfolgt,« sagte er. »Wir ehren Ihren Eifer, Herr Asnik, aber die Begeisterung der jungen Patrioten muß durch die verständigen Erwägungen der Aelteren gezügelt werden. Wir haben auf anderem Wege Berichte aus Warschau erhalten, welche die Zeit zu einer offenen Volkserhebung noch keineswegs gekommen glauben.«
»Das kommt von den Lauen, den Weißen, Herr,« sagte heftig der Student. »Sie werden mit ihrem Zögern noch Alles verderben! Das Volk, das wahre Volk ist zur Erhebung bereit mit dem Opfer seines Blutes. Man hat ihm das Losschlagen versprochen, man darf seinen Muth nicht erkalten lassen. Noch ist Warschau ohne zahlreiche Garnison.«
»Eine so wichtige Frage,« sagte der Präsident, »kann nicht von dem Eifer eines Einzelnen entschieden werden. Hören wir erst die anderen Berichte.«
Er ließ die überbrachten vorlesen - aus allen ging hervor, daß sie vom größten Fanatismus dictirt waren, dem die ruhige Besonnenheit und die Abwägung der Mittel fehlte.
Verschiedene Stimmen ließen sich für und wider hören, der Diktator Kossuth hielt eine seiner weitschweifigen Reden
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und betheuerte die Bereitwilligkeit der Ungarn, ihren polnischen Brüdern grade in diesem Augenblick die helfende Hand zu reichen, wo man die Tyrannei in Petersburg und Wien an der Wurzel fassen könnte; die oft tollsten Vorschläge wurden für einen sofortigen Ausbruch der Volkserhebung auf's Neue gemacht.
Aber auch an ruhigeren und verständigen Stimmen fehlte es nicht. Marian Langiewicz erklärte gegen die Partei des Berges, daß er während seiner heimlichen Anwesenheit im Königreich weder die Volksstimme noch die getroffenen Vorbereitungen so weit gediehen gefunden habe, um jetzt schon mit einem Angriff gegen die russischen Garnisonen zu beginnen. Er sprach sich für einen Aufschub von zwei Jahren aus, und auch der preußische Deputirte stimmte ihm zu. Der Letztere schien sich sehr viel von einer Betheiligung der polnischen Bevölkerung im Großherzogthum, in Oberschlesien und Westpreußen zu versprechen, aber auch er mußte doch zugestehen, daß das Volk selbst wenig dazu geneigt und mit dem preußischen Regiment eigentlich ganz zufrieden sei, ja daß selbst ein großer Theil des Adels von polnischer Geburt an der Person des Königs hinge und von einer Losreißung dieser Landestheile Nichts wissen wolle. Nur die radikalste Opposition in der Kammer sei bereit, der polnischen Nation jede Unterstützung zu gewähren, ja sogar eine Trennung der alten polnischen Landestheile von dem Staat, weil man darin eine Schwächung der Hohenzollern-Monarchie finde. Auf der andern Seite wurde der Gedanke der Gründung eines selbstständigen Polens bis zur Weichsel,
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gleich des alten Herzogthums Warschau unter einem preußischen Prinzen angeregt, durch das man Preußen mit Rußland in Conflicte zu ziehen hoffte.
Der Streit war ziemlich lebhaft und verschiedene Pläne für die Iusurrection[Insurrection] wurden vorgelegt, gebilligt oder verworfen. Zuletzt einigte man sich, nachdem der Abbate die päpstliche Erlaubniß für den Klerus zugesichert hatte, sich an der politischen Vewegung zu betheiligen, zu folgenden Grundzügen:
Der wirkliche Ausbruch einer bewaffneten Erhebung im Königreich sollte erst im Frühjahr 1863 stattfinden, bis dahin aber die Spannung und Aufregung der Bevölkerung möglichst vermehrt, die Erbitterung geschürt werden. Alle Concessionen der russischen Regierung sollten scheinbar willig acceptirt, die Forderungen aber mit jeder gesteigert werden. Durch diese scheinbare Unterstützung der Regierung wollte man, ehe der offene Bruch mit ihr eintrat, möglichst viele zuverlässige Männer in die öffentlichen Stellen bringen und ihr so nach und nach die Macht aus den Händen nehmen. Unter dem Vorwand einer Selbstverwaltung der Polizei durch die Bürger und Akademiker sollte eine geheime Macht gebildet werden, welche die spätere Theilnahme der Bevölkerung zu erzwingen und einenDruck auf das Land auszuüben hätte. Jede Gelegenheit müsse benutzt werden, durch Demonstrationen die russischen Behörden zu einem gewaltsamen Einschreiten und zu strengeren Maaßregeln zu reizen, die Opfer derselben sollten dann als patriotische Märtyrer ausgegeben und durch die Presse übertrieben, durch Bilder sollte die Phantasie
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entflammt, das Gebiet der Entstellung und Lüge ganz systematisch benutzt werden, um die Sympathieen anderer Völker zu gewinnen. Daneben sollte eine förmliche zweite Regierung über das ganze Land organisirt werden, mit Zwangaushebungen und einer Steuererpressung, welche die öffentlichen Steuern überböte. Ein Schreckenssystem müsse jede andere Meinungsäußerung unterdrücken; durch Priester und Frauen sei fortwährende Aufregung zu erhalten; Handel und Wandel müsse brach gelegt, die Religion mißhandelt und unterdrückt erscheinen; die Anwerbung durch das System der Zehner sich nicht bloß auf Warschau, sondern über das ganze Land erstrecken; eine geheime Gensdarmerie bis in die kleinsten Orte engagirt sein, die Landbevölkerung gezwungen werden, auch den besten Maßregeln der russischen Regierung Mißtrauen und Widerstand entgegen zu tragen. Wenn dann das Volk in allen seinen Gefühlen verletzt, ruinirt, in Schrecken gesetzt und in jedem freiem Willen unterdrückt sei: dann wäre es Zeit, auch den offenen Kampf gegen den russischen Koloß zu beginnen und den Zuzug von Außen her: die ungarische, englische und französische Hilfe zu verlangen. Dieser teuflische Plan wurde bis in die Details besprochen Ein Bericht aus Petersburg, der verlesen wurde, mahnte gleichfalls zur Verzögerung des Ausbruchs, da in Folge des am 17. März von den Kanzeln proklamirten Manifestes des Kaisers Alexander II. betreffend die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland durch das ganze weite Reich sich unter dem russischen Adel eine Mißstimmung zu zeigen begänne, man selbst an der Treue der Offizierscorps zu
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zweifeln anfange, und die geheimen Comité's der Panslavisten und der Nihilisten immer größere Verbreitung gewönnen, und man sogar schon ganz offen von einer Entthronung der Familie Romanow Andeutungen hören könne.
In diesem Stadium der Debatte war es, als ein Klopfen an der Thür die Aufmerksamkeit des den Dienst habenden jüngsten Mitglieds des Comité's erregte und es hinausrief. Bald darauf kehrte es zurück und übergab dem Vorsitzenden einen Brief, den dieser mit steigender Aufmerksamkeit durchlas und dann in die Tasche schob.
»Es ist Zeit Brüder,« sagte er, »daß wir zu einem bestimmten Beschluß kommen und unseren Brüdern in Warschau diesen kund geben.«
»So sei es!«
»So fordere ich Diejenigen auf, welche für eine bewaffnete Erhebung gegen die russische Herrschaft noch vor dem ersten Januar 1862 sind, sich zu erheben!«
Nur die Mitglieder der obersten Bank gaben das Zeichen.
»Die Erhebung ist also bis zum Jahr 1863 vertagt, die Bestimmung der genaueren Zeit wird einem späteren Beschluß überlassen bleiben. Die Vertagung schließt natürlich die bereits berathene Organisation der geheimen Nationalregierung nicht aus. Dieselbe möge die einzelnen Gelegenheiten zu Volksdemonstrationen bestimmen. Nur die Zeit des bewaffneten Aufstandes bleibt vorbehalten. Wir haben zunächst den Oberbefehl über das Nationalheer zu bestimmen.«
»Im Namen meines Vaters des Fürsten schlage ich
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den mit der militärischen Organisation bereits betrauten Kapitain Marian Langiewicz den Mitgliedern vor,« sagte mit fester Stimme der Prinz.
»Ich habe das erste Recht darauf,« erklärte hochmüthig der General Mieroslawski.
»Die Nationalregierung wird darüber entscheiden. Es ist die Pflicht jedes Polen sich ihrer Anordnung zu fügen. Aus wieviel Personen hat die Nationalregierung zu bestehen?«
»Ich beantrage die Zahl fünf,« sagte ein Mitglied der unteren Bank.«
»Einverstanden.«
»Und daß die Wahl zunächst in folgender Weise erfolgt: ein Mitglied durch das Centralcomité in Warschau, ein Mitglied durch die Volksjunta, ein Mitglied aus der Direction der Weißen ...«
»Ich beanspruche die Rechte der schwarzen Brüderschaft ...« fiel die Stimme des Sendboten derselben ein.
»Einverstanden! - Für die Ernennung des letzten Mitglieds verlange ich dagegen das Recht des pariser Bundes. Ich schlage die Wahl durch Stimmzettel vor und das Geheimniß der fünf Namen während der ersten sechs Monate nach Beginn der bewaffneten Erhebung, um sie der Beeinflussung der Parteien zu entziehen.«
»Der Vorschlag ist gut. Ich stimme dafür.«
Sämtliche Mitglieder, welche für die Vertagung des Ausbruchs gestimmt, erklärten sich auch für diesen Vorschlag.
»Diese Beschlüsse müssen alsbald den Comité's in
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Warschau überbracht werden. Der Bote wird zugleich die bisher gesammelten Geldbeträge und die Consignements für die Waffensendungen zu überbringen haben. Es muß daher ein vertrautes und geprüftes Mitglied sein, da wir ihm die Mittel der Erhebung anvertrauen. Es darf keine Person sein, deren Abwesenheit die Aufmerksamkeit der Spione des russischen Gesandten erregen würde.«
Vier Personen meldeten sich: der preußische Abgeordnete, der Diktator Kossuth, der Student Prot Asnik und ein anderes Mitglied.
»Wir müssen den Herrn Grafen darauf aufmerksam machen, daß seine Stellung eine zu exponirte ist. Herr Kossuth gehört einer anderen Nationalität - es bleiben demnach zur Wahl nur das Mitglied des Centralcomité's und der warschauer Patriot, der uns bereits die dortigen Berichte überbracht hat, Herr Prot Asnik.«
»Ich bin bereit, schon morgen die allerdings nicht gefahrlose Rückkehr anzutreten, sobald ich Papiere und Anweisungen erhalten habe.«
Der Präsident erhob sich. »So bitte ich Herrn Prot Asnik, sich zu der großen Reise bereit zu machen. - Ich erkläre die Sitzung für geschlossen, bitte aber die Mitglieder noch einige Augenblicke zu verweilen, da eine wichtige Anzeige eingegangen ist. Ich bitte den Bruder Mickiewicz die weißen Ruthen zu vertheilen.«
Alle Mitglieder des Comité's sahen sich erstaunt, fast erschrocken an. Seit den vier Jahren der Organisation desselben war die Vertheilung der Weidenruthen, die später eine so furchtbare Rolle in Polen spielte, nur einmal
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vorgekommen, die Fremden kannten sogar ihre Bedeutung nicht. -
Das aufgeforderte Mitglied nahm unter der Estrade ein Bund feiner weißgeschälter Ruthen hervor und vertheilte sie schweigend und mit niedergeschlagenen Augen.
Wiederum erhob sich der Präsident und ein sichtlicher Ernst lag auf seinem markirten und verwitterten Gesicht.
»Brüder,« sagte er - »wir sind in der traurigen Lage, ein Gericht halten zu müssen. Es ist mir diesen Abend die Anklage gegen Einen unter uns auf den Mord eines unserer Brüder zugegangen, - Sie erinnern sich, daß im Februar einer unserer besten Patrioten, der Graf Hypolit Oginski, den wohl die Meisten von uns persönlich gekannt haben, in Warschau den Tod gefunden hat.«
»Der Graf fiel unter den russischen Kugeln,« sagte hastig der Student.
»Die Anklage lautet auf Mord durch eine Kugel - aus den Reihen des polnischen Volks!«
»So fiel er auf Befehl der Junta - weil sie, wie ich weiß, den Beweis erhielt, daß der Graf in geheimer Verbindung mit der russischen Polizei stand.«
»Ich erlaube mir kein Urtheil,« sagte ruhig der Präsident. »Ich mache den Bruder Prot Asnik nur darauf aufmerksam, daß er durch sein Gebahren sich selbst als Mitwisser dieses Geheimnisses verdächtigt hat.«
Die sonst große Frechheit zeugende Stirn des jungen Verschwörers hatte sich dunkler geröthet. »Ich protestire! Mein Patriotismus ist bekannt und erprobt. Wo sind
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meine Ankläger?« und seine etwas erschrockenen Augen sahen wild durch die Versammlung.
»Es ist nicht mehr als billig, sie Ihnen gegenüber zu stellen. Laßt die Schreiberin dieses Briefes eintreten.«
Der Präsident winkte. Das Mitglied des Comité's, das diese Function übernommen, öffnete die Thür: »Treten Sie ein, Madame!« Dann stellte er sich im Innern mit dem Rücken gegen die Thür und zog einen kurzen Revolver aus seiner Brusttasche. Zugleich auf den Wink des Präsidenten that ein anderes Mitglied das Gleiche an dem Ausgang der zweiten Langseite, der zu dem allgemeinen Versammlungslokal führte.
Die Eintretenden waren eine Frau in schwarzem Mantel und Schleier und ein Knabe.
»Sind Sie die Schreiberin dieses Briefes?«
»Ja, Pan. Ich habe von den Dienern dieses Palastes gehört, daß heute hier eine Versammlung der aus ihrem Vaterland Polen verbannten Patrioten stattfände und ich habe gewartet, bis man mir gestattet hat, einzutreten.«
»Wer sind Sie - wo kommen Sie her?«
»Ich komme von Warschau ... zugleich mit diesem Mann - mein Name ist:« - sie entfernte mit der rechten Hand ihren Schleier und kehrte dem ehemaligen Studenten ihr Antlitz zu.
»Wanda Morawska!« stieß dieser unwillkürlich heraus - »Sie hier?«
»Sie haben aus seinem Munde meinen Namen gehört,« sagte das Mädchen, »es kann also kein Zweifel über
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meine Person sein. Außerdem sehen Sie hier das nicht zu widerlegende Zeugniß!« und mit einer Bewegung voll Hoheit und Adel ließ die unglückliche Polin den Mantel fallen und zeigte der Versammlung den leeren Aermel ihres schwarzen Gewandes.
»Wir haben von Ihrem unglücklichen Schicksal vernommen, Fräulein von Morawska,« sagte der Präsident und fast Alle hatten sich erhoben und umdrängten sie. »Die Kasse des Central-Comité's hat die reiche Gabe erhalten, die Sie ihr durch Vermittelung eines Bankhauses in Posen haben zustellen lassen, und ich danke Ihnen dafür im Namen des Vaterlandes.«
»Um so mehr werden Sie Dem Gerechtigkeit widerfahren lassen, dessen Vermächtniß an mich und das Vaterland sie war, ehe er starb. Ich war die Verlobte des Grafen Hypolit von Oginski, trotz meiner Verstümmelung, und klage jenen Mann an, den tödtenden Schuß auf ihn abgefeuert zu haben.«
Ihre Hand wies auf den Studenten. Ein gewisser Abscheu zeigte sich auf den Gesichtern der Meisten, und die ihm nahe gestanden hatten, waren von ihm zurückgewichen.
»Ich begreife Ihren Schmerz, Fräulein v. Morawska,« sagte der Präsident theilnehmend, »und daß dieser sie bewogen, einen Mann solcher That anzuklagen, der sich sonst als guter Patriot bewiesen hat. Haben Sie Zeugen der Schuld?«
»Diesen Knaben hier, der es mit angesehen, wie er die tückische Kugel abschoß, die ein edles Leben zerstörte, das tausendfach mehr werth war, als das seine.«
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Der Angeklagte schien zu begreifen, daß nur die größte Kühnheit ihm übrig blieb.
»Die Pana Morawska spricht die Wahrheit,« sagte er kalt - »es ist richtig, ich schoß die Kugel auf einen Verräther ab, der mit den Feinden Polens in Verbindung stand. Möge sie es leugnen, daß der Graf sich durch den Schutz der russischen Polizei des Verraths dringend verdächtig gemacht hatte. Ich weiß, daß er denselben sogar für sie selbst in Anspruch genommen hat. Er fiel auf den Befehl einer Todesjunta der schwarzen Brüderschaft. Ich war nur der Arm, ihr Urtheil zu vollstrecken und kann dafür auch nur von ihr selbst in Warschau gerichtet werden.«
»Ich will dafür bürgen,« sagte der künftige Diktator der polnischen Revolution, »daß Graf Hypolit Oginski kein Verräther am Vaterlande war, sondern einer der besten Patrioten. Es befinden sich in diesem Augenblick genug Personen in Paris, die mein und dieser Dame Zeugniß bestätigen können.«
»Dank Ihnen, Kapitän Marian Langiewicz,« sagte die Verstümmelte, »und möge es Ihnen im Glück wie im Unglück nie an einem treuen Herzen fehlen.«
Er reichte ihr die Hand. »So war es in jedem Fall ein voreiliges und grausames Urtheil,« sagte der Präsident, »wenn wir auch annehmen müssen, daß dieser Mann hier nur seinen Obern zu gehorchen geglaubt hat, als er die schlimme That beging, für die wir ihn hier nicht verurtheilen können!«
Die Augen der Verstümmelten blitzten, der Knabe hatte sie am Kleide gezupft.
»Ruhig, Janko! Sie wollen also den Mord nicht bestrafen?«
Der Präsident hatte mit seinem Blick die Männer ringsum befragt.
»Wir haben kein Recht dazu!«
»Auch nicht dafür? - Knabe - zeige Deinen Fund!«
Der Bursche hatte eine kleine Brieftafel aus seiner Tasche gezogen und reichte sie ihr zu.
»Hier, Panna!«
Diesmal war es ein Wuthschrei, der den Lippen des Studenten entfuhr, der sich mit der Gier eines Wolfes auf den kleinen Ankläger stürzte und ihm die Brieftafel zu entreißen suchte. Aber das Mädchen hatte sich vor den Knaben geworfen und die Hand des Kapitains und Anderer rissen den Erbleichten zurück.
»Nehmen Sie selbst, Herr und prüfen Sie! Seit ich wußte, daß dieser Mann wieder aus der russischen Citadelle in Warschau entkommen, hegte ich Mißtrauen gegen ihn und jene bübische That heftete mich auf seine Fersen. Als der Knabe hier mir Nachricht gab, daß er sich zum Ueberbringer der Berichte des Revolutions-Comité's nach Paris hatte bestimmen lassen, angeblich um sich den Nachforschungen der warschauer Polizei für einige Zeit zu entziehen, stieg dieses Mißtrauen und ich beschloß, ihn im Geheimen zu begleiten und ihn nicht mehr aus den Augen zu lassen. So ist es geschehn, und ich und der Knabe Janko, den ich in Wahrheit aus jenem Grunde mit mir nahm, haben uns wie die Spürhunde an ihn gehängt. Fragen Sie ihn jetzt, weshalb er sich in Wien zwei Tage aufgehalten,
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was er im Hôtel der russischen Gesandtschaft zu thun gehabt hat? - Beim Verlassen desselben hat Janko dies Portefeuille aufgehoben, das im Besteigen des Fiacres aus seiner Tasche gefallen war. Er hat dem russischen Gesandten dort die Abschrift dieser Berichte verkauft, die er über Nacht in Wien copirte.«
»Falsch! Es ist Lüge, Verleumdung, der giftige Haß dieser Dirne, weil ich ihren Galan erschoß!«
Sie streckte die Hand wie zum Schwur empor, dann sagte sie kalt: »Lesen Sie - laut!«
»Es ist eine zufällige Geschäftskarte - ohne Bedeutung!« schrie der Angeklagte.
Der Präsident hatte das kleine Portefeuille geöffnet - es enthielt nur eine Visiten-Karte:
Victor von Balabine,
Wirklicher Staatsrath.
»Es ist der Namen des russischen Gesandten. Darunter steht: Vorzeiger ist zuverlässig und hat wichtige Dienste geleistet.«
»Und hier in dem Zimmer des Wiener Hôtels, in dem ich mit Jenem logirte, ohne daß er eine Ahnung davon hatte, fand ich am Tage der Abreise dies Papier, einen Theil jener Copie, die er über Nacht genommen hatte. Prüfen Sie es mit dem Original, das er Ihnen brachte.«
Der Ertappte stand bleich und zähneknirschend. »Die Brüder werden nicht aus bloßen Zufälligkeiten und nach dem Schein urtheilen! Ich bin mir keiner Schuld bewußt - mein Eifer für die Sache der Nation ist bekannt!«
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Der Präsident Wroblewski wandte ihm den Rücken. »Die schwarze Jungfrau von Czenstochau hält ihre Hand über Polen. Brüder - dieses zerrissene Blatt stimmt allerdings mit dem Original. Unsere heilige Sache ist also einer großen Gefahr entgangen. Die Sitzung ist geschlossen - geben Sie die Weiden ab und nehme Einer diese Dame mit sich, bis sie ein Unterkommen gefunden hat.«
Die Mitglieder des Central-Comité's entfernten sich schweigend, nachdem jedes die ihm überreichte Weidenruthe an der Thür zurückgegeben hatte.
Sie waren alle bis auf zwei in der Mitte geknickt.
An der Thür trafen der Kapitain Langiewicz, welcher der Morawska den Arm gereicht hatte, und der Insurgentengeneral Mieroslawski zusammen.
Der Letztere sah hochmüthig zurück. »Noch Herr Kapitain sind Sie nicht am Ziel! - Wir werden uns in Cuneo wiederfinden, wenn ich aus Frankfurt a. M. zurückkehre.«
»Ich werde die Ehre haben, Sie zu erwarten.«
Als der Abbate das Gemach verlassen wollte, faßte eine Hand seinen Arm. Es war der Präsident der Versammlung, der sich zu seinem Ohr beugte.
»Wünschen Euer Hochwürden ihn Beichte zu hören?«
Der Abbate zuckte die Achseln. »Ich hoffe, es wird nicht nöthig sein. Ich kann Sie nur erinnern, daß Sie sich im Bereich der französischen Gesetze befinden.«
»Eben deshalb! - er wird ungefährdet das Palais verlassen, - durch den Ausgang am Fluß!«
Der entlarvte Verräther wollte noch einige Worte zu seiner Vertheidigung sagen, - aber der Präsident wies
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kurz nach dem Ausgang. »Gehen Sie, Herr - die Brüder, die Sie geleiten werden, erwarten Sie!«
Der Student Prot Asnik zog einen Revolver aus der Tasche, gleich als wolle er andeuten, daß er etwaiger Gefahr Trotz biete. Dann schritt er mit entschlossenem Wesen den Andern nach.


»... Schade, - es war ein hübscher noch junger Mann mit schwarzen Locken« ... hatte die pariser Dame gesagt,2 als die Equipage des dänischen Gesandten rückkehrend aus der Soirée der Kaiserin am Pont de la Constantine einige Augenblicke von einer Ansammlung Neugieriger aufgehalten worden war.

Der Alte vom Berge.

(Fortsetzung.)

Der Leser wolle sich erinnern, daß wir Lord Walpole mit seinen Begleitern auf dem abenteuerlichen Zuge durch die nubische Wüste nach den Ufern des Nil verlassen haben, der ihn der Verfolgung durch die Reiter des Negus entziehen sollte, ohne daß dieser Zweck erreicht worden war,3 und daß sie sich auf dem Wege zu der geheimnißvollen Veste des gefürchteten Oberhauptes der Assassinen, Gengarab, befanden, als sie auf den Ruf des Dais Hassan die Schleier von ihren Gesichtern entfernen durften.
Das Bild, das sich ihnen von der Höhe des Plateau's aus bot, war in der That ein überraschendes.
Das Plateau lag in einer gewaltigen Höhe und die Felsenwand, die es trug, fiel senkrecht zu einer schwindelnden Tiefe, so daß die Vordersten der Gesellschaft, und zu diesen gehörte die schöne Fürstin, unwillkürlich zwei Schritte von dem gefährlichen Abstieg zurücktraten. Den Grund
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dieser Tiefe bildete ein weites Thal, oder vielmehr eine fast ebene Fläche, die sich auf Meilen weit hin erstreckte, überall eine üppige Vegetation zeigte und einen sorgfältigen Anbau, wie er in Aegypten nur in den nächsten Umgebungen des befruchtenden Nil oder im altberühmten Lande Gosen gefunden wird. Hügel mit mächtigen Palmgruppen oder Tamarindenbüschen, Dattelbäumen und Pisangs ließen sich auf weite Ferne zwischen wohlbestellten und bewässerten Feldern von Mais und Waizen erkennen, reiche Baumwollen- und Kaffeeplantagen oder Aecker mit Reis und Zuckerrohr-Pflanzungen wechselten mit anderen nutzbringenden Anlagen, dazwischen sah man arabische Dörfer mit ihren einfachen Lehmhütten, die alle jedoch sorgfältiger gebaut waren, als die gewöhnlichen Wohnungen der Fellah's; Moscheen hoben ihre schlanken Minarets, und von vielen Stellen sah man die weißen Steingeländer der Vornehmeren und Reichen aus dem Grün der Gärten und Wäldchen leuchten. Kanäle durchzogen die Gegend und selbst eine Art Straßen- oder Wegnetz schien zum besseren Verkehr über die Gegend gebreitet. Wie hoch auch der Standpunkt der Schauenden war, konnte man doch deutlich erkennen, daß diese Gegend wohl belebt war; Züge von beladenen Dromedaren und Eseln bewegten sich auf den Straßen, Heerden weideten auf dem lichten Grün der Triften, und der Landmann zog mit seinem Gespann den Pflug von fast primitivster Form durch den Boden seiner Aecker.
Diese wohl angebaute Gegend war auf allen Seiten von Bergwänden umkränzt, die im Norden und Süden
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fast so rauh und mächtig schienen, wie das Berggelände, das die Gesellschaft eben passirt war und auf dessen östlichem Abhang sie sich befand, während in der Ferne nach Osten zu das Gesamtgebirge sich zu einem bloßen Felsenwall abplattete, der das angebaute Thal von der Küste zu trennen und vor den Seewinden zu schützen schien; denn über die seltsam zerrissenen und zerklüfteten Kämme hinweg konnten die Reisenden bei ihrem hohen Standpunkt deutlich die im Sonnenschein spiegelnde Fläche des Meeres sehen, dessen Küste in grader Linie von ihnen höchstens zwölf bis fünfzehn englische Meilen entfernt sein mochte.
Die größte Eigenthümlichkeit der Gegend aber befand sich in ihrer unmittelbaren Nähe.
Es war dies ein gewaltiger Steinkoloß, ein Berg oder vielmehr Felsen, der fast senkrecht aus dem Grunde des Thals vor ihnen emporstieg, und dessen Gipfel fast mit dem Plateau, auf welchem die Reisenden sich befanden und diesen Anblick genossen, ziemlich in derselben Höhe stand. Soweit es sich erkennen ließ, mußte die Kuppe oder der flache Gipfel dieses Felsens eine Ausdehnung von mehreren Morgen haben und diente jener verrufenen Burg, dem Felsenschloß des Assassinenfürsten, zur Grundfläche.
Wälle, Mauern, Kuppeln und Thürme erhoben sich dort in einem Complex, der weit mehr das Aussehen einer gewaltigen Ritterburg des europäischen Mittelalters bot, als das von orientalischen Gebäuden, und die Kronen mächtiger Palmen und Pinien, die über die Mauern ragten, bewiesen, daß es auch an Gärten und freien Räumen innerhalb der Umwallung nicht fehlte. An anderen Stellen
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überragten Kiosks und Pavillons von phantastischer Form die Mauern oder sprangen gleich Altanen hinaus, eine weite Umsicht auf das Thal bietend, und auf mehreren Punkten der zum Theil crenelirten Mauern erkannte das Auge des Lords die Gestalten von Schildwachen in weißen und grünen Gewändern, gleich denen, welche die Krieger getragen, die Jesus begleitet hatten und zu so rechter Zeit gekommen waren, um die Reisenden gegen den Angriff der Reiter des Negus zu schützen.
Auf der Seite der Kuppe, welche sich gegen das Plateau richtete, auf welchem die Reisenden sich befanden, bildete der Fels einen vorspringenden Grat oder Ausläufer, der eben so jäh zur Tiefe fiel, wie die gegenüberliegende Wand, so daß zwischen Beiden nur ein Abgrund von etwa zehn Schritt Breite sich öffnete und es selbst für den der Geologie weniger Kundigen deutlich wurde, daß beide Felsenmassen in einer Urzeit, vielleicht vor Jahrtausenden verbunden gewesen sein mußten, und der jetzt isolirte Felskegel, auf welchem die geheimnißvolle Burg stand, eigentlich nur ein Ausläufer oder Vorsprung der Gebirgswand war, der durch irgend ein gewaltiges Naturereigniß von dieser abgetrennt worden. Auf der äußersten Spitze dieses Felsengrats oder Vorsprungs erhob sich ein Bauwerk, das dem Brückenkopf der modernen Befestigungen oder einem Thurmthor glich und dessen Zweck den Reisenden gleich klar wurde; denn auf ein Signal, das der Dais Hassan mit einem dreimaligen Stoß ins Horn gab, das an seiner Seite hing, löste sich von diesem Gemäuer eine mächtige Zugbrücke in schweren Ketten und senkte sich über den
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trennenden Abgrund bis hinüber auf das Plateau, so einen Zugang zu dem Gipfel des Felsens und der Burg bildend.
Jetzt erst bemerkten die Reisenden, daß weite, in die Felsenwand eingelassene Ringe zur Aufnahme und Sicherung der großen kupfernen Haken der Zugbrücke vorhanden waren, die dadurch einen festen und ganz gefahrlosen Uebergang bildete.
Auf die Einladung ihres bisherigen Führers waren alle Reiter von ihren Thieren gestiegen und ehe sie sich um diese weiter bekümmern konnten, waren sie von den Begleitern des Dais zurückgeführt, ohne daß sie inne werden konnten, wohin man sie gebracht hatte.
»Ist es der schönen Königin der Brustlosen und ihren Begleitern gefällig,« sagte höflich der Dais, - »die Burg des Fürsten Johannes zu betreten, - die Wächter werden ihm von ihrer Ankunft bereits Kunde gebracht haben, und der Knabe Jesus wird sie zu ihm geleiten, während ich hier die Ankunft der Reiter abwarte, die noch zurück sind. Der Beisädih möge mich für kurze Zeit entschuldigen.«
Der Lord warf einen etwas besorgten Blick um sich - er fühlte, daß mit dem Betreten der seltsamen Burg die Gesellschaft ganz in die Macht des übelberüchtigten Volkes gegeben war, aber schon hatte der junge Assassine bescheiden die Hand der Fürstin ergriffen und sie auf die Brücke geführt. »Es ist zu spät, um Besorgniß zu zeigen, Mylord,« flüsterte Doktor Walding dem Viscount zu. »Das Einzige, was Sie noch thun können, ist, daß Sie unter keinen Umständen den Sicherheitsbrief aus den
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Händen geben. Im Uebrigen müssen wir auf gutes Glück vertrauen und die Augen offen halten. Wenn ich mich erst von dem Zustand des Kranken überzeugt, werden wir unsere Aussichten besser beurtheilen können.«
»Aber unsere Feinde, die uns folgen?«
»Erinnern Sie sich, Mylord, daß der Arzt stets großen Einfluß auf den Kranken hat. Wenn es mir gelingt, den gefürchteten Häuptling vor unseren Feinden zu sehen, fürchte ich Nichts.«
Einen ähnlichen Gedanken schien auch ihr junger Begleiter zu hegen, denn er wandte sich zu dem Arzt und suchte ihn zu bedeuten, daß er sich bereit halten möge, sogleich zu dem Kranken geführt zu werden.
Unter den wenigen gewechselten Worten hatten sie die Brücke überschritten und traten unter das Gewölbe des thurmartigen Baues, welcher die Zugbrücke trug.
»In der That, Doktor,« sagte der Lord, »sähe ich nicht an diesen Wachen, daß wir uns im Orient befinden, könnte ich glauben, im Thor einer englischen Burg aus der Zeit der Plantagenets zu stehen. Sehen Sie hier, über unseren Köpfen fehlt selbst das Fallgatter nicht!«
Es war in der That so - ein mächtiges Gitter schwebte über ihnen, wie es vor Jahrhunderten in den Feudalburgen als Vertheidigungsmittel des Zugangs üblich war. Der Arzt hatte jedoch weniger auf diese Einrichtung acht, als auf die Wächter des Thurms, zwei riesige Nubier von tiefem Dunkelbraun, die zu beiden Seiten des Ausgangs standen und ihre Waffen kreuzten. Es waren das zwei lange grade Schwerter von der Art jener
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Zweihänder, wie sie zur Zeit der Kreuzzüge von den christlichen Rittern geführt und über die linke Schulter hinweg aus der auf dem Rücken getragenen Scheide gezogen wurden.
Die beiden orientalischen Krieger standen in ihren grünen kaftanartigen Gewändern gleich Bildsäulen, selbst ihre Augen schienen in den dunklen Gesichtern unbeweglich, bis ein Wort des jungen Assassinen sie aus ihrer Stellung zurücktreten und die mächtigen Schwerter zu Boden senken machte. Dann erst erhoben sie ihre Blicke und richteten sie auf die Fremdlinge.
Der Jüngling wandte sich, ehe er die Gränze der gesenkten Waffen überschritt, an den Arzt. »Der weise Hakim der Abendländer,« sagte er in arabischer Sprache »wird die Worte seines Dieners verstehen und sie nicht mißdeuten. Es ist uns das Glück geworden, die Schönheit der Königin des Ostens unverhüllt bewundern zu dürfen und es ist den Frauen unseres Volkes nicht verboten, unverschleiert zu gehen, - aber die Schönheit der weißen Rose des Nordens ist so wunderbar, daß sie die Augen meiner Brüder der Fedais blenden würde! Es dürfte gut sein, sie den Blicken der Neugierigen zu entziehen, bis sie vor dem mächtigen Scheikh-al-Dschebal gestanden hat.«
Doktor Walding hatte neben der Amhara-Sprache während seines Aufenthaltes in Indien und Abessynien genug Arabisch gelernt, um die Worte des Jünglings zu verstehen und sie der Fürstin übersetzen zu können, die sofort den kurzen blauen Schleier von dem Hut über ihr Gesicht fallen ließ. Dann erst traten sie aus dem Thurm
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in den hofartigen Raum, der diesen von den Hauptgebäuden schied.
Wir haben bereits wiederholt den seltsamen Charakter dieser Gebäude erwähnt, die Mischung des mittelalterlichen europäischen Baustyls mit den leichteren orientalischen Formen und Linien; das Gebäude vor ihnen zeigte mehr den ersteren Charakter, während zur rechten Seite des Hofes eine große Mauer, gleich denen, welche die orientalischen Gebäude, namentlich die Zenanah, die Frauengemächer gegen die Straßen absperren, sich von vergitterten Fenstern unterbrochen erhob. In ihrer Mitte öffnete sich eine Pforte mit orientalischem Rundbogen, durch welche man das Innere eines Gartens sah, der auf drei Seiten einen von Pfeilern getragenen Kiosk umgab. Hohe palmenartige Bäume breiteten ihre Wipfel über sein Dach und selbst der größte orientalische Luxus, ein Springbrunnen, rundete sich in einem Becken von rothem Porphyr und ergoß in dieses aus kupfernen Röhren, wenn auch in geringer Höhe, seinen dünnen Strahl. Um den Rand dieses Beckens lagen Kissen gebreitet und neben jedem stand ein Knabe zur Bedienung der Gäste, während junge Sklavinnen nur halb verhüllt, die Arme über die Brust gekreuzt, ein Spalier von dem Springbrunnen bis zum Eingang des Gartens bildeten. Innerhalb dieses Eingangs aber stand eine Frau, in faltige blaue Gewänder gehüllt zum Empfange der Gäste bereit, Jesus führte die Fürstin zu ihr, während die Männer vorerst zurückblieben, eine andere Scene fesselte ihre Aufmerksamkeit.
Es war dies die Mauer, welche die andere Seite des
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Hofes, den burgartigen Theil der Gebäude abschloß. Auch in ihrer Mitte war eine Thür weit geöffnet, doch zeigte dieselbe einen anderen Baustyl. Hier standen zwei Reihen von Männern und Jünglingen, die ersteren in grünen und schwarzen Gewändern gleich den Kriegern des Dais, welche so zu rechter Zeit an den Zufluchtsort der Gesellschaft in dem Felsenkessel des Gebirges eingetroffen waren, die anderen in gleiche weiße Gewänder gehüllt, wie der Jüngling Jesus sie trug, - durch den geöffneten Raum aber eilte eine befreundete Erscheinung, der berliner Professor den Ankommenden entgegen, zunächst seinem Zögling und seinem Mündel die Hände mit unverkennbarer Freude entgegenstreckend.
»Gott sei Dank, Mylord, daß Sie da sind und Sie meine theure Mündel und Verlobte. Ich brachte die letzten Stunden in wahrer Höllenangst zu; denn obschon dieser Ort einen wahren Berg Sesam bildet, nicht von Schätzen an Gold und Silber oder edlem Gestein, obschon es auch an solchen, so viel ich gesehen, nicht zu fehlen scheint, sondern an Schätzen der Wissenschaft, deren Besitz oder Studium nicht allein die berühmte Sammlung orientalischer und altägyptischer Handschriften, wie sie die berliner Bibliothek enthält, zur ersten der Welt erheben, sondern die Gelehrten aller andern Universitäten vor Neid blau und gelb machen könnte. Selbst die Sammlung im Vatican kommt nicht dagegen auf und was ich hier entdeckt, ist offenbar ein glücklich geretteter Ueberrest der Ptolemaër-Bibliothek. Gott was könnte dieser alte Heide oder Assassine für Schätze erwerben, wenn er den fünften Theil all dieser Pergamente
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und Rollen bei uns wohlgeordnet in Katalogen zum Verkauf stellen wollte. Aber er ist nicht dazu zu bewegen, obschon er im Grunde kein ungefälliger Bursche ist und mir bereits Einiges geschenkt hat, das meinen Ruf an allen gelehrten Akademien befestigen muß. Aber dennoch, liebe Freunde gestehe ich aufrichtig meine Freude, mich wieder unter christlichen Gesichtern und in Ihrer Mitte zu sehen. Denn obschon es seit unserer Trennung mir weder an leiblicher noch körperlicher Nahrung gefehlt hat, herrscht hier doch ein so unheimliches und bedrohliches Wesen, daß ich mein unbedeutendes Leben selbst in jenem Zelt des gefürchteten Negus Theodor für sicherer gehalten habe, als in diesem Schloß. Sie werden einen finstern und wortkargen Kauz an diesem alten Assassinenfürsten finden, lieber Doktor, und wenn mich der wackre Knabe Jesus nicht so hoch und theuer versichert hätte, daß ich unbesorgt zurückbleiben könne, würde selbst der Gedanke an den schaudervollen Weg, den er mich hierher führte, mich nicht gehindert haben, ihn wieder zurück zu schreiten! Nun Mylord, lassen Sie mich Sie in jene Halle führen, die der alte Räuber als seine Bibliothek anzusehen scheint, obschon eine Unordnung darin herrscht, die nicht zu beschreiben ist - aber, wo führt der junge Assassine unser schönes Mündel hin und auch mein lieber Schüler Doktor Walding ist nicht mehr hier ...«
In der That hatte auf einen Wink der Frau am Eingang des Gartens der Knabe Jesus die Fürstin und den Arzt zu ihr begleitet. Lord Walpole war ihnen gefolgt, und der kleine Professor sah daher das Auditorium
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für seine gelehrten Entdeckungen auf den Trapper beschränkt, von dem er aus Erfahrung wußte, daß er kein dankbarer Zuhörer für seine Gelehrsamkeit war.
»Es ist Mariam, die Pflegemutter des Knaben Jesus,« sagte dieser, »und die weise Frau der Hosseini, sie versteht die Sprache der Franken und auf ihren Rath geschah es, daß der Fürst den ersten und den jüngsten seiner Diener in die Wüste sandte bis zur Straße der Karawane zum Nil, um einen arabischen Einsiedler zu suchen, der in dem Rufe steht, alle Krankheiten heilen zu können gleich den Hakims der Franken. Aber die Hütte des Hadschi stand leer, und wir mußten unverrichteter Sache heimkehren, als Allah uns den Hakim finden ließ.«
Doktor Walding wußte sehr wohl, daß unter den ruchlosesten Freigeistern der mohamedanischen Sekten die Verehrung der sogenannten weisen Frauen eine große Rolle spielt, und der Aberglaube ihnen allerlei Zauberkräfte, namentlich das zweite Gesicht oder die Gabe der Weissagung zuschreibt. Aber die Frau, die vor ihnen stand, machte doch einen ganz besonderen Eindruck auf ihn.
Sie war alt, ihr Antlitz verwittert und faltig, aber es zeigte jenen Schnitt, der es unzweifelhaft machte, daß sie nicht von den Urbewohnern des Landes abstammte, wie deren Physiognomieen sich noch in den Hieroglyphen zu Theben, Memphis und in anderen berühmten Ruinenstädten finden. Trotz ihrer, vor Alter und Leiden gebeugten kleinen Gestalt lag doch in ihrer Haltung etwas Edles, und ihre Stimme war sanft, als sie in einer hauptsächlich mit französischen Worten gemischten Lingua-franca zu der
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Fürstin sprach: »Sei gegrüßt, Kind einer anderen Zone. Mariam sehnte sich, ehe sie den großen Scheich des Gebirges auf seiner letzten Reise begleitet, eine Tochter der Völker zu sehen, die an das Kreuz glauben, und deren Söhne mit ihr sprachen, als sie jung war.«
»Du redest von den Franzosen,« entgegnete die Fürstin, »deren Krieger vor langen Jahren Unteregypten eroberten. Sprichst Du noch von der Zeit des großen Napoleon?«
»Ich rede von der Zeit der großen Schlacht an den Pyramiden. Meine Augen haben Viel gesehen, aber seit mehr als fünfzig Jahren sind sie nicht über Glengarab hinausgedrungen.«
»Vielleicht eine Jugendliebe mit einem der französischen Soldaten des Consuls,« bemerkte die Fürstin auf Englisch zu dem Lord. »So etwas vergißt sich nicht. Du trägst einen christlichen Namen, Frau?« fuhr sie fort. »Nannte dieser Jüngling Dich nicht Maria oder Mariam, und sicher gabst Du ihm den seinen.«
»Es war der Name meiner Mutter, die eine Christin war, ehe sie zum Koran schwor. Der Scheich Johannes, der mit der Schärfe des Schwertes mich raubte und zu seiner Kadun machte, hat den Knaben gleich Moses an dem Ufer des rothen Meeres gefunden und ihn mir gegeben, deren Schoos unfruchtbar bleiben mußte. Der Scheich Johannes hat alte Schriften, die von den Lehren des Kreuzes erzählen, und hat den Knaben selbst sie lesen gelehrt. Aber ist dies der fränkische Hakim, schöne Jungfrau?«
»Ich bin ein fränkischer Arzt.«
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»Dann mögest Du eilig eintreten zu dem Fürsten, denn es wird gut sein, daß Du mit ihm gesprochen und seine Schmerzen gelindert hast, ehe Eure Feinde die Burg betreten haben, wie mir Jesus berichtet. Er wird Dich zu ihm führen, während die Franken-Jungfrau und ihr Verlobter bei Mariam bleiben und die Erfrischungen annehmen, die sie ihnen zu bieten hat.«
Die Fürstin erröthete, als die Khanum sie als die Verlobte des Lords bezeichnete und ein seltsamer Blick streifte den Briten, doch sie hielt es nicht der Mühe werth, die fremde Frau erst über ihr Verhältniß näher aufzuklären, und folgte ihr zu dem Springbrunnen, während der Jüngling den Arzt zu einem anderen Theil des Gebäudes, der gleichfalls an den Garten stieß, geleitete.
»Halten Sie Ihren Freund Hassan einige Minuten auf, bis ich mich von dem Zustande des Kranken überzeugt habe,« sagte Walding im Vorübergehen zu der Fürstin. »Und Ihnen, Mylord, wiederhole ich die Bitte, in keinem Fall den Schutzbrief aus den Händen zu geben. Der Mann hatte Recht, als er uns sagte, wir befänden uns hier im Rachen des Löwen und ich will mich erst überzeugen, ob und was wir zu fürchten haben.«
Es waren in der That ernste Sorgen, welche die Gedanken des jungen Engländers erfüllten, und doch nahmen sie dieselben nicht gänzlich in Anspruch, vielmehr mußte er immer wieder an das Erröthen der Sibirianka und den eigenthümlichen Ausdruck ihres Blicks denken, als dieser ihn traf. Doch fühlte er die Nothwendigkeit, auf die Lage, in welcher sie sich befanden, alle Geisteskraft zu concentriren,
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und von der alten Khanum so viel als möglich über den Charakter des Mannes zu erforschen, von dem ihre Sicherheit abhing.
Auf einen Wink der Frau brachten die Sklavinnen, die sie empfingen, Scherbeth, Kaffee und Backwaaren nebst Nargilehs, deren durch parfümixte Wasser gezogene Schläuche mit den angerauchten Bernsteinspitzen sie sowohl dem Viscount, wie auch der jungen Sibirianka und der Khanum knieend überreichten. Die Letztere schien voll Kummer über den Zustand ihres kranken Gatten. Mit der Erkundigung nach diesem eröffnete der Lord das Gespräch in französischer Sprache, welche sie aus den Tagen ihrer Jugend wenigstens zu verstehen schien.
»Ist der Scheikh al Dschebal, den man den Herrn des Gebirges nennt, reich an Jahren wie unsere Freundin Mariam?«
»Zehn Ueberschwemmungen des Nils mehr haben sein Haupt gebleicht, doch die Männer dieses Landes werden alt, wie ich in den Ueberlieferungen der Christen gelesen habe, während die Frauen die Jahre und die Leiden niederbeugen. Die Männer von hundert Jahren sind nicht selten in diesem Thale, wenn das Schwert nicht ihr Leben verkürzt. Der Scheich Johannes schwang noch vor einem Monat die Streitaxt gegen die Ungehorsamen, aber Krankheit hat seine Kraft gelähmt und seine Tage gezählt. Die Hosseini scheuen den Tod nicht, dem alles Erschaffene unterliegt. Aber sie fürchten das Krankenlager, das ihre Kraft lähmt.«
»Der Hakim, den Dein Pflegesohn hierher geführt
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hat, ist ein kluger Mann; wenn Allah es gestattet, wird er sicher den Scheich heilen. Ich sah ein Beispiel seiner Kunst an Einem aus Deinem Stamm in Massauah. Er stellte den Knaben in den Stunden einer Nacht von gefährlicher Krankheit her.«
»Allah gestatte es. Warum nennst Du den Geheilten als Einen aus meinem Stamm?«
»Er ist ein Beduine der Wüste aus dem Geschlecht der Meliden, wie ich zufällig hörte, der unter dem Stamm der Djebel-Abu-Bianah lebt. Ich habe seinen Oheim, den Scheich Abdul-Beckr gedungen, unsere Reisegesellschaft durch die Wüste bis zum Nil zuführen; er verblieb wegen der Schwäche des Knaben noch zwei Tage in Arkiko und wir wollten ihn an dem Felsen treffen, den man die Nadel der Wüste nennt, wenn uns nicht die Verfolgung einer feindlichen Schaar von unserem Wege abgedrängt hätte.«
Die Erzählung des jungen Engländers war wie zufällig, aber ihre Wirkung um so überraschender.
Die alte Khanum hatte ihr Nargileh den welken Lippen entfallen lassen und sich mit der Elasticität eines jungen Mädchens von ihrem Kissen erhoben. »Fremdling, Christ,« sagte sie, »Du hast den Stamm Abu-Bianah genannt - sprachst Du die Wahrheit, sind Kinder desselben in der Nähe dieses Thales?«
»Ich hoffe sie in der Wüste zu treffen. Ein Mann des Stammes ist sicher bei meinen Begleitern an der Stelle, an welcher uns der Knabe Jesus getroffen hat. Doch kann Dir der Hakim, der zu Deinem Gatten gerufen
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ist, Näheres darüber sagen. Von ihm hörte ich die Namen unserer Führer.«
»Allah segne Dich, Fremdling,« sagte die Alte, - »Du hast dem Herzen einer alten Frau noch vor den Pforten des Grabes eine Freude bereitet, indem Du ihr von ihrem Geschlecht erzähltest; denn wisse, Du hast es errathen, die Khanum Mariam ist eine Tochter des Stammes der Bianah, und der Name Abdul-Beckr ist erblich in meiner Familie, die das Haupt ist des Stammes. Es soll Dir nicht unvergolten bleiben und Mariam wird Sorge tragen für die Sicherheit jedes Haares auf Eurem Haupt. Du hast das Teskareh mit dem Siegel der grünen Schlange?«
»Ich habe den Geleitschein des Scheikh-al-Dschebal. Sollte uns Gefahr drohen!«
»Das Wort eines Assassinenfürsten ist heilig - aber sorge dafür, daß wenn Du vor ihm erscheinst, er das Siegel des Ringes, den er an dem Zeigefinger seiner linken Hand trägt auf das Pergament drücke - dann hast Du Nichts zu fürchten und wenn Du seinen Sohn erschlagen hättest. Ich werde die alten Augen offen halten über Dir und dieser Christenjungfrau, Deiner Verlobten.«
Unwillkürlich ruhte wiederum das Auge des Engländers spähend auf den Zügen des jungen Mädchens, aber dieses schien diesmal selbst das verrätherische Wallen des Bluts in ihrer Gewalt zu haben und kein Zeichen verrieth ihr Verstehen. Zugleich hörte man das Blasen des Hornes, auf welches sich die Zugbrücke senken sollte und von der Seite der Gebäude her sah man eilig Jesus zurückkommen.
»Das ist der Dailkebir Hassan,« sagte hastig die
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Khanum und fügte halblaut hinzu: »Hütet Euch vor ihm, denn sein Herz ist härter wie die Steine dieses Felsens und sein Ehrgeiz unermeßlich. Der Knabe hat mir gesagt, daß die Hand dieser Jungfrau sein Leben gerettet und er ist nicht gewohnt, eine Niederlage zu vergeben. Ich wünsche, daß Ihr fern von hier sein mögt, ehe der Ring, der die Macht über Leben und Tod giebt, in seine Hand übergeht. Sprich Jesus, ist der Hakim noch bei dem Fürsten?«
»Der Herr und Gebieter verlangt die Fremden von jenseits der Meere mit eigenen Augen zu sehen. Der weise Hakim hat ihm einen wunderbaren Trank bereitet, der Brust und Herz ihm frei macht. Die Khanum soll die Fremden begleiten.«
»Wohlan denn,« sagte diese, »so laßt uns nicht zögern. Der Herr des Gebirges ist gewöhnt, seine Worte zur Stelle erfüllt zu sehen. Eilen wir, ehe der Dailkebir Eure Feinde zur Stelle bringt. Jesus möge Euren Begleiter rufen.«
Auf diese Mahnung zögerten auch der Lord und seine schöne Gefährtin nicht und folgten ihrer Führerin in das Innere der Burg, wo ein schmaler Gang sie zu einem mit großen Quadern gepflasterten Hofraum führte, um dessen Seiten eine offene von Bogen getragene Halle lief, deren Pfeiler und Wände mit einer großen Zahl von theils sehr alten und eigenthümlich geformten Waffen und den Köpfen und Fellen wilder Thiere geschmückt waren. Der breite Kopf des Elephanten mit den riesigen Stoßzähnen wechselte hier mit dem plumpen Schädel des Rhinoceros und dem breiten Gebiß des Nilpferdes oder den
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langen Kiemen des Krokodils, während die gewundenen Hörner der Antilopen die Zwischenräume füllten. Zwei grimmige menschenähnliche Geschöpfe rasselten an den Ringen einer kupfernen Kette, deren Metall die tiefen Spuren der Kraft ihrer Gebisse trug, während ihre Hände mit langen adlerartigen Krallen versehen, sich drohend gegen sie ausstreckten und ein heiseres Bellen sich dem ungestalten Munde entwand. Es bedurfte in der That eines zweiten Blickes des Lords, der wie zum Schutz vor die Fürstin trat, um ihn zu überzeugen, daß diese seltsamen Wächter des kranken Assassinenfürsten zwei große Affen waren, deren mächtige Gebisse sie Menschen wie Thieren zu gefährlichen Gegnern machen. Der Lord erinnerte sich, daß sein gelehrter Freund bereits auf ihrem Zuge durch das Gebirge von dem Vorkommen dieser Geschöpfe, der Hamadryaden oder Mantelpaviane, gerade in diesem Gebirge erzählt hatte, obgleich sie ihnen noch nicht zu Gesichte gekommen waren. Der Wink ihres Reisegefährten des Arztes, der auf einer Matte neben einem Greise saß, entfernte jedoch jede Besorgniß und rief sie näher herbei, nachdem Jesus mit einer bloßen Bewegung der Hand die grimmigen Wächter zurückgescheucht hatte, daß sie sich hinter den Säulen verbargen, an die sie mit ihren Ketten befestigt waren.
Weder die Fürstin noch der Lord erinnerten sich, jemals ein so ehrwürdiges und friedliches Greisenantlitz geschaut zu haben, als sie hier vor sich sahen, und konnten unmöglich glauben, daß dies der gefürchtete, durch hundert blutige
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Thaten berüchtigte Fürst der schlimmsten Räuber der Wüste, der Scheikh al Dschebal sein sollte.
Der auf einem Lager von Matten ruhende oder vielmehr sitzende Greis mochte wohl achtzig Jahre zählen, und sein ruhiges ernstes Gesicht war von einem langen weißen Bart umrahmt, dessen Locken bis auf seinen Gürtel herabfielen. Seine Gestalt war hager und klein, die auf der Decke ruhenden Hände lang, schmal und wohlgeformt. An dem Zeigefinger der Linken bemerkte der Lord, der alsbald darauf achtete, einen Siegelring mit einem grünem Stein, wie er sich durch Zufall erinnerte, an der Hand des französischen Kaufmanns Labrousse einen ähnlichen gesehen zu haben an dem Tage, als der Abgesandte des Negus an den Bord des Veloce in der Bai von Arkiko kam und er das Schiff verließ. Dies veranlaßte ihn noch mehr, die Warnung der Khanum zu beachten und die erste Gelegenheit hierzu zu benutzen.
Das Gesicht des Greises zeigte einen ruhigen Ausdruck, der jedoch von Zeit zu Zeit durch ein Zucken des Schmerzes oder einer gewissen Beängstigung unterbrochen wurde, das um seinen Mund flog und eine Röthe über seine sonst blasse Stirn stiegen machte. Es trug sonst den Charakter der Milde und einer gewissen Güte und ein solcher sprach auch in dem ernsten und wohlwollenden Blick des dunklen klugen Auges.
Die Khanum war alsbald nach dem Eintritt mit ruhigen, leisen Schritten zu ihrem Gatten getreten und an seiner anderen Seite niedergekauert, mit aufmerksamen, besorgten Augen ihn und die Miene des Arztes prüfend,
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dessen Finger an dem rechten Handgelenk des Kranken lagen und seinen Puls beobachteten, Jesus aber war bis zu dem Rande des Teppichs geschritten und hatte sich dort zu den Füßen des Greises, die Arme über die Brust kreuzend, in demüthiger Stellung auf die Knie niedergelassen.
»Möge der Schatten des großen Herrn des Gebirges noch lang sein! Hier sind der Beisädih und die weiße Königin, denen unser Gebieter seinen Schutz zugesagt hat.«
Der Blick des Assassinenfürsten wendete sich jetzt zum ersten Mal von dem Arzt und richtete sich auf die Fremden, deren Aeußeres seine Theilnahme zu erwecken schien. Er neigte das Haupt mit dem gewöhnlichen orientalischen Gruß: »Seid willkommen in der Burg des Priesters Johannes,« sagte er mit wohllautender, noch kräftiger Stimme. »Du bist ein Beisädih, ein Mann aus dem Lande des Melec Ric, der vor tausend Jahren ein Freund und Gefährte der Assassinen war.« Sein Auge schweifte dabei über den Lord hinweg nach dem Mann, der ihnen gefolgt war, Ralph dem Bärenjäger.
Doktor Walding lächelte. »Du irrst, mächtiger Fürst,« sagte er in demselben Idiom der lingua franca, dessen sich der Kranke bedient hatte. »Der Lord ist der jüngere Mann und dort der Riese zwar eigentlich auch ein geborner Engländer, wenigstens von demselben Blut, aber nur der Diener des englischen Herrn.«
»Mein Auge hat nicht mehr die Schärfe der Jugend. Ich glaubte nur, ein Ritter aus dem Blut des Königs Ric müßte einer der gewaltigen Kämpen sein, die Waffen
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zu schwingen vermögen, wie sie dort zur Erinnerung an unsere Väter und die seinen an der Mauer hängen, deshalb wünschte ich ihn zu sehen. Du hast den Teskareh des Fürstin der Gebirge erhalten, Franke, Dein Leben und Eigenthum sind sicher in dem Gebiet des Scheikh-al-Dschebal auf der Wanderung zum Nil. Du hast zwei weise Männer in Deiner Begleitung. Der eine kennt die Sprachen der Vorzeit, der andere ist ein großer Hakim und hat mir gesagt, daß meine Stunde gekommen ist, und der Ring an meiner Hand bald den Gebieter wechseln muß.«
Der Lord erschrak bei dieser Unvorsichtigkeit des Arztes, die er für ihre Lage unnütz gefährdend hielt. Aber der Fürst schien seine Besorgniß zu errathen und lächelte. »Glaubt der Inglese, daß der Herr der Hosseini selbst den Tod fürchtet, den sein Volk verachten gelernt hat? Noch ist der Augenblick nicht gekommen, wie mich Dein Freund, der Hakim, versichert hat und er verspricht bis dahin die Schmerzen von dem Lager eines Kriegers fern zu halten, die seinen Geist trüben. Sieh dieses Weib und diesen Knaben an, sie wissen, daß der Tod bosch, Nichts ist und würden jeden Augenblick ihn sich selbst geben, wenn ich es ihnen geböte.«
Der Lord sah mit einem gewissen Zweifel auf die alte Frau und den blühenden Jüngling.
»Du zweifelst, Inglese? Hat der große König Deines Volkes gezaudert, das Leben seiner Krieger zu opfern und das seine den Säbeln und Speeren der Sarazenen preis zu geben?«
»Ich habe genug von der Todesverachtung der Krieger
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Deines Stammes gehört,« sagte der Lord, »und weiß, daß auch den Männern und Soldaten meiner eigenen Nation weibische Furcht für das Leben fremd ist. Aber großer Fürst, es ist doch ein Anderes, im Kampf für Ruhm, Ehre und Pflicht das Leben zu opfern, als zwecklos und ohne Ehre.«
Es zuckte wie ein Blitz aus dem bisher so milden und ruhigen Auge des Kranken. »Warum zwecklos? ist der Beweis des Gehorsams keine Pflicht? - Sieh auf jene Zinne! - Der Sohn der Hozeini, der dort oben Wache hält, hat ein Leben wie Du, und seine Jahre sind wenige mehr, als dieser Knabe sie zählt; Du sollst den Gehorsam eines Hozeini kennen lernen.«
Ehe der Lord oder der Arzt ein Wort zur Beruhigung des Kranken sprechen konnten, hatte dieser ein silbernes Pfeifchen, das neben ihm auf der Platte eines niederen Tisches lag, die mehre Becher und Schaalen trug, an seine Lippen gesetzt und einen schrillen Pfiff ertönen lassen.
Der Mann, der auf der Höhe der Mauer stand, wandte sich sogleich nach dem Innern des Hofes, dem er bisher den Rücken zugewendet, und beugte horchend das Haupt nieder.
Der furchtbare Herr seiner Sekte, der selbst, wie er ja eben gesagt hatte, an der Pforte der Ewigkeit stand, stieß einen lauten gellenden Schrei aus, dessen Worte und Bedeutung die Fremden nicht verstehen konnten, obschon sie bemerkten, daß er sowohl die Khanum als den Knaben Jesus leise erzittern machte. Im nächsten Augenblick, als der Engländer und mit ihm seine Reisegefährten den Blick
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mit neugierigem Entsetzen zu der Höhe der Mauer hob, sahen sie den wachehaltenden jungen Assassinen die Arme in die Luft heben und ihn plötzlich, als hätte der leere Raum ihn verschlungen, von seinem Posten verschwinden.
Der Scheich hatte sich auf seinem Elbogen von dem Sitz emporgerichtet. »Die Geier werden die Gebeine eines Tapfern abnagen, er hat den Ruhm des Gehorsams!« sagte der Furchtbare in demselben Ton - »die Kinder von Frangistan mögen sie suchen in den Steinklippen am Fuße von Gengarab. Reich mir Deinen Trank, Hakim, der Schmerz kommt wieder!«
Mit Entrüstung war der wackere Arzt empor gesprungen und hatte die Hand des furchtbaren Mannes von sich geschleudert. Auch in den Augen des Engländers und selbst in den Bewegungen des an plötzliche entsetzliche Thaten und Anblicke gewohnten früheren Dieners des indischen Tyrannen spiegelten sich Entsetzen und Unwillen. Nur die Fürstin, wenn auch leicht erblassend, sah mit einem gewissen Interesse, das eher neugieriger Bewunderung, als Abscheu glich, auf den Greis, der bisher so milde und ruhig geschienen, und die Khanum und Jesus beugten noch tiefer ihr Haupt.
»Das ist eine ruchlose Probe Eures furchtbaren Glaubens,« sagte unwillig und furchtlos der Arzt. »Sie möge über Dein Haupt kommen, grausamer Mann. Dieses unnütze kaltblütige Morden ist schlimmer als alle Leidenschaft und trunkene Wuth des Negus war. Höre mich an, Fürst - noch eine solche Erregung Deines Blutes und Deiner Nerven, und das Ereigniß, das ich Dir auf Dein
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Gebot erst nach Wochen oder Tagen als tödtlich voraussagen konnte, kann im Augenblick eintreten und Deinem Leben ein Ende machen.«
Der Furchtbare wandte sich so gleichgültig nach ihm, als sei nicht das Geringste geschehen und streckte ihm das Handgelenk seiner Rechten entgegen. »Fühle den Puls, Hakim, ob mein Blut rascher schlägt? Was ist der Tod eines Sklaven, wenn es gilt, den Gehorsam Aller zu beweisen? - Wenn der Mann dort, dessen Gestalt die Kraft des Melec Ric verkündet, noch einen Schritt weiter zu dem Pfeiler tritt, wird er leicht Gelegenheit haben, seine Stärke an den Zähnen eines schlimmen Feindes zu erproben, die oft härter sind als Stein und Metall. Reich mir Deinen wunderbaren Trank, Christ - die Aerzte der Moslems sind Unwissende und Lügner.«
Während der Arzt unter dieser furchtbaren Ruhe sich beugend der Khanum bedeutete, ihm eine der Trinkschaalen mit Wasser zu reichen, - war auch der Trapper Ralph einer großen Gefahr entgangen, denn als er auf die warnende Bewegung des Scheich sich umwandte, sah er, daß er den langen Armen des großen Affen, der an die rechte Säule gekettet war, zu nahe gekommen, und daß die Bestie im Begriff war, ihn zu fassen und in den Bereich seines gefährlichen Gebisses zu zerren, dessen lange Fangzähne in der That stark genug sind, Steine zu zermalmen. Ein Faustschlag des unerschrockenen Jägers traf so gewaltig den Schädel des Thieres, daß es heulend zurück- und sich hinter dem Pfeiler verkroch, während der
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kranke Mann ganz seinen bisherigen Ernst vergessend, so herzlich lachte, daß sein Körper schütterte.
»Ich dachte es mir gleich, daß die Kraft des Melec Ric in diesen Gliedern wohnt,« sagte noch immer lachend der Scheich; - »reich dem Mann die goldene Spange um Deinen Arm, Mariam zur Belohnung für seinen Schlag. - Freund, ich muß Dich kämpfen sehen mit einem würdigeren Feind, ehe Du von Gengarab gehst, oder Eblis mich ...«
Er vollendete nicht, sondern fuhr mit beiden Händen nach dem Herzen und einer der vorhin erwähnten Krämpfe schien seine Stirn zu röthen - seine Augen wandten sich ängstlich nach dem Arzt, der hastig aus einer kleinen Phiole, die er bereits in der Hand hielt, einige Tropfen in das Wasser der Schaale goß und diese ihm zum Trinken reichte. Der Kranke leerte sie und schien sich darauf eben so rasch zu beruhigen, wie der Anfall plötzlich gekommen war.
»Bei meinem Ring, Hakim,« sagte er tief aufathmend, »die Kraft Deiner Tropfen ist wunderbar. Ich werde Dir einen Beutel voll Theresienthaler für diese kleine Phiole und ihren Inhalt geben. Ich weiß, die klügeren Franken-Hakims lieben das Gold so gut wie die Dummköpfe der Moslems.«
Das Auge der Fürstin war zufällig während dieser Worte auf die alte Khanum gerichtet, und mit Erstaunen sah sie, wie diese warnend einen Finger erhob. Sie erinnerte sich der Mahnung, welche die Frau ihnen ertheilt und mit raschem Verständniß rief sie dem Lord zu: »Bei
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unserer Sicherheit, Mylord, lassen Sie unseren Freund die Arznei nicht aus der Hand geben, bis Sie dieses Ungeheuer gezwungen haben, seinen Ring unter Ihren Geleitschein zu drücken.«
Der Arzt, der ihre halbgeflüsterten Worte gehört, sah fragend den Lord an und zog die Phiole zurück.
»Die Tropfen würden Dir Nichts nützen, wenn Du nicht ihren Gebrauch kennst, Fürst,« sagte er ruhig. »Ich habe noch nicht Gelegenheit gehabt, Sie zu fragen, Mylord, ob der Teskareh, den ich Ihnen sandte, vollkommen in Richtigkeit ist? ich schrieb ihn in der Amharasprache und auf Englisch nur mit kurzen Worten nieder und der Scheich unterzeichnete ihn.«
Der Viscount zog das Pergament aus seiner Brusttasche und entfaltete es. »Das Pergament trägt allerdings eine Unterschrift - aber ich wünsche, daß es in meiner Gegenwart auch mit jenem Ringe unterzeichnet werde, den dieser Mann an dem Finger seiner linken Hand trägt und dessen er bereits zweimal erwähnt hat.«
»Sie haben Recht, Mylord, - er soll es thun, - bei Gott, Sie haben meinen Rath über Vorsicht besser beherzigt, als ich selbst.« Die Worte waren in englischer Sprache gewechselt worden und er wandte sich jetzt wieder in der Lingua-franca zu dem Kranken. »Mein Freund,« sagte er, »bittet Deine Hoheit, daß Du zu seiner Beruhigung in seiner Gegenwart Deine Unterschrift anerkennst und sie mit dem Siegel an Deiner Hand bestätigst.«
Das sonst so ruhige und offene Gesicht des Assassinenfürsten nahm plötzlich einen fast wilden Ausdruck an und
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aus seinen Augen loderte ein unheimlicher Strahl. »Ist dieser Beisädih toll geworden,« sagte er, »daß er an dem Wort des Gebieters der Hosseini zweifelt? - Aber welcher Mund ihm auch sein Verlangen gerathen, oder ob sein Engel es ihm eingegeben hat, der Hakim soll sehen, daß ich ihm dankbar bin. Zünde das Wachs an, Khanum, damit ich den Wunsch dieses mißtrauischen Franken erfülle.« Es war, als ob die alte Frau auf diesen Befehl gewartet hätte; denn rasch brachte sie Wachs zur Stelle und rief dem Knaben, ihr eine der in einem Becken glimmenden Kohlen zu reichen, mit der sie das Wachs erweichte und auf den leeren Raum unter dem Namen tropfte, wo in der That das Siegel fehlte. Das Gesicht des Greises blieb finster und drohend, bis er mit einem raschen Zug den Stein seines Ringes, ohne diesen vom Finger zu lassen, auf das Wachs gedrückt und das Pergament dem Arzt gereicht hatte, dann aber kehrte eben so schnell der frühere Ausdruck von Güte und Wohlwollen darauf zurück. »Da nimm und bewahre es wohl; denn, woher Dir auch der Gedanke gekommen, mit diesem Siegel darf kein Haar auf Deinem Haupte gekrümmt, kein Faden Eures Eigenthums Euch entfremdet werden, so lange Ihr auf dem Gebiete weilt, das die grüne Schlange regiert. Seid unbesorgt, Fremdlinge und erzählt dem Priester Johann von Euren Erlebnissen, denn er hört gern von fernen Ländern und den Einrichtungen der Menschen. Bist Du die Frau, die den Löwen des Prahlers Theodor getödtet, der sich thörichter Weise den König der Könige nennt? Dein Muth hat einen der Stolzesten meiner Krieger
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gerettet, doch Du sollst Gelegenheit haben, Dich zu überzeugen, daß er den Löwen nicht fürchtet im Kampf. Wären diese Glieder noch jung und kräftig, würde ich Euch selbst zur Jagd auf die wilden Thiere dieses Gebirges begleiten, wenn Ihr Freude habt an den Aufregungen der Jagd. Ist der Dailkebir Hassan bereits zurückgekehrt? Ich möchte ihm danken, daß er mir diesen Hakim und seinen Freund gesandt hat!« Es lag wie ein leichter Spott bei dieser Erwähnung auf den Zügen des obersten Fürsten.
»Der Dailkebir Hassan, unter dessen Befehl Du mich zur Wüste sandtest,« sagte der Jüngling ehrerbietig, »harrt mit zwei andern Fremdlingen vor dem Eingang der Halle der Gerechtigkeit, um sie vor das Antlitz unsers Herrn zu führen.«
»Wallah,« gebot der Scheikh. »was denkst Du, Knabe? Hassan ben Simson wartet schon zu lange auf den Tod seines Oberherrn, um seine Geduld mit andern Dingen auf die Probe zu stellen. Sprich, Hakim, Du hast mir versprochen, daß jener Schmerz in meinen Eingeweiden nur einmal zurückkehrt, während die Sonne ihren Weg macht. Ist es für heute vorüber?«
Der Arzt hatte den Puls des Kranken gefühlt. »Wenn Du meinen Vorschriften folgst, wird die Krankheit innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden Deinen Geist nicht trüben, Fürst. Doch erinnere Dich, daß die Fristen sich mit jedem Anfall verkürzen.«
»Wallah, ich fürchte das Ende nicht und brauche nur die Zeit zur Erfüllung meiner Gebote. Laß den Dailkebir
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eintreten und vertreibe die Wächter, denn Du weißt, daß ihre Wildheit sich jedesmal verdoppelt in seiner Nähe.«
Der Jüngling erhob sich und bedrohte einfach mit einer Handbewegung die beiden Thiere, als er zwischen ihnen hindurchging. Es war, als ob sein sanftes und mildes Wesen seinen Einfluß selbst auf solche Bestien übte. Denn sie zogen sich mit gedämpftem Bellen in ihre gewöhnlichen Verstecke gehorsam zurück. Jesus hob den Teppich, der den Zugang schloß und kam nach wenigen Minuten zurück, ihn bescheiden vor seinem früheren Begleiter und dessen Gefährten zurückschlagend.
Selbst der stolze und feste Schritt des hohen Würdenträgers mäßigte sich, als er in die Nähe des kranken Gebieters Aller trat und mit der gleichen Demuth wie der Fedais das Knie vor ihm beugte. Doch blieb es weder dem Arzt noch dem Lord unbemerkt, daß dabei ein scharfer Blick das Aussehen des Kranken überflog, gleich als wolle er die Fortschritte der Krankheit messen, und ein gewisses Erstaunen über die neue Erstarkung der welken Gestalt zeigte.
»Der Herr des Gebirges sei gegrüßt,« sagte der Großoffizier. »Meine Augen sehen mit Freuden, daß dieser Hakim ein gelehrter Mann ist, dessen Wissenschaft unserem Gebieter noch viele Jahre der Kraft verspricht. Eblis ist von Deinem Haupt gewichen, und ich danke Allah um so mehr, als Deine Weisheit wichtige Dinge zu hören und zu entscheiden haben wird, wenn diese Ungläubigen Deine Nähe verlassen haben. Hier ist Dein Bote von Stambul, den ich auf dem Wege traf, und ein
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berühmter Krieger des Negus, unseres Feindes, der ein stiller Geweihter der Hosseini ist, wenn er auch bisher sein Angesicht in Gengarab nicht zeigen durfte und erst jetzt kommt, den Staub vor den Füßen unseres Herrn zu küssen und seiner Weisheit eine Mittheilung zu machen, die mich bewog, ihn vor Dein eigenes Angesicht zu führen.«
Das Auge des kranken Fürsten winkte nach dem dritten Begleiter des Dailkebirs. »Und wer ist Jener dort? Ist er ein Gefährte der Fremdlinge jenseits der Meere, daß Du ihn nach Gengarab führst?«
»Er ist ein Franke wie sie, aber ihr Feind, und er kommt, Deine Gerechtigkeit zu erbitten gegen jene Männer, die Deines Schutzbriefes genießen, so lange sie im Lande der Hosseinis sind. Er wünscht mit dem Inglese zu kämpfen, der ihn beleidigt hat und ihm ein Weib, seine Verwandte wieder zu entreißen, das jener aus seinem Schutz entführt hat.«
Obschon der Bericht des Dailkebir in jener Sprache erstattet wurde, die selbst dem Arzt und seinem gelehrten Landsmann unbekannt war, hatten doch die Geberden die Reisenden erkennen lassen, daß mit den letzten Worten von der Fürstin und dem Lord die Rede war, und der Arzt wollte eben für die Vertheidigung seiner Reisegefährten eintreten, als die kurze Entscheidung des Patriarchen, die in der Lingua-franca gefällt wurde, ihn dieser Mühe überhob.
»Ist der Franke ein Narr oder ein ungeduldiges Mädchen, welches auf den Mann harrt, daß er nicht warten kann mit seinem Streit, bis diese Fremdlinge über die Grenzen unseres Schutzbriefs sind? Was geht uns ihr
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Streit an? Du hast thöricht gehandelt, Hassan, ihn hierher zu bringen. Schick ihn fort und möge er warten lernen, bis seine Zeit gekommen ist. Diese Fremdlinge stehen unter dem Schutz des Ringes!«
»Der Beisädih,« sagte der Dailkebir, »möge es mit seiner Ehre abmachen, ob er die Aufforderung dieses Franken zum Zweikampf erfüllen mag oder nicht, da derselbe verrätherisch an ihm gehandelt hat. Ich hätte ihn nicht vor Dein Angesicht geführt, wenn sein Zeugniß nicht wichtig gewesen wäre in Betreff der seltsamen Angabe, welche dieser Mann aus Habesch von dem Ringe macht, der dem Scheich al Dschebal die Herrschaft giebt über das Volk der Hosseim. Lasse diese Fremdlinge abtreten, ihre Ohren brauchen nicht die Geheimnisse unseres Glaubens zu hören.«
Der Scheich dachte einige Augenblicke nach, dann machte er eine ablehnende Bewegung. »Nein,« sagte er endlich, »die Homairi haben Nichts zu fürchten. Auch versteht keiner der Fremden unsere Sprache, selbst der Mann der Bücher nicht. Rede.«
»So zeige dem Gallas, der ein Refik ist, wie ich erprobt, den Ring, den Du trägst, damit er seine Lüge erkenne und dafür den Tod erleide.«
Der Scheich streckte seine linke Hand aus gegen den Dedschas des Negus, der sie aufmerksam betrachtete und dann demüthig zur Erde sank, den Boden mit seiner Stirn berührend.
»Möge das Weltall mich ausstoßen zur ewigen Vernichtung, wenn ich die Unwahrheit rede. Deine Hand trägt
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den Ring mit der grünen Schlange. Aber ich schwöre bei unserem Glauben, daß ich denselben Ring vor vier Sonnen an der Hand eines Anderen gesehen, und dieser mir befohlen hat bei der Macht, die ihm durch den Ring geworden, diesen Fremden zu folgen und den Beisädih zu tödten und Alle, die mit ihm sind.«
»Soll ich ihn erschlagen für den Koth, den er spricht?« frug wild der Dailkebir. »Es giebt nur einen Ring, der die Gewalt verleiht, so wahr es nur einen Weltgeist giebt.« Er griff nach dem Dolch an seinem Gürtel.
»Halt ein!« gebot der Patriach. »Du vergißt, Dailkebir Hassan, daß Du nach unseren Satzungen nicht das Recht über das Leben eines Wissenden im vierten Grade4 hast, wenn ein Höherer denn Du zugegen ist. - Kannst Du mir sagen Refik, woher der Mann kam, der Dir den Ring gezeigt hat?«
»Er kam über das Meer von Osten her. Er ist mit dem Schiff dieser Franken in Arkiko gelandet; bis auf den Hakim hier waren sie Alle in seiner Begleitung.«
Der Scheikh wandte sich zu diesem. »Du siehst, Hassan, daß es gut war, die Christen hier zu lassen. Könnt Ihr mir sagen, Freunde, woher der Mann stammt, der Euch durch Diesen hier verfolgen läßt?«
»Ich kann es Fürst,« sagte der Arzt, die Hand aufmerksam auf seinen Arm legend. »Er stammt von den Ufern des Ganges. Er kommt aus Indien, der Mutter der Nationen.«
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»Wallah! - Du kennst ihn? - Hast Du ihn je im Besitz eines gleichen Ringes wie diesen hier gesehen?«
»Nein - damals nicht, als ich den Furchtbaren kannte.«
»Aber ich habe ihn gesehen,« sagte der Lord, »und zwar am Tage der Ausschiffung vom Veloce und im Gespräch mit jenem Manne, der uns ohne anderen Zweck als wahrscheinlich den des Raubes verfolgt.«
»Und wißt Ihr, wer der Träger des Ringes eigentlich ist?«
Der Arzt senkte den Kopf, des Eides gedenkend, den er hatte leisten müssen; auch der Trapper schwieg.
Aber die Fürstin Wéra öffnete stolz und kühn den Mund, einen festen Blick auf den Arzt und den Lord werfend. »Ich glaube ihn zu kennen!«
Besorgt sah Doktor Walding, - gespannt der Viscount auf sie.
»Will meine Tochter uns den Namen des Geheimnißvollen nennen? Es steht bei ihr?« frug der Scheikh.
»Nena Sahib, der Peischwa von Bithoor, der Führer des großen Aufstandes in Indien gegen die Engländer.«
Die furchtbare Entdeckung, so kühn hier und in solcher Umgebung ausgesprochen, machte einen seltsamen Eindruck. Selbst die Homairi, so abgeschlossen von dem weltbekannten Ereigniß diese wilde Gegend auch war, schienen doch von dem Namen gehört zu haben. Der deutsche Arzt hatte das Haupt in seine Hände geborgen, der Trapper stand finster und schweigend, Lord Walpole aber sprang mit Entsetzen empor. »Wie, jenes furchtbare Ungeheuer, der
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Mörder meiner Landsleute lebt noch und befand sich sogar an Bord unseres Schiffes? Irren Sie sich auch nicht, Fürstin?«
»Ich glaube nicht zu irren, obschon die Männer, die mein Wort bestätigen könnten, es vorziehen, zu schweigen. Erinnern Sie sich, Mylord, jenes Abends auf dem Veloce, als die indischen Photographieen erwähnt wurden, die Sie in Bombai gekauft hatten; Tank-ki hatte ihn zuerst erkannt und mich darauf aufmerksam gemacht. Sie hat ihn ohne Verkleidung in Pecking gesehen und von ihrem Vater gehört, daß er einer der indischen Fürsten aus dem Aufstand sei. Ich glaube jetzt, daß eine zufällige Bemerkung über seine Identität, die mein Interesse erregt hatte, uns seine Rache und Verfolgung zuzog, zu welcher dieser hitzige Thor,« sie wies auf den Franzosen, »seine Hand geboten hat.«
»Bedenken Sie, Cousine Wéra ...«
»Ich bedarf weder Ihrer Vormundschaft, Herr, noch Ihres Schutzes,« sagte stolz die Fürstin - »sie giebt Ihnen kein Recht, sich in mein Thun zu mischen, wie ich wiederholt erklärt habe. Wenn Sie hiernach noch Lust haben, den Wegelagerer zu spielen, so thun Sie es auf Ihre Gefahr.«
Der junge Offizier schüttelte drohend die Hand gegen den Lord. »Wenn Sie ein Mann, ein Edelmann sind, sollen Sie auch hierfür mir Rede stehen.«
Frederic Walpole zuckte geringschätzig die Achseln. »Sein heimtückischer Ueberfall und seine Gemeinschaft mit dem blutigen Mörder Indiens, haben Herrn von Thérouvigne
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den letzten Anspruch auf die übliche Genugthuung eines Edelmanns entzogen.«
Der Patriarch hob Schweigen gebietend die Hand. Das weiße Haupt in die Hand mit dem Ringe gestützt, hatte er, offenbar sich nur mit dessen Geheimniß beschäftigend, dem Streite zugehört, ohne besonders auf ihn zu achten.
»Gebt Ruhe, Franken, was kümmert mich Euer thörichter Zank? Dais Hassan trage Sorge dafür, daß sie Frieden halten, so lange sie in dem Bann von Gengarab sich befinden. Wehe Dem, der den Andern schädigt. Du aber, Dedschas des Gebieters von Habesch, der Du doch dem Ringe schworst, also mein Unter[t]han bist, - ich entbinde Dich des Gehorsams an jenem Ringe, den der Mann aus Indien Dir gezeigt hat.«
»So ist also jener Ring falsch und der Refik verdient dennoch den Tod?«
»Du dünkst Dich weise und mächtig, Hassan ben Simson, und bist doch blind! Wenn Du erst auf meinem Stuhle sitzest und diesen Ring am Finger trägst, werden Dir alle Geheimnisse unseres Glaubens offenbar sein. Bis dahin wisse, daß es der Ringe mit der grünen Schlange drei giebt, die Eblis für das Geschlecht der gelben, der schwarzen und der weißen Männer gemacht und an sie vertheilt hat, damit ihr jedesmaliger Träger Herr sei in seinem Volke und Gebieter über den Tod, wie die drei Sendboten Gabriels die Herren des Lebens sind. Wenn die drei Ringe in einer Hand, die aus dem Saamen der Schlange stammt, vereinigt sind, dann erst wird der Tod über alles Leben gebieten und Eblis gleich sein dem Gebieter des Lichts.
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Bis dahin ist Kampf zwischen Tod und Leben, zwischen dem Gewordenen und dem Geschaffenen. Wenn sie aber alle drei den Söhnen Adams verloren gehen - dann siegt das Licht und der Tod ist verschwunden aus der Welt. Merke Dir, Hassan ben Simson, daß in jedem Kampf der Sieg bei der Macht ist, und deshalb bestrebe Dich lieber, die drei Ringe zu vereinen, damit Du über allen Tod gebieten kannst. - Laß den Boten näher treten, den ich nach Kahira sandte.«
Der Dailbekir hatte trotz seines stolzen selbstständigen Charakters mit ehrerbietigem Schweigen die furchtbaren Lehren des Greises angehört und winkte dem am Eingang zurückgebliebenen Lassik oder Novizen die Gränze zu überschreiten, welche die beiden seltsamen Wächter bewachten. Der Bote nahte sich demüthig, überreichte knieend dem Scheikh eine Pergamentrolle, die mit allerlei seltsamen Zeichen beschrieben war und harrte seiner Fragen.
»Berichte, was Deine Ohren vernommen in der Stadt der Pyramiden!« befahl der Patriarch.
»Möge Dein Schatten lang sein, o Gebieter,« berichtete der Bote. »Das Reich der Gläubigen hat einen schweren Verlust erlitten. Sie sagen, daß der große Bluttrinker in Stambul der Macht des Todes erlegen ist und ein Anderer den Thron der Kalifen bestiegen hat.«
»Abdul Medschid todt? Er war ein Schwächling als Zuflucht der Welt5 und kein Hunkiar. Er hat sich vom Moskowiten am Bart zausen lassen und es nicht
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begriffen, daß die Ismaëliten allein den Krieg für die Gläubigen führen können. Wer ist ausgerufen zum Imaum-ul-Uslemin (Oberhaupt der Muselmänner)?«
»Abdul Aziz - der Bruder des verstorbenen Sultans.«
»Ein Schwächling wie er und ein Sclave der Franken. - Hat er Sajid Pascha vom Amt des Khedive entfernt?«
»Der Ferman, Gebieter, den ich in Kahira ausrufen hörte auf der Straße, hat Sajid Pascha bestätigt. Ja man sagt, daß er sich bereitet, eine große Reise in die Länder der Franken zu machen und seinen Nachfolger und Neffen mit sich zu nehmen, um die Sitten der Franken kennen zu lernen.«
Der Scheikh lächelte. »Mustapha Pascha6 wird niemals den Sitz Mehemeds einnehmen, für den Ismaël Pascha alljährlich richtig den Tribut an Gengarab entrichtet, dessen er sich geweigert hat. - Doch ist es nothwendig, daß die Söhne Ismaëls ihre Augen offen halten. Hassan ben Simson, mache Dich fertig, nach Kahira zu reisen. Du wirst zehn der Fedai's aus Gengarab mit Dir nehmen, damit Du den Tod in Deiner Hand hast.«
Der Dailkebir machte unwillkürlich eine Bewegung der Mißstimmung über diesen Befehl.
»Herr - in diesem Augenblick dürfte es nicht gut sein, Dich in schwerer Krankheit zu verlassen.«
»Wie, Mann des Ungehorsams - glaubst Du schon den Stein mit der Schlange an Deinem Finger zu haben?
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Ich sage Dir, es ist nöthig für unser Volk, daß der Dailkebir des Nils in diesem Augenblick auf seinem Posten sei und nicht an dem Lager eines Kranken. Noch ist der Odem in diesem Leibe und dieser Hakim versichert mich, daß Azraël noch Wochen und Monden lang Frist geben mag. - Sieh diese Phiole - die Tropfen ihres Inhalts machen den Todesengel an der Schwelle dieser Halle zögern, wenn sie mit Maaß genossen werden. Mache Dich bereit, wenn ich die Stunde der Reise gekommen glaube, bis dahin lasse diese Fremdlinge die Gastfreundschaft von Gengarab genießen, dann mögen sie von Jesus geführt Dir zum Nil folgen, während Du jenseits der Katarakten auf den schnellsten Rossen vorangehst. - Geh, der Gebieter über Leben und Tod hat gesprochen, und nimm sie Alle mit Dir, - ich will mit diesem Weibe allein sein!«
Der Dailkebir wagte nicht länger zu widersprechen und führte mit finsterer Miene die Europäer und den Abessynier aus der Halle.
»Schließ den Eingang, Mariam,« befahl der Kranke, »zieh die Teppiche, damit nicht neugierige Augen auf uns schauen, und kette die Wächter los.«
Die alte Frau gehorchte - niederrauschende Vorhänge schlossen den Raum, in welchem der Scheikh ruhte, nach jeder Seite ab, und die beiden zähnefletschenden Paviane - deren Geschlecht sich bekanntlich durch überaus scharfes Gehör auszeichnet, und die sich ohne Uebung einer Tücke ja sogar mit schmeichelnden, geilen und widerwärtigen Geberden von der Frau hatten losmachen lassen, als wüßten sie aus Gewohnheit, welcher Lohn ihrer später warte,
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krochen durch die Halle, um nachzuspüren, daß auch Niemand in der Nähe lausche, und kauerten sich dann zähnefletschend und horchend an der äußeren Pforte nieder.
»Wallah! Die Wächter sind stumm und treu und Du wirst ihnen dann eines Deiner jungen Weiber zur Belohnung überlassen, daß sie ihre Begierden daran sättigen. - Ich hätte ihnen am Liebsten jene Moskowitin gegönnt, auf die, wie ich wohl gemerkt habe der Dailkebir, wie der Beisädih und sein Feind der Franke gleich sehnsüchtig ihre Blicke heften - aber der Hakim hat mir ihre Sicherheit bei einem Eide abgerungen, der der einzige ist, den der Scheikh-al-Dschebal zu halten verbunden ist. Ich fürchte, Mariam, Du selbst hast ihnen den Gedanken in's Ohr geblasen.«
»Ich habe es gethan!«
»Und kannst Du mir sagen, welchen Grund Du hattest?«
»Sie sprachen von den Zelten meiner Jugend und ich gedachte meiner Mutter, die eine Christin war. Die Söhne meines Stammes sind es, die auf die Franken harren werden an der Nadel der Wüste und sich verbindlich gemacht haben, sie durch die Wüste zum Nil zu geleiten, wo sie sicher sein werden.«
Der Scheikh neigte das Haupt. »So sende noch heute einen sicheren Boten zu ihnen, der sie mit dem Eigenthum der Franken und ihrer Genossen sich bereit halten läßt gegenüber dort, wo der Djebel die drei Felsspitzen hinein streckt in die Wüste. Die Krieger, welche Hassan bei den Franken zurückgelassen, werden genügen,
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die Männer von Habesch zurückzuhalten, bis ihr Anführer erscheint. - Laß Jesus sich bereit machen, die Franken zu begleiten und unter ihrem Schutz nach Kahira zu folgen.«
»Aber warum willst Du ihn fortsenden von hier und warum sendest Du ihn nicht mit Hassan oder den Dailkebir mit den Franken?«
Der Patriarch richtete sich auf dem Lager empor.
»Mariam, vermagst Du stark zu sein?«
»Ich denke Johannes, - Mariam hat viele Deiner Geheimnisse getragen, ohne daß die Last sie gebeugt hat. Wenn ihr Haar weiß geworden, wie das Deine und ihre Gestalt sich gebeugt hat, so geschah es von der Last der Jahre, Scheich!«
»Wohl denn - weißt Du, was der Franken-Hakim mir gesagt hat?«
»Du sprachst es selbst zu Hassan ben Simson!«
»Ich habe ihn und Dich getäuscht. Ehe die Sonne zum vierten Mal sinkt hinter dem Djebel Langai - ist Johannes vom Berge Nichts als eine Handvoll Staub - und der Staub vermag das Leben des Enkels unseres einzigen Kindes nicht mehr gegen den Stahl oder das Gift des neuen Scheikh-al-Dschebal zu schützen.«
Der alten Frau tropften schwere Thränen aus ihren Augen. »Wer weiß es, daß Jesus von unserem Blut ist?«
»Niemand - bis jetzt! Dank Deiner und meiner Sorge, die uns den Knaben gleich Moses im Schilf durch die Tochter Pharaos in der Wüste finden ließ und ihm weder Vater noch Mutter gab. Wenn Hassan ben Simson nur eine Ahnung des Gedankens gehabt hätte, wäre der
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Enkel Deines Sohnes längst nicht mehr unter den Lebendigen. Darum sende ich ihn zu den Schülern Abdallahs nach Kairo, damit er die Geheimnisse unseres Glaubens kennen lernt an ihrer hohen Schule. Nur ein Mann weiß dort von seiner Abstammung, damit er von ihr hört, wenn die Zeit gekommen ist.«
Das Auge der alten Frau, das gewöhnlich sanft und mild war, blitzte empor. »Und wenn Du Dein eigen Fleisch und Blut von Hassan gefährdet glaubst, noch hast Du die Macht, - warum vernichtest Du ihn nicht? Das Prinzip der Lehre Ismaëls ist doch der Tod für Den, der uns im Wege steht!«
Der furchtbare Repräsentant des Ich's wiegte verneinend das Haupt. »Nein,« sagte er, »Tod und Blut sind genug gewesen in der Familie ben Sabbahs des Homairi um den Besitz des grünen Ringes! Du weißt, daß der Sohn gegen den Vater7 und der Bruder gegen den Bruder Gift und Dolch erhob. Nicht das Geschlecht der Busurgomids darf den Islam führen zum Sieg über das Kreuz, sondern das Blut ben Sabbahs, und Jesus ist der Letzte dieses Blutes. Darum will ich sein Haupt bewahren, bis er es selbst zu schützen vermag gegen seine Feinde.«
»Du täuschest Dich, Johannes,« sagte die Frau. »Jesus ist die Liebe und nicht der Kampf.«
»So möge er untergehen in feigem Selbstopfer. Nur im Siege und in der Herrschaft wohnt das Leben. Ich habe
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das Meine gethan. - Ist der Mann da, den ich Dir heimlich zu entbieten befahl, wenn meine Stunde gekommen sei?« -
»Nureddin der Dailkebir von Kuhistan harrt Deines Befehls auf dem geheimen Wege, der von der Tiefe zur Höhe, aus dem Staube zur Herrschaft führt. Ich sah das Zeichen seiner Ankunft. Soll die Pforte sich öffnen für ihn?«
»Ich will ihn prüfen; doch zuvor laß uns scheiden für dieses Leben.«
»Mariam wird mit Johannes in den Tod gehen.«
»Nein - ich verbiete es Dir! Du sollst leben, um dem Knaben zur Herrschaft zu helfen. Wen hat er sonst noch als Dich? Die Zeit ist nahe, in welcher der Kampf des Kreuzes beginnen wird gegen den Halbmond, und die Moslems werden einen Herrn brauchen. Das sei die Aufgabe des Letzten aus meinem Blute. Hole den Mann, dem der Ring der grünen Schlange gegeben werden soll, bis ihn ein Besserer aus seiner Hand zurück empfangt.«
Die Khanum beugte jetzt demüthig das Haupt und entfernte einen der Teppiche, welche das Lager ihres Gatten bildeten. Eine der Porphyrplatten bewegte sich um sich selbst, als ihre Hand auf die Ecken drückte, und eine ihrer Größe entsprechende, in tiefe Finsterniß führende Oeffnung, wie die einer unterirdischen Treppe, kam zum Vorschein.
Es war als ob aus der Tiefe herauf ein Licht leuchtete.
»Steige empor, Dailkebir von Kuhistan - der Meister bedarf Deiner.«
Es war als erhöbe sich das Licht auf diesen Anruf
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langsam aus der Tiefe. Dann näher und näher kommend zeigte es sich, daß es der Schein einer offenen kupfernen Lampe von uralter Form war, die ein Mann in seiner Linken über dem Haupt emporhielt, während seine Rechte einen breiten Dolch von persischer Form umfaßt hielt.
»Der Meister hat gerufen,« sagte der Fremde, vorsichtig auf den Stufen heraufsteigend, die aus unabsehbarer Tiefe emporführten. Als er an das Licht des Tages trat, sah man, daß er ein Mann von etwa fünfzig Jahren war, in ein kaftanartiges grünes Gewand gekleidet. Die Farbe seines Turbans war weiß, sein Gesicht gebräunt, scharf geschnitten, mit kühn hervorspringender Nase gleich dem Schnabel eines Adlers. Er machte den Salem an dem Lager des Scheikh und blieb, die Arme über die Brust gekreuzt und das schwarze glänzende Auge scharf auf den Kranken heftend in aufrechter Haltung stehen, während ein Wink des Patriarchen die Frau in den äußeren Raum verwies, wo sie das nachfolgende mit gedämpfter Stimme geführte Gespräch nicht mehr zu hören vermochte.
»Setze Dich hier neben mich nieder, Nureddin, und beantworte meine Fragen, damit ich sehe, ob Du geistig die Kraft hast, über das Volk Ismaëls zu herrschen; denn die Stunde ist nahe, wo ich den Ring in andere Hände legen muß.«
»Möge sie noch lange fern bleiben,« sagte der Hosseinih, zugleich dem Befehl seines obersten Herren folgend. »Frage, und möge Dein scheidender Geist mich erleuchten.«
Die nachstehenden Fragen und Antworten folgten jetzt rasch auf einander.
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»Wer hat das Weltall gemacht?«
»Der Urgeist.«
»Wer regiert?«
»Der Wahn, das ist der Glaube.«
»Und wer beherrscht den Wahn?«
»Wer an Nichts glaubt, als an Das, was sicher ist!«
»Nenne es!«
»Der Tod! Alles Andere ist eitel.«
»Was ist der Tod?«
»Die Auflösung des Stoffes in einen anderen!«
»So glaubst Du an die Fortdauer der Seele nach dem menschlichen Tode?«
»Der Geist, das ist die Kraft, die der Urgeist gemacht hat. Was ist, ist und kann nicht aufhören zu sein. Das ist das Einzige, was wir glauben können, weil wir es wissen. Der Urgeist allein bestimmt den Wechsel der Formen.«
»Was nennst Du den Urgeist? Jehovah? Brahma? Allah? Gott?«
»Der Urgeist ist der Urgeist! - er selbst! - was kommt es auf den Namen an, den das von ihm Gemachte ihm giebt.«
»Du kennst die Lehre Moses? - Brahmas? - Christus? - Mohammeds?«
»Ich kenne sie!«
»Und glaubst an sie?«
»Ich glaube an den Urgeist. Alles Andere ist Menschenglaube. Aber der Glaube regiert, denn der Wahn ist
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mächtig über Alles, was lebt. Wir sind gemacht und wir sterben, um zu erfahren, was richtig ist.«
»Welche der Lehren, der Religionen, die ich Dir genannt, hältst Du für die mächtigste?«
»Die, welche dem Menschen am Meisten schmeichelt. Denn der liebste Gott des Menschen ist das Ich!«
»Und welche der Religionen ist das?«
»Die Lehre Mahomeds.«
»Warum?
»Weil sie dem Menschen nach dem Tode Alles verspricht, was im Leben seinem Ich gefallen hat, was er also kennt und versteht!«
»Du siehst scharf, Nureddin. Also folge dem Gebot unserer Gründer und schaffe dem Islam die Herrschaft über die Menschen.«
»Die Zeit wird kommen. Sein Wahn ist das beste Mittel, zu herrschen.«
»Glaubst Du an Recht und Unrecht? An Tugend und Sünde?«
»Der Begriff ist Wahn. Recht ist, was die Kraft erlaubt. Unrecht ist der Gehorsam, den der Stoff fordert. Alles Andere ist Wahn, also Fessel für die Kraft.
»So giebt es für Dich keine Grenze und keine Pflicht?«
»Das Ziel der Söhne Ismaëls ist: zu herrschen über Alle. Die einzige Pflicht, die gehalten werden muß, ist der Schwur bei dem Ring.«
»Gut - reich mir die Hand, Nureddin - ich erkenne Dich würdig über Wissende und Gehorchende des Volkes Ismaëls zu herrschen. Du wirst es, ehe drei
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Sonnen aufgestiegen sind. Bis dahin stärke Deinen Geist durch Fasten und Betrachtung in der Finsterniß, zu der wir Alle gehn und ich zuerst. Ich habe Dir Einiges zu sagen und einige Rathschläge für Deine Herrschaft zu geben«
»Sprich - meine Ohren sind Deiner Weisheit und Erfahrung geöffnet.«
»Vernimm! Von den drei Ringen, die Eblis gemacht hat, als auf den Befehl des Urgeistes Gabriel den Menschen die Seele einblies, ist nur einer in der Hand der Kinder Ismaëls. Der zweite ist Denen gegeben, die zu Brahma beten. Der Dritte wurde den Juden und ihren Nachkommen, den Christen. Die Juden haben ihn hingegeben um den Besitz alles Geldes, weil sie darin die Herrschaft der Welt sahen. Unter den Christen aber soll eine Sekte sein, die in ihm das Zeichen der Macht und ihres Berufs zur Herrschaft über Alle sieht, weil sie gleich uns an Nichts glaubt, als an die Macht. Du findest das Geheimniß der Ringe in den Urkunden, deren Besitz Dir der Ring überliefert.«
»Ich danke Dir Johannes. Es sind die Hosseinih der Christen.«
»Ich sende noch diesen Abend mit aufsteigendem Mond Hassan ben Simson gen Kahira, um unsere Interessen dort zu wahren, da der Thron der Kalifen durch den Tod Abdul Medschids erledigt ist und es noch nicht so weit war, daß ein Sohn unserer Verbindung ihn besteigen konnte. Hassan glaubt Anspruch zu haben auf den Ring und deshalb ist es gut, daß er entfernt ist, wenn Du ihn
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erhälst, den ich zu meinem Nachfolger gewählt habe, denn er hat Anhang unter den Refiks. - Auch befinden sich in diesem Augenblick Fremdlinge aus Frangistan auf Gengarab unter dem Schutz des Ringes, die gleichfalls morgen ihre Weiterreise zum Nil auf anderem Wege antreten sollen. Sorge dafür, wenn der Urgeist über mich bestimmt, ehe ich sie schützen kann, daß ihrer Reise kein Hinderniß in den Weg gelegt werde, denn es befindet sich ein vornehmer Beisädih unter ihnen, und wir müssen die Partei der Inglese in diesem Augenblick am Hofe des Vicekönigs in Kairo gegen die Franken, die einen Kanal vom Meer zum Meer bauen wollen, der dem Khedive neue Macht geben würde, unterstützen.«
»So sei es. Haben die Fremdlinge Deinen Teskareh?«
»Mit Schrift und Siegel! Alle nöthigen Anordnungen sind getroffen. Nun, Nureddin, hat Dein alter Lehrer noch eine Bitte an Dich!«
»Rede, Johannes!«
»Ich lasse meine alte Khanum Mariam zurück unter Deinem Schutz. Sie gehört zu den weisen Frauen, und ihre Klugheit ist groß wie ihr Ansehen unter Denen, die noch an den Propheten glauben. Lasse ihre Stunde leicht sein, wenn sie naht.«
»Sie soll unter'm Schutz des Ringes stehn!«
»Dafür wird sie Dich rufen, wenn der Augenblick gekommen ist, in dem Du ihn von meinem Finger nimmst. - Verlaß mich jetzt, denn ich habe der Dinge noch viele zu thun.«
Der künftige Fürst der Berge reichte dem Kranken
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die Hand, dann - die Lampe nehmend - stieg er die ersten Stufen zur Tiefe hinab, aus der er so heimlich gekommen war.
»Fahre wohl, Johannes! Dein Geist und Dein Wille bleiben unter uns!«
»Möge Dein Regiment lang sein!« Der Patriarch wandte das Haupt, um das langsame Verschwinden des Persers nicht zu sehen - vielleicht überkam doch eine menschliche Schwäche diesen furchtbaren Apostel des Todes. Dann - sich rasch ermannend - klopfte er mit einem stählernen Hammer auf die Silberschaale, die neben der Phiole auf dem niedern Tisch stand und sogleich erschien durch die Oeffnung der Teppiche wieder die alte Frau.
»Ich danke Dir, Mariam,« sagte der Fürst - »Alles ist geschehen und für Dich und Jesus gesorgt. Wo ist der Hakim?«
[»]Er ist mit Simson und den Fremden auf dem äußeren Wege zum Thale gestiegen zum Kampfplatz am Zwinger der Thiere, um Pferde zu probiren und die Thiere der Berge zu sehen.«
»Und der Jüngling?«
»Er ist mit der Frau aus dem Eisland im Garten am Kiosk!«
»Aber der Thor, der Alles zu wissen glaubt, weil er aus den Büchern zu lesen vermag?«
»Er weigerte sie zu begleiten und sitzt vergraben in der Halle unter den Pergamenten.«
»Es ist gut so! - Ich habe meinen Beschluß geändert. Der Dailbekir Hassan wird noch diesen Abend von dem
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Fuße des Berges aufbrechen gen Kahira, ohne die Burg erst zu betreten, und Deine Schützlinge werden ihm beim Aufgang der Sonne über das Gebirge folgen. Geh und sende sogleich den Boten zur Nadel der Wüste ab, wie ich Dich geheißen. Dann hole mir den Mann, der in allen Büchern liest und laß ihn einige der Pergamente mit sich bringen, damit ich mit ihm darüber spreche! Meine Seele liebt es, nach der Unterredung, die ich gehabt, in thörichtem Geschwätz einige Ruhe zu finden.«
»Darf ich wieder kommen zu Dir, Johannes?«
»Nein. Nimm die Moskowitin und den Knaben mit Dir zum Altan am Kiosk, von dem aus Ihr den Spielen am Fuß des Felsens zusehen mögt. Du magst dort der Moskowitin und Jesus ihre Abreise auf morgen mit Aufgang der Sonne verkünden. Ich werde sie dem Beisädih und dem Hakim selbst ansagen diesen Abend, denn bis dahin darf kein unnützes Wort davon verlauten. - Zuvor sende mit einem der Geschnittenen das Weib, das Du für die Höhle der stummen Menschen bestimmst!«
Die alte Frau, obgleich an das Schreckliche gewöhnt, schauderte. »Muß es sein, Johannes? Es ist wider alle Natur!«
»Schweig, Thörin! - Die Mantelträger waren treue Wächter und müssen den versprochenen Lohn haben. Hörst Du nicht, wie sie bereits ungeduldig werden? Sie wissen Nichts von dem Paradiese des Propheten und seinen Houris - aber ihr Instinkt hat sie Treue gelehrt. Was kommt es auf ein Weib an. Gehorche!«
Die Khanum verbarg das alte faltenreiche Antlitz
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und wandte es von den Bestien ab, als sie zwischen ihnen hindurch ging und ihr Gewand unwillig und drohend aus ihren Klauen befreite.
Der Assassinenfürst war allein eine ganze Zeit in tiefem Nachdenken, bis endlich zwei der verschnittenen schwarzen Sklaven, nicht viel weniger wild und unzurechnungsfähig, die Bestien mit ihren Eisenkolben zur Seite schoben und damit dem armen Professor Peterlein Eintritt verschafften, der ein großes Packet Pergamente unter beiden Armen, die Brille hoch auf die Stirn geschoben, mit ängstlichen Schritten hinterher trippelte und einen großen Umweg um die zähnefletschenden Affen machte.
»Hört Freunde,« sagte er - »es ist mir zwar vom höchsten Interesse als Naturkundiger, zwei so ausgezeichnete Exemplare des Cynocephalus Hamadryas, vulgo, Silberpavian beobachten zu können, nach Hasselquist: Simia aegyptiaca, arabisch: Khird, abessinisch: Hoba oder Kombei genannt - wie sie selten ein Naturforscher zu beobachten Gelegenheit gehabt hat, obgleich ihm seines ehrwürdigen Aussehens und sonstiger Eigenschaften wegen schon die Alten besondere Achtung zollten. Vielleicht wird es somit möglich die Beobachtungen meines Freundes Ehrenberg im 2. Band seiner Symbola oder Rüppel und Bayssi`ere und Schimper zu vervollständigen, welcher erzählt, daß die Frauen ihren Wuthausbrüchen ganz besonders ausgesetzt sind und die abessynischen Mädchen, welche um Brennholz die Berge besteigen, dieses Thier weit mehr fürchten als selbst den Leoparden. Und darum,
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weil sie so wilde und grimmige Thiere sind, die nicht einmal das schwache Geschlecht schonen, möchte ich Euch bitten, ob Ihr nicht besser thätet, diese Affen vielleicht wieder an ihre Ketten zu legen oder an einen sonstigen sichern Aufenthalt zu sperren, wo sie ehrlichen Christenmenschen und einem nicht ganz unwürdigen Jünger der Wissenschaft keinen Schaden zufügen können, während er mit Eurem sehr würdigen Herrn und Gebieter, dem sogenannten Alten der Berge ein für die geschichtlichen Forschungen nicht unwichtiges Zwiegespräch hält.«
Die beiden Mohren begnügten sich den Jünger der Wissenschaft anzugrinsen, hinter dem Teppich her aber erscholl mit spöttischem Lachen eine Stimme, die in dem Sprachengemisch, dessen sich die Redenden schon früher bedient hatten, ihm zurief: »Komm hierher, thörichter Mann der Bücher, der nicht einmal begreift, daß diese Halbmänner seine Worte nicht verstehen.« Dann, indeß der gelehrte Professor vorsichtig den Teppich hob, und dem gefürchteten Mann sich mit einer Verbeugung näherte, wechselte dieser das Idiom und befahl: »Sperrt die Affen in ihre Höhle und bewacht die Thür.«
Während die Mohren die beiden, jetzt immer wilder schnaubenden Ungethüme nach dem zu ihrem Lager dienenden Raum trieben und das Eisengitter vor demselben schlossen, hatte der Natur- und Geschichtsforscher auf den Wink des Patriarchen an seiner Seite Platz genommen, fest entschlossen, die günstige Gelegenheit und die anscheinende Laune seines seltsamen Gastherrn nicht unbenutzt zu lassen, um sich möglichst viele Auskünfte über das
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Volk der Assassinen zu verschaffen, was bei seiner Rückkehr nach Europa neuen und unerhörten Forscherglanz um seine Stirn flechten mußte.
Wirklich schien der Fürst ganz besonders gelaunt; denn obschon er, ohne daß es sein Gast merkte, ihn selbst zum Auskramen seines dünkelhaften Wissens brachte und nur manchmal eine höhnende Bemerkung oder eine scharfe Frage nach europäischen Sitten und Meinungen dazwischen warf, - unterhielt er fast eine Stunde lang ein Gespräch mit ihm, das ihn sehr zu ergötzen schien, und zu dem er den Stoff aus den Pergamenten nahm, die der würdige Professor mit Erlaubniß der Khanum hierher gebracht hatte und in deren Erörterung er jetzt so vertieft war, daß er auf den Vorgang in der äußeren Halle nicht geachtet hatte, bis ein entsetzliches wehklagendes Geschrei in nächster Nähe ihn aufschreckte.
In der That hatte dort sich eine jener scheußlichen Scenen ereignet, die sich nur im Andeuten beschreiben lassen, und von denen der Verfasser der transatlantischen Skizzen erzählt und gegen die nur die Barbarei des Orientalen oder die abstracte Beobachtung des Gelehrten gleichgültig bleibt.
Durch den Eingang war ein junges Weib, eines jener Mädchen, welche die Fremden am Eingang der Frauengemächer empfangen, von unsichtbarer Hand in die Halle geschoben und sofort von den beiden Mohren ergriffen worden, die obschon bereits eine Maske von starkem Eisendrath Gesicht und Busen umgab, noch ein Tuch um ihren Kopf schlangen und sie trotz ihres Wimmerns und Widerstrebens zu dem Kerker der beiden Paviane schleppten, die
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Unglückliche hinein stießen und grinsend das Gitter wieder hinter ihr schlossen.
Einige Augenblicke wehrte sich das Mädchen ziemlich lautlos gegen die Angriffe, mit denen in bestialischer Gier die beiden Affen über sie herfielen, dann aber, als bei ihrem Unterliegen die Krallen der Paviane selbst das schützende und ihr Wimmern erstickende Tuch zerrissen hatten und sie durch den Widerstand, welchen ihr Gebiß an der starken Drahtmaske fand, noch wilder geworden, gellte der Hilferuf der Ueberwältigten so furchtbar und entsetzlich zwischen das Hohnlachen der beiden Mohren, daß der kleine Professor erschrocken aufsprang, das Pergament, das er eben zu entziffern suchte, zu Boden werfend.
»Um Himmelswillen - was geht dort vor? Das ist eine Weiberstimme - wenn Du ein Mensch bist - Herr -«
»Was kümmert uns das Weib!« sagte ruhig der Assassinenfürft. »Es ist Nichts los - setze Dich, Freund, und nimm diese Schrift auf - sie berichtet von unserem Bündniß mit den Templern, und ich schenke sie Dir. Wenn Du so schwache Nerven hast, hattest Du nicht nach Gengarab kommen sollen. Ich habe gehört, daß die Kaiser Roms die Christenmädchen im Circus den Löwen und Tigern zum Zerfleischen vorwarfen, und dieser Sclavin geschieht Nichts, was ihr ans Leben geht - sie möge sich ihrem Kismet fügen und Männer nicht stören, wenn sie nicht Schlimmeres erfahren will. Setze Dich, Franke, und laß uns fortfahren!«
Aber noch einmal wieder gellte das Geschrei, bis es in Wimmern und Schluchzen erstickte.
»Nimmermehr! ich will wissen, welche Schandthat hier geschieht - und wenn ich sie hindern kann ...«
Der kleine furchtsame Gelehrte war auf einmal ein halber Löwe geworden - ein entsetzlicher Gedanke war ihm gekommen, er sprang nach den Teppichen, ein glücklicher Griff ließ ihn die öffnende Schnur erfassen und riß sie zur Seite, daß die Halle mit ihrem ganzen scheußlichen Schauplatz vor ihm lag. »Ungeheuer - haltet ein!« - er wollte vorwärts springen zu Hilfe, aber die Knie knickten unter ihm zusammen. »Wenn ein Weib Dich geboren, - hilf! rette!«
Aber schon war andere Hilfe zur Stelle, als sie der wirksamste Anruf an den verächtlich über seine barbarische Handlung die Achseln zuckenden Greis hätte erwirken können; denn rechts und links von kräftiger Hand getroffen, taumelten die beiden Mohren zu Boden.
»Goddam! schwarze Schurken - seid ihr schlimmer als die Bestien des Waldes?!«
Ein Griff der gewaltigen Faust riß das Eisengitter aus seinen Fugen, hinter dem der Mädchenleib sich unter den langen behaarten Armen der Affen wand und den blutenden Körper aus ihren Klauen.


Der Dailkebir, als er auf den Befehl des Fürsten die Fremden aus der Halle führte, geleitete sie zunächst zu einem Gemach, wo ein Imbiß nach orientalischer Sitte für sie bereit war: Pillaw, gebratenes Lammfleisch, Hühner, deren es zahlreiche Gattungen im Gebirge giebt, Früchte
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und scharfer Araki, wie er über Aden aus Indien und von den Molukken kommt. Er machte den Wirth, nöthigte seine Gäste zum Zulangen und schlug ihnen dann vor, in das Thal hinabzusteigen, um die Rosse, die dem Fürsten und den Dais gehörten, zu besichtigen, oder den Waffenübungen der jungen Männer und den Kämpfen der wilden Thiere beizuwohnen, von denen stets eine Anzahl in den Gewölben am Fuße des Felsens unterhalten würde. Vergebens versuchten sowohl der Arzt wie der junge Engländer in der Unterhaltung so viel Auskunft wie möglich, nicht allein über die Sitten des seltsamen Volkes, unter dem sie sich befanden, als namentlich auch über die Lage der Burg und die Ausdehnung des Thales nach Süden und Norden zu erhalten. Der Dailkebir antwortete nur zurückhaltend und so sahen sie sich auf ihre eigenen Wa[h]rnehmungen beschränkt, bis sie erklärten, ihm in das Thal folgen zu wollen, ohne daß sie vorerst einen Begriff hatten, auf welchem Wege dies geschehen könne.
Dieses Räthsel wurde ihnen jedoch bald gelöst, als der Dailkebir sie in's Freie und zu dem entgegengesetzten Abhang des Felsenplateaus führte; denn hier öffnete sich, und auf gleiche Weise bewacht und mit einem riesigen Fallgitter versehen, ein Thorweg wie auf der Seite gegen die Bergwand, nur daß hier die Fallbrücke fehlte und der Ausgang in die freie Luft führte. Als sie aber der Schwelle näher traten, bemerkten sie, daß vor dem Ausgang ein kurzes altanartiges Plateau sich befand und von diesem etagenartig eine ziemlich bequeme breite Treppe, zum Theil in den Fels selbst gehauen, an diesem bis zur Tiefe nieder
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führte. Außerdem streckte sich statt der Zugbrücke über dem Thor eine Maschinerie hinaus, welche die Europäer sofort als einen Krahn erkannten, mittels dessen Lasten oder ein weiter Korb in die Tiefe gelassen oder vom Boden emporgehoben werden konnten.
Eine Anzahl von Männern und Jünglingen je nach der verschiedenen Abstufung ihres Grades hatte sich um das Thor versammelt und das aufmerksame Auge des Arztes bemerkte, wie der Dailkebir diejenigen besonders auswählte, die er zu ihrer Begleitung bestimmte.
»Ziehen die Franken vor,« frug er alsdann höflich, »die bequemere Art des Niedersteigens in dem Kettenkorbe zu wählen, oder fürchten sie den Schwindel auf diesen Steinstufen nicht? Was bringst Du, Jesus? Will die Königin der Brustlosen uns zur Jagd begleiten, oder der Mann der Bücher dem Kampf im Thierzwinger beiwohnen?«
»Die Khanum hat die fremde Frau bei sich behalten, sie wird von dem Altan des Kiosk aus den Uebungen unserer Tapferen zuschauen, und der Fürst Johannes hat den Mann der Bücher zu sich entboten.«
»So geh zurück zu den Weibern, Knabe,« sagte der Dailkebir spöttisch - »ihre Stimmen klingen in Deinem Ohr süßer als der Klang des Stahls. Wir werden später einen Ritt durch das Thal machen und zurückkehren, wenn die Sonne sinkt.«
Der Engländer wandte sich zu seinem Begleiter, dem Trapper. »Es wird gut sein, Freund, wenn unsere Schutzbefohlene nicht so ganz verlassen zurück bleibt. Ich bitte Dich daher, in ihrer Nähe zu verweilen, bis wir zurückkehren.
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Der Riese nickte zustimmend. »Gehn Sie unbesorgt, Mylord - so lange diese Knochen zusammenhalten, wird ihr Nichts geschehen. Doch Sir, achten Sie auch auf sich selber. Sie wissen, in welcher Gesellschaft Sie sich befinden.«
Lord Frederic nickte ihm zu. »Sei unbekümmert, Freund. Es ist nöthig, diesen Männern so wenig Mißtrauen als möglich zu zeigen, bis wir wieder Alle vereinigt sind. - Geh voran, Aga, wir sind bereit Dir zu folgen!«
Der Dailkebir begann ohne weitere Bemerkung die Treppe niederzusteigen, wozu allerdings, da ihr die Seitenlehne fehlte, man ziemlich schwindelfrei sein mußte, da unwillkürlich das Auge sich in die Tiefe tauchte. Aber je weiter sie kamen, desto breiter und sicherer wurde der Weg und mit steigendem Interesse mußte sie die Landschaft erfüllen, die unter ihrem Auge emporzuwachsen schien. Bald konnten sie auch deutlich erkennen, daß um den Fuß des Felsens, von Neugier und Schaulust herbeigezogen, sich zahlreiche Menschengruppen sammelten, theils zu Fuß theils zu Roß, bis sie sich endlich in dem sich um sie bildenden Kreise befanden. Unter der Menge zeigten sich viele Frauen und Kinder und der Arzt bemerkte mit einer gewissen Befriedigung, daß selbst das niedere Volk nach orientalischen Begriffen ziemlich reinlich und nicht mit jenen unsauberen Lumpen bedeckt war, die in Egypten überall sich aufdrängen. Es schien ein strenges Regiment über dieses Volk zu herrschen, denn auf den geringsten Wink des Emirs machte die Menge sofort Platz.
»Wo ist der Leib Dessen, der gehorsam eingegangen
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ist in das Paradies,« frug der Dailkebir, während er durch die Reihen schritt.
»Sie haben ihn in das Haus seiner Mutter gebracht,« sagte andächtig ein alter Mann. »Allah ist groß und gnädig, daß er ihn so jung sterben ließ zu seiner Ehre. Ich bin der Bruder seiner Mutter.«
»Du bist Mehmed, der Barbier, ich kenne Dich wohl. Ich habe mit Dir zu sprechen. Warte hier auf mich. Laßt die Pferde vorführen zu einem Wettritt.« Dann wandte er sich zu einem der Dais. »Suche die Fremdlinge eine halbe Stunde zu beschäftigen - ich habe mit einigen unserer Getreuen zu reden. Du weißt, daß das Priorat im Dschebal erledigt ist. Hat sich Etwas ereignet?«
»Nein - wir warten auf das Zeichen. Ist Azraël dem Scheich näher getreten? Das Volk liegt in den Moscheen auf den Knieen.«
»Die Thoren! Jener Mann dort ist ein fränkischer Hakim, den ein böses Geschick nach Gengarab geführt und ich selbst mußte ihn geleiten. Seine Kunst hat Azraël auf's Neue gebannt. Du kennst die Tücke des Fürsten - er hat vor, mich nach Kahira zu senden - aber ich weiche nicht, ehe ich Gewißheit habe. Du weißt, wir haben Feinde im Rath der Dais!«
»Ich halte die Ohren und Augen offen. Was hast Du mit den Fremden vor?«
»Ich darf nicht thun mit ihnen, wie ich möchte, so lange der Ring am Finger des Johannes ist. - Aber es ist ein Mann aus Habesch unter ihnen, der das Geschäft für mich besorgen wird - führe sie nach den Zwingern
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der Thiere und lasse die Lassiks einen Waffengang machen, oder einige der Bestien hetzen, indeß ich die Gelegenheit benutze.«
»Dein Wille geschehe - ich werde unterdeß die Refiks sammeln, auf die wir uns verlassen dürfen. Doch müssen wir vermeiden, Ungehorsam zu zeigen um des Volkes willen.«
Die Nachricht, daß einer der Franken ein Hakim sei, hatte sich unterdeß durch ihre Begleitung in der Menge verbreitet, und von allen Seiten strömten Krüppel und Kranke herbei, die mit dem festen Glauben an die Wunderkräfte der europäischen Aerzte von Doktor Walding Rath und Heilung verlangten, bis auf einen Wink des Dais die Aufseher mit den Schambuks, den Peitschen aus der Haut des Nilpferdes, die Aufdringlichen zurücktrieben. Trotz der Beschäftigung, die er auf diese Weise so unerwartet gefunden, hatte der Arzt doch nicht aufgehört, seine Umgebung scharf im Auge zu behalten und die geheime Unterredung des Dailkebirs mit dem Dais wohl beachtet. Er folgte daher der Einladung, die Ställe des Scheichs zu prüfen, die im Grunde nichts weiter waren, als große Hürden, mit einem gewissen Mißtrauen, während der Engländer mit aller Begeisterung seiner Nation für den Sport dem Vorführen der einzelnen Pferde aus ächt arabischem Blut mit dem größten Interesse sich zuwandte. Nach einem kurzen Wettrennen folgten die Europäer der Einladung, zu den Zwingern der wilden Thiere zu treten und diese in Augenschein zu nehmen. Es waren in der That nicht uninteressante Exemplare in den zum Theil durch Kunst oder Natur in dem mächtigen Grund des
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Felsens gebildeten Grotten verwahrt, vom riesigen Elephanten aus Kordofan, den Löwen von Dongolah bis zur Gazelle der Wüste.
Diese Gelegenheit schien der Dailkebir zu seinen Zwecken benutzen zu wollen, denn er näherte sich hier dem Lord und seinem Begleiter,
»Liebt der Beisädih die Jagd?« frug er.
»Gewiß, Emir, ein großer Theil meiner weiten Reise hat ihr gegolten.«
»Dann kann ich ihm zu morgen eine solche auf die Elephanten versprechen. Die Jäger im Thal haben mir gemeldet, daß sie die Spuren der Schwerfüßler auf den Abhängen des Gebirges im Süden bis zu der Ebene hinab bemerkt haben.«
»Wie,« sagte der Arzt - »sollte es möglich sein, daß so gewaltige Fleischmassen eine starke Bergkette übersteigen und so weit nach Osten aus dem Quellengebiet des Nils kommen können, wo nach allen Erfahrungen ihre letzten Weideplätze sind. Viel eher hätte ich noch geglaubt, daß der Löwe ...«
Der Assassine unterbrach ihn. »Jene Träger des Elfenbeines, die der weise Hakim dort angefesselt sieht, sind in den Thälern des Djebel Langai gefangen worden. Der Elephant steigt eher über die Gebirge, als der König der Thiere, der träg und feig ist, wenn ihn nicht der Hunger oder der Durst peinigt. Hassan ben Simson, der gern seinen Freunden ein Vergnügen bereiten möchte, ehe sie das Gebiet von Gengarab verlassen, will, während sie den Kampfspielen seiner Jünglinge zuschauen und sich an
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einer Hetze des tückischen Leoparden ergötzen, mit einem schnellen Ritt sich selbst von der Anwesenheit der Spuren überzeugen, damit er für Sonnenaufgang seine Anordnungen zur Jagd treffen kann. Der ›Falke‹, mein schnellstes Roß, wird mich in einer Stunde zurückgetragen haben. Es wird gut sein, wenn ich Eure Feinde mit mir nehme, damit kein Streit sich in meiner Abwesenheit entspinnen kann.«
Ein Druck der Hand seitens des Arztes verhinderte jeden Einspruch des Lords, der am liebsten den Ritt selbst mitgemacht hätte. »Es sei, wie Du sagst Emir. Sorge nicht um uns, es wird uns an Unterhaltung nicht fehlen.«
»Ich lasse den Dais Abdallah hier, der die Lingua-franca so gut spricht wie ich selbst und für Euren Schutz sorgen wird. Bringt die Pferde herbei!« Lord Walpole sah mit möglichster Gleichgültigkeit zu, wie der Assassine mit dem Habesch und dem französischen Offizier sich in den Sattel schwang und davon sprengte, dann folgte er dem Dais zu den Schranken, die gleich den Turnierplätzen des Mittelalters in einem Halbrund bestanden, nur statt der Holzbarrièren in diesem an Holz ohnehin armen Lande mit einem Wall von Steinen und Felsblöcken eingefaßt.
Hier sahen sie einige Zeit den Waffenübungen der jungen Krieger zu, die im Bogenschießen, Speerschleudern und dem Werfen der Messer oder im Gefecht mit Schwert und Schild bestanden, wobei viele der Krieger statt der gekrümmten orientalischen Säbel sich des langen graden Schwertes der Christen, wie ihre Vorfahren es zur Zeit der Kreuzzüge hatten kennen lernen, bedienten. Dazwischen wurde
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das Werfen des persischen Dscherrid oder stumpfer Lanzen wie es bei den Fantasias der Araber zu Roß und von dem Rücken der Dromedare üblich ist, von den Berittenen geübt, bis auf den Wink drei derselben mit scharfen Speeren in die Arena sprengten und von der andern Seite her einer der gefangenen Leoparden aus dem Käfig getrieben wurde.
Das Spiel gewann jetzt an neuem Interesse für die beiden Europäer, die schon früher bemerkt hatten, daß von einem Altan der Burg her eine Anzahl Frauen den Uebungen zusah, worunter trotz der Höhe des Felsens das Glas des Lords deutlich die Fürstin erkennen ließ.
Der Leopard, ein in diesen Gebirgen häufig vorkommendes Raubthier, ist trotz seines Blutdurstes und seiner Keckheit im Grunde eigentlich feig und furchtsam und entschließt sich zu einem Angriff auf Menschen nur, wenn er selbst verfolgt oder verwundet ist. Auch jetzt versuchte das Thier, ein großes starkes Männchen, zunächst die Flucht aus der Umhegung und erst, als es überall an den Punkten, die einen Durchbruch gestattet hätten, von den Lanzen der ringsumher vertheilten Zuschauer zurückgetrieben wurde, die es umkreisenden Reiter es aber immer mehr bedrängten, unternahm es einen Angriff, indem es eines nach dem andern gegen die Pferde sprang, durch die Gewandthen der Reiter aber leicht wieder zurückgetrieben wurde, wobei es bereits aus mehreren Wunden blutete. Endlich gegen den Steinwall gedrängt, kauerte es sich eben zu einem kräftigen Sprunge gegen den vordersten Reiter auf den Hinterbeinen nieder, als Doktor Walding seine Schulter
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von einer fremden Hand berührt fühlte. Sich umwendend erblickte er den Jüngling Jesus, der ihn und den Lord zur Seite winkte und sie schweigend aus der Menge führte, deren Aufmerksamkeit meistentheils jetzt dem Ausgang des Kampfes in den Schranken zugewendet war, so daß sie fast unbeachtet die Stelle erreichten, zu welcher der junge Assassine sie führte. Ein von Eisenstäben gebildeter, an Ketten hängender oben offener Kasten, den der Arzt durch einen Blick nach oben sofort als die an dem Thorkrahn hängende Maschine erkannte - ein anderer Blick auf den jungen Assassinen belehrte ihn durch dessen bleiches erschrockenes Aussehen, daß etwas Besonderes sich ereignet haben mußte.
Mit Worten und Geberden drängte der Jüngling zum Einsteigen in die Maschine, und kaum hatten, mehr instinktmäßig als nach Ueberlegung, der Arzt und Lord Frederic darin Platz genommen, als er sich selbst gleichfalls hineinschwang und sofort der Korb in die Höhe stieg. Erst jetzt auf den Auf des alten Barbiers, mit dem der Dailkebir vorhin gesprochen, bemerkte die Menge die fluchtähnliche Auffahrt und eilte der Dais herbei, dem der Dailkebir die Aufsicht über die Fremden anempfohlen. Vergeblich aber war ihr Rufen - der Eisenkorb schwebte wohl schon auf einem Drittel der Höhe und bewegte sich mit einer Schnelligkeit, die jedem Nachklimmen auf der Stufentreppe weithin zuvorkommen mußte.
»Was ist geschehen, Knabe,« frug endlich während der Auffahrt in arabischer Sprache der Arzt. »Ist der Fürst plötzlich wieder erkrankt?«
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Der Jüngling schauderte. »Frage nicht, Fremdling - Schlimmes hat sich ereignet. Die Khanum selbst sandte mich, Euch so schnell als möglich zu holen - Eile thut noth, es gilt Euer Aller Leben und Gabriel ist mit uns, daß er mich Euch finden ließ, ehe Hassan ben Simson zurückkehrt. Steigt aus und folgt mir zur Khanum!«
Sie mußten mit diesem unvollkommen Bericht sich begnügen, obschon Lord Frederic wiederholt den jungen Mann mit Fragen nach der Fürstin drängte. Sie fanden zu ihrer Ueberraschung die Khanum bereits unter dem Gewölbe des Thors ihrer harren, den Professor am Arm haltend, der an keine Pergamente mehr zu denken schien; denn er stierte halb von Sinnen umher und hörte kaum auf die Worte der Khanum bis er seinen stattlichen Zögling erblickte und sich diesem fast schluchzend in die Arme warf.
»Gott segne Deinen Anblick, theurer Freund und Zögling! By Jove - Mylord, ich flehe Sie an, lassen Sie uns diesen schrecklichen Ort verlassen, sobald als möglich, und wenn es dem allmächtigen Gott gefällt, daß wir hier unser Leben verlieren sollen, so lassen Sie uns zusammen sterben als Christen wie es Ihnen und mir gebührt, obschon es allerdings schade ist, daß so viele mit Mühe und Gefahren erworbenen Beobachtungen der Mitwelt verloren gehen sollen!«
Die Khanum rief hastig dem Jüngling einige Worte zu - und dieser zog seine Begleiter tiefer in das Gewölbe des Thores. Gleich hinter ihnen rasselte das schwere aus starken Eisenstangen bestehende Fallgatter in seinen Falzen nieder und schlug in die Fugen.
»Befestigt es wohl!« befahl die Khanum und Du, Jesus, sorge dafür, daß der Eisenkorb an die Ketten gelegt wird. Nimm den Schlüssel zu Dir, und die Strafe ewiger Vernichtung über Jeden, der es wagt, Gitter oder Krahn zu öffnen auf einen andern Befehl, als den des Scheich, der es bei diesem heiligen Ringe verbietet, den er zum Zeichen seines Wortes diesem Mann anvertraut hat!«
Sie hob fast mit Gewalt die Hand des blassen Gelehrten in die Höhe und streckte sie den Wächtern des Thurms entgegen - an dem Zeigefinger des Professors sah zu seinem Erstaunen der Arzt den Ring funkeln, dessen Abdruck er vor wenigen Stunden dem Fürsten des Gebirges abgezwungen hatte.
Die bewaffneten Wächter des Eingangs warfen sich bei dem Anblick des Ringes demüthig zu Boden und schlugen Stirn und Brust.
»Melde dem Herrn oh Khanum unsern Gehorsam!«
Zugleich brachte der Jüngling zwei mächtige eherne Schlüssel mit seltsam geformtem Bart, so daß man wohl begriff, daß nur durch sie die Schlösser, zu denen sie gehörten, geöffnet werden konnten.
»Kommt - jeder Augenblick Zögerung kann Euer Verderben sein!« Sie schritt eilig voran - noch immer unbewußt dessen, was geschehen, folgten ihr der Lord und seine Freunde mit Jesus.
Die Khanum eilte durch den Corridor, der zu der Waffenhalle der Patriarchen, seinem gewöhnlichen Aufenthalt führte und schien alle unberufenen Lauscher sorgfältig entfernt zu haben, denn Niemand begegnete ihnen, bis sie am
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Eingang selbst den Bärenjäger fanden, der einen gewaltigen eisernen Streitkolben gleich einem Gewehr auf der Schulter trug.
»Frage den Mann mit der Kraft eines Löwen, ob Niemand das Gemach des todten Scheich betreten hat?« gebot die Fürstin dem Arzt.
»Großer Gott - der Scheich ist gestorben in meiner Abwesenheit? Hast Du ihm denn nicht die Tropfen gereicht, als der Anfall kam?«
»Sieh selbst! - Nicht Menschenhand oder die Krankheit hat den Mächtigen überwunden - seine eigene Schuld that es! frage diesen Mann, den wir an seinem Lager fanden, obschon er sonst kaum den Muth der Gazelle zu haben scheint!«
In der That schien der kleine Professor trotz der Anwesenheit seiner Freunde nur ungern ihnen zu folgen, als sie jetzt näher traten.
Der erste Anblick, der sich ihnen bot, war ein von der eisernen Keule des Trappers, der diese Waffe zum Kampf gegen die beiden Bestien aus der nächsten Gruppe gerissen, erschlagener Pavian, der seine widrige Gier und den Kampf um die ihnen geraubte Beute mit zerschmettertem Schädel gebüßt hatte. Aber schrecklicher wirkte das zweite Opfer, obschon die Sorge der Khanum bereits das Widrigste des Anblicks beseitigt zu haben schien. Auf seinem Lager lag, die Glieder in hartem Kampf krampfhaft gebogen der Körper des alten Mannes von Blut bedeckt und mit gräßlichen Wunden Gesicht und Hände zerfleischt; das in Todeskampf herausgequollene Auge, die
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blaue Farbe des Angesichts, wo es weder durch Wunden noch durch Blut entstellt war, aber mehr noch die Spuren der sehnigen Krallen um den hagern Hals überzeugten den Arzt, daß der Tod durch Erwürgung erfolgt war.
»Welches Unglück, welches Verbrechen ist hier geschehen? Der Arzt hat das Recht der Frage, ich versuche Nichts eher, als bis ich weiß, was geschehen?«
Die Khanum wiegte den Kopf. »Frage nicht, Hakim - es war der Wille des Urgeistes und jede Hilfe ist vergebens - sein Leben ist entflohen. Als dieser Mann hier in die Henanah stürzte, nachdem ihm Jesus auf den Hilferuf des thörichten Weibes den Weg hierher gewiesen und er sie ihren Gefährtinnen zuwarf - eilte ich hierher, aber das Thier war bereits von dem Mann der Bücher, so schwach und schüchtern er sonst ist, verscheucht und flüchtete davon. Es muß sich nach dem Tod seines Gefährten auf den Hilflosen geworfen haben, um seine Wuth und Blutgier an ihm zu kühlen.«
»Und kein Beistand war in der Nähe?«
Die Khanum wies verächtlich nach der Höhle, deren Gitter wieder geschlossen war.
»Ich ließ die Mohren, die selbst noch halb betäubt waren, von dem Rustam hier dort hinein werfen, damit sie das Geheimniß seines Todes nicht vor der Zeit verkündeten. Der Kopf der Halbmänner wird ohnehin büßen müssen für seinen Tod, denn das Geheimniß des Wie darf nicht verrathen werden. Aber der Tod des Scheich kann nicht lange verschwiegen bleiben und das schwarze Banner muß auf den Zinnen von Gengarab wehen; der
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Mann, der bestimmt ist, der Fürst der Berge zu werden harrt in der Nähe, wenn er - dem seine letzte Lebenskraft den Ring mit der grünen Schlange in die Hand drückte - nicht selbst den Thron der Homairi besteigen will.«
»Wie - Professor Peterlein - unser Gefährte?«
»Nimmermehr - um keinen Preis der Welt und alle Entdeckungen der Wissenschaft möchte ich noch Etwas zu thun haben mit diesem Volk! Nur fort, fort Freunde von hier, wenn es möglich ist! Möge der Satan, dem sie dienen, all' ihre Pergamente und Geheimnisse holen!« der kleine Gelehrte focht mit Händen und Füßen.
»Es wäre ein schlimmer Hohn auf das Gedächtniß Dessen, der dem Urgeist sein Selbst zurückgegeben,« sagte trauernd die alte Frau. »Aber wir müssen den Zufall uns zu Nutze machen, denn bei der Erinnerung an die Zeit meiner Jugend und des Glaubens meiner Mutter habe ich mir gelobt, Euch zu retten, und mit Euch den letzten Sprossen seines Blutes, Jesus, damit er den Fluch Eblis besiege und ein Prophet des Kreuzes werde, zu dessen Glauben ich seine reine Seele von Kind auf vorbereitet habe. Doch unsere Zeit ist kurz und Ihr müßt den Weg in's Gebirge zurücknehmen noch in dieser Stunde. Denn ehe die nächste vergeht, wird Kampf und Mord hier sein, und wer kann sagen, wer den Sieg davon trägt und was der Wille des Siegers sein mag.«
»Aber Wéra - die Frau, die wir Dir anvertraut? Wir fliehen nicht ohne sie!«
»Sie ist bereits von der Nothwendigkeit des schleunigsten
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Aufbruchs unterrichtet und befindet sich unter den Frauen im Kiosk, um keinen Verdacht zu erregen. Die Rosse sind bestellt und harren bereits jenseits der Zugbrücke. Es gilt jetzt, so lange der Tod des Scheikhs noch verborgen bleiben kann, die Wächter am Thurm und die Führer drüben zu täuschen und zum Gehorsam zu zwingen, und dazu möge der Ring an dem Finger dieses Schwächlings uns dienen. Nehmt Abschied von der Leiche dieses Mannes. Jesus, mein Kind, er war der Ahne Deines Blutes und auch wir müssen scheiden für dieses Dasein! Führe die Fremdlinge so rasch als möglich nach dem Abhang des Gebirges gen Abend dorthin, wo die drei Felsen jenseits des zweiten Thals hinausspringen in die Wüste, dort wirst Du den Scheikh der Abu-Bianah und ihre Gefährten finden!«
»Aber Hassan, unser bisheriger Führer?«
»Er möge seinen ehrgeizigen Schädel einrennen an dem Eisengitter von Gengarab! Der Ring der Homairi ist nicht für ihn bestimmt, - ein Stärkerer als er wird ihn zwingen, den Kopf seines Rosses gegen Mitternacht nach Kahira zu richten - und selbst wenn er Euch verfolgen wollte auf dem Wege zum Nil - das schnellste Roß seines falschen Propheten würde drei Tagereisen brauchen, ehe es das Gebirge auf dieser Seite zu umgehen oder zu übersteigen vermag, während Euch der Weg einer Sonne schon in die Wüste bringt, wo das Wort eines Bianah-Kriegers Euch erwartet, dessen Stamm niemals das seine brach. Nehmt von jenen Waffen, Fremdlinge, was Ihr zu bedürfen glaubt!«
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»Und Du Frau, was wird Dein Schicksal sein? Willst Du uns nicht begleiten?«
»Gott, Allah, oder der Urgeist, wie Jener ihn nannte, werden über mir wachen, bis das Schicksal dieses Knaben erfüllt ist. Gehe mit meinem Segen Jesus, Dein Sinn hat Dich stets von der harten Lehre abgewendet und zu dem mildern Glauben Dessen gezogen, dessen Namen Du trägst. Weile nicht in Kahira, denn Feinde würden auf Deinen Fersen sein, bis vergessen ist dieser Tag. Gehe mit den Christen oder schnüre Deine Sandalen und wende Deinen Schritt zum heiligen Berge Sinai. Auf seinen Höhen sind die Klausen frommer Einsiedler jeden Glaubens, von Moses, dem Christ und Mohamed. Dort prüfe selbst Aller Lehren von dem Wesen der Allmacht und dem Zweck der Erschaffenen, und wenn Du geprüft und gewählt, dann sei einer der Propheten eines mildern Glaubens, als der ist, der Deine Jugend genährt. Vom Aufgang her kam Mariam mit dem Kinde ins Land der Aegypter, daß es gerettet werde nach alter Schrift, vor dem Zorn des Herodes - und aus dem Aegypterland und tiefer Finsterniß sendet eine andere Maria Jesus den Knaben, damit er ein Sieger werde des ächten Glaubens unter den Völkern.«
Der junge Assassine war vor seiner Aeltermutter in die Knie gesunken, und während die Thränen reichlich aus ihren welken Augen auf sein jugendlich lockiges Haupt strömten, umarmte und küßte sie dasselbe im Segnen. Dann sich ermannend führte sie selbst Alle in den großen Vorhof der Burg gegen den Eingang derselben, wo bereits zahlreiche Gruppen der Bewohner der Burg
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versammelt waren und scheu die Köpfe zusammensteckten, denn das Unerwartete der gegebenen Befehle mußte doch Aufmerksamkeit erregt haben, wenn auch noch Niemand gewagt hatte, der Khanum zu widersprechen. Auf ihren Wink klopfte Jesus an die Thür der Henanah und alsbald trat die Fürstin mit mehreren Frauen heraus, die sie bis zum Ausweg begleiteten, dann aber wieder sich zurückzogen.
Der Lord hatte die Hand der Dame genommen. »Wir müssen flüchten,« sagt er, »doch fürchten Sie Nichts, wir schützen Sie mit unserem Leben - Gott hat uns aufrichtige Freunde gesendet, diese Frau und diesen Jüngling. Aber Eile und Entschlossenheit sind nothwendig und ich bitte Sie, vor diesen vielen Augen keinen Mangel an Zuversicht oder Besorgniß zu zeigen. Wir sind bereit, edle Khanum. Nochmals Dank für Eure Gastfreundschaft und den Schutz des Scheichs. Laß den Inhalt dieses Beutels mit Theresienthalern an die Diener der Burg vertheilen.«
Der Hakim hielt bereits den Beutel unter dem Gewande bereit und die wohlangebrachte Freigebigkeit diente dazu, die Männer, wenn sie etwa mißtrauisch geworden, an keine Einsprüche gegen die Abreise ohne die Anwesenheit des Dailkebir denken zu machen.
»Der Fürst unser Aller Gebieter,« sagte die Khanum, »hat befohlen, daß die Fremdlinge noch in dieser Stunde Gengarab verlassen und dahin zurückkehren, woher sie gekommen waren. Der Beistand Allahs ist mit der Arznei dieses weisen Hakims gewesen und der Scheikh Johannes bedarf seiner nicht mehr. Laßt die Brücke nieder, denn
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dort drüben harren bereits ihrer die Pferde. Dann aber soll nach dem strengen Befehl des Meisters dieser Weg weder zum Eingang noch zum Ausgange geöffnet werden bis zur nächsten Sonnenhöhe und bis ich ihm den Schlüssel bringe an sein Lager, denn nach dem Ausspruch des Hakims bedarf er der ununterbrochenen Ruhe nach dem Trank, den er genommen, um neugestärkt und geheilt von all seinen Leiden zu erwachen.«
Diese Erklärung harmonirte übrigens so sehr mit Allem, was sich über die Krankheit ihres Oberhaupts und die Wirkungen der Medizin verbreitet hatte, die ihm der fränkische Arzt verordnet, daß jeder Verdacht schwand. Die Brücke rasselte nieder und die Europäer beeilten sich, sie zu überschreiten, begleitet von der Khanum bis auf ihre Mitte.
Dort reichte sie Jedem zum Abschied die Hand, bis auf Jesus, der - der Letzte von den Scheidenden - sie zurückhielt.
»Sage mir noch Eins, Mutter,« sagte er - »und dann möge Dein Segen mit mir sein, wohin mich Dein Gebot sendet. Was soll mit dem Ringe geschehen, den der Fürst dem Franken anvertraut, wenn er ihn in meine Hand legt, oder willst Du ihn nicht lieber jetzt schon an Dich nehmen?«
»Ihr werdet seiner bedürfen, um drüben, wenn es nöthig, den Gehorsam zu erzwingen. Dann aber, wenn Ihr in Sicherheit seid - Du hast aus dem Munde des Scheikh gehört, daß der Ringe dreie sind, an die sich der Fluch und der Tod bindet - dann Knabe, wenn es
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in Deine Hand gegeben ist, dann versenke sie, wo das Meer am Tiefsten, damit der Fluch Ismaëls von den Menschen genommen und der Kampf geendet wird zwischen Eblis und Gabriel, zwischen Finsterniß und Licht um die Herrschaft der Welt! Sei gesegnet, mein Sohn in Allem, was Du thust zu ihrer Erlösung.«
Sie wandte sich und trat in den Thurm zurück, an dessen Riesenpfeilern die Brücke sich in ihren Ketten in die Höhe erhob, und alle Verbindung mit den Pfaden des Gebirges abschnitt. Dann den gewaltigen Schlüssel auch hier an sich nehmend, kehrte sie nach einem letzten Blick auf die bereits um die Felsenvorsprünge verschwindenden Reiter zurück nach der Burg, und setzte sich, ihr Haupt verhüllend neben der verstümmelten und von ihr bedeckten Leiche ihres Gatten nieder, - jetzt ein machtloser Erdenkloß, während noch vor wenig Stunden sein Wort so vielen Leben gebot.
Erst als in ihren Schmerz die donnernden Schläge an das Eisengitter drangen, mit denen der zurückgekehrte und Unheil für seinen Ehrgeiz fürchtende Dailkebir Hassan den Eingang zur Burg zu erzwingen suchte, schob sie den Teppich zur Seite und öffnete noch einmal den Weg des geheimen Eingangs zur Tiefe.
»Steig herauf, Nureddin, neuer Scheich al Dschebal des Volks der Assassinen, und lehre jenem Ungestümen Gehorsam, der ihn nach Kahira sendet!«
Der Schein der Lampe stieg wie vorhin empor, doch rascher als vorhin und zitternd in der Begier der Herrschaft!


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Ohne auf Zögerung und Widerspruch zu stoßen, hatten die Reisenden, nachdem ihnen wie bei dem Herritt, die Augen von ihren Führern verbunden waren, den Ritt über das Gebirge fortgesetzt. Das Vertrauen, das der junge Assassine trotz seines geringen Grades und seiner Jugend beim Scheikh und auf Burg Gengarab genoß, war zu bekannt, als daß man nicht seinem bloßen Wort gehorcht hätte, ohne daß er zu seiner großen Freude die Macht des Ringes anzuwenden nöthig gehabt hätte. Mit dem Morgen waren sie in das Thal gelangt, das sie zuerst beim Verlassen ihres improvisirten Lagers überschritten hatten, ehe sie die steile Bergwand emporstiegen, und seinem Laufe folgend, ohne ihr früheres Lager aufzusuchen, wandten sie sich sofort nach Norden und setzten den ganzen Tag ohne Unterbrechung ihren Weg fort, gegen Abend erst sich und den ermüdeten Thieren in einem Seitenthal Ruhe gönnend. Sie hatten in der That die richtige Stelle gewählt, denn als sie am andern Morgen dem sich nach der Wüste wendenden Passe folgten und an den vom Scheikh erwähnten drei mächtigen Felsblöcken vorüberkamen, fanden sie unter'm Schutz des letzten, im Angesicht der Wüste nicht allein die zurückgelassenen Freunde, sondern auch den Scheich Abu Beckr mit seinem Knaben und den Reitern. Von ihnen vernahmen sie, daß der Bote, welchen schon mehre Stunden vor ihrer Flucht aus Gengarab die Khanum noch auf Befehl des Fürsten abgesandt hatte, die drei Parteien in großer Aufregung getroffen hatte; denn der Scheikh der Abu-Bianah mit seinen Reitern war im Laufe des Tages an der Nadel der Wüste eingetroffen
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und lagerte dort seinem Versprechen getreu, die kleine Karavane sicher durch die Einöde zu führen. Sofort wurde Achmet der Beduine an ihn abgesandt, um ihm das veränderte Rendezvous mitzutheilen und Adlerblick traf seine Anordnungen so umsichtig und geschickt, daß die Zurückgebliebenen unter'm Schutz der Assassinenwache noch in derselben Nacht ihren bisherigen Halteplatz verlassen und sich den Beduinen anschließen konnten, ohne daß die Reiter des Negus sie daran zu hindern wagten. Einmal bei dem Wüstenscheikh, war die Gefahr eines Angriffs nur gering, obschon es dem scharfen Auge des Trappers und seiner beiden Gefährten, des Sklaven Kumur und des Wüstenabenteurers Abu-Kassi nicht unbemerkt blieb, daß die Reiter des Dedschas in weiter Entfernung ihnen folgten, um sie nicht aus dem Gesicht zu verlieren. Jetzt, nachdem sie durch die Ankunft der Flüchtlinge von Gengarab verstärkt worden und im Besitz zahlreicher Thiere für den Marsch durch die Wüste waren, brauchten sie die Gefahr nicht weiter zu scheuen, und nachdem Jesus ihre Führer von Gengarab her nach reichlich empfangener Belohnung mit ihren Thieren zur Burg zurückgesandt hatte, brachen sie Alle unter'm Schutz des Beduinen Abu-Beckr sofort auf und richteten ihren Weg in die nubische Wüste gegen Nordwest, indem sie beabsichtigten das Dongolah im April mit dem steigenden Wasser des Nils zu erreichen, und auf diesem die Fahrt gen Assuan und Kairo fortzusetzen. Freilich war dies ein an Entbehrungen und Gefahren reicher Zug von fast einem Monat, aber es war dem Lord gelungen, Abu-Beckr für diese Zeit zu gewinnen, und so
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machte die Gesellschaft sich getrost auf den Weg, all den wechselnden Abenteuern des wilden Weges sich überlassend. Schon am dritten Tage hatte die Verfolgung durch die abessynischen Reiter des Dedschas aufgehört, und Lord Walpole mit den beiden Trappern konnte sich von der Zeit ab unbesorgt dem Vergnügen der Wüstenjagd überlassen, die, je weiter sie nach Norden und Westen gelangten, freilich nur auf die verschiedenen Arten der Gazellen und Antilopen und die zahlreiche Vogelwelt beschränkt blieb. -
Während selbst der Professor nach und nach sich von dem Eindruck der überstandenen Schrecken zu erholen begann und reiche Entschädigung durch seine, unterm Schutz von zwei der arabischen Reiter unternommenen Streifzüge in die Wüste, namentlich in Untersuchung der Mineralien heimbrachte, und die Fürstin die Jäger häufig begleitete, hielt sich Doktor Walding stets an dem Hauptzug der kleinen Karawane und widmete Tank-ki ein ganz besonderes Interesse. Das Mädchen zeigte ihm großes Vertrauen und sah zu ihm auf, wie zu einem Vater, während dabei ihre Stimmung immer trauriger wurde. Sie kam während des Marsches selten aus dem Korb auf dem Rücken des Kameels, das sie trug und an den Halteplätzen hielt sie sich gleichfalls meist abgesondert für sich.
Es war am zwölften Tage, als unsere Reisenden zuerst das Nilthal und zwar am Thal (Wadi) Kenous stark oberhalb Assuan unterhalb des letzten Katarakts erreichten. Sie hatten noch eine Tagereise bis zu dieser, der südlichsten Stadt Aegyptens, dem alten Syene, von wo aus erst
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die Schiffbarkeit des Nils durch die Ermöglichung der Dampfschifffahrt eine größere Bedeutung gewinnt und wo die Sonne am längsten Tage keinen Schatten wirft, weshalb schon die Alten hierher den Eintritt in die heiße Zone verlegten. Aber der Lord war so begierig, die Wasserstraße zu erreichen, daß er beschloß, am nächsten Landungsplatz schon eine Dahabieh, eines der eigenthümlichen Nilboote zu nehmen, und den Scheikh Abu Beckr bat, einen Reiter vorauszusenden, um ein solches zu miethen. Der Zufall hatte den Beduinen Achmed getroffen und einstweilen lagerte die kleine Karawane unter Ruinen vielleicht des alten Syenes, die der Professor zu untersuchen wünschte, als plötzlich Jesus und der Knabe Murad erschienen und sich sehr erschrocken zeigten. Es hatte sich auf dem Wege zwischen den Beiden eine große Freundschaft entwickelt, die ihren jungen Jahren entsprach und fast stets sah man sie auf den Abschweifungen von der geraden Richtung der Karawane zusammen wandern.
Murad winkte seinen Onkel zur Seite und vertraute ihm, was sie gesehen: zwei Reiterhaufen, die von Osten und Südosten her, der letztere offenbar ihren eigenen Weg verfolgend, zum Nil zogen.
»Allah Kerim,« meinte der Scheich, »die Wüste ist groß, und es ist die Straße der Karawanen, die nach Assuan ziehen.«
»Aber es sind keine Karawanen,« behauptete Murad, - »es sind gewaffnete Reiter, wir sahen von der Höhe der Felsen aus im Sonnenscheine ihre Waffen blitzen und Jesus, der ein Auge hat, wie der weißköpfige Falke,
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mient[meint], daß es die Reiter sind, die uns drei Tage lang durch die Wüste gefolgt waren.«
»Aber was gehen uns die Reiter vom Aufgang her an?«
»Es sind Homairi!« sagte der Jüngling ruhig. »Ich fürchte, daß es die Reiter des Dailkebirs sind, die sich am Ausgang des Djebels nach der untergehenden Sonne gewendet haben, um uns die Erreichung des Nils zu verlegen. Wir haben gesehen, wie sich die beiden Züge vereinigt haben, nachdem sie Boten gewechselt hatten, und deshalb kamen wir, unsere Freunde zu warnen.«
»Wie weit sind sie noch entfernt?«
»Ihre Rosse kommen auf dem felsigen Grund nur langsam vorwärts,« sagte der scharfbeobachtende Knabe, »aber sie haben Richtung hierher genommen und die Wirrniß der Felsen mag sie vielleicht noch eine Stunde aufhalten, wenn sie nicht vorziehen sollten, die Rosse am Aufgang der Schluchten zu verlassen und zu Fuß uns zu verfolgen.«
Die Nachricht war allerdings so wichtig, daß Abu Beckr eilig einige seiner Araber absandte, die Fremden zu beobachten, bis man Gewißheit über ihre Absichten und ihren Charakter hätte, und einstweilen Alles zum Aufbruch bereiten ließ. Man war allerdings auf dem letzten Tagesmarsch nur langsam vorwärts gekommen, da hier sich die Gebirge von Osten her in einzelnen Ausläufern wieder bis zum Nil herabziehen, und seinen Lauf hemmend die berühmten ersten Katarakten bilden, so daß der Weg nur in einzelnen Schluchten mit Pferden und Kameelen gemacht werden kann und gewöhnlich nur Esel von jener kleinen
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Gattung benutzt werden, die wegen ihrer Ausdauer und Zähigkeit durch ganz Aegypten verbreitet sind.
Der Lord und der Arzt waren rasch von dem Scheikh herbeigerufen worden, während er an die anderen Begleiter den Befehl ertheilte, sich zum Aufbruch fertig zu machen zum großen Bedauern des mit allerlei gelehrten Expeditionen beschäftigten Professors, den man sich übrigens bereits gewöhnt hatte in allen wichtigen, die Richtung des Weges und die Sicherheit der Gesellschaft betreffenden Fragen, als Null zu betrachten; doch unterließ es der Lord nicht aus Achtung vor seinem alten Freunde, ihn bei ernsteren Berathungen wenigstens zuzuziehen, um ihm Gelegenheit zu geben, seine in der That großen geographischen und historischen Kenntnisse zu zeigen.
»Nach dem, was unser Führer erzählt,« behauptete der Gelehrte, »befinden wir uns hier bereits oberhalb der ersten Stromschnellen, oder des ersten Katarakts, bis wohin Se. Königl. Hoheit der Prinz Albrecht von Preußen auf seiner zweiten Reise zum Nil im Jahre 1847 ging, nachdem Höchstderselbe auf seiner ersten fünf Jahre früher bis über den zweiten Katarakt, also bis Ebsambol gelangt war und die gefährliche Fahrt über die Fälle selbst, wo 150 Barken Ibrahim Pascha's ein Jahr vorher gescheitert waren, unter Führung des berühmten Scheikhs der Katarakten unternommen hatte. Ich habe damals von seinem Begleiter, dem Lieutenant Reclam vom Garde-Schützen-Bataillon, einen Vortrag darüber gehört und öfter mit seinem Hofstaatssecretair Strömer davon gesprochen, der ihn gleichfalls begleitet hat. Aber ich erinnere mich nur, daß
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unterhalb des ersten Falles der Nil wieder seine Breite erreicht und selbst Dampfer bis Dandur heraufgehen können - - -«
Der Scheikh erhob die Hand zum Zeichen, daß er sprechen wolle.
»Möge Allah geben,« sagte er, »daß Achmed uns gute Nachrichten bringt. Es ist wenig, was meine Reiter leisten können in diesen Felsen. Wo auch Eblis diese Söhne des Teufels hergeführt hat, es ist sicher, daß sie die Absicht hatten, uns zu begegnen, bevor wir Assuan erreichen, wo der Weg endet, den die Abu-Bianah Euch zu führen übernommen haben. Aber Abu Beckr kennt nicht umsonst dieses Ufer. Laßt die Frauen aufsitzen, daß sie zum Nil flüchten, indeß wir unsere Feinde aufhalten. Wir sind hier im Gebiet des Scheikhs der Katarakten, ich kenne ihn und es könnte Euern Verfolgern übel ergehen, wenn sie es wagen, uns hier anzugreifen.«
Aus dem Vergehen der Gränzüberschreitung und eines Einfalls in ägyptisches Gebiet schienen die Reiter des Abessiniers wie die des Assassinen sich jedoch wenig zu machen, denn einer der ausgesandten Späher, den Adlerblick zurückgeschickt, brachte die Nachricht, daß die verfolgende Schaar am Fuß der Felsen Halt gemacht, ihre Pferde dort verlassen hatte und im Begriff stände, zu Fuß in die nächste Schlucht einzudringen. Bald darauf erschien der Trapper selbst.
»Jener Knabe hat richtig gesehen,« sagte er - »er hat ein scharfes Auge, und wenn er eine gute Erziehung erhält, kann ein tüchtiger Schütze und ein tapferer Soldat
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dieses schlimmen Landes aus ihm werden. Es ist in der That der General des Negus, der uns von Arkiko her verfolgt hat und der Franzose vom Schiff ist auch dabei. Hol' ihn der Teufel, ich hätte große Lust, die Kugel, die er mit seinem Pferde dort vor unserem Versteck parirte, ihm jetzt durch den Schädel zu senden, obschon er ein Christ ist, denn er verdient es nicht besser. Er ist rachsüchtiger, wie eine Rothhaut. Aber es ist noch ein Dritter dabei, wenn mich nicht Alles täuscht, den ich dort gleichfalls gesehen haben muß und der dort auf unserer Seite stand. Ich habe keinen Begriff, wie es kommt, daß er jetzt zu unseren Gegnern gehört; aber in diesen verteufelten Ländern scheint überhaupt nicht Glauben und Ehrlichkeit zu herrschen und ich habe mich daran gewöhnen müssen, seit ich Amerika verließ. Recht so, Brown - schicke die Weiber voraus und an der nächsten günstigen Stelle wollen wir den Schurken unsere Büchsen zu kosten geben, wenn sie allzu neugierig werden. Bisher hätte uns ihr Knall nur verrathen.«
»Wir brauchen uns nicht zu geniren, Adlerblick,« sagte der Trapper »und können unseren ehrlichen amerikanischen Namen in Gesellschaft unserer neuen Freunde immerhin führen. Der Name unseres alten Gebieters ist ihnen bekannt.«
»Meinetwegen,« meinte der Kanadier; »da unser Contrakt doch in Paris endet und wir entschlossen sind, nach den Prairien zurückzukehren, um dort unser Grab zu finden, bleibt sich die Sache gleich. Aber laß Abu Beckr seine Leute zurückziehen und Lord Walpole bestimmen, wer die
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Frauen in Sicherheit bringen soll; denn mir scheint, daß wir uns hier auf einem ziemlich guten Platz für einen Hinterhalt gegen das Gesindel befinden, das nicht Ruhe zu geben scheint, bis es sich die Schädel eingestoßen hat.«
Der Rath des Trappers war in der That gerechtfertigt. Nach der Mittheilung des Scheikh, der sofort Boten absandte, seine Leute zurückzurufen, trennte sie nur noch ein geringer Bergrücken von der fruchtbaren Niederung des Nils, an dessen Ufer mehrere arabische Dörfer fliegen mußten, in deren eines der Bote zum Miethen einer Dahabieh und der nöthigen Ruderer gesandt worden war. Professor Peterlein, Kumur und der Knabe Jesus mit ein Paar der Araber wurden bestimmt, die Frauen zu begleiten und sämtliche Reitthiere mit dem Gepäck nach der Niederung zu bringen, und die Fürstin, die Anfangs sich geweigert, ihre Freunde bei dem Kampf zu verlassen und nur durch die ernsten Vorstellungen des Arztes dazu bewogen worden war, hatte sich an die Spitze des Zuges gestellt. Dagegen hatte selbst der Befehl seines Oheims den Knaben Murad nicht dazu vermocht, und nur seine treue Stute hatte er einem der Araber übergeben.
Während der Zug die Anhöhe so rasch als möglich hinaufstieg, hatten der Scheikh und die beiden Trapper ihre Gefährten möglichst vortheilhaft placirt, und kaum war dies geschehen, als man auf der andern Seite des Passes Männer heraufsteigen sah, deren Jubelruf sofort erkennen ließ, daß sie den Zug der Frauen im Emporsteigen erblickt hatten und sich am Ziel ihrer Verfolgung glaubten. Es waren El-Maresch und seine abgesessenen
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Reiter, die zunächst herbeikamen - an der Seite des Dedschas noch immer der Franzose! In einiger Entfernung hinter ihnen sah man die flatternden Gewänder der Assassinen, an ihrer Spitze den Dailkebir in ruhiger Haltung.
Den Europäern hätte es widerstrebt, die Herankommenden unerwartet mit einer Flintensalve zu begrüßen, aber weniger bedenklich als sie, empfingen Abu Beckr und diejenigen seiner Gefährten, welche mit einer alten Flinte bewaffnet waren, sie mit einer Salve, die freilich wenig Schaden that, da die Gewehre meist nur alte Kommißflinten waren und die Araber ohnehin nicht besondere Schützen sind. Doch genügte die Verwundung eines der besser bewaffneten Abessynier, sie zu größerer Vorsicht zu mahnen und gleichfalls ihre Deckung suchen zu lassen. Von dem Augenblick an entspann sich ein lebhaftes Feuergefecht, in dem jeder der Schützen sich möglichst zu decken strebte, doch rückten offenbar die an Zahl viel stärkeren Verfolger den Reisenden immer vor, indem sie auf beiden Seiten diese zu überflügeln suchten.
Die Assassinen, die keine Gewehre führen, schienen sich ganz von dem Kampfe zurückgezogen zu haben, denn sie waren von der Stelle verschwunden, an der man sie früher gesehen hatte.
Von der Gesellschaft des Lords war bisher nur einer der Araber erschossen worden, der sich unvorsichtig aus der Deckung gewagt, - aber es konnte kein Zweifel darüber sein, daß die Gegner vordrangen.
»Es wird Zeit, daß die braunen Burschen eine Lektion
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erhalten,« bemerkte der Trapper Adlerblick. »Ha, das galt Ihnen, Mylord und der Schuß kam von rückwärts. - Hölle und Teufel - sie haben uns wahrhaftig überlistet und uns den Weg versperrt!«
Ein Ruf des Knaben Murad und dessen Geberden hatte ihn nach rückwärts blicken und bemerken lassen, daß der Zug der Frauen eben die Höhe des Grates erreicht hatte und auf der anderen Seite niedersteigend verschwand - aber zugleich sah er, daß zwischen ihnen und den Frauen bereits der größte Theil der Krieger des Dedschas und dieser selbst mit dem Franzosen sich befand, und der Ausgang ihrer eigenen Stellung nach dem Nil hin von dem Hosseini gesperrt war.
Es bedurfte nur eines Augenblicks, um die beiden Europäer bemerken zu lassen, daß sie so zwischen zwei Feuer gerathen und gleichsam in einer Falle waren. Der Dedschas und seine Krieger schienen sich indeß weniger um sie zu bekümmern, als um die weitere Verfolgung der Flüchtlinge, die ihnen jetzt nicht mehr entgehen konnten. Dennoch hatte es eben nur des einen Blickes und dieser Erkenntniß ihrer Lage bedurft, um den jungen Engländer seinen Entschluß fassen zu lassen.
»Lassen Sie Abu Beckr diesen Posten halten Doktor,« sagte er kurz, »damit wir nicht von hinten angegriffen werden - wir selbst müssen uns durchschlagen zur Fürstin um jeden Preis. Smith! Brown! wenn Sie die Männer sind, für die ich Sie halte - werden Sie uns nicht im Stich lassen!«
»Niemals, Mylord - fragen Sie den Doktor darum!
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Aber einen Augenblick - ich glaube, es wird gut thun zuvor dem braunen Schuft einen Denkzettel zu geben!«
Mit Blitzesschnelle lag seine Büchse im Anschlag und gleich darauf krachte der Schuß. Man sah an der Höhe hinauf den Dedschas selbst mitten zwischen seinen in der Verfolgung begriffenen Kriegern taumeln, die Faust gegen sie hinab drohend heben und dann die Anhöhe herunterrollen. »Und jetzt, Ralph,« sagte der Schütze kaltblütig, »wird es Deine Sache sein, durch Diese hier uns eine Bahn zu brechen!«
Er wies auf die Reihe der Assassinen, die ihre Speere gesenkt den Ausgang des bisher von den Reisenden vertheidigten Hohlwegs gesperrt hielten, eine trotz ihrer Ingend nicht zu verachtende Phalanx, denn hinter ihr, sie zum Widerstand ermunternd und ihn leitend, stand der Dailkebir.
»Gebt Raum! laßt uns durch! Was seid Ihr mit unsern Feinden?«
»Diebische Franken,« schrie der Assassine seine Streitaxt schwingend. »Ihr habt den Ring der Hosseini gestohlen! Gebt den Raub heraus und Ihr mögt frei ausgehn - sonst soll Keiner dem Tod entrinnen!«
»Den Ring?«
»Den Ring des Scheikh al Dschebal, den Ihr aus Gengarab geraubt durch das falsche Weib. Her mit dem Ringe, der mir allein gebührt!«
Der Lord blickte erstaunt auf den Arzt und ließ die bereits zum Angriff erhobene Büchse sinken. »Den Ring, Doktor - wo ist er? Wer dachte noch an den Ring! Wissen Sie davon?«
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»Der Knabe Jesus hat ihn - er ist voraus!«
Es war mehr das Brüllen eines wilden Thieres, was Hassan der Dailkebir ausstieß bei dieser Nachricht - daß Jesus das Kleinod der Assassinen trug. »Dann ihm nach - der Ring gehört mir! er und Ihr Alle sollt sterben bei Eblis!« und den Seinen winkend ihm zu folgen, stürzte er selbst aus der Schlucht und eilte den Abgang hinauf.
Diesen Augenblick benutzten natürlich der Lord und seine Freunde, das Freie zu gewinnen. Bunt durcheinander, Freund und Feind, eilten sie die Anhöhe hinauf, von der ihnen zu ihrem Erstaunen die Krieger des Dedschas gleich einer Welle, die sich am Strande gebrochen, zurück und entgegegen flutheten. Schüsse knallten hinter ihnen drein, auf dem Gipfel des Grates erschien eine Schaar von Männern und immer mehrere, Europäer und Beduinen durcheinander quollen ihnen nach und trieben die Hedschas in wilder Flucht vor sich her!
»Festgestanden, Vetter Frederic!« klang eine laute Stimme - »keinen Pardon, Freunde, den Räubern der Wüste! Hurrah für Alt-England, wir kommen zu rechter Zeit!«
Der Lord blieb erstaunt stehen. »Um Himmelswillen - diese Stimme kenne ich - das ist der Graf von Lerida ...«
»Dein toller Vetter Juan - dessen Streichen der weise Walpole Nichts mehr nachgiebt mit diesem Zug durch die Wüste! Davon später, - jetzt laß uns an sie!«
»Die Fürstin! bist Du den Frauen begegnet, Juan?«
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»Caramba - wenn das die russische Fürstin ist mit ihren Diamanten und Smaragden, so muß ich Dir sagen, Vetter Frederic, Du hast keinen üblen Geschmack - sie ist in Sicherheit, hoffentlich bereits am Bord meiner Barke. Vicomte von St. Bris hat es übernommen, für sie zu sorgen, indeß wir Dir zu Hilfe eilten. Ich muß gestehn, Du schleppst seltsame Gesellschaft mit Dir umher und scheinst an Abenteuern so wenig Mangel gehabt zu haben, wie ich. Wer sind die Bursche da, die so trotzig ihre Speere uns entgegenstrecken gleich einem Stachelschwein? - nieder mit den Waffen oder eine tüchtige Salve soll ihnen allen den Garaus machen!«
In der That hatte sich das Blatt wie mit einem Zauberschlage gewendet. Während rechts und links bewaffnete Beduinen, nach dem Wort und Wink eines alten graubärtigen Mannes in der Uniform eines ägyptischen Offiziers die Krieger des erschossenen Dedschas vor sich hertrieben, die in wilder Flucht den Felsenpaß zurück zu gewinnen suchten und dabei in die Hände des Scheikh Abu-Beckr und seiner Araber geriethen, - hatte sich die kleine Schaar der Hosseini um ihren Anführer geschaart, ihn gleichsam im Quarré umgebend und streckte ihre Speere trotzig jedem Angriff entgegen, sich langsam zurückziehend, da der Dailkebir wohl einsehen mochte, daß diesem so plötzlich erschienenen übermächtigem Feinde gegenüber jeder Versuch einer weiteren Verfolgung der Frauen und ihrer Begleiter mehr als vergeblich sein und nur mit ihrem vollständigen Untergang enden konnte. Finsteren Blickes stand der Dailkebir in der Mitte der Seinen noch
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nach einem Entschluß ringend, während sich eine immer größere Zahl von Arabern um seine Schaar sammelte und nicht übel Lust zu haben schien, über sie herzufallen, als der Lord mit Doktor Walding und seinem Vetter ihnen näher trat.
»Emir,« sagte er - »wenn Du auch wie ich fürchten muß, Schlimmes mit uns vorhattest, so ist doch noch Nichts geschehn, was uns vergessen lassen kann, daß Du zuerst Dich uns freundlich erwiesen und uns Schutz gewährt hast gegen die Verfolgung der Habesch. Wenn Ihr die Waffen niederlegt und geloben wollt, friedlich in Eure unheimlichen Berge zurückzukehren, mögt Ihr ungefährdet Eure Pferde aufsuchen, sobald wir das Schiff dieser Franken bestiegen haben, und es sei Frieden zwischen Euch und uns. Entscheide Dich rasch; denn wie mir meine Freunde sagen, ist das Boot zur Abfahrt bereit!«
»Möge Dein Schatten lang sein, Aga,« sagte der Scheikh Abu Beckr, der mit dem ägyptischen Offizier her beigekommen war, den er wohl zu kennen schien. »Du denkst doch hoffentlich nicht daran, diese Söhne des Teufels, die Allah in unsere Hände gegeben hat, ungekränkt zurückkehren zu lassen? Dieser Mir Alai ist der Scheikh der Katarakten und mein Freund. Sein Beistand ist es, der uns Alle gerettet hat. Was soll aus uns werden, wenn diese Verworfenen, die vorgeben, an den Propheten zu glauben und Nichts sind, als Anbeter des Teufels, sich an uns rächen für ihre Niederlage? Noch hat Niemand Gutes gehört von einem Ismaëliten.«
»Ich denke Freund Abu Beckr,« beharrte nach einer
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kurzen Berathung mit dem Arzt und dem ägyptischen Offizier der Engländer auf seiner Entscheidung, »wenn diese Männer ihre Waffen abgeben, haben sie in langer Zeit nicht die Macht, Dir oder Anderen zu schaden und es würde sogar übel sein für Deinen Stamm und selbst für die ägyptische Regierung, die, wie ich höre, gegenwärtig mit ihnen in Frieden lebt, ihre Rache zu reizen. Was uns betrifft, so sind wir ganz aus ihrem Bereich, sobald wir auf dem Nil sind, denn wir finden in Assuan das Dampfschiff meines Verwandten, der nur um die Katarakten zu sehen, seinen Weg bis hierher ausgedehnt hat und ursprünglich nur in Assuan nach uns bei den Karawanen forschen wollte. Du aber, Freund Abu, magst als Zeichen unserer Dankbarkeit außer dem bedungnen Lohn die sämtlichen Reit- und Lastthiere nehmen, mit denen es uns gelungen ist unter Deiner Führung die Wüste zu durchkreuzen; Du findest Schutz genug hier, bis Du zu den Zellen Deines Stammes zurückkehren kannst.«
Der reiche Lohn, der auf diese Weise ihm zufiel, beseitigte sofort alle Einwendungen des Wüsten-Scheikhs und er hob die Großmuth des Beisädih bis in den Himmel.
Der Dailkebir hatte noch immer schweigend der Berathung über sein Loos zugehört; auf seinen Wink legten jetzt die Assassinen ihre Waffen auf einen Haufen und er selbst wandte sich nun an den Lord.
»Will der Beisädih jetzt, wo Frieden ist zwischen unseren Stämmen Hassan ben Simson den Ring zurückgeben lassen, daß ich ihn nach Gengarab zurückbringen mag? Der Knabe Jesus wird meinen Befehlen folgen.«
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»Ich kann ihm dies nicht gebieten, denn ich habe kein Recht dazu. Wenn er sich ohne Zwang bereit erklärt, mag er es thun - obschon nach Allem, was ich gehört und wahrgenommen, es besser sein dürfte, dieses unheimliche Symbol der Macht wäre weder in Deiner noch in der Hand eines andern Mannes aus Deinem Stamm.«
»Soll ich Dich also zu ihm begleiten?«
»Nein - Du magst am Ufer seinen Entschluß erfahren!«
Der Assassine preßte die Zähne zusammen. »Den Entschluß eines Knaben? Machst Du einen Mann wie mich davon abhängig?«
»Eben darum soll sein Entschluß frei sein - da er nicht nach Gengarab zurückkehren wird.«
»So ist er ein Abtrünniger geworden von dem Glauben seiner Väter? Fluch ihm und meiner Blindheit! Du bist ein Thor, Christ, daß Du Eblis auf seine Fersen hetzest; denn wisse, wer der grünen Schlange geschworen, ist ihr verfallen für immer.«
»So mag es Dein finstrer Glauben lehren - der Glaube der Christen lehrt die Erlösung vom Teufel - jedenfalls soll der Entschluß des Jünglings frei bleiben. Aber wen haben wir hier? Herrn de Thérouvigne, meinen unversöhnlichen Gegner. Ihr wißt vielleicht gar nicht, Vetter Juan, daß Du da einen französischen Offizier zum Gefangenen gemacht hast, der sich den Banditen der Wüste angeschlossen hatte, bloß weil ich ihm für eine eingebildete Beleidigung die unter Thoren übliche Genugthuung verweigert hatte. Er ist ein Verwandter der Fürstin und
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ich bitte Dich, ihn frei zu geben - er wird von Assuan leicht Gelegenheit finden, Cairo zu erreichen.«
Der Graf zuckte die Achseln. »Saint Bris hat ihn zum Gefangenen gemacht, wobei er einen Säbelhieb in die Schulter davon trug. Er mag über sein Schicksal entscheiden. Das erinnert mich, daß Du mir gesagt hast, Du hättest einen Arzt in Deiner Begleitung, der früher in Indien war. Vielleicht kennt ihn der Oberst, der im Dienst der Rhani von Ihansi stand. Wir finden ihn an Bord der ›Victory‹ in Assuan, wo er die Nachforschungen nach Euch leitet, indeß ich mir es nicht versagen konnte, die Katarakten zu besuchen - zum Glück für uns Alle.«
Doktor Walding war dem Sprecher näher getreten, mit dem ihn der Engländer bereits, während sie zu den Ufern niederstiegen, flüchtig bekannt gemacht hatte.
»Sein Name, Herr?[«]
»Oberst Grimaldi oder Maldigri, wie er in Indien sich nannte!«
»Marcos Maldigri - Heiliger Gott, welcher wunderbare Gang des Menschen-Schicksals führt uns hier zusammen! O, erzählen Sie mir von ihm und seiner damaligen Herrin! Auch ich kannte sie.«
»Bah, Doktor, wir werden Zeit genug dazu an Bord haben,« entgegnete der Graf von Lerida, »denn Sie müssen wissen, daß auch ich zu den alten Indiern gehöre, wenn auch meine Abenteuer dort nicht von Bedeutung sind. Ich traf in Rom wieder mit ihm zusammen und er erbot sich, mich auf der Nilfahrt zu begleiten, nachdem uns Graf Boulbon von Deinem tollen Project erzählt hatte, statt
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mit ihm über Suez zu gehn, den Weg quer durch die Wüste zu nehmen. Caramba Vetter, nur ein Vollblut-Engländer kann auf solche Ideen kommen und fällt dabei stets wieder auf seine Füße. Monsieur de Thérouvigne, ich denke, es wird Ihnen wohl Nichts übrig bleiben, als mit uns an Bord zu gehn; denn eben fällt mir ein, daß wir schwerlich vor Cairo auf ein französisches Consulat stoßen werden. Dort mögen Sie mit Ihrer Regierung das Weitere abmachen. Das geht uns Nichts an, denn von uns sind Sie im ehrlichen Kampf gefangen worden.«
Der Franzose blickte noch immer stumm vor sich nieder und rang offenbar mit einem Entschluß. Er mochte wohl fühlen, wie thöricht und unwürdig er sich von seinem Groll und seinem Vorurtheil hatte hinreißen lassen und nur sein Stolz hinderte ihn noch, dies offen einzugestehn. Vor Allem war es die in Gengarab gemachte Entdeckung, wessen Werkzeug er gewesen, was ihn demüthigte. So folgte er verdrossen den Vettern und ihren Freunden, nachdem man auf den Befehl des Spaniers ihm die Bande abgenommen, die seine Arme an einander schnürten.
Schon als sie an der andern Seite der Höhe niederstiegen und den Fluß in seiner ganzen Breite vor sich sahen, wie er sein grünliches trübes Wasser durch das Thal wälzte der kaum eine halbe Stunde entfernten letzten Felsenge zu, erkannten sie, daß jede Gefahr für sie vorüber war. Ein Lager von Zelten und Erdhütten erhob sich am Ufer und die Reisenden erfuhren, daß es Vorbereitungen wären für die Aufnahme einer neuen Expedition, welche Said Pascha über die Fälle hinaus gegen
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die Negerstämme von Darfur und Kordofan rüstete. Somit erklärte sich auch die Anwesenheit des Scheich der Katarakten und seiner zahlreichen Untergebenen. Noch waren die Truppen nicht den Nil heraufgekommen, aber Assuan bereits als ihr Sammelpunkt bestimmt und der Scheikh eben im Begriff, sich dahin zu begeben, um weitere Befehle einzuholen.
In geringer Entfernung vom Ufer ankerten mehrere der eigenthümlichen Nilboote, Dahabiehs genannt, und von dem Hüttendeck des größten grüßte sie bereits das Wehen eines Tuches, das die Hand der Fürstin ihren Freunden entgegen schwenkte. Neben ihr sah man die kleine seltsam in ihrer halb morgenländischen, halb abendländischen Tracht aufgeputzte Gestalt des berliner Professors und die wehenden weißen Gewänder des jungen Assassinen. Stumm und finster blieb der Dailkebir bei diesem Anblick stehen, der ihm wenig Aussicht auf die Erreichung seines Ziels versprach. Dennoch machte er noch einen letzten Versuch, es zu erreichen, indem er den Engländer anredete. »Wird der Baisädih sein Wort halten und mit jenem ungetreuen Knaben sprechen? Diese Wachen der Egypter lassen mich nicht weiter vorangehen - wie soll ich es erfahren, ob er bereit ist, den Ring der Homairi zurückzugeben? Sage ihm, daß Hassan ben Simson die Schätze von Gengarab ihm dafür bietet!«
Der Lord bedeutete ihn, zurückzutreten, er selbst eilte nach dem Ufer, um das Boot möglichst rasch zu betreten. »Wenn der Knabe bereit sich zeigt, soll eine rothe Flagge es Dir verkünden. Aber täusche Dich nicht, Emir, Deine
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Macht ist hier zu Ende. Lebe wohl, Hassan, und möge Dein Allah Dir bessere Einsicht geben über den Zweck unseres Lebens. Dort winken meine Freunde!« Er verließ den Assassinen und eilte der Planke zu, die ihn an Bord der Dahabieh führte; die finstere Lehre von Tod und Vernichtung lag hinter ihm - ein neuer Zweck, ein neues Dasein that sich ihm auf.


Eine Stunde später hatte die Dahabieh die Seile gelöst, die sie am Ufer zurückhielt, denn der Scheikh drängte zur Abfahrt und stand jetzt selbst am Steuer, das sie nach der Mitte des Stromes lenkte, wie die Fluth rascher und rascher der letzten Felsenge entgegenschoß.
Es war ein buntes Gedränge unter dem Sonnenzelt, das man über das Boot herspannte, denn obschon manche der Eingeschifften auf einer zweiten Barke ihren Platz gefunden, saßen doch sämtliche Hauptpersonen in der vom Scheikh selbst gesteuerten und gewannen jetzt erst Zeit und Gelegenheit zum gegenseitigen Austausch der Ereignisse, wenn nicht der drastische Eindruck der immer wilder sich gestaltenden Ufer sie in Anspruch nahm.
Enger und enger tritt hier das letzte Felsenbett des gewaltigen Stromes auf seinem Wege zum Meer zusammen, und rauhe Steinblöcke häufen sich bis fast in die Mitte hinein, so daß eine feste Hand des Steuermanns und eine genaue Kenntniß des Fahrwassers dazu gehört, die Gefahr zu vermeiden. Das Geschrei der Ruderer, der schrillende Befehlruf des Kapitains selbst wurden fast unhörbar unter dem Brausen der schäumenden Fluth, die bei der geringsten Unvorsichtigkeit sie verschlingen
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konnte. Auf dem Dach der Hütte neben dem am Ruder mit seinem Gehülfen steuernden Scheikh sah man die leichte luftige Gestalt des Jünglings Jesus in tiefen Gedanken stehen, gleichgültig gegen die Gefahren um sich her, als vermöchten sie Nichts ihm anzuhaben und als könne sein Fuß über das Tosen der Wässer ihn führen, das die unerschrockenen Männer auf der Spitze des Schiffes beobachteten. Sinnend betrachtete er einen Gegenstand an seiner Hand, auf den der Sonnenstrahl einen grünen Blitz warf.
Da drang plötzlich durch das Toben der Wellen und das Geschrei der Matrosen ein mächtiger gewaltiger Ton, der sie Alle hinüber nach dem linken Ufer des Stroms blicken ließ, der auf seinem Rücken die Geschichte von Jahrtausenden getragen hat. Auf einem der vorspringenden Felsblöcke, unter denen die Stromschnelle vorübersauste, sah man einen Mann stehen, der eben das Horn vom Munde hob, dem er jenen Ton entlockt. Der im Luftzug wehende schwarze Mantel, der Silberhelm mit Turban und Feder und die Klarheit der Luft ließen ihn selbst in dieser Entfernung erkennen. - Es war der Dailkebir, der Assassine Hassan ben Simson. Drohend hob der Finstere die Rechte und schüttelte sie gegen das Schiff. »Gebt den Ring oder seid verflucht in Eblis Namen!« donnerte über das Wasser her sein Ruf und erschrocken fuhr der Lord empor, denn jetzt erst gedachte er des gegebenen Versprechens, das das Gewühl der Einschiffung und Abfahrt ihn vergessen gemacht. »Den Ring! den Ring!« donnerte es nochmals über das Wasser her, auf dem die Dahabieh dahinschoß. Da hob der blonde Jüngling auf dem
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Kajütendach die Hand. - - »Wo das Meer am Tiefsten ist!« sagte die Khanum, murmelte seine Stimme - »möge es ewig verschwinden aus dem Angesicht der Menschen, das Symbol der Finsterniß vor der Herrschaft des Lichts!« und weit hinaus über Bord in den Strudel der Wässer flog es wie ein züngelnder grüner Blitz - der Jüngling aber sank betend nieder in die Knie, während hinter der Barke her ein dunkler Körper sich in die rastlosen Fluthen warf.
»Dreht bei! Ein Mensch im Wasser! Helft - werft Taue aus!«
Thörichter Wahn - nicht Menschenmacht hätte auf diesen Fluthen die Barke auch nur einen Moment aufzuhalten, aus dieser Gewalt ein Leben zu retten vermocht, - im nächsten Augenblick war das leichte Schiff weit, weit über die Stromschnelle hinaus, die Gefahr glücklich überstanden, und nach kaum einer Viertelstunde schaukelte das Boot auf dem ruhiger in flacheren Ufern sich ausbreitenden Strom, der sie bald Alle mit den Flügeln des Dampfes, jenem gewaltigen Fittig der Neuzeit an den versinkenden Denkmälern alter Herrlichkeit vorüber zur Kalifenstadt und zum Meer führen sollte und zu Ländern, wo die Civilisation und das Kreuz regiert.
Ob dort der Kampf um die Herrschaft weniger grausam, weniger gierig und von Blut und Verbrechen befleckt ist, weniger der Wahn regiert und der Saamen der Schlange, als unter den Kindern der Wüste, den Söhnen Eblis? - wir wollen selbst schauen.
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Auf deutschem Strom!

... Es war in Hamburg, der Journalist reichte eben seiner Frau die Hand, sie die bequeme Treppe hinab zu geleiten, die von dem Bollwerk am Hafen hinunter führt zu dem Floß, an das die Jollen anlegen, welche die Verbindung bilden des Ufers mit der langen Reihe der im deutschen Strom ankernden Schiffe, der Küstenfahrer wie der mächtigen Dreidecker, welche den Welthandel der großen Hansestadt über alle Meere vermitteln.
»Boot Herr?«
»Ja - was kostet die Stunde?«
»Ah, mien Heer wollen blos durch die Schiffsreihen fahren? Sind ein Paar große Dreidecker hier, die nächste Woche nach Chili gehen. - Steigen Sie ein!«
»Ich denke die ›Amazone‹ und der ›Komet‹ sind auch hier.«
»Well well, Sir - die preußische Corvette, hat ein wenig Havarie an der englischen Küste gehabt, und sollte auf die Doks, ehe sie nach Danzig und Kopenhagen geht. Schönes Boot, Herr - nur die Masten etwas hoch
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auf die Breite. Schöne Leute darauf, sind manierlicher als die John Bulls und die Danebrogs, von denen draußen einer hinter Blankenese liegt. Wünschte, wir könnten's ihnen einmal zeigen, aber es ist aus mit der deutschen Marine, seit man sie unter den Hammer gebracht und selbst die Schiffe der preußischen Seehandlung so schändlich verschachert hat. Wird nun einmal Nichts daraus, obschon sie sich jetzt wieder mächtig rühren und sammeln sollen im Binnenlande. An Matrosen würde es wahrhaftig nicht fehlen für eine deutsche Flotte, nur - ...«
»Was fehlt also?«
»Hm, calculire Herr, an einer deutschen Flagge selbst« brummte der alte graubärtige Jollenführer.
»Nun - wir haben ja einen Prinz Admiral und einen besondern Marine-Minister!«
»Hab' gehört davon snaken - wird wohl auch so 'ne Landratte sein, der nur die Soldaten drillt!«
»Halt da Alter - redet nicht mehr, als Ihr versteht. General von Roon ist bei Colberg an der See geboren. - Ihr kennt doch die Ostseeküsten?«
»Denke Herr - war in meinen besseren Jahren lange genug auf der Binnensee, obschon ich ein Befahrner bin, der zwei Mal in China war, das eine Mal mit einem Engländer, das andere Mal mit einem Hamburger Schiff. Hab mir grade auf der Ostsee bei Rügen durch einen Sturz von der Raa bei den kurzen Stoßwellen das Bein gebrochen, das mich zwang, als alter Kerl ein Jollenführer zu werden. War Neunundvierzig dabei, als die Schleswig-Holsteiner in der Bucht von Eckernförde die
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›Gefion‹ nahmen und den ›Christian VIII.‹ in die Luft sprengten.«
»Ei sieh da - also ein erfahrener Veteran. Aber wie kamt Ihr dazu, die Hamburger nahmen doch sonst an der Erhebung der Herzogthümer wenig Theil?«
»Bin ein geborner Friese von der Ostküste. Aber Herr - da winkt uns Einer vom Bollwerk nach. Sollen wir ihn herüberholen?«
»Gewiß - es ist einer unserer Freunde, den wir treffen wollten. Rudert zurück.«
»Nicht nöthig, Herr - 's ist ein geborener Hamburger, kenne ihn wohl - auch so ein eingefleischter Preuße, der sich dick darauf thut auf den Kommerzienrath und den Orden - aber er meint's wenigstens ehrlich mit seinem Herzen und 's thut mir leid, daß ich mich verleiten ließ mitzuhelfen, ihm die Fenster einzuschmeißen, weil er zur Illumination aufforderte, als Ihr König das erste Mal nach Hamburg kam. Ist wenigstens ein treuer Mann, kein Halunke, der sich vom berliner Gelde mästet, wie die Hamburger Juden, und dabei den dicknäsigen Engländer spielt, als schämte er sich eines deutschen Namens und deutscher Firma. Ihren Prinz-Admiral habe ich hier 'mal gesehen in Hamburg, nachdem er sich mit der ›Danzig‹ gegen die vermaledeieten Seeräuber, die Riffpiraten an der afrikanischen Küste vor fünf Jahren wacker herumgeschlagen hatte. Hörte ein Garn davon spinnen. Aber ein Marine-Minister müßte doch ein Seemann sein!«
»Ist nicht immer nöthig für einen Minister - der mehr zu denken hat, als ein Schiff zu steuern, oder eine
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Breitseite abfeuern zu lassen. Wenn er nur ein Herz für die Marine seines Landes hat, - und das hat Minister von Roon, der schon einen tüchtigen Anfang mit der preußischen Marine gemacht hat.«
»Will's wünschen, denn es thut wahrhaftig noth, die Danöken werden alle Tage übermüthiger, und die Engländer wollen nicht mal mehr leiden, daß die deutschen Fischer bei Helgoland ihre Netze werfen, während die John Bulls bis an unsere Küsten kommen. Wünschte nur, der Russe hätte seine Marine besser in Ordnung oder die Franzmänner hätten den Bulls nicht geholfen sich zu blamiren im schwarzen Meere oder vor Bomarsund und Kronstadt. Doch da steht Ihr Freund am Bollwerk.«
Die Jolle hatte sich, während der berliner Journalist nicht ohne Vergnügen und Interesse den Bemerkungen des alten Seemanns horchte, durch die Schiffe gewunden und der zweiten Treppe gegenüber dem prächtigen Invaliden-Hause für Seeleute genähert, wo der Hamburger sie bereits erwartete und sofort das Boot bestieg.
»Grüß Dich Gott, Weber, ich sehe, Du hast meine Karte bekommen.«
»Ich fand sie und ließ selbst die Börse im Stich, um Dich zu begrüßen. Hast Du schon gefrühstückt, oder wollen wir's droben auf dem Stintenfang thun oder in St. Pauli - es giebt vortreffliche Schinkenpastete.«
»Gourmand! - ich glaub's wohl, daß Dir unsere berliner Küche nicht zusagt - und hast Dich im Bürgerarrest wohl aus Wilken's Keller speisen lassen? Aber
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zuvor muß ich wie Du dem preußischen Patriotismus sein Recht thun und die ›Amazone‹ besuchen.«
Die beiden Freunde hatten herzlich über die Erwähnung des Bürgerarrests gelacht, in welchen der hochweise Magistrat den Consul gesteckt hatte, weil dieser ohne seine Erlaubniß einzuholen durch angeschlagene Placate bei dem Besuch König Friedrich Wilhelm IV. - dem ersten eines preußischen Monarchen nach dem großen Brande von 1842 seine Mitbürger aufgefordert hatte, zum Dank für die damals geleistete Hülfe zu illuminiren. Und das Ministerium Manteuffel hatte in der That diese freistädtische Impertinenz ruhig eingesteckt, statt den erprobten Anhänger Preußens in Schutz zu nehmen oder ihm wenigstens Genugthuung zu geben. Damals wagte man das nicht in Preußen, und die Demokratie hätte einen Angriff auf die Republik daraus gemacht! Ja, es ist damals Viel versäumt worden für die Ehre des preußischen Königsthrons!
»Du weißt gar nicht,« sagte der berliner Royalist, »daß Dich heute Einer rudert, der damals mithalf, Dir die Fenster einzuwerfen, und dies heute herzlich bedauert, da er wahrscheinlich einsieht, daß ohne die preußischen Bayonnette Schleswig-Holstein doch nicht deutsch werden wird, und die Hamburger Flotte niemals Kopenhagen bombardiren kann.«
»Ich glaube, das sehen Viele jetzt ein trotz allen Geschreis und aller Klubreden. Eine deutsche Flotte kann nur der Staat stiften, trotz aller Sammlungen des Nationalvereins. Doch wir wollen später darüber reden.
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Vorerst gilt es die ›Amazone‹ zu besuchen. Was ist ihre Bestimmung?«
»Sie segelt dieser Tage nach Danzig, um sich noch in diesem Herbst zu einer längeren Uebungsfahrt auszurüsten Auch ein zweites Schiff der ›Komet‹ liegt in der Elbe, und ein Däne paßt ihnen an der Mündung auf den Dienst.«
Sie hatten sich bald dem Bord des Schiffes genähert, an dessen Fallreep bereits zwei andere Boote lagen. Auf ihr Gesuch erhielten sie vom kommandirenden Offizier die Erlaubniß an Bord zu kommen, wo sie über die junge frische Schiffsmannschaft ihr wohlgefälliges Staunen an den Tag legten. Eben kam der Kommandant, Lieutenant zur See Hermann mit zwei anderen Herren aus seiner Kajüte herauf.
Es waren dies ein älterer wohl sechszig Jahre zählender Mann von feinem und vornehmem Aussehen, mit dem Johanniterkreuz geschmückt. Aus der Reihe der Kadetten trat sofort ein etwa neunzehnjähriger Jüngling in der knappen kleidsamen Uniform und nahm seine Hand.
»Ich habe manchen Kameraden hier wiedergefunden, Vater, auch schlesische Landsleute, von denen ich hier Graf Matuschka Dir vorzustellen mir erlaube, und meinen alten Freund Zirzow.«
Der Kammerherr, denn diesen Titel gab ihm der Kommandant der Corvette, begrüßte artig die Vorgestellten, die sich mit einer Anzahl der jungen Männer um ihn sammelten. »Wirst Du mich zum Hôtel begleiten, Eduard - und wenn es der Herr Kommandant erlaubt, der leider
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bereits meine Einladung zum Diner am Lande abgelehnt hat, - wenigstens einige Deiner Freunde vom Bord einladen?«
»Nein, Vater - ich muß sogleich zurück an Bord des Komet, die Fahrt dahin ist weit, und ich will Dir hier, wenigstens auf preußischem Grund und Boden Lebewohl sagen.«
»So sei es denn - kurz und gut, wie es Soldatenart ist. Wenn Du von Stralsund, wie Du sagst zu Land nach Danzig gehst, wirst Du Deine Freunde wohl dort erst wiederfinden.« Er trat zu dem Kommandanten der Korvette: »Ich brauche meinen Sohn wohl nicht erst Ihrer Güte zu empfehlen, denn ich hoffe, er wird stets seine Schuldigkeit thun.«
»Dafür Herr Kammerherr bürgt sein Name und die vortreffliche Art, wie er sein Examen gemacht und seine Beförderung erlangt hat. Lassen Sie den Stewart Rheinwein bringen, Cadett von Zastrow, damit wir den Abschied in preußischem Rebensaft feiern.«
Der Kommandant hatte bis jetzt mit dem zweiten Mann, der ihn auf Deck begleitet hatte, gesprochen. Es war dies ein großer stattlicher Seemann von etwa sieben bis achtundzwanzig Jahren, mit offenem kräftigem Gesicht und blonden Haaren. Mit diesem hatte er seither, während Vater und Sohn sich unterhielten, an der Brüstung gelehnt und gelegentlich nach einem Schooner schauend, der in kurzer Entfernung von dem preußischem Schiff im Strom ankerte und von seiner Gaffel die Hamburger Flagge wehen ließ: die weißen Thürme im rothem Felde, während
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der Streifen über dem Steuer, der gewöhnlich den Namen des Schiffes zeigt, nur eine breite Leinwand sehen ließ, hinter der offenbar Maler und Handwerksleute beschäftigt waren.
Der Kommandant reichte dem Seemann die Hand. »Ich danke Ihnen herzlich für die Wiederholung Ihres Besuchs, Herr Kapitain,« sagte er, »denn ich habe in Ihnen einen tüchtigen und verständigen Seemann kennen lernen, dessen Rath auch für den Führer eines Kriegsschiffes wohl zu beherzigen ist. Ich gestehe Ihnen offen, daß ich wünschte, unsere junge Marine zählte viele erfahrene Männer wie Sie, und alle unsere Schiffe wären so seetüchtig und gut gebaut wie das Ihre.«
Ein ernster Blick flog über das Deck der Korvette und verlor sich im Takelwerk und den Masten, die eben von jungen Matrosen beschlagen wurden.
»Sie haben eine junge und vielversprechende Mannschaft,« sagte der Kauffahrer-Kapitain, »und wenn ich Ihnen auch kein Hehl daraus mache, daß sie zwar zahlreich genug für den Dienst Ihrer Korvette ist, daß ich aber doch für Ihre Uebungsfahrt im Spätherbst einige befahrene Matrosen mehr darunter wünsche, so wollen Sie darin keine Aufdringlichkeit sehen! Was nun die Flagge betrifft, die mein Schooner führt, nun, so ist es die einzige, die ein freier Friese führen darf, um ein deutscher Mann zu bleiben. Ich habe Ihnen bereits gesagt, Herr Kommandant, daß mein Schooner in Frankreich gebaut ist und ursprünglich die Tricolore führte, daß aber im Augenblick, als ich sein Herr wurde, es auch bei
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mir feststand, sie nur bei der damals geheuerten Fahrt zu führen, und sobald ich wieder in deutschem Wasser sei, keine andere Flagge auf meinem Mast zu dulden, als eine deutsche. Lassen Sie uns hoffen,« und er wies nach dem schwarzweihen Wimpel, der im Winde sich dehnte, - »daß wir Beide noch einmal unter gemeinsamer Flagge fahren: der Deutschen!«
Der Offizier gab keine Antwort darauf und wandte das Gespräch wieder auf den Schooner. »Es läßt sich nicht leugnen, Herr Kapitain,« sagte er, »daß die Franzosen die besten Schiffe bauen, selbst besser als die englischen und amerikanischen Werfte, und daß wir noch sehr darin zurück sind. Aber es wird auch in dieser Beziehung besser werden, und ich hoffe, daß die Zeit kommt, in der wir ganz unabhängig vom Ausland sind. Es kann einem Seemann von Ihrem Scharfblick nicht verborgen sein, daß auch der Bau der ›Amazone‹ gar manche Mängel hat, und ich will Ihnen sogar sagen, daß ich nicht ohne Besorgniß bin für lhre Seetüchtigkeit bei stürmischem Wetter. Ich kannte sie früher nicht so genau, bevor ich kommandirt wurde, sie nach Danzig zu führen.«
»Sie soll ein tüchtiges Boot sein, nur bedarf sie starken Ballastes bei dem schmalen Bau und dem hohen Segelwerk. Einem Taifun in den chinesischen Gewässern würde sie so wenig widerstehen als der ›Frauenlob‹. Schade darum! - Doch auch das deutsche Meer bietet manche Gefahr, darum beeilen Sie Ihre Ausfahrt vor den Novemberstürmen. Es ist eine schlechte Fahrt von dem Sunde her durch das deutsche Meer im Spätherbst, - besonders ...«
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Der Offizier sah ihm aufmerksam in's Gesicht. »Sprechen Sie offen, Herr, wie ein Seemann zum andern!«
»Nun - der Anfang dieser scchsziger Jahre ist eine gefährliche Zeit für alle Schiffe, welche die Nordsee oder Ostsee zu kreuzen haben.«
»Warum?«
»Wenn Sie ein geborner Friese wären, wie ich, Kommandant, würden Sie diese Frage kaum thun. Sie wissen, daß Alles seinen gewissen Kreislauf hat, auch die Sturmfluthen an dieser Küste und die starken Nordweststürme.«
»Man sagt, daß sie sich alle 25 bis 30 Jahre wiederholen.«
»So ist es, ich kenne erprobte Leute, die eine solche Wiederholung der großen Springfluth von 1835 in diesem oder dem nächsten Jahre erwarten.«
»Doch nur während der Frühjahrsmonate. Ich werde jedenfalls darauf aufmerksam machen - das ist meine Pflicht, denn es ist fast die ganze Zukunft der preußischen Marine, die dieses Schiff trägt: ein heranwachsendes Geschlecht eines tüchtigen Offizierkorps. Sehen Sie diese Bursche an, es sind Viele darunter aus den vornehmsten Familien Preußens. Die Begeisterung für die neu entstehende Marine des Vaterlandes hat ihr Knaben und Jünglinge - meist aus den besseren Ständen und aus allen Provinzen des Landes, auch aus den binnenländischen zugeführt, die auf diesem Schiff ihre Lehrjahre machen und praktisch den Dienst lernen sollen, nicht bloß hinter dem Reißbrett und in der Marineschule. Darum werden selbst mit weiser Absicht die Stellen der Schiffsjungen wie
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der Matrosen nur von solchen Aspiranten der Marine ausgefüllt, denen eine andere Zukunft bevorsteht, als bloß vor dem Mast, und bei dem jugendlichen Eifer ist es eine Luft eine solche Mannschaft zu kommandiren.«
»Ich begreife das, Herr Kommandant, und wünsche Ihrer Flagge alles Glück. Das Leben des Seemanns ist stets in Gottes Hand - Sie wenigstens sind berechtigt, es für Ihr Vaterland einzusetzen, - während wir - kein solches kennen sollen und nur den Unterdrückern desselben dienen können.«
»Auch Ihre Zeit wird kommen,« sagte der See-Offizier, »und daß die preußische Marine dazu helfen mag, Sie vom Danebrog zu befreien, dafür muß sie eben jetzt lernen und wachsen in Kraft und Dienst, grade wie der preußische Soldat einer neuen Zukunft entgegen geht unter seinem Herrn und König, nicht unter läppischem Parlamentskommando und Nationalschwindel, wie damals die sogenannte deutsche Marine von Frankfurt a. M. - Wie es scheint, Herr Kapitain, wollen Sie Ihrem Schooner auch einen neuen Namen geben? - vielleicht den der Dame, die ich an Ihrem Bord bemerkte, wahrscheinlich Ihre Frau Gemahlin?«
»Um Verzeihung - die Dame, eine Verwandte, hatte nur Passage aus England hierher genommen und wünschte an Bord zu bleiben, bis sie Ueberfahrt nach den Inseln findet - zunächst nach Husum. Aber der Herr Kammerherr verläßt seinen Sohn und scheint Sie ansprechen zu wollen. Um Vergebung - wie hieß er doch?«
»Von Zastrow - ein Bruder oder Vetter des
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Generals, derselbe, der im Jahre Neunundvierzig, als ein demokratischer Verein in der Lausitz ihm die schwarzrothgoldne Fahne von den dresdner Barrikaden in Verwahrung geben wollte, ihm erwiderte: nehmen wolle er sie wohl, aber wiederbekommen könne man nur eine preußische! Und gleicher Gesinnung scheint sein Sohn dort, dessen Mutter aus einem griechischen Fürstengeschlecht stammte.« - Er wandte sich zu dem nahenden Kammerherrn und dies war der Moment, den wir vorhin erwähnten.
Dem Befehl war rasch Folge geleistet und der deutsche Wein gebracht, auf die Bitte des Kammerherrn für die andere, in der Arbeit an Bord begriffene Mannschaft auch ein Tönnchen Bier aufgelegt, dessen Spund bald umlagert war.
»Sie müssen ein Glas mit uns trinken,« bat der Kommandant den Kauffahrer-Kapitain, »und wenn Sie auch kein Preuße sind, wie der Herr dort mit seiner Dame, auf das Wohl unserer Marine und des Königs, unseres Herrn, stoßen wir Alle gewiß mit vollem Herzen an. Daß Jeder seine Pflicht thue bis zum Tode für deutsche Ehre!«
Die Gläser klangen, auch der berliner Journalist mit seinem Hamburger Freunde hatten von Herzen angestoßen und nur ein Mißton klang in das begeisterte Hurrah der ganzen Gesellschaft, als das Glas, das der junge Cadet an das seines Vaters stieß. mit schrillem Laut zersprang.
»Was wäre es auch, Einer unter den Vielen,« sagte rasch der Cadett, - »halten wir doch Alle sicher die preußische Flagge hoch im Leben wie im Sterben. Und somit Kameraden auf baldiges Wiedertreffen an diesem
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Bord, und Du Vater auf ein glückliches Wiedersehen, wenn wir zurückkehren vom Tajostrande nach dem Lande der schönen Hohenzollern. Steward - ein anderes Glas, daß ich auf ihr Angedenken trinke und daß sie sich dort freuen mögen, preußische Landeskinder wiederzusehen!«
Sie sahen die schöne Königin, rascher als sie gedacht - im Reiche der Schatten!
Der junge Mann war schnell in das Boot hinabgesprungen, die Kameraden standen in den Hangmattengittern und auf den Raaen, als der Kommandant, der den Kammerherrn bis zum Fallreep begleitete, ihnen Erlaubniß winkte, und ein volles Hurrah begleitete die Scheidenden, denen auch bald zum Ufer der Journalist mit Frau und Freund folgte, nachdem ihm die jungen Leute noch alle Einrichtungen der Corvette auf das Zuvorkommenste gezeigt hatten. War es doch zum ersten Mal, daß er ein preußisches Kriegsschiff betreten, nachdem er oft genug die fremder Länder gesehen.
Der alte Jollenführer wartete auf sie. »Viel junges Blood,« sagte er, »mögen sie gute Fahrt haben. Sind gutherzige Leute darunter, der Doktor, Engelbrecht heißt er, hat neulich meine Alte besucht und ihr umsonst Medizin gebracht, als ich ihm sagte, daß sie arg am Rheumatismus leidet. Bei Gott - das hätte schwerlich ein Danske oder Engländer gethan!«
»Und wieviel Mannschaft ist an Bord, wißt Ihr es Alter? Ich vergaß zu fragen.«
»Hörte neulich davon reden. Außer dem Kommandanten und dem ersten Lieutenant, der ein Baron auf
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dem Lande sein soll und dem Doktor und Bootsmann, der wie der große Missionär in China heißt, 22 Midshipmen, 44 Matrosen, und ebenso viele Schiffsjungen, wenn man solche Burschen als Schiffsjungen nennen mag, da Grafen und Edelleute darunter sind. Hab mein Lebtag keine Schiffsmannschaft von solchen Grünschnäbeln gesehen!«
Der Journalist nickte lachend dem Freunde zu. »Und da verbreiten die Fortschrittler und Demokraten, unsere Junker oder die Conservativen überhaupt müßten sich, der Entwickelung unserer Marine Hindernisse in den Weg zu legen. Wahrhaftig, wenn es das Abgeordnetenhaus nicht mehr thäte, der Armee gegenüber, an Opferwilligkeit für die preußische Marine fehlt es wahrhaftig nicht, auch ohne die lächerlichen Flottensammlungen des sogenannten Nationalvereins und seines Mäcens in Coburg.«
Er hatte den alten Jollenführer bezahlt und sie stiegen langsam die breite Treppe hinauf, die in bequemen Absätzen zu dem Plateau des Pavillons hinaufführt.
Es ist gewiß einer der schönsten und interessantesten Punkte Norddeutschlands, dieses Plateau des Elbpavillons mit seinem weiten Ausblick auf Stadt und Strom. Vor uns liegt das gewaltige Wasser, das nach Nordwesten an Mona und Blankenese entlang immer breiter und breiter schwillt, bis es dem Auge in der Ferne meerartig erscheint, und auf ihm schon weither die mächtigen Dampfer und hochgetakelten Seeschiffe sichtbar, die aus allen Theilen des Erdballs heranziehen, um die Erzeugnisse beider Indien, kurz aller Welt in die Speicher der großen Handelsstadt abzuladen, oder Passagiere aus und nach allen Zonen zu
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bringen, vom europamüden Auswanderer bis zum Diplomaten, der zur Vertretung heimischer Interessen an fernen Küsten bestimmt ist, oder bis zum spekulirenden Kaufmann, der in den Faktoreien Chinas, Japans oder Brasiliens und von San Francisko seine im deutschen Geschäft erworbenen Kenntnisse verwerthen und Schätze erwerben will, ohne dabei das deutsche Herz zu verlieren, denn Deutsche giebt es in allen Zonen, unter jedem Himmel, und überall sind sie ihres Fleißes, und ihrer Redlichkeit wegen beliebt. Ist doch die deutsche Handelsflotte die drittzahlreichste der Welt, und nur das Misère der vielen kleinen deutschen Vaterländer, die weder Macht noch Willen haben, dem deutschen Namen Achtung zu verschaffen, stellt sie in Schatten gegen Engländer, Franzosen und Amerikaner, ja selbst gegen Handels- und Seemächte zweiten Ranges.
Dies war, was der Hamburger Kaufmann dem Freunde sagte, als von der Höhe der Terrasse herab ihr Blick über die langen Doppelreihen der ankernden und in voller Thätigkeit des Aus- und Befrachtens begriffenen Schiffe in den Hafen-Bassins oder am Grasbrock dem Elbufer entlang schweifte, und auf das lebhafte Treiben der an den Strom lehnenden Stadt, oder über die Werder und die weit gegenüberliegenden flachen Ufer des hannöverschen Landes - bis er zuletzt immer wieder auf dem stattlichen Seemannshause hängen blieb.
Sie fanden übrigens trotz der Börsenzeit das Plateau von Fremden und Gästen nicht leer, und der Hamburger machte den Freund auf die Anwesenheit der beiden Männer aufmerksam, die sie noch vor kurzer Zeit an Bord der
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Corvette getroffen hatten, des alten Edelmanns aus dem preußischen Binnenland und des friesischen Kapitains. Nur saßen Beide nicht zusammen, der Kammerherr vielmehr allein an einer Stelle, wo er das - auf Hamburger nicht dänischem Gebiet ankernde und seine letzten Vorbereitungen zur Abfahrt treffende Kanonenboot sehen konnte, an dessen Bord sein jetzt dort noch stationirter Sohn bereits zurückgekehrt war. Es schien, als könne sich der alte Edelmann nicht von dem Blick nach seinem Jüngsten trennen, und als bald darauf vom Bord des ›Komet‹ der Salutschuß herandonnerte, welcher das Signal der Abfahrt gab, und ein Salut vom Bord des preußischen Kriegschiffs ihm antwortete, wandte der alte Herr, sichtbar fast mit Gewalt, sich von der langgezogenen Rauchsäule des abdampfenden Bootes, und als er sich umwendete der Stadt zu, konnte der Journalist bemerken, daß er sich eine Thräne aus den Augen wischte.
Der Andere, der friesische Kapitain, dessen Schiff eben den neuen Anstrich erhielt, - hatte einen entfernteren Platz eingenommen und stand, den Rücken gegen den Strom gekehrt, an der eisernen Barrière des Plateau und an einer Stelle, von welcher er den entgegengesetzten Aufgang von Sanct Pauli her wie erwartend übersehen konnte, nur zuweilen einen Blick nach dem Strom und seinem Schiff zurückwerfend oder einen Schluck von seinem Glase Sherry trinkend. Neben dem Tisch, worauf dieses stand, hatte der dienstbeflissene Kellner auch das von dem Kommerzienrath bestellte Gabelfrühstück servirt, und die Drei nahmen hier Platz mit einem höflichen Gruß an den
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gegen die Barrière Lehnenden, weil sie von hier aus die Aussicht nach allen Seiten genossen.
»Wenn Du denn so schwärmst für eine deutsche Flotte,« sagte etwas spöttisch der berliner Journalist, »so sage mir, weshalb Du vorhin so wegwerfend von den Bestrebungen und den Sammlungen des Coburger Nationalvereins für Wiederbegründung einer solchen Flotte sprachst, wie sie Achtundvierzig schon versucht wurde!«
»Eben weil jener Versuch und sein klägliches Ende uns eine genügende Lehre gegeben hat. Es fehlt unseren deutschen Küsten wahrlich nicht an einer tüchtigen See-Mannschaft, die an Kraft und Werth sich jeder anderen gleich stellen kann. Schon Friesland dies- und jenseits der Elbe, von Romoë bis Borkum herab, könnte ein genügendes Material bieten, selbst wenn wir nicht einmal die Ostküste der Herzogthümer, die Mecklenburgs, Pommern bis zum kurischen Haff hinauf zählen wollen, alle Strandbewohner geborene Seeleute, - aber dann müßte ein einziger großer und mächtiger Staat die Sache in die Hand nehmen, nicht abhängig und gehemmt von dem intriguirenden Bundestag in Frankfurt oder dem unter der Firma des deutschen Patriotismus nur eigenen Groll über alte Zwistigkeiten, Parlamentsehren, demokratische Gelüste und constitutionelle Karrièren sich breitmachendem, revolutionairem Schwindel. Nur eine mächtige Regierung - ich sage es offen, Preußen oder Oesterreich, die sich an die Spitze Deutschlands schwingen und gewissermaßen souverain über Deutschlands Ehre und Mittel sind, kann eine achtunggebietende deutsche Flotte schaffen. Du weißt,
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daß meine Sympathien Preußen gehören, nicht Oesterreich, grade wie die Deinen. Lasse König Wilhelm erst mit den preußischen Bayonnetten den Bundestag fortfegen und Einigkeit schaffen, so weit die deutsche Zunge reicht, und wir werden auch eine deutsche Flotte haben, die nicht von dem Votum des Hannoveraners und Sachsen oder den Privat-Sammlungen der Herrn Benningsen, Metz und Streit abhängt. Glaube mir, es ist Alles nur Haß und Neid der Souveraine und ihrer Premiers, verbitterter Groll der Parlamente, darunter oft der besten und tüchtigsten Männer, gegen die Hohenzollern und die preußische Oberherrschaft! - Hat nicht das Anerbieten Deiner Regierung bei dem von Hamburg und Bremen beantragten Küstenschutz der Nordsee durch Dampfkanonenböte, allein die Hälfte herzustellen, in dem Protest Hannovers gezeigt, um welche Eifersucht es sich handelt! Ich sage Dir, Doktor, all' diese deutsche Einigkeit ist Schwindel und ewiger Zank, ehe sie nicht durch die Bayonnette begründet ist!«
Der Journalist lächelte. »Du bist ja preußischer, als ein König von Preußen selbst. Sieh auf unsere Werften, sie sind bereits voll Thätigkeit! Sieh auf unsere Armee, unter der Hand des Königs wächst ihre Macht und Kraft! Sieh auf unsere Erklärungen am Bundestag, treten sie nicht offen und entschieden für deutsche Rechte auf, in Hessen, in den Herzogthümern?«
»Und lassen sich dabei auf der Nase herumspielen - ja, das ist auch so ein Schwindel der mit den Herzogthümern, der von dem Coburger und seinen Freunden wieder aufgetischt wird. Zu einem Kriege wird's freilich
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kommen, denn die Dänen treibens in der That zu arg drüben in Schleswig. Aber sage selbst, wer soll daraus Nutzen ziehen, wer soll der albingische Herzog werden, wenn König Friedrich in Kopenhagen durch irgend einen Zufall einmal die Augen zuthut?«
»Nach dem londoner Protokoll der Glücksburger!«
»Also ein dänischer König von Englands Gnaden! Haben nicht die Gottorper, der Oldenburger, der Augustenburger, selbst die Hohenzollern mehr Anrecht an Kiel als er!«
»Der rechtmäßige Herzog von Schleswig-Holstein,« sagte der friesische Kapitain, der unwillkürlich dem Gespräch mit Interesse zugehört hatte und sich nicht enthalten konnte, sich einzumischen, »ist allein der Herzog von Augustenburg!«
»Dann mag er auch den Herzogshut nehmen, den er verkauft hat, und ihn bewachen, aber nicht mit preußischem oder anderem deutschem Blut. Ich weiß, daß der Nationalverein allein für eine solche Lösung agitirt, um ein souveraines Ländchen mehr im großen deutschen Flickwerk und daß all die Andern helfen; - aber ich sage Ihnen, Herr Kapitain - und Sie scheinen ja ein Deutscher aus den Herzogthümern zu sein« - der Friese verneigte sich zustimmend - »nicht unter dem Hermelinhut eines Augustenburgers werden die Herzogthümer deutsch und frei, sondern nur unter dem Helm eines Königs von Preußen!«
»Selbst auf diese Bedingung hin würde ich es vorziehen,« sprach ernst der Kapitain. »König Wilhelm ist, was ich gehört - ich war lange fern von der deutschen Küste, - ein Hohenzollern, das heißt ein ganzer Preuße,
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aber auch ein deutscher Mann. Gott gebe ihm die Entschlossenheit und wir Friesen wollen seinem Schwerte folgen, wenn er uns nur von dem dänischen Uebermuth befreit. Wie Sie vorhin sagten, Herr, wenn wir nur einen Fürsten gewinnen, der ein Deutscher ist, nicht von Napoleons oder Palmerstons Gnaden! Doch verzeihen Sie, daß ich unsere Unterhaltung abbrechen muß, da dort Personen kommen, die ich erwartete.«
Während der Kapitain sich dem Aufgang von dem Wall des Millern-Thors her, der Richtung von St. Pauli und Altona zuwandte, setzten die beiden Männer am Tisch das Gespräch fort. Der Journalist reichte dem Freunde die Hand.
»Du sprachst mir aus der Seele, dem stolzen Friesen gegenüber,« sagte er, »und verdientest ein Preuße zu sein und ein Royalist, statt der Bürger einer kleinen Republik! Ich bin gewiß ein Preuße und Royalist, und meinem König gehört jede Faser meines Lebens und meiner Seele, und dennoch, Freund - es liegt Etwas in dem Fanatismus für die sogenannten liberalen Ideen und für das Deutschthum.«
»Als geborner Republikaner kann ich Dir's sagen - Dein Liberalismus, den sie jetzt den Fortschritt nennen, ist eine abschüssige Bahn, und wo ist Halt in Religion, Sitte, und Recht in ihm?«
Der Journalist schüttelte den Kopf. »Ich glaube gern, daß in Republiken der größte Aristokratismus und Egoismus herrscht. Aber warum, frage ich Dich, ist denn jeder Conservative, jeder Royalist förmlich vervehmt, und
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Jeder, und sei er der größte Lump ein Märtyrer, sobald er nur für den Liberalismus auftritt! Es ist weit leichter, für den König zu sterben, als für ihn zu leben, angefeindet und verdächtigt von Allen zu Gunsten einer, allerdings oft großen Idee, wie das Deutschthum es ist. Glaube mir, ich denke nicht an die französische Redensart: Travailler pour le roi de Prusse! aber wo bleibt uns alten Konservativen der innere Halt, wenn einst eine Zeit kommt, wo Diejenigen, für die wir gekämpft mit Schwert oder Feder, gleichviel, den Ideen unserer jetzigen Gegner sich angeschlossen haben, ja an ihrer Spitze gehen, und die Männer, die verfolgt und bekämpft worden sind, im Rathe der Fürsten sitzen und die Ehren und Pfeiler des Staates werden. Mir ist manchmal, als könnten auch wir eine solche Zeit erleben - die Geschichte und die Anschauungen der Fürsten wechseln oft wunderbar! Was ist das Wahre, was ist das Richtige? was unsere wahre Aufgabe, unsere Pflicht?« Der Hamburger hatte die Augen auf den Boden gesenkt, auch ihm fehlte die Antwort auf die verhängnißvolle Frage, die wenige Jahre nachher noch schwerer an die treuen Kämpfer für das Königthum treten sollte.
Aber die Frau hatte eine Antwort dafür in ihrem einfachen Sinn und Wesen.
»Die Treue!« sagte sie, »die Treue für das gegebene Wort und das Vertrauen auf Gott, von dessen Gnade die Könige sind und bleiben werden auf Erden. Wer die Treue verpfändet, der soll sie auch halten, im Sterben wie im Leben, das merkt Euch, Ihr Männer!«
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Sie schwiegen beide betroffen - das Wort der braven Frau hatte sie vielleicht an einer wunden Stelle getroffen und beschämt. -
Der Friese, der ihre Gesellschaft verlassen hatte, war zwei Herbeikommenden entgegen gegangen, einer Frau und einem fremdländisch aussehenden Matrosen, dessen Aeußeres selbst an diesem Ort des Zusammenflusses aller seefahrenden Nationen auffiel. Er begrüßte die Dame, die sehr schlicht, ganz dunkel gekleidet war, obgleich selbst die fast zu einfache Tracht eine gewisse Eleganz ihres Wuchses und ihrer Haltung nicht ganz verbergen konnte. Ein einfacher Hut, wie sie die Frauen und Mädchen der friesischen Inseln zu tragen pflegen, und überdies mit einem Schleier versehen, verhüllte ihr Gesicht.
Er hatte ihr den Arm geboten und führte sie zu einer Stelle der Terrasse, wo sie entfernt von allem Verkehr und unbelauscht waren, während ein Wink den Matrosen an einen der unbesetzten Tische wies.
»Wir können hier so unbemerkt sprechen, wie an Bord meines Schiffes, Madam, das Sie ja doch noch heute verlassen wollen.«
»Der Ewer geht Nachmittag ab mit Eintritt der Ebbe. Dann sind wir noch diesen Abend in Cuxhaven und können morgen mit gutem Winde vielleicht Husum erreichen.«
»So ziehen Sie noch immer den einsamen Weg über das Wasser vor - statt mit der Eisenbahn zu gehn oder wenigstens mit dem Dampfer?«
»Ich ziehe ihn vor!«
Er neigte zustimmend das Haupt: »Und Sie bestehen
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darauf zu der alten schlichten Frau, meiner Mutter, nach dem öden Amrum zu gehen? Und so allein?«
»Können Sie mich begleiten?«
»Nein - Sie wissen warum! Ich bin verbannt aus den Gränzen des dänischen Staates und werde selbst sein deutsches Gebiet nicht eher betreten, als bis die Zeit vorüber ist, für die Sie mich zur dänischen Knechtschaft verdammten und aus mir einen unfreien Mann machten!«
»Ich?«
»Ja so - ich vergaß es! Also sagen wir Ihr zweites Ich, das mich so seltsam von dem Tode an der Rae des Lymfjord rettete, den ich dort wieder finden könnte und dem ich nicht eher wieder begegnen darf, denn als berechtigter Feind. Aber haben Sie auch bedacht, was es heißt, einsam zu sein auf einer öden friesischen Insel, kaum besser als eine unserer bloßen Halligen, zur Gesellschaft nur eine alte einfache Frau und wenige ungebildete Strandbewohner, allein in allen Schrecken eines nordischen Winters, unter Eis und Stürmen, abgeschieden von der Gesellschaft der Gebildeten, ja selbst von jedem Verkehr mit dem Festland und somit der Gelegenheit, zu ihm zurückzukehren, wenn Sie wanken sollten in Ihrem Entschluß, selbst mondenlang!«
»Ich kenne mich, ich werde keine Schwäche fühlen! Ich habe ein Leben zu büßen, und da ich nicht, wie die Frauen der katholischen Kirche es in der Einsamkeit eines Klosters thun kann, büße ich es in der Einsamkeit einer friesischen Insel ab.«
»Sie - Edda!«
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»Adda! - Adda büßt ihre Vergangenheit ab - was wollen Sie anders? - Es ist Ihre Mutter, Herr Kapitain, zu der ich gehe, und deren Einsamkeit ich theilen werde, wenn Sie eben eine Büßerin nicht zurückweist.«
»Sie zurückweisen? Dafür bürgt Ihnen dieser Brief.«
»So geben Sie ihn mir - und Sie haben Ihr Wort gehalten - keine Sylbe von - Ihrem falschen Wahn?«
»Es ist Adda Torne, die ich ihr sende, die Norwegerin, eine entfernte Verwandte und also lautet auch die Legitimation des hiesigen dänischen Konsuls, die Sie jeder Nachfrage und Belästigung enthebt - denn - auch in dänischen Kanzleien beseitigt Gold alle unnütze Neugier. Sie haben Ihre Vorbereitungen und Einkäufe gemacht?«
»Drüben in Altona, damit ich Nichts mit den Zollwächtern zu thun habe auf der Fahrt nach der Insel, Kleider und alle Bedürfnisse, wie sie sich für eine Bewohnerin der Halligen schicken; der Schiffsagent, den Sie mir anempfohlen und der auch die Ueberfahrt auf dem Ewer vermittelte, ist ein eben so umsichtiger wie thätiger Mann. Suky hat bereits das Wenige, was ich kaufte, zu ihm geschafft. - Aber Kapitain Claus Hansen, es ist eine Freundin, die von Ihnen scheidet und sei sie es auch nur geworden auf unserer Fahrt nach der Havannah, auf der Sie mir so freundlich und umsichtig jede Belästigung durch diese Aehnlichkeit mit - mit einer vornehmen Dame ersparten! Mit dem Recht dieser Freundschaft und des Dankes, den ich Ihnen schulde, erlauben Sie mir, Sie zu fragen - wohin gehen Sie selbst, was werden Sie thun?« -
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»Kapitain Lautrec erwartet mit Recht, daß ich das Schiff nutzbar mache. Ich habe bereits Fracht nach Memel an der russischen Gränze angenommen; wie die Frachtbriefe lauten, Maschinentheile von Hull und bereits verpackt, aber ich glaube, es sind Waffensendungen nach Polen an die Mündung des Niemen. Ich habe bereits Kapitain Lautrec benachrichtigt, daß seine Briefe mich in Memel finden, und ich denke dort, oder in einem andern Hafen der Ostsee zu überwintern und zum Frühjahr Fracht zu suchen nach dem Mittelmeer, bis ich das Versprechen an Madame Santarez halten kann, sie aus der Havannah zurückzuholen, wenn ihre Geschäfte dort sie so lange zurückhalten.«
»Und es wird Niemand erfahren, wo Adda Torne geblieben ist?«
»Niemand - den Sie nicht selbst bezeichnen! - Die seltenen Briefe an die alte Frau, meine Mutter, werden Sie stets wissen lassen, wo eine Nachricht mich finden kann. Ich würde noch eine Frage an Sie zu richten wagen, wenn ich mich nicht aus anderen Gelegenheiten bereits überzeugt hätte, daß - Adda Torne reichlich mit Geldmitteln versehen ist.«
»Sie ist es! Und so, Kapitain Hansen, erlauben Sie mir, Ihnen hier, im Angesicht Ihres Schiffes, das uns Beide so lange getragen, Lebewohl zu sagen und mit Suky zum letzten Mal an seinen Bord zurückzukehren, den geringen Rest meiner Sachen zu holen. Seien Sie überzeugt, daß ich Ihrer Mutter eine treue Tochter sein werde, auch wenn es die falsche ist - und - und ...«
Sie hielt ihm die Hand entgegen. Er faßte diese
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und hielt sie fest. »Soll dies der Abschied für das Leben sein? - Edda - Adda - ich soll Sie niemals wiedersehen, auch wenn ich den Boden meiner Heimath wieder betreten darf - der freie deutsche Mann?«
»Gott hat unsere Wege geschieden,« sagte sie nach kurzem Kampf sich abwendend, aber ihre Hand blieb in der seinen. »Thue Jeder seine Pflicht und - mögen Sie, ob Addas - ob Eddas, sie nicht ganz vergessen im Kampf des Lebens!«
»Sie vergessen? - Niemals - sehen Sie dahin!«
Er zog sie an das Gitter der Brüstung und deutete hinab nach dem Strom, wo sein Schiff sich auf dem Anker in dem letzten Heben der bis hierher dringenden Fluth schaukelte. »Sehen Sie dahin!«
Das volle warme Sonnenlicht traf den Spiegel des Schiffs, dessen Leinwandgerüste von den Werkleuten eben abgenommen worden war. Trotz der Entfernung konnte man deutlich die großen goldenen Buchstaben der Schrift lesen, die in breitem Streif sich über die Fenster der Spiegelkajüte zog: die schöne Dichtung, die vor tausend Jahren schon die Heldensagen des Nordens gefeiert und die der rheinische Sänger Simrock den deutschen Landsleuten übertragen hat, die
»Edda!«
Als der friesische Kapitain sich wieder zu ihr wandte, in ihren Augen zu lesen, daß sie ihn verstanden, war der Platz an dem Gitter leer.

Lieben und Sterben!

Es ist ein merkwürdiges Fatum, daß, wie wir später sehen werden, fast zu gleicher Zeit, wo im Norden mit jener Aufopferung fester Disciplin für den Dienst des Königs 114 frische Leben in den Opfertod eines heldenmüthigen Preußenthums gingen, drunten im Süden eine Schaar tapferer Männer von einer feigen und erbärmlichen Camarilla in den Tod für das bourbonische Königthum getrieben wurde, für ein Königthum, das nie die edle Opferung der Treue zu würdigen verstanden hat!


Unsere Erzählung oder vielmehr unsere Darstellung jener Zeit, die wir Alle mitgelebt, und die uns doch bereits zum bloßen Phantom, zu kaum einer festen durchdachten Erinnerung geworden ist, allein noch im Leben und Geist des Romantikers mit allen frischen Farben blühend! - führt uns zunächst noch ein Mal an das Sandufer des mit den Erinnerungen von Jahrtausenden belebten Weltstroms, des Nils zurück, mit den Gruppen der hohen
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Sykomoren und Palmen, den Pyramiden und den Minarets des Islam.
Die Gesellschaft der abenteuerlichen Reisenden durch die nubische Wüste, und Derer, die ihnen von den ehernen Rossebändigern des Monte Cavallo her entgegen gekommen waren, hatte nach dem Erreichen der alten Kalifenstadt in dem Hôtel du Nil Unterkommen gefunden, das in einem der Seitenwege der Mouskih lag, obschon französischen Namen tragend, doch deutsche Ordnung, Sauberkeit und Gemüthlichkeit mit der ganzen Poesie des Orients verbindet, und unter der Leitung eines Deutschen offenbar das beste und angenehmste von ganz Kahira ist. Es ist überhaupt etwas Merkwürdiges um diese Hôtels und Pensionen in den großen Centralpunkten des Orients, wie Alexandrien, Kahira, Syra, Smyrna und Konstantinopel. Man aß während des ganzen Krimkrieges nirgends besser, als im französischen Pensionat der Madame Giraud in Smyrna, während keine zehn Schritte davon die wilden Thaten eines Jan Katarchi eine ganze muselmännische und christliche Bevölkerung in Aufregung und Schrecken hielten; und man wohnte fünfzehn Jahr später nirgends orientalisch ungenirter, als in den Pavillons im deutschen Karavanserai der alten Hauptstadt Aegyptens!
Der hofähnliche Garten dieses - wir müssen die einmal gewählte Bezeichnung beibehalten, - dieses Hôtel du Nil hat manches Eigenthümliche, er verbindet und vermittelt gleichsam die Geheimnisse der Harems von Gizeh mit dem schaamlosen Treiben und den fränkischen Lastern der Eskebieh und den wechselnden Handelsscenen des großen
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Bazars, ja selbst mit der Wüstenpoesie der lybischen Karavanen. Während der englische Pair, der zum ersten Mal in Aegypten war, mit dem deutschen Professor, der russischen Fürstin aus den Steppen Sibiriens und den Flüchtlingen vom Ufer des Ganges in all' dieser Poesie und den historischen Erinnerungen einer großen Vorzeit schwelgte und sorgfältig sie aufsuchte, genoß die lebensunersättliche Phantasie des Anglo-Spaniers all die seltsamen Scenen und Bilder, die sich in der alten Khalifenstadt selbst dem Fremdlinge fast auf jedem Schritt bieten. Welchen Eindruck auch die halbpoetische, jedenfalls romantische Erscheinung der Sibirianka auf die Phantasie des Grafen von Lerida gemacht hatte, wie wenig er auch gewöhnt war, seiner leichtfertigen Lebensanschauung, seiner Rücksichtslosigkeit dem weiblichen Geschlecht gegenüber Schranken und Bedenken zu setzen, - die ernste Weise seines englischen Vetters war doch hinreichend gewesen, ihm in dieser Beziehung Zügel anzulegen und ihn von einer allzu unverholenen Bewunderung der Fürstin zurückzuhalten. Er hatte sich vielmehr in den Strudel der in Kairo wie Alexandrien jede Ausschweifung bietenden europäischen Gesellschaft gestürzt und bald es verlernt, sich um die Wünsche seiner Reisegefährten zu kümmern, nachdem sie aus den Gefahren der Wüste gerettet worden waren. Seinem abenteuerlichen Charakter gemäß hatte er sich vielmehr dem von den Andern auffällig gemiedenen französischen Reiteroffizier genähert und theilte mit diesem die Pflege, die der Zustand des in dem Gefecht mit den Assassinen noch an dem Ufer des Nils nicht unerheblich
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verwundeten Kämpfers von Gaëta erheischte. Seine Dampfyacht lag sicher und wohlversehen im Hafen von Alexandrien; der Gesellschaft der beiden spanischen Prätendentinnen aber hatte er sich vorher und bis zu geeigneter Zeit durch ihre Ueberführung von Civita-vecchia nach der ligrmschen Küste und seinem fast hermetisch gegen die Neugier gesperrten Schlosse von Roccabruna entledigt, und da er ein Verschwender mit der Zeit war, sah er keinen Grund, weshalb er den Aufenthalt am Nil kürzen sollte, um so weniger, als auch Lord Walpole keine Ursache dazu fand und keine Eile zeigte, die Ueberfahrt nach Europa zu bewerkstelligen, die ihn ja doch in ganz neue Verhältnisse zu seiner schönen Schutzbefohlenen bringen mußte. Auch dieser war das halb europäische, halb orientalische Leben in der Kalifenstadt neu, und nachdem der französische General-Konsul Monsieur Beclard bei seiner Anwesenheit in Cairo ihnen mitgetheilt hatte, daß das Gepäck, welches Graf Boulbon von Suez aus dem Veloce für sie mitgebracht hatte, bevor er die Fahrt auf dem Dampfer nach Brindisi und Rom fortgesetzt, von ihm richtig im General-Konsulat deponirt worden war, auch sein Begleiter unter amtlichem Verschluß ihre Juwelen dort niedergelegt hatte, bestand für die Fürstin keine Ursache, den Aufbruch von Cairo zu beschleunigen.
Enger hatten sich der deutsche Arzt und der Grieche Grimaldi aneinander geschlossen und an sie der Jüngling Jesus, der unter dem besonderen Schutz des Viscount und der Fürstin stand, die reichlich für ihn zu sorgen versprachen, wenn er sie nach Europa begleiten wolle. Es
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hatte über seine Zukunft mehr als eine ausführliche Unterredung stattgefunden, aber der junge Assassine blieb fest bei dem Gebote Mariams: zu forschen und zu prüfen, und nach den Klöstern am Sinai zu pilgern, ehe er sich für irgend ein weiteres Studium entschloß. Täglich besuchte er unterdessen die berühmte ägyptische hohe Schule der Moschee El Ezher, an welcher der Koran von den gelehrtesten Imaums ausgelegt wird, und das apostolische Vicariat für die Kopten, ja selbst die große Synagoge im jüdischen Stadttheil. Wunderbar aber waren die Fortschritte, die er dabei in dem Studium der Sprachen machte, zu welchem er jeden Abend und fast die halbe Nacht verwendete. Professor Peterlein, der Arzt, selbst die Fürstin waren darin seine Unterrichter, außerdem die besten Sprachlehrer angenommen, und merkwürdig waren die Zeugnisse der Befähigung und des Fleißes, die alle ihm ausstellten. Unbemerkt ging er anscheinend unter den verschiedenen Nationen und Volksstämmen, die sich hier bewegen, aber dem Arzt war es doch nicht entgangen, daß der bescheidene stille Jüngling der Gegenstand einer gewissen Ueberwachung zu sein schien. Denn mehr als einmal war es vorgekommen, daß Unbekannte ihm gefolgt waren oder sich an ihn gedrängt hatten, und zweimal hatte Jesus selbst erzählt, daß er einen der Lassiks, ja das andere Mal sogar einen älteren Refik von Burg Gengarab in den begegnenden Fremden zu erkennen geglaubt habe. Aber da er ohne ihrer zu achten seiner Wege ging, hatten sie sich ihm nicht genähert. Auf den Wunsch des Arztes jedoch hatte der Lord befohlen, daß Kumur, der schwarze Diener Wellands[Waldings] oder einer der
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beiden Trapper den Jüngling stets begleiten sollte, wenn er in die Stadt ging.
So standen die Angelegenheiten der kleinen Reisegesellschaft und bereits hatte die Fürstin von der Fortsetzung ihrer Reise gesprochen und der Arzt den Verwundeten außer weiterer Gefahr erklärt, der in einem Landhause zu Bulac Unterkommen gefunden hatte, als plötzlich der Graf von Lerida aus dem Hôtel verschwunden war. Die Unbeschränktheit seiner Launen hatte zwar die Freunde und seinen Vetter längst an kürzere Ausflüge gewöhnt, auf denen er einen oder zwei Tage ausblieb, aber diesmal waren bereits vier Nächte vergangen, ohne daß er sich hatte blicken lassen oder die geringste Kunde von sich gegeben hätte. Als Lord Walpole und der deutsche Arzt dem Wirth des Hauses ihre Besorgniß aussprachen, machte Herr Friedmann ein ziemlich ernstes Gesicht.
»Es ist ein kühner Herr, Ihr Verwandter, Mylord,« sagte er, »der keine Besorgnisse zu kennen scheint, aber es passiren manchmal seltsame Dinge in dieser Stadt. Und obschon die Heiligkeit des Harems hier keineswegs so streng gehalten wird wie in Stambul oder anderen Theilen des Orients und Said Pascha streng darauf hält, daß die Fremden mit möglichster Schonung behandelt werden, selbst wenn sie die hiesigen Gesetze und Sitten verletzen, so ist es doch schon öfter vorgekommen, daß man bei Sonnenaufgang Ermordete in den Straßen gefunden hat und daß Fremde spurlos verschwunden sind. Erzählt man sich doch selbst aus der Nähe unseres Hôtels ...« Er brach vorsichtig ab und warf einen Blick nach einer
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der minaretartigen hohen Terrassen der Umgebung, welche an der Grenze der Eskebieh lagen und von ihrer Höhe selbst einen Einblick in den gartenartigen Hof gestatten mochten.
Lord Walpole befrug ihn freilich näher, aber der vorsichtige Deutsche lehnte es ab, einen direkten Verdacht auszusprechen. Erst als er am Abend mit dem Arzt unter den Oleanderbüschen am Kiosk saß, zeigte er sich mittheilsamer. Die Zahl der Fremden war ohnehin augenblicklich nicht groß in Kahira, da die vorher gegangenen heißen Monate den sonst namentlich an Lungenkranken ziemlich großen Zudrang verspätete, ein Umstand, der auch unsere Reisenden vermocht hatte, einen längeren Aufenthalt zu nehmen, denn im April und Mai steigt die Hitze in Cairo durch den Chamsin oft bis zum Unerträglichen. Doktor Welland[Walding], der sich durch glückliche Behandlung eines Kindes des Wirths große Zuneigung des letztern erworben hatte, brachte vorsichtig das Gespräch auf die Umgebung des Hôtels.
»Haben Sie zufällig von der Prinzessin Mirjam erzählen hören?« frug plötzlich der Wirth.
»Nein - wer ist diese Prinzessin und was ist mit ihr?«
»Ihr Haus liegt da drüben, und Sie könnten von hier seine Terrassen übersehen, wenn die gewöhnliche Mauer um dieselben den Einblick nicht verhinderte nach der Sitte unserer türkischen Häuser.« - Er zeigte hinüber nach der Seite der Eskebieh, und fuhr dann fort. »Sie soll seit acht Tagen wieder von ihrem Palast an der Küste der See in ihrem Hause zu Kahira eingetroffen sein.«
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»Aber wer ist die Prinzessin Mirjam? Ich hörte nie von ihr.«
»Eine Verwandte des früheren Vicekönigs, des Abbas Pascha, den vor sieben Jahren ein Assassine im eigenen Palast ermordet hatte, weil er der Ultraislamitischen Partei zu mild und nachsichtig war, so daß er selbst die ägyptische Flotte an Oesterreich verkaufen wollte, wenn ihn nicht England daran gehindert hätte. Sie soll aus dem Blute Mehemeds stammen, so gut wie der Khedive selbst, und deshalb besonderen Schutz genießen, schon zu des Ermordeten Zeiten, obschon -«
»Nun?«
»Obschon ihr das Volk Schlimmes nachsagt und vielleicht eben ihre Abstammung allein sie vor der Schnur geschützt hat.«
»Was sagt man ihr nach?«
»Daß sie ihren eigenen Gatten umbringen ließ, obschon sie heute noch nicht dreißig Jahre zählt und noch immer sehr schön sein soll, eigenthümlich schön wie eine Schlange oder ein Tigerthier. Seit dem Tode ihres Gatten, der zur Zeit des Krimkrieges starb, führt sie ein, wie der Volksmund flüstert, nicht sehr einsames Leben, denn um sich bis zur Anklage zu erheben, fürchtet man ihren Einfluß - und ihre Rache. Sie soll ...«
»Aber so reden Sie doch, Sie werden sich doch vor einem Landsmann nicht scheuen.«
»Man flüstert - daß sie von der Erlaubniß Mahomeds einen verkehrten Gebrauch macht und ein Harem unterhält - aber von Männern! Thatsache ist, daß junge schöne
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Männer, namentlich Europäer, seit ihrer Rückkehr nach Cairo, denn sie blieb nach dem Tode ihres Gatten mehrere Jahre verbannt und diese Verbannung soll mit dem Wechsel auf dem Thron des Khedive nicht ohne Zusammenhang sein, in Cairo oft auf unerklärliche Weise verschwunden sind. Man weiß nicht einmal, ob der Tod ihr Loos gewesen ist, denn es ist niemals eine Spur von ihnen gefunden worden.«
Der Arzt hatte die Hand des Mannes ergriffen. »Ich ehre Ihre Vorsicht, Herr, aber ich hoffe, daß Sie sich auch erinnern, daß Sie unter dem Schutz des Consuls Ihres Vaterlandes stehen.«
Der deutsche Hôtelbesitzer zuckte die Achseln. »Der Schutz des französischen oder englischen böte mir bessere Garantie. Doch wie dem auch sei - ich bin ein deutscher Mann - also fragen Sie!«
»Sie bringen die Prinzessin Mirjam mit dem Verschwinden unseres Freundes, des Spaniers, in Verbindung? Seine Ansichten über Frauengunst sind allerdings etwas frei.«
»Ich enthalte mich jeden Gedankens. Erlauben Sie mir selbst dagegen einige Fragen an Sie zu richten.«
»Fragen Sie - ich habe ohnehin dann um Ihre Hilfe zu bitten in einer andern Sache.«
»Haben Sie je bemerkt, daß der Conde hier - eine Verbindung mit ägyptischen Damen unterhielt?« -
»Sie erinnern mich an einen kleinen Vorfall, der sonst wohl keine Bedeutung hätte. - Am Tage vorher, ehe wir ihn das letzte Mal sahen und er zu unserem
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Verwundeten in Bulak gehen wollte, sah ich hier im Garten einen Eseltreiber bei ihm, der ihm ein Bouquet Blumen, einen Selam gebracht hatte und mit ihm sprach.«
»Hamed, den Schurken - ich weiß, daß er den Commissionair und Unterhändler für tausend Dinge macht. - Weiter, - haben Sie je Ihren Freund - mit jener Richtung -,« er deutete mit den Augen nqch einer entfernten Terrasse hin - »in Verbindung stehen sehen?«
»Ich sah ihn den Selam, den er eben erhalten, zwei Mal zu seinen Lippen heben.«
»Dann ist es richtig - der Unglückliche!«
»Aber warum haben Sie ihn nicht gewarnt?«
»Wie durft ich's wagen? - Aber er weiß wenigstens dasselbe, was ich Ihnen von dieser gefährlichen Syrene erzählt habe und daß Keiner zurückgekehrt war, der wahrscheinlich in ihre Netze gefallen.«
»Gott sei Dank - dann kennt er sie und ist gewarnt und wird sie im Augenblick der Gefahr zu durchbrechen wissen. Wie ich den Grafen kenne, ist er nicht der Mann sich fangen zu lassen und sein Glück in all' den tausendfachen Gefahren, die er schon bestanden, fast sprüchwörtlich. Er ist eben so kühn und verwegen, als klug. Fast dürfen wir darauf gefaßt sein, ihn unerwartet wieder zum Vorschein kommen zu sehen. Ich fürchte nur, daß es dabei nicht ohne Gewaltthat abgehen wird. Dann wird es freilich das Beste für uns Alle sein, Kahira sofort zu verlassen, Er hat ein eigenes Schiff, das ihn in Alexandrien erwartet. - Doch muß ich jedenfalls mit seinem Verwandten, Lord Walpole sprechen und - wenn er in
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drei Tagen nicht zum Vorschein kommen sollte, muß der Lord sich an Sheriff Pascha den Minister des Aeußeren oder an den Vicekönig selbst wenden.«
»Der Weg der Gerechtigkeit ist hier weit - und bringt ein Leben nicht zurück. Aber was ist's, womit ich Ihnen selbst sonst dienen kann?«
»Es ist eine eigenthümliche und doch sehr natürliche Sache. Sie haben vielleicht das junge Mädchen bemerkt in Diensten oder besser in der Begleitung der Fürstin Wolchonsky?«
»Ja - es soll eine Chinesin sein, wie wir gehört - sie scheint hochschwanger, meine Frau hat mich darauf aufmerksam gemacht.«
»So ist es - obschon die Fürstin keine Ahnung davon hatte, - vielleicht das Mädchen selbst nicht. Ich entdeckte es sogleich in Abessynien, als sie aus Indien kamen, - durch einen Zufall, und die eigenthümlichen Verhältnisse, in welchen die Waise unter dem Schutz der Fürstin steht, wie ihre sonstige Hilfslosigkeit haben mir, dem Arzt, eine gewisse Theilnahme für sie eingeflößt. Die Fürstin selbst ist jung, kaum geeignet für eine solche Lage; sie bedarf in jedem Fall einer anderen Dienerin.«
»Die sind hier hundertfach zu haben, wenn auch für ihre Moralität wenig zu stehen ist. Bis Paris, wohin sie ja gehen will, reicht's jedenfalls.«
»Ja - aber sie beharrt darauf, das arme Wesen nicht zu verlassen. Eine seltsame Kette von Ereignissen verbindet die beiden Frauen. Nach Allem, was ich als Arzt beurtheilen kann, steht Tank-ki auf dem Punkt, bald
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Mutter zu werden. Es ist dies ein Hauptgrund gewesen, uns hier zurückzuhalten. Dennoch kann, wie Sie selbst zugestehen, jeden Augenblick dieser Aufbruch nothwendig werden.«
»Dann weiß ich freilich kaum zu rathen, wenn Sie das Mädchen nicht unter dem Schutz meiner Frau zurücklassen wollen. Sie wissen als Mann und Arzt, wie oft sich die Frauen über das Ereigniß selbst in der Zeit täuschen.« - Er wandte sich zum Gehen, kehrte aber, als sei ihm ein Gedanke gekommen, plötzlich zurück. - »Es ist doch vielleicht gut, daß Sie mich in dieser Sache zum Vertrauten gemacht, Doktor. Ist der Lord bereit, für die Gewißheit über das Schicksal seines Vetters einiges Gold zu opfern?«
»Gewiß!«
»Dann wird es uns gelingen, sie zu erhalten, vielleicht auch mehr. Sie wissen, daß wir im Orient seit Jahren manchen tüchtigen europäischen Arzt haben, Sie sind ja selbst das Beispiel. Aber daneben haben im Volk die jüdischen Aerzte noch immer großes Vertrauen und namentlich die weisen Frauen dieser Nation bei unseren Wöchnerinnen. Es würde also nicht auffallen, wenn Sie für das Mädchen eine dieser Jüdinnen zuzögen.«
»Ich kann noch nicht absehen, wohin Sie mit dieser Einleitung zielen.«
»Diese Jüdinnen, zum Theil selbst vom Stamme der Falaschas in Oberägypten, sind zugleich vielfach die Vertrauten der Harems und kommen in die Paläste selbst unserer Machthaber. Eine solche Alte, eigentlich eine
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Kupplerin, ist die Mutter Hameds, unseres bereits erwähnten arabischen Kommissionairs, der ein geborener Jude ist. Ich weiß zufällig, daß die alte Vettel, die mir sonst nicht in mein Haus kommen darf, vertrauten Zutritt hat in den Palast der Prinzessin Mirjam, ja dort täglich verkehrt. Würde ich sie durch ihren Sohn hierher kommen lassen, so würde das sogleich Beiden auffallen und weiter getragen werden. Sie kennen nicht die hundert Wege, durch welche Orientalen jede Nachforschung zu vereiteln wissen, aber dennoch giebt es Mittel, bis in ihre geheimsten Schlupfwinkel zu dringen - ein solches Mittel ist die Habsucht und Geldgier der Juden. Ich zweifle nicht, daß wenn es uns gelingt, die alte Rebecca in unverdächtiger Weise hierher zu locken, es auch möglich sein wird, sich ihres Beistands zu versichern, wenigstens einer Auskunft.«
Der Doktor nickte zustimmend und der Wirth versprach in solcher Weise die alte Jüdin kommen zu lassen.
Es sollte dies noch eher geschehen, als die Männer gedacht hatten; denn bereits am Spätabend traten Zustände ein, welche die Hilfe der alten Jüdin erheischten, und ehe Mitternacht kam, war die Chinesin Mutter eines Knaben geworden. Doktor Walding und der Grieche hatten es nach Verabredung mit dem Lord übernommen, die Jüdin zu befragen, und während der Letztere dafür sorgte, daß ihre Unterredung nicht durch Ueberraschung gestört werden konnte, trat die Alte in das Zimmer der beiden erstgenannten Männer, die lüsternen Augen sogleich auf die geöffnete Rolle von englischen Goldstücken heftend, die unverwahrt auf dem Tisch lag.
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»Du bist eine weise und geschickte Frau,« sagte der Arzt - »ich bin beauftragt, Deine Dienste zu vergelten, und Dir das Gleiche zu geben« er schob ihr zwei Goldstücke zu, »wenn die Wöchnerin erst wieder im Stande ist, ihr Lager zu verlassen und die Weiterreise anzutreten.«
Die Alte hob das runzelvolle Gesicht und musterte ihn mit den scharfen forschenden Augen. »Der Gott Jakobs segne Dir die reiche Gabe. Unsere Gläubigen sind nicht so freigebig, wenn sie meiner Hilfe bedürfen. Aber wann beabsichtigen die Franken-Aga's ihre Reise anzutreten? - unter diesem Himmel bedürfen die Frauen keiner langen Zeit unter geschickten Händen, wieder zu gesunden.«
»Das wird von Deinem Ausspruch abhängen, zunächst freilich von dem Erscheinen eines unserer Begleiter, der uns in Unruhe versetzt hat über sein Verschwinden.«
Er hatte mit zwei weiteren Goldstücken gespielt und schob sie nach der Seite des Tisches, an der auf seine Einladung die alte Jüdin Platz genommen hatte. »Ich wünschte, es könnte Gold seine Rückkehr beschleunigen, so gut wie Deine Geschicklichkeit die Wiedergenesung der jungen Frau.«
Die Alte schien einige Augenblicke mit sich zu Rathe zu gehn, aber der Anblick der blanken Goldstücke mußte verführerisch wirken, denn während der Grieche wie zufällig vor den Ausgang des Zimmers trat, verschwanden die zugeschobenen Sovereigns in ihrer weiten Tasche.
»Du bist ein weiser Hakim, wie mir mein Enkel erzählt hat,« sagte sie vorsichtig, »und hast das Leben des Kindes des deutschen Wirths gerettet. Warum sollte ein
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so weiser Hakim nicht wissen, daß in diesem Lande ein goldner Schlüssel alle Thüren zu öffnen versteht!«
Der Arzt sah sogleich, daß er offener sprechen könne. »Eine weise und geschickte Frau wie Du, muß in vielen Häusern und Harems der Reichen und Mächtigen Eintritt haben und ihre Geheimnisse theilen. Das Volk erzählt sich Vieles von einer Verwandten des Khedive. Kennst Du die Prinzessin Mirjam, die in diesem Stadttheil wohnt?«
Sein Blick haftete fest auf ihr. Die alte Kupplerin vermochte nicht ihren Schrecken ganz zu verbergen bei dieser direkten Frage. »Wer sollte die Sultana Mirjam nicht kennen? Sie ist eine kluge und mächtige Frau - es ist nicht gut für geringe Leute, sich ihrem Willen entgegen zu stellen.«
»Bah - ihr Witz ist der eines Weibes, und es kann andere geben, die klüger sind als sie. Für zwanzig dieser Goldstücke wäre Manches zu wagen, um einem Opfer ihrer Lüste die Freiheit wieder zu geben - wenn es überhaupt noch Zeit dazu ist. Sonst bleibt dem Beisädih Nichts übrig, als sich an die Polizei des Khedive um Nachforschung zu wenden.«
Die Alte lächelte spöttisch. »Der Aga würde dann schwerlich finden, was er suchen will. Warum gleich die Gewalt, wenn andere Mittel sicherer zum Ziele führen können? Hat der Hakim die gleichen Fragen gethan an meinen Enkel wie an mich?«
»Nein - Männer sind geschwätzig, kluge Frauen niemals. Du bist die erste Person, mit der ich davon rede.«
»Wallah - die Kinder Jacobs sind die Unterdrückten
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in diesem Lande. Es ist oft gefährlich zu reden. Es wäre thöricht von mir zu thun, als ob ich nicht wüßte, daß Du von dem schönen Franken redest, der mit Euch in diesem Hause wohnte und seit vier Tagen nicht zurückgekehrt ist zu seinen Freunden.«
»So ist es. Wir fürchten, daß er in ein gefährliches Liebesabenteuer verstrickt ist, und in einem Harem dieser Stadt verborgen gehalten wird.«
»Es mag sein! Aber seine eigene Klugheit allein kann ihn daraus befreien.«
»So lebt der Graf von Lerida noch?«
»Ich habe nicht gesagt, ob er lebt oder nicht. Ich weiß Nichts davon. Es ist gut, daß der Hakim nicht mit meinem Enkel gesprochen hat - er liebt das Geld allzusehr und fürchtet für seine Kehle, obschon er oft laut genug in der Synagoge und auf dem Bazar schreit. Frauen allein, wie Du selbst sagtest, verstehen zu schweigen und ohne Lärmen guten Rath zu geben.«
»Was läßt Du uns so lange um die Sache hergehen. Wenn der Conde noch unter den Lebenden ist, vermöchtest Du, ihm einige Zeilen zuzustecken, die ihn gegen Gefahren warnen?«
Nach der Art aller Frauen antwortete die Alte mit einer Gegenfrage.
»Kennt der Hakim eine Schrift, die Keiner hier versteht, wenn ein schlimmer Zufall sie finden lassen sollte?«
Der Arzt sann einige Augenblicke nach. Die gewöhnlichen im Orient üblichen Sprachen schienen ihm nicht geeignet, außerdem war wohl zu bedenken, ob der tolle
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Spanier die gewählte kennen würde. Endlich glaubte er das Richtige gefunden zu haben. »Was meinen Sie, General Maldigri - dieses Weib ist so vorsichtig als schlau und sie will offenbar sich nicht bloßstellen, - würden es die nöthigen Worte auf Lateinisch thun?«
»Das ist das Richtige - der Graf hat zum Theil seine Erziehung in Eton erhalten. Hier ist Papier und Dinte!«
Die alte Jüdin legte die Hand auf die Feder, die der Arzt bereits ergriffen hatte.
»Halte ein, weiser Hakim. Du darfst nur schreiben in Deiner fremden Sprache, was ich Dir vorsagen werde. Es darf Nichts geschehen, was mich in Gefahr bringen könnte. Das Papier, das Du schreibst, kann nur die zufällige Hülle, eines anderen Gegenstands sein, - einer Schnur zum Beispiel, von dem Haar der Kameele - diese ist dünner wie Seide und reißt niemals!«
Der Arzt sah sie mit einem verständnißvollen Blick an. »Ich hoffe, Du weißt, wo eine solche Schnur zu finden ist, und wem sie Dienste leisten muß. Sage mir die Worte vor, die ich schreiben soll!«
»So schreibe denn:
Wer sich in Gefahr begiebt, kommt darin um, wenn er sich nicht selbst befreit. Die Gefahr ist oft - am dringendsten, wenn sie am fernsten scheint, und ein kluger Mann wartet nicht, bis der Tod an seinem Kissen steht. Ein Weiser setzt nicht Speise und Trank über das Leben, und die Schnur des Kameeltreibers ist fester als der Gürtel von
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Gold und Seide. Ein kühner Sprung ist oft besser als ein schwerer Fall, und es ist nicht immer möglich, durch die Thür hinauszugehen, durch die man eingetreten ist. Wer weise ist, hüte sich vor Allem, was dunkel, und suche die Freunde, wo das Licht ist!«
»Bist Du schon zu Ende?«
»Ich bin's!«
»Deine Worte scheinen ziemlich unklar und ungenügend.«
»Ich kann nicht mehr sagen - und wenn Dein Freund klug ist, werden sie genügen. Nur möge er das Gras nicht wachsen lassen unter seinen Füßen in Kahira, wenn es ihm gelingt, der Gefahr zu entgehen. Ich kann nicht mehr reden.«
»So sage wenigstens, was die Anspielung auf das Licht bedeutet, und daß ein Sprung besser ist als ein Fall?«
»Die Terrasse eines arabischen Hauses ist nicht hoch und das Fenster einer Wöchnerin bleibt hell auch während der Nacht. - Ich werde morgen während des Tages wieder nach ihr sehen. Die kleine Gasse, die von der Muskieh am Palast der Sultana Mirjam vorüber führt, läuft gleich mit der Mauer dieses Gartens. Lebt wohl - es ist Zeit, nach dem Viertel der Kinder Jacobs zu gehen.«
»Ich glaube Dich jetzt verstanden zu haben, Frau,« sagte der Arzt, »und hoffe, daß Du bald den Weg hierher finden wirst, das Geld hier zu holen. Wir werden unsere Maßregeln so treffen, daß nicht das Geringste Dich compromittiren kann. Lebe wohl - der Morgen graut bereits.«
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Die alte Jüdin verschwand eiligst und winkte draußen im Gange, der von dem Hôtel zur Straße führt, dem Enkel, der dort in einem Winkel schlief, ihr das Thor zu öffnen und sie zu geleiten.
Doktor Walding und der Grieche blieben noch in ernster Berathung zusammen und erwogen genau alle zu thuenden Schritte, zunächst ob es gerathen sei, irgend fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ihr Beschluß war, am Morgen sofort nach Alexandrien zu telegraphiren und die dort ankernde Dampfyacht des Conde in den Hafen von Bula kommen zu lassen, denn die Fahrt auf dem eigenen Schiff war jedenfalls sicherer als die hundert Zufällen unterworfene auf der Eisenbahn. Lord Walpole sollte noch im Lanf des Tages von dem Geschehenen unterrichtet und durch ihn der britische Consul Sir Alfred Walen ersucht werden, dem Entkommenen in seinem Hause für zwei Tage Aufnahme zu gewähren, da nicht zu befürchten war, daß selbst die ägyptischen Behörden unter irgend einem Vorwand einen Eingriff in den britischen Schutz wagen könnten. Weiter beschloß man, während der nächsten zwei Abende in der Nähe des Palastes der Prinzessin aus den eigenen Leuten Wachen aufzustellen, die für alle Fälle bereit sein und den Entkommenen auf dem Wege bis zum Consulat schützen könnten. Kumur, die beiden Trapper und einer von ihnen selbst wurden dazu als ausreichend erkannt, von der Ankunft der Yacht aber sollte keine Seele auch im Hätel bis zum Augenblick der Abreise erfahren. Walding sollte unter französischem Schutz in Cairo zurückbleiben, bis er mit den beiden Franzosen und
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der Wöchnerin nach Alexandrien folgen und mit ihnen dort wieder zusammen treffen könne. -
Diesen Entschlüssen entsprechend wurden die Anstalten im Laufe des Tages getroffen, und als am Nachmittag die Jüdin die Wöchnerin wieder besuchte, gab ein für Andere unbemerkbarer Wink ihnen die Gewißheit, daß es ihr gelungen sei das Papier in die richtigen Hände zu spielen und daß sie sich bereit halten müßten.


In einem nach orientalischer Sitte durch die Zugluft und einen kleinen künstlichen Springbrunnen von wohlriechendem Wasser gekühlten, mit persischer Seide tapezirten Gemach saß auf einem bequemen Divan eine Frau in kostbare orientalische Gewänder gekleidet, und der Duft des Nargileh, aus dem sie gleichzeitig mit dem Mann, der auf den Matten und Kissen zu ihren Füßen ruhte, durch den Doppelschlauch rauchte, erfüllte den Raum mit einem süßlichen wollüstigen Duft. Dieser Mann zu ihren Füßen trug gleichfalls orientalische Gewänder, die weiten Beinkleider, Schalmar genannt, und über dem Hemd von weißer Seide die gestickte ärmellose Jacke, aber dem Reichthum der Kleidung nicht entsprechend um die Hüften statt des kostbaren goldgewirkten Shawls, der neben ihm lag, einen einfachen Strick aus Kameelhaar. Er stützte sich auf Hand und Ellbogen des rechten Arms und schaute, den Kopf in den Nacken gelehnt, mit glühenden Augen auf das schöne Weib, das auf dem Divan saß. Ihre fleischigen üppigen Formen zeigten, daß sie nicht mehr in der ersten Jugend stand, und selbst das wunderbar zarte Roth
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der künstlichen Schminke, das ihre Wangen bis unter die Augen färbte und mit dem feinen schwarzen Pinselstrich, unterm Lid und den Wimpern das Feuer der schwarzen Augen noch mehr hob, konnte doch die tiefen leidenschaftlichen Schatten nicht verbergen, die bis zur Nasenwurzel das Auge umgaben. Die Stirn war niedrig und durch die Färbung der schmalen tiefgeschwungenen Brauen noch verkleinert, die Nase fein und gebogen, die Lippen aber, wenn ihre volle mit kostbaren Ringen bedeckte Hand die dicke Bernsteinspitze des Nargileh daraus entfernte, zeigten sich fast übervoll und verriethen mit dem starken Kinn und gewölbten Halse Wollust und Sinnlichkeit. Eine scharfe Falte, die um die Mundwinkel lauschte und der Schminke Trotz bot, verrieth eine gewisse Unbezähmbarkeit im Genuß, gleichsam wie das Raubthier unersättlich im Blute schwelgt und dann keine Furcht und Besorgniß kennt. -
»So willst Du mich wirklich morgen Abend verlassen, schöner Franke« sagte die Frau in italienischer Sprache, »und es ist Nichts, was Dich länger in den Armen Mirjams zurückhalten kann? Geh, Deine Liebe ist kalt - Deine Leidenschaft allzurasch befriedigt, während Mirjam nicht müde wurde an Deinem Herzen zu ruhen!«
»Hast Du ein Recht, mir Mangel an Feuer und Liebe vorzuwerfen?« sagte mit leichtem Spott der Mann. »Aber bedenke, daß Du nur empfängst und ich Dir gebe, und meine Frankennatur nicht geschaffen ist für die bloßen Genüß[ss]e des Harems. Wir bedürfen der Freiheit und der freien Bewegung, die Körper und Sinne stählt,
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statt der Erschlaffung. Meine Freunde werden nicht ohne Besorgniß um mich sein, und ich muß diese erst beruhigen, um ungestört in Deine Arme zurückkehren zu können.«
»Es ist ein Weib unter ihnen,« sagte leidenschaftlich die Orientalin - »ich habe sie gesehen von der Höhe meines Thurmes und weiß von ihr durch Hamed, der mein Sklave ist und dien Befehlen gehorcht, die ich ihm durch das alte jüdische Weib, seine Großmutter, gebe, daß sie gleichfalls eine Prinzessin sein will aus einem fernen Lande der Ungläubigen. Du willst zu ihr, die kalt ist wie Eis gegen die Gluth und das Glück, das Dich hier umgiebt. Laß sie ziehen zu ihrem Land voll Schnee, schöner Franke und bleibe bei Mirjam, wo Dich alles Glück der Liebe umgiebt. Fordere und jeder Genuß sei Dir gewährt. Sollen die Almen wie gestern vor Dir tanzen? - Willst Du die Weine der Ungläubigen trinken? - Sieh Du hast gewünscht, daß wir Beide heute die Gewänder der heißeren Sonne tragen, und ich habe mich beeilt, Dir solche aus dem Bazar holen zu lassen. Willst Du sie kostbarer, reicher geschmückt? Du sollst sie morgen haben! Nur gehöre Mirjam allein und bleibe bei ihr!«
»Nein, Du weißt, daß ich morgen wieder die Tracht der Franken anlegen muß, indeß es heute nur anders geschah, um mit Dir unbemerkter auf der Eskebieh zu wandeln, sobald es Abend wird. Du irrst Dich, wenn Du glaubst, die Moskowitin sei es, die mich von Dir zieht, sie ist die Verlobte meines Vetters und mag mit ihm nach seiner Heimath gehen, während ich bei Dir bleibe. Aber dazu ist es nöthig, mich mit ihm und
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meinen Freunden zu verständigen. Du sollst auch immer wenn ich bei Dir bin, die Tracht des Orients tragen, die Dir hundert Mal schöner steht, als die Flittern von Paris.«
Sie schien nicht auf die Schmeichelei zu achten. »So willst Du Deinen Freunden erzählen, daß Du bei mir warst und zu mir zurückkehren willst?« frug sie lauernd.
»Warum nicht? Bin ich nicht Herr meines Herzens und meiner Person, wie Du? Wer kann uns hindern in Liebe zusammen zu leben!«
»Niemand, so lange der Schleier des Geheimnisses unsern Bund bedeckt. Bedenke darum, was Du thun willst. Ein Weib ist nicht frei in diesem Lande.«
Er sah in Gedanken vor sich nieder - sie hielt die Augen forschend auf ihn gerichtet. »Warum hast Du diesen schlechten Strick um Deine Hüften gelegt, statt des Shawls, den Dir die Sklavin brachte?«
»Es war zufällig um das Packet geschlungen, das Deine Hand mir sandte.«
»Aber Du hast auch die Limonade verschmäht, die meine Hand Dir mischte. Ist mein Liebling krank?«
»Ich habe Sehnsucht nach frischer Luft - ein Gang in's Freie wird mir wohl thun.«
»Dein Wunsch ist für Mirjam Gebot. Sobald der Muezzim die Gläubigen zum Abendgebet vom Minaret gerufen, wollen wir lustwandeln. Der Chamsin hat Dich matt gemacht. Du solltest ruhen auf diesen Kissen, bis die Liebe Dich weckt.«
»Nein Sultana, ich bedarf Nichts, als der sonst
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gewohnten Freiheit, um glücklich zu sein. Wir wollen durch die Eskebieh wandeln oder zum Ufer des Nil. Ich - ich will es!«
»Du bist voll übler Laune, Freund. Aber es geschehe wie Du befiehlst. Erwarte mich, daß ich den schwarzen Sklaven Befehl gebe, uns zu begleiten. Es schickt sich nicht für eine Sultana, daß sie ohne Diener außer dem Hause sich zeige, wie das Weib eines Fellah!«
»Wie Du willst. Diese Luft hier ist drückend!«
»Sie ist es nur, weil Du mich nicht mehr liebst und die Gesellschaft Deiner Freunde vorziehst!«
Es hatte allen Anschein zu einem Liebeszwist, zu dem die türkischen Frauen eben so bereit sind wie ihre europäischen Schwestern, aber der Franke antwortete ihr trotzig nicht, sondern beschäftigte sich stumm mit seinen Gedanken, bis die Abendstunde gekommen war, die der Muezzim ausruft. Dann sprang er auf. »Laß uns jetzt gehen, ich bin Dein Geliebter, nicht Dein Sklave. Wenn ich wiederkehren soll, darfst Du mir keine Fesseln auferlegen, außer denen der Liebe. Laß uns gehen oder ...«
»Was drohst Du?«
»Nun, oder ich verlasse ohne Deine Erlaubniß das Haus!«
»Du weißt, daß der Wächter des Thors die Pforte nur öffnen darf, wenn ich's gebiete. Mirjam's Gunst hat Dich zu ihrem Herrn gemacht. Es geschehe, wie Du willst, nur gieb mir Zeit, mich in meine Schleier zu hüllen. Ich hoffe, wenn wir zurückkehren, wird Deine Laune besser sein.«
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Sie klatschte in die Hände - eine schwarze Sklavin trat in das Gemach. »Laß Massil und Zorab sich bereit halten, meinem Gebieter den richtigen Weg zu weisen durch die Pforte der Nacht. Er ist ein Undankbarer wie alle Männer es sind und will uns verlassen.«
Die Sklavin kreuzte die Arme und verbeugte sich gehorsam - ein flüchtiger Blick fiel auf den Europäer. Dieser trat mir großer Ruhe zu der zürnenden Schönen, küßte ihre Stirn und zog einen kostbaren Dolch, der in ihrem Gürtel steckte aus diesem und schob ihn in den seinigen.
Ihre Augen blitzten argwöhnisch dabei auf. »Was thust Du Franke?«
»Was sich gehört! Es paßt sich nach unseren Sitten besser, daß der Mann die Waffe führt als die Frau. Darf ich Dir die Hand, oder wenn Du europäischen Brauch vorziehst, den Arm bieten?«
»Es ist nicht Sitte in unserem Lande, daß Männer und Weiber zusammen gehn. Geh voran, ich folge Dir!«
Er schien bereits ziemlich Bescheid in dem Hause zu wissen, denn er trat sogleich in einen Gang, an dessen Ende eine steinerne Treppe in den Hofraum führte, der sich lang bis zum Thor hinzog, vor dem quervor ein finsterer alter Araber mit weißem Bart saß gleich einer Dogge, bereit, Jeden anzufallen, der sich diesem Ausgang gegen seinen Willen nahte. Am Fuß der steinernen Treppe standen die beiden nubischen Sclaven, zwei herkulische Gestalten mit grimmigen thierisch blickenden Zügen und mit dem Yatagan über dem weißen Kaftan im Gürtel, während
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ihre Hand den großen Bambusstab mit schwerem Silberknopf führte, welchen die Khawassen und Diener bei einem Ausgang und im Dienst ihrer Gebieter zu tragen pflegen, und mit denen sie wie der Läufer mit der Peitsche vor dem Wagen die Lästigen oder den Weg Sperrenden zur Seite schieben.
Mit einem raschen Blick hatte der Conde, denn er war es in der That, den wir zu den Füßen der ägyptischen Prinzessin gefunden haben, die Situation übersehen und die Begründung der Warnung erkannt, die er am Mittag auf dem Papier gefunden, in welches der Einkauf der Jüdin im Bazar geschlagen und mit dem Strick aus Kameelhaar umschnürt gewesen war. Er fühlte, daß jeder Augenblick der Zögerung ihm Verderben bringen konnte und daß er keine Spur von Besorgniß zeigen durfte, während seine schöne verrätherische Freundin auf der letzten Stufe der Treppe stehen blieb, und kaltblütig, ohne den Kopf zu wenden, ging er zwischen den beiden Schwarzen, die auf den Wink ihrer Herrin zu warten schienen, hindurch und trat auf den Pförtner zu: »Oeffne!«
Der Alte sah an ihm vorüber nach der Treppe hin, indem er die Hand an den Balken legte, welcher das Thor schloß - aber schon waren auch die beiden schwarzen Sklaven dem Spanier gefolgt, und nach einer Seitenmauer des Hofes deutend, in der ein anderer Gang sich zu öffnen und in einen zweiten Raum zu führen schien, hatte der eine der Schwarzen bereits seinen Arm gefaßt, um ihn dahin zu ziehen, während der Zweite mit dem schweren Stabe hinüberwies.
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»Jalla, jalla! taali schemalak!«8
Der Graf hatte ihn zwar nicht verstanden, aber er begriff aus der Geberde die Weisung des Schwarzen, und als habe ihn die Berührung des Sklaven erzürnt, hatte er im selben Augenblick mit einer raschen Bewegung seiner Hand den gewichtigen Stab ihm entrissen und schwang diesen rechts und links mit voller Kraft gegen die Schienbeine der Schwarzen, diesen empfindlichsten Theil aller Negerracen. »Schurken! Was untersteht Ihr Euch?« Im selben Moment, während die Geschlagenen sich heulend krümmten und die getroffenen Stellen rieben, war er an ihnen vorübergesprungen nach dem Eingang der Treppe zurück, hatte die dort harrende Dame übergerannt und flog trotz ihres Kreischens die Stufen hinauf. Erst als auf ihr Geschrei der weißbärtige Türke am Thor herbeieilte und ihr wieder auf die Beine half, zeterten wilde Schmäh- und Drohworte über ihre Lippen und begriffen die Schwarzen, daß ihr Opfer ihnen entgangen war.
»Verfolgt den Giaur, feige Hunde! Tödtet ihn zur Stelle! Um keinen Preis darf er entkommen!«
Die Nubier stürzten, den Yatagan schwingend die Stiege hinauf, fanden an dem Absatz des ersten Flurs, wo jene sich theilte, aber nur die schwarze Sklavin, die ihnen vorhin den Befehl der Herrin gebracht hatte und jetzt gleichfalls zappelnd und zeternd am Boden lag. Hinter ihnen her tobte die Herrin. »Wo ist er, der Freche? Er soll büßen mit dem Leben. Allah sei Dank, er kann
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nicht entrinnen!« Aber die Sklavin wies nur nach dem zweiten Gang. »Dort hinauf ist er - zum Dach!« Jetzt erst begriff die leidenschaftliche Frau, daß der Gegenstand ihrer Liebesgluth absichtlich einen ebenso kühn als gut ausgeführten Fluchtversuch unternommen hatte und schlug gleich einer getäuschten Rasenden gegen die schwache Thür, die nach der Sitte der orientalischen Häuser auf das flache, eine Terrasse bildende und von ziemlich hohen, gegen die Neugier unberufener Blicke schützenden Mauer umgebene Dach führte, auf welchen die orientalischen Frauen unter duftenden Gewächsen der Abendkühle zu genießen pflegen. Die Thür war zwar durch den vorgeschobenen Riegel vom Dach her geschlossen, konnte aber den Schlägen der Nubier nur wenige Augenblicke widerstehen, dennoch hatten diese genügt, die Flucht des bedrohten Spaniers zu sichern; denn als die Thür jetzt in Stücke flog und die erbitterte Frau, die einem der Sklaven selbst den schweren Yatagan entrissen, wie eine Furie hinausstürzte, fand sie das Dach leer und nur um einen der vorspringenden Steine das Ende der Schnur von Kameelhaaren geschlungen.
»Er ist fort, Sklaven - beim Propheten, der Franke wird uns verrathen! Noch kann er nicht weit sein, - die Gasse ist schmal und hat keinen Ausgang. Hinunter mit Euch Allen und ihm nach! Zehn Beutel für Den, der ihn zurückbringt todt oder lebendig!« Sie selbst versuchte die äußere Mauer zu erklimmen, um nach dem Entwischten auszuschauen, aber erst nachdem die herbeilaufenden Sclavinnen eine kurze Leiter für die Gebieterin zugeschleppt hatten, gelang es dieser über die Höhe der Mauer auf die
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vorbeilaufende Gasse hinabzuschauen. Die Gasse war jedoch leer - nur nach der Muskieh zu sah sie eben drei oder vier Männer sich hastig entfernen und es klang ihr zurück wie lautes Spottgelächter.
»Möge Allah ihn verderben. Zum Glück kann der falsche Franke nur Verdacht geschöpft haben und mir nicht schaden. Aber dennoch wird es gut sein, seine Schritte bewachen und Hamed zu mir kommen zu lassen.«
Aber der eilig Herbeigeholte wußte auch Nichts zu erzählen und konnte nur berichten, daß verschiedene Männer aus der Gesellschaft des britischen Lords erst in der Nacht zurückgekehrt waren, ohne den Spanier mit in's Hôtel zu bringen. Erst am zweiten Morgen vernahm sie, daß der ihrer Macht so rechtzeitig und geschickt Entschlüpfte im offenen Wagen mit dem englischen Consul nach dem Hafen von Bula gefahren war und sich dort an Bord eines kleinen Dampfers begeben, der mit zwei oder drei der Fremden sich alsbald stromabwärts auf den Weg gemacht habe.
Dennoch und obschon der Graf von Lerida jede Anklage und Aussage streng verweigert hatte, konnte seine Flucht nicht ganz verschwiegen bleiben und erregte bei dem wiederholt vorgekommenen Verschwinden von jungen schönen Fremden so viel Aufsehen und Verdacht, daß sich der französische, britische und italienische Consul bald darauf veranlaßt sahen, beim Khedive selbst auf eine genaue Untersuchung im Palast der Prinzessin Mirjam zu dringen. Man fand dabei in einer alten Cisterne in einem abgelegenen Hofe die zum Theil von Kalk zerstörten und unkenntlich gewordenen Leichen mehrerer Männer,
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offenbar Europäer. Obschon die Prinzessin und ihre Diener fest leugneten, davon zu wissen, sah sich der Khedive doch veranlaßt, die schöne Mirjam nach Ober-Aegypten zu verbannen unter dem strengen Verbot, Kairo oder Alexandrim wieder zu betreten, und dort starb sie bald darauf, wie ihre Freunde sagten: aus Gram über ihre Verbannung, während die beiden Schwarzen schon früher spurlos verschwunden waren. Die Sache machte damals in Kairo viel Aufsehen, aber die Justiz in Aegypten ist auch gegen überflüssige Schwätzer ziemlich kurz gebunden, und da bald nachher das ganze Haus niedergerissen wurde und einem anderen Gebäude Platz machen mußte, verschwanden alle weiteren Spuren. -
Acht Tage nach der fluchtähnlichen Abreise des spanischen Abenteurers trafen sich die Vettern in Alexandrien wieder, wohin auch Tank-ki im Schutz des Arztes ihre Herrin begleiten konnte. Doch hatte es Lord Frederic Walpole nach einer offenen Erörterung mit seinem abenteuernden Vetter für zweckmäßig erachtet, auf dem nächsten englischen Dampfer für sich und seine Schutzbefohlenen Ueberfahrt nach Malta zu nehmen und von dort erst sie nach Marseille zu bringen, während die beiden Franzosen, Doktor Walding und der Grieche an Bord der Dampfyacht blieben.


Es war damals, im Spätsommer und Herbst des Jahres 1861, eine stürmisch bewegte Zeit, deren Ereignisse, wie gesagt, uns, die wir sie doch mit erlebt, jetzt nach
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kaum 16 Jahren, in Folge der späteren wichtigeren Phasen in der Entwickelung der Nationen freilich fast vergessen sind und wie ein Traum erscheinen, die damals aber die politischen Sympathieen und Antipathieen genug in Anspruch nahmen, und voll abenteuerlicher Bewegung, so daß Frankreich fast der einzige Großstaat war, welcher sich ruhiger Zustände, wenigstens im Innern erfreute.
In Amerika war in den vereinigten, oder vielmehr jetzt veruneinigten Staaten jener große Bürgerkrieg ausgebrochen, der unter der Maske der Humanität und der Sclavenemancipation doch nichts Anderes war, als ein Kampf für den Eigennutz der Yankees im Norden, ihre schaamlose Ausbeutung der Staatsinteressen und der Knechtung selbstständiger Institutionen; in Mexiko wüthete der Kampf der Liberalen mit Ultramontanen und des Ehrgeizes; England im Gefühl seiner Schwäche bangend, und doch lüstern mit hinein gezogen zu werden in den großen amerikanischen Krieg, später nicht einmal mächtig genug, jenen Schlag ins Gesicht dadurch, daß man die beiden Bevollmächtigten der Südstaaten auf offenem Meere mit Gewalt von einem britischen Postdampfer holte, mit einer Kriegserklärung zu erwidern und sich lieber mit Hetzereien auf dem europäischen Continent gegen Rußland und Oesterreich begnügend; - Spanien, sich in carlistischen und republikanischen Aufständen gegen ein verächtliches Weiberregiment erschöpfend; - Griechenland an der Schwelle eines Aufstandes, der mit dem Mordversuch des Studenten Dosios auf die unschuldige deutsche Königin begann, um einem englischen Prinzen auf den griechischen Thron zu helfen;
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- Italien endlich mit Blut und Hinrichtungen den Kampf gegen das bourbonische Königthum fortsetzend und unter dem Druck der Revolutions-Comité's und selbst unterjocht von napoleonischem Einfluß den Papst im Vatikan und Oesterreich in Ungarn bedrohend; Rußland einen neuen polnischen Aufstand vergeblich abwehrend; - Deutschland noch immer der Spielball der englischen und französischen, der dänischen und österreichischen, der revolutionairen und ultramontanen Intriguen: und diesen Feinden allen gegenüberstehend, allein auf sich und seine Zukunft vertrauend, das neue preußische Königthum, verläumdet und angefeindet im eigenen Lande durch Haß und Ehrgeiz - wo war da der Friede und eine gesicherte Zukunft zu suchen? Wir wüßten kaum, in welcher Phase der neueren Geschichte der Weltfrieden mehr bedroht, und der Boden mehr für vulkanische Ausbrüche unterhöhlt gewesen wäre!


Ueber die blauen Wellen des Golfs von Tarent schwamm an einem schönen Abend in der letzten Hälfte des August ein kleines Fahrzeug, dessen Takelwerk und ganze Ausrüstung keinen sicheren Schluß bot, ob es ein Handelsfahrzeug oder für kriegerische Zwecke bestimmt war, und deshalb an Bord einer von Süden her steuernden eleganten Dampfyacht allerlei Vermuthungen hervorgerufen hatte, bis der Kapitain oder der Besitzer der Yacht dem Steuermann Ordre gab, in jedem Fall sich dem geheimnißvollen Schiffe zu nähern und seinen Lauf zu kreuzen.
Wie übrigens das Seegelfahrzeug, das leicht und rasch die Wellen durchschnitt und seinen Lauf nach der
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Höhe des Golfs gerichtet hielt, die Neugier und die Combinationslust an Bord der Yacht erweckt hatte, so war es nicht weniger umgekehrt der Fall gewesen, nur daß an Bord des Seegelschiffs sich auch allerlei Besorgnisse kund gaben, die Jene nicht kannten.
»Es ist eine Felucke,« sagte der Schiffsherr - »so gut wie der Blitz! Aber es befremdet mich, daß sie die englische Flagge trägt, während doch die Engländer diese Art von Schiffen nicht zu lieben pflegen, wogegen wir sie häufig an den italienischen und griechischen Küsten finden.«
»Sie kommt von Malta,« sagte mit Bestimmheit eine Stimme.
»Carrajo! Sie können Recht haben, Major Grimaldi. Sie hält nach der Küste ab - englische Flagge hier an der Basilicata! wo, so viel ich gehört bei unserm Aufenthalt in Rom, unser Freund Cocca noch dem Herrn Victor Emanuel für den guten König Franz die Zähne oder vielmehr das Stilet zeigt. D'rauf also - wir wollen jedenfalls sehen, woran wir sind, bevor ich Sie nach Ihrem Wunsch an die ionische Küste bringe! He, Mauro - rufe dem Maschinisten, doppelten Dampf zu geben, und lasse das Signal zum Praien wehen. - Schade, daß mein Vetter Frederic jetzt wahrscheinlich bereits in La Valette auf Ueberfahrt wartet, er hätte sonst wieder gute Gelegenheit, den Hofmeister zu spielen und mir zu sagen, ich möchte mich nicht in Abenteuer stürzen, die mir nur Verlegenheiten bringen könnten.«
Die jungen Männer unter dem Sonnenzelt lachten. »Was wäre das Leben ohne solche Abenteuer? Ich dächte,
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der edle Lord hätte selbst genug an seinem Abenteuer, genannt Wéra Wolchonski. Was denken Sie davon, Thérouvigne, ob ihn die spröde Dame vom Nordpol wirklich noch heirathet, oder etwa den eifersüchtigen Verdacht hegt, die kleine Chinesin sei seine Maitresse gewesen?«
»Gehen Sie zum Teufel Marquis mit Ihrer Fopperei,« sagte unwillig der Husar - »der Knabe, ihr Kind, ist von edlerem Blute als selbst ein Lauderdale in den Adern hat, und Boulbon hat sicher noch keine Ahnung, den Seitenkanal der Bourbons in dieser Weise fortgepflanzt zu haben. Ich bin in der That neugierig zu sehn, welche Augen er macht, wenn er hört, Vater eines schlitzäugigen Langzopfs geworden zu sein! Wann brechen wir auf nach Paris, Juan? Nach der Meldung der letzten Nummer des ›Constitutionnel‹, den wir in Allessandria erhielten, bekommt der Kaiser im nächsten Monat Besuch von einem dieser Schneekönige aus dem Norden, von Stockholm oder Berlin, ich erinnere mich nicht sicher von welchem!«
Der spanische Abenteurer lachte. »Dessen können Sie jedenfalls sicher sein, Kapitain, daß er für Sie keine Einladung nach Compiegne haben wird, sondern Marschall Randon Sie vor ein Kriegsgericht stellt und im glücklichsten Fall Sie auf die Festung schickt, was Sie, unter uns, für den tollen Streich, sich den Räubern der Wüste anzuschließen zur Verfolgung von Reisenden, die Sie im Grunde gar Nichts angingen, wohl verdient haben.«
»Nicht toller im Grunde,« sagte der heißblütige Husarenoffizier ärgerlich, »als die Liebesaventüren eines gewissen Conde in Cairo! Lassen Sie's gut sein, ich
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bedauere nur, in Compiegne oder Paris nicht Zeuge Ihrer neuen Triumphe sein zu können, zu denen das Abenteuer mit einer ägyptischen Prinzessin nicht wenig beitragen wird. Aber ich glaube, das Fahrzeug, das wir jagen, hat beigelegt und wechselt die Flagge oder giebt ein Signal!«
»Caramba, Sie haben Recht - es sind die gelb und rothen Streifen von Spanien. Wie kommt denn der Don in das ionische Meer? -«
Die Felucke hatte in der That beigelegt - an ihrem Steuer stand der Padrone, ein Mann in den einfachen Gewändern der Seeleute der italienischen und griechischen Küsten; drei ihm ähnliche Matrosen lungerten am Bord, während man doch früher von der Campagne der Yacht mit den guten Gläsern deutlich eine große Anzahl Männer in Uniformen oder wenigstens Civilkleidern und bewaffnet hatte erblicken können.
»Was wünscht Ihr, Signor?« frug der Padrone, die Hände als Sprachrohr an den Mund legend. »Seid Ihr ein Engländer?«
»Und Ihr?«
»Das ist die ›Golondrina‹,9 kommt von Malta und will nach Corfu!«
Der Mann schien mit Absicht die Nationalität nicht zu erwähnen, aber es half ihm Nichts. »Wie kommt Ihr dazu die spanische Flagge zu führen?«
»Hab' das Recht dazu - glaubte einen Sarden in Euch, deshalb, um allen Plackereien zu entgehen, ließ ich zuerst die englischen Farben hissen!«
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Die Schiffe fuhren so dicht aneinander, daß die Unterhaltung leicht war. »Wenn Ihr ein Landsmann seid,« sagte der Conde, rasch die Sprache wechselnd, »so sagt mir, wer die Männer sind, die bei Euch auf Deck waren? Ich bin der Graf von Lerida und kein Zollwächter! Also heraus mit der Sprache - wo sind die Männer, die wir noch soeben an Bord Eures Schiffes sahen!«
»Hier, Señor Conde!«
Die Thür der Kajüte, die im Heck der Felucke fast ihre Hälfte einnahm, hatte sich rasch geöffnet, und mehre stattliche Männer waren herausgetreten, denen man unverkennbar die Soldaten ansah. »Wenn Sie in der That der Graf von Lerida sind,« sagte der ihnen Vorangehende, »so werden sie einen Mann achten, der mit Ihrem Vater für dieselbe Sache focht und starb!«
»Starb?«
»Ja Señor Conde - Ihr Vater, ich erinnere mich seiner wohl, fiel unter den Kugeln der Christinos, und ich auch!«
»Nur mit dem Unterschied, daß ich die Ehre habe, Sie lebendig vor mir zu sehen!«
»So ist es - haben Sie nie von Garcia Fuentes gehört, dem Major der Lanzas von Guipuzcoa, den man den Rosuscitada nannte?«
Der Conde riß ehrerbietig die Bortenmütze vom Kopf. »Wie Señor - das wären Sie und diese Herren sind Ihre Freunde?«
Der alte Offizier nickte bethend. »Ich hoffe, Sie
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werden also dem ehrlichen Padrone Nichts mehr in den Weg legen und ihn seinen Lauf fortsetzen lassen.«
»Nicht eher, Señor Mayor - als bis ich Sie und Ihre Freunde gesprochen habe.«
»Dann, Señor Conde, müssen Sie es mit unserem Anführer thun - ich bin es nicht! - Kommen Sie, Señor Generale, wir brauchen diesen Herrn gegenüber uns nicht zu verbergen!«
Ein hoher stattlicher Mann war aus der Kajüte getreten - noch ehe er selbst das Wort nehmen konnte, hatte der Marquis von Saint Bris die Freunde zurückgedrängt: »General Borges!« Er kannte den Carlisten von Paris her.
»Ha - einer unserer französischen Offiziere von Gaëta! - Einer der Tapferen von San Agatha! - Ich dachte Sie bei Se. Majestät oder längst in Frankreich! - Verzeihen Sie, Señor, aber da der Zufall uns hier im jonischen Meer zusammen führt, sollten wir nicht scheiden, ohne uns wenigstens näher gesprochen zu haben. Also bestimmen Sie selbst, ob Sie uns die Ehre Ihres Besuchs schenken wollen?«
Es hatten sich um den General jetzt noch mehr der spanischen Offiziere geschaart, es waren ihrer mit dem General dreiundzwanzig, und nach kurzem gegenseitigen Höflichkeitsaustausch folgten sie sämtlich der Einladung des Grafen, an Bord der Yacht für ein paar Stunden seine Gäste zu sein. Bei dem ruhigen Zustand der See war es möglich gewesen, die beiden Fahrzeuge so weit an einander zu legen, daß eine Planke den Verkehr vom höhern Bord der Yacht vermitteln konnte, und beide Schiffe ohne
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Anwendung der Seegel und des Dampfes trieben vereint jetzt der italienischen Küste zu.
Zu seiner Verwunderung fand der Graf, als er die Mitglieder seiner Gesellschaft vorstellen wollte, daß General Maldigri die Yacht verlassen hatte und an Bord der Felucke Hand in Hand mit ihrem Padrone saß, als wären sie alte Freunde, und bald darauf hatte sich auch Doktor Walding zu ihnen gesellt, und so blieb die Unterhaltung mit den Spaniern ihm und den beiden Franzosen überlassen. Der Gegenstand war aber in der That so ernster Natur, daß ihm wenig Muße blieb, sich mit dem Zusammentreffen des Ioniers und des Padrone der Felucke zu beschäftigen. General Borges machte vielmehr kein Hehl deraus, daß das kleine und schnelle Fahrzeug von ihm in Malta zu einer Expedition an die Küste der Basilicata gemiethet worden sei, um auf Anstiften des gefallenen Königspaars in Rom einen neuen Versuch zur Volkserhebung im Königreich zu machen - General Clary hatte den tapfern spanischen Offizier dazu veranlaßt und mit hundert Versprechungen ihn zu dem kühnen Unternehmen beredet. Nach seiner Mittheilung war eine Verschwörung der Anhänger des Königs durch alle Provinzen vorbereitet und tausende alter Soldaten warteten nur auf die Erhebung eines namhaften Führers um sich seiner Fahne anzuschließen. Der Tag des Ausbruchs einer neuen sicilianischen Vesper in Neapel war bereits festgesetzt, und Borges mit dem Oberbefehl über alle in den Bergen gebildeten Freischaaren betraut, deren Zahl sich bei der fanatischen Grausamkeit Cialdinis und dem so rücksichtslosen Auftreten der
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Piemontesen gegen die Bevölkerung täglich mehrte. Der tapfere frühere Carlistenführer sollte Waffen, Munition und Unterstützung aller Art bei seiner Landung finden und im Vertrauen auf das königliche Versprechen hatte er das sichere Asyl in Malta verlassen und das kühne Unternehmen begonnen, dessen Opfer er werden sollte.
Vergeblich machten ihm Don Juan und der Marquis Vorstellungen dagegen, da sie von dem Treiben der bourbonischen Camarilla in Rom zur Genüge gesehen, um befürchten zu müssen, daß man bei dem feigen Neid der Hofschranzen, die ihre eigene Haut in Sicherheit hielten und nur fremde Kämpfer für das durch ihre Jämmerlichkeit verlorene Königthum in den Kampf sandten - auch die kühnen Spanier nur ins Verderben gelockt habe. Der tapfere Borges vertraute dem königlichen Wort und ließ sich nicht entmuthigen. War doch in der That der Haß unter dem Volk selbst gegen die piemontesischen Eindringlinge noch immer im Steigen und trotz der Proclamation der neuen Statthalterschaft, die alle Kämpfer für das alte Königshaus nur für ehrlose Briganten erklärte und mit schimpflichem Tode bedrohte, so gewachsen, daß in der That damals eine gemeinsame energische Leitung der gesammten Kräfte die größte Aussicht auf Erfolg hatte. Aber freilich hätte eine solche Vereinigung auch aufrichtig sein und nicht durch eigenen Ehrgeiz und Hader verhindert werden müssen. So blieb denn dem Grafen und seinen Freunden Nichts übrig, als banger Ahnungen voll von der begeisterten kleinen Schaar sich unter besten
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Glückwünschen für ihre Erfolge zu verabschieden und sie schließlich an Bord ihrer Felucke zurück zu begleiten.
Hier hatte unterdessen ein eigenthümliches Wiederfinden stattgehabt. Der Padrone, eine kräftige von Wind und Wetter anscheinend gehärtete Erscheinung, war eben zu seiner Schanze zurückgekehrt, ohne sich weiter um den Besuch der Spanier an Bord der Yacht zu kümmern, als eine fremde Hand sich auf seinen Arm legte und eine bekannte Stimme alle Erinnerungen und Gefühle seines Herzens erbeben machte.
»Wenn Danilos Petrowitsch in diesen Meeren seinen Namen und alten Ruf vergessen lassen und sich aus dem Gedächtniß des britischen Leoparden halten wollte, dann hätte er sein Schiff nicht wieder die ›Schwalbe‹ nennen sollen!«
Der Padrone wandte sich hastig um, ein Mann offenbar zu dem fremden Schiff gehörig, stand neben ihm, das Gesicht mit seinem Tuche verhüllt und es absichtlich von ihm gewandt.
»Wer Ihr auch seid, Signor - die Stimme ist mir lieb und bekannt, aber leider die eines Todten! - Heilige Panagia - Markos - Markos Grimaldi!«
»Still, Milchbruder - es ist nicht gut, weder Deinen noch meinen Namen hier zu laut zu nennen! - Jahre sind zwar vergangen, aber das Echo vom Ganges könnte ihn allzuleicht wachrufen! - Der Himmel segne den Augenblick, der mich Dich wiederfinden läßt, den ich auch unter den Todten glaubte, wie Du mich!«
Der wilde Schmuggler hatte leidenschaftlich seine
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Hände gefaßt und küßte sie wiederholt. »Stehen denn die Todten Alle auf ihren Gräbern auf? O, wenn Du wüßtest, Marcos, daß auch er - er - der furchtbare, entsetzliche ...«
»Nochmals - vorsichtig! Ich weiß, wen Du meinst, und habe von ihm gehört. Er existirt nicht mehr für uns, aber dort an Bord der Yacht ist ein Anderer, dessen Du Dich gleichfalls erinnern wirst aus jener Schreckenszeit - Doktor Clifford, der Arzt des Bahadur!«
»Ich erinnere mich seines Namens und - seiner Person. Er war es, der bei der Befreiung des Prinzen von Audh half und den ich mit Dir von Bithoor brachte zum Lager des Tigers in Cawnpoor!«
»Er ist mit auf jenem Schiff. Doch komm hierher, Milchbruder, und erzähle mir, wie Du zu den Spaniern kommst, die dadrüben mit dem Grafen von Lerida tafeln. Wir werden unbelauscht hier sein auf dieser Bank am Steuer, während das Schiff mit dem Dampfer treibt. Das Letzte, was ich von Dir hörte, war der Gruß, den mir Major Delafosse brachte, nachdem Du ihm zu der Flucht von der Praua geholfen und ihn meinem Zuge nach Ihansi nachgesandt hattest. Er ist damals glücklich zu seinen Freunden entkommen, ich habe vor wenigen Monaten bei einem andern unserer damaligen Feinde von ihm gehört. Major Delafosse ist als ein tapferer Soldat bei der Entsetzung von Lucknow gefallen.«
Der Uskoke hielt noch immer die Hand des Freundes und Milchbruders. »Was soll ich Dir von mir erzählen! Nach dem Fall von Delhi und Lukhnow war der Sieg
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der Engländer gewiß. Ich verbrannte mit Baber Dutt die Praua und, nachdem ich gehört hatte, daß der letzte Halt unseres Kampfes mit Ihansi gefallen und Du unter seinen Trümmern mit der Rani den Tod gefunden hättest, gelang es mir mit dem Pfand, das Baber Dutt mir anvertraut hatte als wir uns trennten, den Indus und das Meer zu erreichen, wo ich mein altes Handwerk trieb, bis die Sehnsucht, die jeder Sohn der schwarzen Berge fühlt, mich wieder zurücktrieb an die Küsten der Adria und des Epirus, bis ...«
»Warum stockst Du in Deiner Erzählung? - welches ist das Pfand, das Baber Dutt Dir übergab?«
»Du bist ein Sohn dieser Küsten wie ich, und ich weiß, daß gleiche Sehnsucht wie mich auch Dich hierher zurückgeführt hat; denn niemals können wir lassen von der Heimath, die der Fremdling geknechtet hat, sei es der Moslem oder der stolze Engländer. Im Golf von Patras und nahe unserer Heimath, steht auf einem Eiland, unfern der Mündung des Aspropotamos am Ende felsiger und sicherer Bucht ein Haus, zu dem die ›Schwalbe‹ ihr Steuer wenden wird, wenn sie die Fahrt mit diesen Spaniern vollendet hat, und das jetzt die Heimath Danilos des Uskoken ist, wie es hoffentlich die Deine sein wird, wenn Du Griechenland frei sehen willst. Eine Tochter unseres Volkes schaukelt bereits einen Knaben, der Deinen Namen trägt, auf ihrem Schoos, und der Unglückliche, den ein falscher Freund zum Krüppel gemacht, wiegt den Sohn des freien Uskoken auf den Stumpfen seiner Arme.«
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Der tapfere Grieche schauderte: »Mann, von wem sprichst Du?«
»Von dem Aermsten von Allen, dem Schwager des Nena - dem Irländer O'Sullivan!«
»Heilige Panagia - und dieser ist bei Dir?«
»Ist Danilos nicht ein Tapferer, der treu an seinem Eide hängt? Er war mit uns auf der Praua, als der Nena so furchtbares Gericht hielt über die Faringi, und ist es geblieben, bis auch Baber Dutt floh. Wem sollte er den Mann anvertrauen, der keine Sprache mehr hat und keine Hand, gegen einen Feind sich zu wehren? Da vertraute er ihn mir und das Gold und Geschmeide, das ihm Schutz schaffen konnte ein Leben lang, denn der Unglückliche ist noch jung an Jahren, und der nächste falsche Freund würde ihn um sein Gold gebracht haben. Ich leistete einen Eid auf das Doppelkreuz und habe ihn gehalten. Wie eine Amme über ihrem Kinde, habe ich über ihn gewacht und unter hundert Gefahren ihn geschützt.«
»Wackerer Danilos - ich weiß am Besten, was Dein Eid bedeutet. Die That ist eines Helden würdig und eines Samariters. Ich bin reich genug, um Dir helfen zu können für den Unterhalt des Aermsten!«
»Nein - der Dienst hat sich selbst gelohnt; denn oft genug war das Mitleid, das sein Zustand erregte, der beste Schutz für uns Beide, und das Gold, das Baber Dutt mir anvertraute, hat seinen Segen getragen und macht mich zum reichen Mann. Schiff und Haus sind mein freies Eigenthum und wir könnten glücklich sein, wenn der Guls uns fern bliebe!«
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»Der Guls?«
»Die Moslems nennen ihn so - Du weißt was ich meine: den Buthrolakka, den Vampyr!«
»Du bist weit genug umhergekommen in der Welt, um das Märchen und den Aberglauben der Unwissenden zu verachten.«
Der ehemalige Schmuggler und Pirat sah den Milchbruder den Kopf schüttelnd traurig an. »Willst Du den alten Glauben der Völker unseres Stammes verhöhnen? Seit meine Augen den Nena wieder gesehn, weiß ich, daß er ein Gul ist, der nicht sterben kann und immer ein Opfer sucht, bis es gelungen ist, ihn zu bannen, was nur einem reinen Herzen möglich ist.«
Dem tapferen Condottiere war unwillkürlich bei den letzten Worten des Uskoken der abessynische Knabe mit dem engelgleichen Antlitz und Herzen eingefallen, den sie in Cairo einem unbekannten Märtyrerthum überlassen mußten, aber er kannte zur Genüge den tiefen Aberglauben des Volkes, um auch nur den Versuch zu machen, ihn bei dem Milchbruder auszurotten. Ueberkam ihn doch selbst die Erinnerung an den Furchtbaren zu gewaltig, als er hier die Behauptung des deutschen Arztes und der jungen Chinesin wieder bestätigen hörte.«
»Wo willst Du den Nena gesehen haben?«
»Vor drei Monaten in Brindisi, als der Dampfer von Aegypten landete; ich kannte ihn wohl trotz aller Entstellung, aber ich hütete mich zu ihm zu reden, und ich werde auch dem Stummen nicht von ihm sprechen, wenn ich heimkehre. Wozu sollte es nützen, die bösen Erinnerungen
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aufzunehmen? Ist das der Freund, der Hakim, der dort den Bord des Dampfers verläßt?«
»Er ist es - und es kommt auf Dich an, ob er unser Geheimniß erfahren soll?«
»Warum nicht? Er ist ein getreuer Mann und war ein Feind der Engländer, so gut wie wir! Warum sollte er sich nicht freuen, daß auch ich jenem Meer von Blut entronnen bin.«
Der Grieche erhob sich und winkte den Arzt heran. -
Auf die Gallerie der Yacht waren der Schiffsherr und zwei der Spanier getreten; es waren der General und der alte Offizier aus den ersten Karlistenkämpfen.
»Euer Excellenz wollen sich also unter keiner Bedingung abhalten lassen von Ihrem Unternehmen?« frug der Graf.
[»]Nein, Señor Conde, es ist beschlossen und ich ließ Seiner Majestät mein Wort verpfänden. Ich weiß, daß Major Langlais mich bereits erwartet und sich mit dem Haufen des Donatello und Coppa in Verbindung gesetzt hat. Der Aufstand in Neapel ...«
»Ich wünsche, daß Sie bei Ihrer Landung von dessen Erfolg vernehmen, habe aber wenig Vertrauen darauf!«
»Nun Señor Conde, so viel ich gehört, waren Sie selbst Soldat und wissen als solcher, daß eine Kugel das Loos ist, dem der Soldat jeden Augenblick entgegen sehen muß.«
»Und daß nicht alle Kugeln, selbst die, welche treffen, den Tod bringen, sehen Sie am besten an mir und selbst an Seiner Excellenz. Ich bin nicht weniger als zwanzig Mal verwundet worden und fühle mich doch noch rüstig
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genug, mit dem Segen des heiligen Vaters und zu Ehren des legitimen Königthums einen Kampf gegen diesen Schlächter Cialdini zu wagen. Es freut mich, Señor Conde, daß nach Ihrer Begrüßung zu schließen, meine Landsleute diesseits der Pyrenäen mich nicht vergessen haben. Wer erzählte Ihnen von meinem Abenteuer?«
»Ich dächte, es wäre merkwürdig genug, um im Gedächtniß Ihrer Landsleute erhalten zu bleiben. So viel ich weiß, kennt die spanische Geschichte nur ein ähnliches Beispiel in den letzten fünfzig Jahren.«
»Caramba - das müssen Sie mir erzählen, ich kenne es nicht und glaubte mich den Einzigen!«
»Es geschah während der Schlacht von Vittoria und betraf den kühnen Guerilla Guiposca de Condeiga. Die französischen Dragoner hatten ihn auf der Plaza am Ufer des Ebro vor das Gitter gestellt, und mit einer Salve die Execution an ihm vollstreckt. Dem anscheinend im Todeskampf sich am Boden windenden blutenden Körper wollte eben der Sergeant des Kommandos den mitleidigen Todesstoß geben, als der Guerilla, der mit dem linken Arm die seiner Brust bestimmten Kugeln empfangen, emporsprang, seinen Feind mit dem Stoß der verborgen gehaltenen Navaja todt niederstreckte und mit dem gesunden Arm in Gegenwart vieler Hunderte sich über die Brüstung in den Strom schwang und trotz aller nachgesandten Kugeln im Schilf des Ufers glücklich entkam.«
»Carajo! grade wie ich in den Gebüschen, nur daß die sechszig Kameraden, welche mit mir gefangen und von den Christinos in Reih und Glied vor ihr Pelotonfeuer
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gestellt waren, todt und sterbend am Boden lagen, während ich nur von einer Kugel am Kopf gestreift war, mit Blut bedeckt emporsprang und durch die Reihe der Entsetzten brach und davonrannte, bis ich das rettende Gebüsch gewann. Daß ich mich unterwegs nicht aufhielt, können Sie wohl denken. Es geschah ein Jahr vorher, ehe der Graf Ihr Vater von den Christinos füsilirt wurde, wie es später hieß auf den besondern Befehl des Marschalls Narvaez.«
Der Conde reichte dem alten Cavalleriemajor die Hand. »Seltsam - es war gerade jener Offizier, der an meinem Vater das Urtheil vollziehen mußte, der mir vor einigen Monaten auf einer Ueberfahrt nach Rom Ihre Rettung erzählte, nachdem ich ihn selbst aus einem spanischen Kerker befreit und von dem Bagno gerettet hatte. Das menschliche Schicksal spielt sonderbar.«
»So ist es Señor - wie hieß der Offizier?«
»Don Diaz Cavalho - aus der alten Familie der Guzman!«
»Doch nicht der Vetter und Amoroso der schönen Abenteurerin, die jetzt auf dem Throne Frankreichs sitzt?«
»Der Kaiserin Eugenie? - ich erinnere mich, sie stammt gleichfalls aus der Familie der Guzman.«
»Und ihre Mutter war schlau genug, ehe sie mit ihr nach London und Paris auf Abenteuer zog, ihr das reiche Erbe ihres Verwandten zu sichern - wie man damals sogar wissen wollte, durch eine heimliche Heirath mit dem dreizehnjährigen Mädchen, was freilich wohl eine böswillige Erfindung sein muß, da Bigamie eine Sache ist, die nur
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den mohamedanischen Unterthanen Frankreichs und Spaniens erlaubt ist!«
Der Conde war nachdenkend geworden. »Sie haben Recht Señor Mayor, obschon ich nicht zweifle, daß Ihre Majestät der alten Bewerber um ihre Liebe genug gehabt hat. - Der Don Rosario, der meinem Erzeuger vom Leben half, ist vielleicht vierzig Jahre -«
»Das dürfte stimmen. - Diaz Cavalho, so hieß er ja wohl in der Armee, muß ungefähr 1820 geboren sein -«
»Und die Kaiserin Eugenie 1826,« fiel hastig der Conde ein.
»Mag sein - es fiel mir nur zufällig bei Ihrer Erwähnung ein. Und nun, Señor Conde, welchen Cours schlagen Sie ein, nachdem Ihre Neugier über unsere Expedition befriedigt ist? Es ist schade, daß wir einen Mann wie Sie nicht zu den Unseren zählen dürfen!«
»Wichtige Interessen hindern mich in diesem Augenblick. Meine Wünsche sind mit Ihnen. Wir setzen unsern Cours fort nach dem Golf von Genua! Noch einmal - mögen Sie nicht getäuscht werden in Ihren Erwartungen! Rechnen Sie nicht auf Rom!«
Das war der Scheidegruß an seine tapferen Landsleute. Fast ohne Bedauern hörte er, als ihm Kapitain Grimaldi verkündete, daß er sie bis zur Ausschiffung begleiten und dann mit dem Padrone die Fahrt an die griechischen Küsten fortzusetzen beabsichtige.
Die letzten zufälligen Bemerkungen des Major Garcia hatten seiner lebhaften Phantasie und Combination Vieles zu denken gegeben. Jedenfalls ließ ein Aufenthalt in
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Roccabruna ihm die Gelegenheit, nach allen Seiten hin seine eigenen Launen zu verfolgen.
Also »Auf nach Neapel!«


Kommen wir hier gleich zu Ende mit der Geschichte der tapfern Spanier, obschon sie erst nach Monden schloß! Die Warnung Derer, die in Rom gewesen und die Intriguen hatten kennen lernen, welche von einem verächtlichen feigen Schranzenthum um den jungen König von Neapel und seine heldenmüthige Königin gesponnen wurden und jeden energischen Kampf für die gefallene Monarchie hinderten - sie zeigte bald ihre Berechtigung. Obschon der tapfere Spanier bei seiner Landung in der Basilicata diese Provinz in vollem Aufstand gegen die aufgedrungene piemontesische Herrschaft fand und die Truppe des Major Langlais ihm willig sich unterordnete, - der Ehrgeiz der eingeborenen Bandenführer verweigerte entweder offen den Gehorsam auf die Befehle des entthronten Königs, oder wußte auch die aufopferndsten Mühen des neuen Oberbefehlshabers scheitern zu machen. Schon bei der Landung an den Küsten der Basilicata traf General Borges die Nachricht, daß der beabsichtigte Aufstand in Neapel wenige Tage vor dem Ausbruch durch Verrath von der neuen Regierung entdeckt und mit schonungsloser Strenge unterdrückt worden war. Vergeblich waren seine Erwartungen auf die versprochene Unterstützung von Rom her. Trotz allem Drängen der Königin blieben die verheißenen Sendungen an Waffen, Munition und Geld aus - der schwache Franz war zu einem energischen Aufrichten nicht
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zu bewegen und Woche auf Woche verfloß, ohne daß den tapferen Spaniern von dieser Seite her Beistand wurde. Weder Waffen noch Geld trafen ein, und vergebens versuchte der General die einzelnen Banden zu einer Vereinigung gegen die von allen Seiten heranrückenden Piemontesen zu bewegen. Kleinlicher Ehrgeiz und Mißtrauen bei den Führern, die bereits mehr zum beliebten Banditenthum der Camorra als einem offenen ehrlichen Krieg sich neigten, hinderte jeden seiner Pläne. Als die Langlais'sche Truppe, durch Gefechte und Mangel decimirt, ihrer vollständigen Auflösung nahe war, entschloß sich Borges, sich mit seinen Spaniern zur Truppe des Coppa Donatella zu begeben; aber auch hier mit Mißtrauen und der Verweigerung jedes Gehorsams empfangen und fast als Gefangener behandelt, entschied er sich endlich nach Rom zu gehen, und brach in den ersten Decembertagen zu Pferde mit 22 Offizieren und zwei Führern aus der treugebliebenen Landbevölkerung nach der römischen Gränze auf. Unsäglich sind die Mühen und Gefahren, mit denen die kleine aber todesmuthige Schaar durch die drei von zahlreichen Feinden wimmelnden Provinzen bis zu dem nahe der römischen Gränze liegenden Städtchen Tagliacozzo in der Nähe von Arvezzano und dem Fuciner See gelangte. Der General umging dasselbe und machte bei einem einsam gelegenen Gehöfte Halt, obgleich die rettende Gränze kaum noch eine halbe Meile entlegen war, aber Männer und Pferde waren todmüde und nicht mehr von der Stelle zu bringen.
Es war bereits Nacht, kein Feind zu sehen, und die Spanier begaben sich in dem Hause zur Ruhe, nachdem
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sie darum gelost, welcher von ihnen unter der Thüre auf Posten bleiben und den Schlaf der Anderen bewachen sollte.
Das Loos war auf einen der Jüngsten gefallen.
Aber das Verhängniß war bereits auf ihren Fersen!
Es ist unermittelt, wenigstens unbekannt geblieben, auf welche Weise der piemontesische Kommandant des etwa 7 deutsche Meilen oder 28 Miglien von Soria entlegenen, von den Piemontesen besetzten Tagliacozzo die Anwesenheit der Truppe des General Borges in den Gebirgen der Gegend, dem spätern Schauplatz Chiavones, erfahren hatte - bereits seit zwei Tagen wußte man in Rom von seinem Zuge und den Weg, den er einschlagen wollte. Major Franchini war seiner Pflicht gemäß sofort mit einem starken Detachement Bersaglieri zur Verfolgung der Spanier aufgebrochen und hatte seine Späher in der Nähe an der Gränze vertheilt. Es war etwa zwei Stunden nach Mitternacht, als die Vedetten der Bersaglieri einen Mann in städtischer Tracht, aber in den warmen Mantel von Schaaffell gehüllt, wie ihn die Gebirgsbewohner von Subiaco tragen, antrafen, der den Kommandanten des Detachements zg sprechen verlangte. Zu ihm geführt schien er eine wichtige Nachricht zu bringen, denn Major Franchini ließ sofort seine Leute zusammentreten, beorderte einen seiner Offiziere mit 25 Mann den Fremden zu begleiten und gab ihm seine Instructionen, mit dem größeren Theil des Detachements in einiger Entfernung folgend. Es war bereits im Morgengrauen, als der verrätherische Führer stehen blieb und auf ein Gehöft deutend sich mit dem leisen Ruf begnügte: »Là!«
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Der Of[f]izier, während er das ganze Gehöft umzingeln ließ, zeigte ihm den Revolver und befahl ihm, voranzugehen, um zu sehen, ob und wo eine Wache ausgestellt sei. Der Verräther gehorchte, aber gleich darauf winkte er mit beiden Armen eilig heran zu kommen, und deutete auf einen jungen Offizier, der quer über der offenen Thorschwelle lag, der Griff des Säbels war seiner Hand entfallen. »Er schläft!«
Die schwere Erschöpfung hatte ihn in der That überwältigt - auch im Innern des Hauses zeigte kein Laut, daß die Gefahr bereits bemerkt worden.
»Mit dem Bayonnet! - Avanti!«
Ein Sergeant der Bersaglieri durchstieß die Brust des Schlafenden, - über den Sterbenden hinweg, ohne Schuß, nur auf die blanke Waffe und ihre Uebermacht sich verlassend, stürmten die piemontesischen Soldaten durch den Hof und sprangen die Stufen des Hauses hinan.
Aber was er im Leben versäumt, that der junge Spanier wenigstens noch im Todeskampf. »Los armas! - adversarios! es war sein letzter Laut, aber die schrille Stimme hatte genügt, die Schlafenden zu wecken und die über den Todten in das Haus Eindringenden wurden mit Dolchstößen und Pistolenschüssen empfangen und nach kurzem Kampf wieder hinaus ins Freie getrieben.
Vielleicht wäre es der kleinen Schaar der Tapferen gelungen, ehe Major Franchini mit dem größeren Theil des Detachements herankam, ihrerseits das Freie zu gewinnen und einzeln zu flüchten, aber es wurden einige Minuten mit der Erwartung des Befehls ihres tapfern Führers zur Vertheidigung des Hauses verloren, und als
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sie dann an Thüren und Fenster stürzten, diese gegen die herankommenden Piemontesen zu vertheidigen, erscholl plötzlich der Schreckensruf: »Incendio!« und ein dicker Rauch verbreitete sich blitzschnell in dem Gebäude.
Wie später die Bersaglieri erzählten, mußte es dem fremden Verräther gelungen gewesen sein, während die schlafende Schildwache niedergestoßen wurde, Feuer an zwei Stellen anzulegen, wo an dem trockenen Holz und einigen ländlichen Vorräthen die Flamme rasche Nahrung fand. Der Unbekannte selbst war mit diesem Werk verschwunden gewesen. Das Binsendach stand bereits in Gluth, als der Ruf des Generals seine Getreuen zurück und in das Innere des Hauses rief. Es konnte kein Ueberlegen mehr sein, was hier zu thun, und wenige Worte genügten also zu dem allgemeinen Entschluß, sich lieber den Kugeln und Bayonnetten des zehnfach überlegenen Fremdes entgegen zu werfen und so einen ehrlichen Soldatentod zu suchen und zu finden, als in dem rasch emporlodernden Feuer zu ersticken und zu verbrennen.
»Vorwärts Kameraden!«
Den Dolch zwischen den Zähnen, die Pistole in jeder Hand drängte die kleine todesmuthige Schaar aus dem Eingang ins Freie, bereit auf die Bersaglieri zu stürzen, die sich in weitere Entfernung zurückgezogen hatten und sie mit der angeschlagenen Büchse an der Wange erwarteten. Aber zu ihrem Erstaunen erfolgte die Salve nicht, der Major der Piemontesen stand vielmehr vor den Seinen und wehte mit dem Tuch.
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»General Borges! - Wo ist der General! Ich wünsche mit ihm zu unterhandeln!«
Der tapfre Spanier sprang vor das Häuflein der Seinen - die Hoffnung schwebte ihm vor, sie noch retten zu können.
»Hier!«
Der Major kam ihm entgegen. »Sie müssen die Waffen strecken, General,« sagte er. »Es wäre ein Wahnsinn und tapferer Männer unwürdig, auch nur den Versuch zu machen, meine Leute zu durchbrechen. Ueberzeugen Sie sich selbst, Sie sind auf allen Seiten umzingelt, und unsre Uebermacht ist zu groß, als daß es Ihnen gelingen könnte. Ich verspreche Ihnen und allen Ihren Begleitern ehrliche Kriegsgefangenschaft!«
Der General sah ihn fest an. »Ihr Wort darauf?«
»Das Wort eines Soldaten!«
»Ihr habt es alle gehört, Kameraden! Unter dieser Bedingung, Signor Mayor ergeben wir uns!«
Er warf Dolch und Pistolen auf den Boden - die Anderen folgten seinem Beispiel ohne Murren und umgaben ihn stumm und finster. Nur der alte Major Garcia sagte: »Bei der Madonna, - ich hätte es lieber auf den Kampf ankommen lassen!« Auf den Wink des piemontesischen Majors war der kleine Haufen der kühnen Männer rasch umzingelt worden und von dem brennenden Hause abgeschnitten. Nur die beiden abruzzesischen Führer, welche die seitherigen Erfahrungen gelehrt, sich lieber der Gnade der Flammen, als der ihrer Feinde anzuvertrauen, waren
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in dem Hause zurückgeblieben und verbrannten darin mit den beiden bereits im Kampfe gefallenen Offizieren.
Nachdem das Haus zusammengestürzt war, wurde der Rest der muthigen Kämpfer für das bourbonische Königthum nach Tagliacozzo escortirt, wohin Major Franchini bereits vorangeeilt war, um sofort von der Gefangennahme der Spanier nach Neapel zu telegraphiren, und wo sie die ganze Bevölkerung bereits am Thor erwartete und nach dem rasch zum Militair-Gefängniß eingerichteten Zollhause begleitete.
Die gefangenen Spanier saßen ohne Bande in dem ihnen angewiesenen Raum mit einander und den sie zahlreich besuchenden Offizieren und Eingeborenen sich unterhaltend, denn Keiner von ihnen, am wenigsten wohl der General selbst, obschon ihnen beim Eintritt in die Stadt Major Franchini mitgetheilt hatte, daß er ihrethalben habe an den Generalgouverneur nach Neapel telegraphiren und weitere Befehle verlangen müssen, dachte daran, daß das Wort des Kommandanten könne gebrochen werden. Nur der Major Garcia saß finster und ahnungsvoll.
Die empörenden Grausamkeiten, mit denen Cialdini jede Aeußerung der Anhänglichkeit für die gestürzte Königsfamilie zu unterdrücken gesucht hatte, waren schließlich Ursache diplomatischer Vorstellungen in Turin geworden und hatten seine Ersetzung in der Statthalterschaft zu Neapel durch den General Lamarmora zur Folge gehabt. Aber der neue Generalgouverneur dachte ebenso wie sein Vorgänger, und eine seiner ersten Handlungen war jene die Ehre der sonst so tapfern und nach der Säuberung
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von dem garibaldischem Gesindel bewährten piemontesischen Armee befleckende Antwort auf die Anzeige von der Gefangennehmung der Spanier und ihren Umständen. -
Es war kurz nach Mittag, als die Antwort des General-Gouvernenrs von Neapel eintraf und Major Franchini mit verlegenem Gesicht in dem Gefängniß der Spanier erschien und General Borges in ein besonderes Zimmer rufen ließ. Zugleich bemerkten die Gefangenen, daß alle Posten auf dem Platz und in der Nähe des Hauses verstärkt wurden.
Der General des Königs Franz betrat das Gemach, in welchem ihn der Stationskommandant mit zwei andern Offizieren erwartete.
»Excellenz,« sagte der Major, »die Entscheidung des General-Gouverneurs, der ich zu meinem Bedauern zu gehorchen habe, ist so eben eingetroffen.«
»Wohin sollen wir also nach der geschlossenen Kapitulation gebracht werden?« frug Borges. »Ich hoffe, man wird uns mit den Galeeren verschonen.«
Schweigend überreichte ihm der Major die telegraphische Depesche. Dieselbe lautete kurz, die Gefangenen als Briganten zu behandeln und
»di fucilargli tutti immantenente!« (sie Alle unverzüglich zu erschießen.) Lamarmora.
Der General sah den verlegen zu Boden starrenden Stationskommandant starr an.
»Das wäre ebenso grausam als ungerecht. Wir haben Ihr Wort der ehrlichen Kriegsgefangenschaft!«
Der Major zuckte die Achseln.
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»Wie, Signor, Sie würden diesen Befehl wirklich vollziehen lassen?« Wieder das Achselzucken - der Major blickte wie hilfesuchend auf den zweiten Offizier. Es war dies ein alter Kapitain der Bersaglieri, ein finstrer barscher Mensch, der vom Unteroffizier im Krimkriege und im italienischen Feldzug auf gedient hatte und von Cialdini protegirt zu einer Charge befördert worden war, zu der sonst nur Männer einer gewissen Erziehung erhoben zu werden pflegen.
»Aber das wäre eine ehrlose Handlung, Bruch Ihres Soldatenworts und gegen die ausdrückliche Bedingung unserer Waffenstreckung! Wir verlangen ein Kriegsgericht!«
»Der Generalbefehl lautet,« sagte der Kapitän barsch, »alle Empörer als ehrlose Briganten zu behandeln. Wer hieß Sie in dieses Land kommen? Sie sind nicht Offiziere, sondern Einbrecher und haben auf Kriegsrechte keinen Anspruch!«
»Und Sie? Sind Sie nicht vielmehr selbst in dies Land eines Königs, dem wir Fahneneid geleistet, ohne ehrliche Kriegserklärung eingebrochen mit Verrath und Gewalt?«
»Machen Sie das mit General Lamarmora ab - in einer andern Welt,« sagte fast höhnisch der Kapitain. »Wir kennen als Soldaten nur den Befehl unserer Oberen. Was sind da für Umstände zu machen - mit Briganten! - Die Execution wird an solchen vollstreckt wie sich gebührt, ob General oder Bauer!«
Der Spanier hatte noch immer die Depesche in der Hand. Jetzt knüllte er das Papier zusammen und schleuderte
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es dem Major in das Gesicht. »Morden Sie uns, wenn Sie es wagen! ganz Europa und jeder ehrliche Soldat wird richten über Sie! - unsere Pflicht ist es, für den König zu sterben, dem wir geschworen.«
»So halten Sie sich in zwei Stunden bereit,« sagte barsch der Kapitain - »so viel Zeit braucht es für eine Grube. Der Befehl sagt: immantenente! - Sollen wir Ihnen einen oder zwei Ihrer Pfaffen schicken, obschon Sie diese Rücksicht kaum verdienen?«
Der General sah ihn mit Verachtung an und begnügte sich zu dem höheren Offizier zu sagen: »Wir sind katholische Christen und wünschen als solche zu sterben!« Dann verließ er, ohne sich zu einer weiteren Anrufung zu erniedrigen, das Zimmer und ließ sich zu dem seiner Gefährten zurückführen. »Kameraden - ich hoffe, es ist Keiner unter uns, der nicht zu sterben weiß für den König, gleichviel ob im Kampf oder auf dem Sandhaufen! - Man weigert sich, das uns gegebene Wort zu halten, das neue Italien will uns wie Räuber morden! - Könnt Ihr Eurem alten Führer vergeben, daß er Euch hinderte am ehrlichen Kampf?«
Die Aufregung über die grausame Entscheidung war natürlich furchtbar, - Alle umringten den General, aber es war nicht Einer unter den Tapferen, der ihm nicht die Hand drückte, oder der ihm einen Vorwurf machte, sie zu dem Unternehmen geworben und zur Ergebung veranlaßt zu haben.
»Die Schmach falle auf sie! - Laßt uns als Männer sterben!«
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»Bah,« sagte philosophisch der alte Major - »dieser tolle Conde und seine Freunde hatten Recht, und die Kugel auf dem Sandhaufen, der ich vor fünfundzwanzig Jahren entging, findet mich dennoch! - Hat Einer wohl Papieros? Denn diese Cigarren von der italienischen Regie sind so schlecht wie ihr Wort!«


Noch größer war die Aufregung unter der Bevölkerung des Ortes selbst, als die furchtbare Entscheidung bekannt wurde. Heulend und wehklagend umringten Frauen und Kinder das Gefängniß der Verurtheilten, - die Männer knirschten die Zähne und stießen Flüche und Drohungen aus, so daß es sicher nur eines Aufrufs der Gefangenen bedurft hätte, um eine Erhebung der ganzen Bevölkerung zu ihrer Befreiung zu veranlassen, obschon Major Franchini die ganze Garnison mit scharfen Patronen sofort unter Waffen treten und alle Ausgänge der Stadt hatte besetzen lassen, auch auf das Eiligste nach Soria um Verstärkung telegraphirte.
Aber die spanischen Offiziere erhoben jenen Anruf an die Bevölkerung nicht, sie wollten nicht schuldloses Bürgerblut um ihr Leben vergießen und beschlossen, als Märtyrer ihrer Sache zu sterben, und die Schmach auf Jenen zurückzulassen, welche die Treue für das rechtmäßige Königthum als Verbrechen behandelt, und auf den Mann, dessen eitler Ehrgeiz sich wenige Jahre später mit politischem Wortbruch gegen den nordischen Verbündeten des geeinigten Italiens selbst brandmarkte, wie er keinen Augenblick gezögert hatte, die Ehre seiner Offiziere mit Füßen zu treten.
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Die Geschichte des ersten Napoleons bietet kaum in der Hinrichtung der Schill'schen Offiziere ein ähnliches Beispiel von Haß und Tyrannei, wie der Mord der spanischen Offiziere im Dienst des Königs Franz zu Tagliacozzo es bietet.
Wie ganz anders hätte die ganze Presse von Europa ihr Märtyrerthum gefeiert, wenn sie als Kampfer der Revolution, als garibaldische Helden des Aufruhrs den Todesweg gegangen wären! Welcher Schrei der Entrüstung wäre durch ganz Frankreich und England vom Thron bis zum Gassenkehrer gegangen, wenn der Czar des uncivilirten Rußlands, der souveraine Selbstherrscher, gewagt hätte, auch nur ein halbes Dutzend der französischen und englischen ›Briganten‹ hängen zu lassen, die den polnischen Hängegendarmen unter der Losung der ›Freiheit‹ zum heimlichen Beistand eilten! welchen Schrei der Entrüstung hätte dieselbe demokratische Presse ausgestoßen, die jetzt die That des spätern Ministerpräsidenten von Italien als einen Akt der Gerechtigkeit und Nothwehr proklamirte, wenn zehn Jahre später der von französischem Uebermuth zum Kriege gegen Frankreich für deutsche Rettung gedrängte König von Preußen die italienischen Spitzbuben des Flibustier Garibaldi hätte füsiliren lassen, statt sie als berechtigte Soldaten zu behandeln!
Aber das ist und bleibt der Fluch des legitimen Königthums, daß die Kämpfer für dieses gegenüber den Lügen der Revolution für Verräther am Volk verschrieen und von dem Königthum selbst, für das sie starben, verläugnet werden!


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Zwei Stunden, nachdem ihnen der Befehl des großen aber niemals siegenden Generals Lamarmora verkündigt worden, war die große Grube fertig, welche die spanischen Märtyrer gemeinsam aufnehmen sollte, und sie traten unter den Bayonetten der Bersaglieri des Ré-gentiluomo, begleitet von den drei Priestern, die ihre letzte Beichte empfangen und ihnen das Sacrament gereicht hatten, den Weg zu dem improvisirten Richtplatz an. Rechts und links lag die Bevölkerung auf den Knieen und betete für ihre Seelen. Der piemontesische Platzkommandant Major Franchini hatte wenigstens so viel Gewissen, daß er einem seiner Offiziere das Kommando über die zur Execution bestimmten dreiundsechzig Mann übertrug.
In drei Sectionen, jede von sieben der Verurtheilten, gingen die Spanier zum Richtplatz, nur einen Blick der tiefen Verachtung für den Kommandanten und seine Offiziere habend, indem sie mit festem Schritt an ihnen vorüberkamen.
»Wo sollen wir stehn?«
»Hier - an der Grube! - wie Briganten, die ehrlosen Tod verdienen! so lautet der Befehl, von rückwärts füsilirt!«
Die Spanier umarmten sich untereinander - die Profosse traten hervor und banden ihnen trotz ihres Protestes die Hände auf dem Rücken zusammen.
»Avanti! - wir haben nicht Zeit, hier länger zu stehn! - die erste Section vor!«
Der spanische General, um seinen Getreuen ein Beispiel zu geben, gab ihnen ein Zeichen mit dem Kopf und
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ging an den von den Profossen bezeichneten Platz; in kurzer Entfernung neben ihnen rechts und links stellten sich die beiden andern Abtheilungen, so eine lange Reihe bildend, den Piemontesen gegenüber, deren König vor Kurzem ihre Heimath an den Frankenkaiser verschachert hatte, ihnen den Rücken zukehrend.
Ihnen gegenüber im Rücken stellten sich die kommandirten Mörder in drei Gliedern - für jeden Mann drei Kugeln. Wir haben acht Jahre später gehört, daß gar Manchem Thränen im Unwillen ehrlicher Schaam und im Mitleid für die tapfern Männer über die gebräunte Wange in den Bart rannen.
In dem Augenblick, in dem die Verurtheilten die Stelle ihres Todes betraten, begannen die Kirchenglocken von Taglacozzo ihr schauerliches Grabgeläut; - mit einer zornigen Verwünschung wandte sich der Kapitain der Bersaglieri gegen die Priester, die eben auf seinen Wink zurückgetreten waren, nachdem sie den Sterbenden noch ein Mal das Cruxifix zum Kuß gereicht. Diese Todtenfeier war za nicht befohlen! »Wer hat das gewagt? Sogleich zum Thurm ...«
Der älteste der Priester, ein silberhaariger Greis hielt dem Rohen das Kreuz entgegen. »Bist Du ein Christ wie wir, und denkst Du nicht an Deine eigene letzte Stunde?«
Auch der Major winkte ihm zurück - und der Kapitain trat zur Seite.
Es waren, wie sich später ergab, zwei Frauen aus der Stadt gewesen, welche den Küster zu diesem
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Grabgeläut gedungen hatten, das schwer und mächtig seine fernen Klänge daher sandte.
»Fertig zum Feuern! - Schlagt an!«
Der General blickte dankend zur Stadt hinüber und schlug sein Auge zu dem Himmel empor. »Viva el Re Francisco!«
»Feuer!«
Vierzig Schüsse knallten - die Getreuen stürzten neben- und übereinander und wälzten sich im Blute und im Todeskampf, eine entsetzensvolle Reihe. Nur der alte Carlisten-Major stand noch aufrecht - zwei Kugeln knallten hinterdrein, dann fiel auch er.
Als der Pulverdampf sich verzog, sahen die entsetzten Zuschauer die Leichen am Boden. Zwölf der Gefallenen waren auf der Stelle todt - den Anderen, darunter dem General, mußten die herbeitretenden Sergeanten den Todesschuß geben, indem sie die Mündung der Gewehre ihnen hinter die Ohren setzten.
Dann, als die anwesenden Compagnieärzte den Tod aller Einundzwanzig constatirt hatten, warf man die Leichen zusammen in die gemeinsame Grube und verscharrte diese.
Bis zum letzten Augenblick hatten die Glocken ihnen ihr Grablied gesungen. Die Zuschauer der furchtbaren Execution waren ihr Haupt verhüllend geflohen.
»Mögen alle Feinde des freien Italiens also sterben! - Schultert's Gewehr! - Marsch!«


So starben General Borges und seine Offiziere. -
Ob ihre Schatten wohl am Sterbelager des großen Gründers des vereinten Italiens gestanden haben? - ob
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sie stehen werden am Sterbelager des Bourbonen, welcher sie in den Tod locken ließ für sich, und mit seiner feigen Schranzenschaar im sichern Quirinal saß zur Ehre Gottes und des Königthrons von Neapel, bis ein deutscher Condottiere, der Major Zimmermann an dem Helden der Camarilla im Vatican, dem gefeierten Banditen Chiavone Gericht übte!


Später schien man sich auch piemontesischerseits des an Borges und seinen Offizieren verübten Wortbruchs ein wenig zu schämen, die officiellen Blätter des Ré-gentiluomo mußten den »unglücklichen Verblendeten« einige bedauernde Phrasen widmen und der tapfere Held Lamarmora gestatten, daß die Leiche des Generals ausgegraben und nach Rom gebracht wurde, wo man sie in der Kirche Gesu im Beisein der im sichern Rom überwinternden Briganten einsegnete.
Aber kein englisches, kein französisches, kein deutsches Blatt hatte einen Ruf der Gerechtigkeit für den tapferen Spanier!
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Reiter-Adel!

»Ich gebe Ihnen vier Tage Urlaub um in Ihre Heimath zu reisen und die Sache mit Ihrer Familie zu ordnen. Bis zum nächsten Montag erwarte ich die Beweise, daß die Wechsel eingelöst sind, oder Ihr Abschiedsgesuch!«
»Zu Befehl, Herr Oberst!«
»Gutenmorgen!«
Der Offizier salutirte die Hand am Säbel - die Absätze klirrten zusammen, als er kurz Kehrt machte und zur Zimmerthüre schritt.
Es war ein hübscher junger Mann, ein keckes übermüthiges Gesicht, dem das blonde Schnurbärtchen vortrefflich stand. Er mochte etwa 21 Jahre zählen und die Dragonerumform kleidete die schlanke und doch kräftige Figur zum Entzücken der Mädchen und zur großen Genugthuung des Besitzers.
Eben als der junge Mann die Hand an die Thür legte, klang die Stimme des Kommandeurs in etwas milderem Ton.
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»Lieutenant von Möllhoff!« Der Offizier machte kehrt: »Zu Befehl!«
»Wenn Sie nach Burgsdorf kommen, so grüßen Sie den alten Herrn Ihren Großvater - ich habe noch als Fähnrich in seinem früheren Regiment gestanden, den berühmten blauen Kürassieren. Schade, daß den alten Herrn das Unglück getroffen hat, auf seine alten Tage zu erblinden. Sein alter Chef hält sich besser - Feldmarschall Wrangel ist immer noch derselbe, man merkts ihm kaum an, die - na, wie alt ist doch Ihr Großvater?«
»Zu Befehl - zweiundsiebenzig Jahre!«
»Richtig, Wrangel 1784 geboren also - Vierundachtzig von Einundsechzig -«
»Siebenundsiebenzig Jahre, Herr Oberst,« half der Offizier lächelnd ein.
»Richtig, richtig! Längst Feldmarschall - nun er kann sich nicht beklagen, er hat eine tüchtige Carrière gemacht, so weit werden wir's schwerlich bringen. Der alte Herr, Ihr Großvater hätte wenigstens bis zur Excellenz, bis zum Generallieutent warten sollen - er brauchte ja nicht Alles zu sehen, war aber immer etwas eigensinnig, ein starrer Kopf, der sich in die Neuzeit nicht fügen konnte - so lange Friedrich Wilhelm III. lebte ...«
»Ich war damals noch nicht geboren, Herr Oberst!«
»Weiß es - Wrangel hatte kurz vorher das I. Armee-Corps bekommen - ja, wie gesagt, er hatte Feinde - aber lassen wir's gut sein! Die neue Zeit will neue Männer! Ich bin sicher, wäre der Herr Generalmajor, Ihr Großvater, noch im Dienst gewesen, hätte sich die
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unangenehme Affaire mit Ihrem Herrn Vater leicht applaniren lassen, ohne daß er nöthig gehabt hätte, seinen Abschied zu fordern.«
Der junge Mann richtete sich straff empor. »Verzeihen der Herr Oberst, mein Vater hat damals, so viel mir bekannt, ganz in Uebereinstimmung mit den Ansichten meines Großvaters, ja auf dessen Befehl gehandelt, als er den Herrn Grafen, Ihren Vetter forderte!«
»Richtig, richtig! - lassen wir die alten Geschichten ruhen! - Nun,« und der Regimentskommandeur richtete sich in seiner ganzen dicken Figur auf und war wieder jeder Zoll der strenge Vorgesetzte - »wie gesagt, Herr Lieutenant, ich hoffe, es wird Ihnen gelingen - Sie haben vier Tage Zeit, Adieu!«
Der Offizier verließ mit straffer Haltung und klingenden Schritten das Zimmer - aber draußen auf der Treppe ballte er krampfhaft die Fäuste und faßte nach dem Geländer, gleich, als müsse er sich daran festhalten. »Verdammt - daß auch Alles über mich gerade jetzt hereinbrechen muß. Ich glaube wahrhaftig - sie haben sich Alle zu meinem Untergang verschworen. Ich muß sehen, wo ich Geld auftreibe, um wenigstens das Aergste zu decken. Zuletzt bleibt mir doch Nichts übrig, als diesen Mittag zu reisen und pater peccavi zu machen. Der Alte wird gewaltig toben - die Mama und Conradine müssen helfen! - Wenn nur die andere Geschichte nicht wäre - der verdammte Wisch macht mir den Kopf warm. Wenigstens hat der Urlaub das Gute, daß ich mit dem Mädchen selbst sprechen und ihm Vernunft beibringen kann.«
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Damit hatte er sich der Sorgen entschlagen, nahm den Säbel unter den Arm und ging mit leichten eleganten Schritten die Treppe hinab, nach der französischen Straße zu, wo er bei Borchardt eintrat.
Die berühmte Weinhandlung und Restauration war seit Jahren schon der Sammelpunkt aller Conservativen der höheren Stände wie der Offizier-Kreise. Verkehrte doch Jeder dort, der in den letzten zehn oder zwölf Jahren eine Rolle im politischen Ringen gespielt hatte, sei es in den Kammer-Debatten, in der Presse, in der Diplomatie, vom Journalisten bis zum künftigen Minister. Der als fester treuer Royalist bekannte und erprobte Besitzer, der alte Garde-du-Corps, genoß bei der Partei großes Zutrauen, nicht allein in den Kreisen der älteren Männer, sondern auch bei der heranwachsenden Jugend der Armee, die mitunter selbst allzuoft seine Hilfe in Anspruch nahm. Es war etwas Exclusives um das Lokal trotz seiner damals noch ziemlich beschränkten Räumlichkeiten.
»Wer ist in der Hinterstube?« frug der Offizier im Durchgehen durch den langen Vorderladen, in dem einst Bellachini die Schildkröte spazieren gehen machte.
»Graf Czaranowski!«
Der Dragoner pfiff durch die Zähne. »Auch Einer, der nicht helfen kann, ich glaube, er steckt schlimmer darin als ich. Vielleicht aber hat er wenigstens einen guten Rath. Er kennt meinen Bruder; wenn ich nicht irre, macht dieser sogar seiner Schwester etwas den Hof. Ich wünschte, ich hätte Victors ›Pluto‹, Graf Gaschin soll ihm zweihundert Friedrichsd'or beim breslauer Rennen geboten
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haben; das könnte mich retten!« Er trat in das ziemlich dunkle Zimmer, wo er einen jungen Husaren-Offizier fand, nicht viel älter als er selbst, und bald saßen die beiden Kameraden bei einer Flasche Champagner beisammen.
»Verdammt,« meinte der Husar, nachdem ihm der Dragoner aufrichtig seine Verlegenheit gebeichtet hatte. »Ich bin in diesem Augenblick selbst gewaltig klamm, da das Herrenhaus feiert und mein Alter, als er im Januar zum letzen Mal meine Schulden bezahlt hat, mir das Ehrenwort abforderte, wenigstens binnen Jahresfrist keine neuen zu machen, es sei denn für Speise und Trank. Sie sehen, wenigstens habe ich bei Borchardt Credit. So liege ich denn auf der Bärenhaut und bin unserem schlesischen Nest auf drei Tage entwischt, um hier auf Neuigkeiten zu fahnden, und ob es wirklich in Polen drüben losgehn wird. Bestätigt es sich, so läßt sich vielleicht drüben ein Rittergut erben, denn Sie wissen, daß wir zahlreiche Verwandte drüben haben, die toll genug sind, Sibirien den litthauischen oder wolhynischen Wäldern vorzuziehen. Ich sage Ihnen, ich würde eine solche Erbschaft mit Vergnügen annehmen, selbst auf den Fluch meiner Tante Oginska.«
Lieutenant Möllhoff hatte den Kopf in die Hand gestützt.
»Nur Courage, Kamerad - schlimmsten Falls machen Sie die Bekanntschaft einer Gründertochter mosaischen Glaubens - es sind davon wie ich weiß, mehrere vacant in Schlesien. Vor Allem folgen Sie dem Rath Ihres Obersten, wenn er auch nicht besonders auf Ihre Familie
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zu sprechen sein mag, wegen jener alten Duell-Geschichte, die Ihrem Herrn Vater seinen Arm kostete. Aber à propos - vielleicht kann Ihnen Ihr Bruder rathen, Sie wissen doch, daß er sich grade auf Urlaub in Burgsdorf befindet?«
»Bruder Victor in Burgsdorf?«
»Ein Kamerad aus der Garnison erwähnte es heute Morgen zufällig in seinem Briefe.«
»Sie haben recht, Herr Kamerad,« sagte der Dragoner-Lieutenant - »es wird mir Nichts übrig bleiben, als zu reisen. Ohnehin macht es eine andere Angelegenheit nothwendig, die mir kaum weniger Sorgen bereitet, - eine dumme Liebes-Affaire.«
Der Pole sah ihn fragend an.
»Nichts Ernstes - was mich hindern könnte, eine reiche Hebräerin zu heirathen. Ich hatte mich beim letzten Urlaub mit einem unserer Hausmädchen verplempert, und nun wehklagt mir das dumme Ding, daß es Folgen gehabt hat.«
Der Husar zuckte die Achseln. »Wofür ist man jung, und schon Ihr Goethe rühmt, daß die Kuchelbesen am Besten karessiren. - Bei uns in Polen macht man nicht viel Aufhebens davon. Ein Stück Geld und der nächste beste Knecht. Gutwillige finden sich immer!«
»Freilich wohl,« meinte der Andere, - »aber hier ist es die Enkelin vom alten Scholz!«
»Wer ist das?«
»Das Factotum unseres Hauses, den selbst meine gräfliche Mutter respektiren muß, der alte Reitknecht meines Großvaters, quasi seit dessen Abschied sein
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Kammerdiener, und mein Vater versteht keinen Spaß in Allem, was den alten Scholz betrifft, der eine Art Trockenamme auch für ihn gewesen, obschon er nur zehn Jahre älter ist. Wegen einer ähnlichen Affaire entstand jenes unglückliche Duell, so viel ich weiß.«
»So sprechen Sie mit Ihrer Mutter, oder haben Sie nicht irgend einen Pfaffen in Burgsdorf?«
»Wir haben deren sogar zwei, einen protestantischen Zeloten und einen weltgewandten katholischen Vicar.«
»Bah, da haben Sie ja, was Sie brauchen, das sind die besten Kuppler! Ich sage Ihnen, ich kenne merkwürdige Geschichten aus unserem Polen und Schlesien, was die Pfaffen da Alles schon wieder in's Gleiche gebracht haben. - Lassen Sie uns auf guten Erfolg anstoßen.«
Der leichtsinnige junge Offizier ließ die Gläser klingen, dann verabredeten Beide, gemeinschaftlich schon den nächsten Zug der niederschlesisch-märkischen Bahn zu benutzen.


Die Kammern waren, wie bereits bei dem traurigen Ereigniß in Baden-Baden erwähnt wurde, für den Sommer geschlossen worden und sollten erst bei Gelegenheit der bevorstehenden Krönung im October wieder zusammen treten. Einstweilen durchbebte der Eindruck jenes verbrecherischen Versuchs noch das preußische Volk und die conservative Partei bereitete sich vor, durch eine Demonstration ihre Gefühle und Stellung in dem politischen Parteienkampf kund zu geben. Ihre Organisation war seit der
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Regentschaft zerstört, zersplittert und die Wahlen wie der wachsende Einfluß der Liberalen hatten längst gezeigt, daß wenn sie nicht sich selbst aufgeben wollte, sie kräftigere Zeichen ihres Lebens von sich geben mußte. Die Gesetzvorlagen über das Eherecht und die Grundsteuerregulirung hatten sogar schwere Spaltungen in ihr hervorgerufen.
Der König war von Baden-Baden nach Ostende gegangen und hatte dann mit vielen fürstlichen Gästen aus Anlaß der großen Manöver am Rhein Schloß Brühl bezogen.
Die Badesaisons nahten ihrem Schluß und Manche, die sie benutzt, waren bereits heimgekehrt, um bei den weiteren Ereignissen zur Stelle zu sein. Es war in der letzten Woche des September, am selben Tage, als sich der junge Dragoner-Offizier auf den Weg nach seiner Heimath gemacht hatte, dort seine Sünden zu beichten, als im Schloß zu Burgsdorf sich nach der Rückkehr des Hausherrn aus Berlin - die gewöhnliche Gesellschaft um den Kaffeetisch versammelt hatte. Der alte General liebte es, mit ihm bekannten Personen über die politischen Verhältnisse und Vorgänge zu plaudern, und der Besuch des ältesten Sohnes, des Premier-Lieutenant von Möllhoff, so wie der Wunsch, Näheres zu hören über die Versammlung der Konservativen am 20. September in Berlin hatten auch die beiden Geistlichen des Pfarrdorfs aufs Schloß geführt.
Der Generalmajor saß seiner Gewohnheit gemäß auf dem alten ledernen Campagne-Sopha, das er selbst in dem sonst modern möblirten Wohnzimmer seiner gräflichen
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Schwiegertochter nicht missen wollte, und dessen Verbleiben schon gar manche Debatte veranlaßt hatte. Aber der alte Herr war fest darauf bestanden und der Respekt für seine Person bei Sohn und Enkeln hatte, als er drohte, sonst die Nachmittage und Abende auf seinem Zimmer zuzubringen, alle Einwendungen der Dame des Hauses beseitigt. Man hatte sich gewöhnt, sich in die Launen des alten Mannes zu fügen, der noch immer mit fester Hand das Oberkommando in der Familie führte, obgleich er bereits bei seinem Eintritt in den Ruhestand seinem einzigen jetzt bereits fünfzigjährigen Sohn, dem Hauptmann jetzigen Landrath Curt von Möllhoff das kleine ihm gehörige Gut zur freien Verwaltung übergeben hatte, für seine eigene Verfügung sich nur die Pension bewahrend. Der alte General war eine lange hagere Gestalt, trotz seiner 72 Jahre von stattlicher aufrechter Haltung, die nur durch die in späterer Zeit eingetretene vollständige Erblindung etwas Unsicheres erhalten hatte, während seine geistige Energie fast dieselbe geblieben war. Die scharfe Beobachtungsgabe und das feine Gehör, das sich häufig bei den des Augenlichts Beraubten einfindet, so wie die sorgfältige Aufmerksamkeit von Sohn und Enkelin für seine Wünsche und Gewohnheiten, ließ ihn manche der mit seinem Gebrechen verbundenen Leiden kaum fühlen. Er trug statt eines bequemen Schlafrocks einen weiten Ueberrock der Armee-Uniform, für dessen Sauberkeit sein altes Factotum gewissenhaft sorgte, und über der schwarzen Kommißhalsbinde Kreuz und Band des Ordens pour le mérite, während auf der linken Brust des alten Uniformrockes
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das eiserne Kreuz erster Klasse angeheftet war. Sein Gesicht, namentlich die scharf gebogene große Nase, hatten etwas Adlerartiges, und wenn auch der eingefallene Mund den Verlust der meisten Zähne verkündete, verbarg dies doch der herabhängende weiße Schnauzbart und der starke buschige Backenbart - die einzige Abweichung, die er sich von dem alten Militairschnitt gestattet hatte, nachdem er vernommen, daß auch sein Kriegsherr, der Prinz-Regent und jetzige König von Preußen einen solchen trug - dieses Zeichen des Alters aufs Beste.
Der alte Herr hatte in seiner ersten Jugend als Cornet schon die unselige Schlacht von Jena mitgemacht, in der er verwundet und gefangen worden war, später als dreiundzwanzigjähriger Lieutenant unter den ostpreußischen Kürassieren die Befreiungskriege, und war nach 1815 in die gewöhnliche Stufenfolge des Armee-Dienstes zurückgetreten und in dieser bis zum Oberstlieutenant und Obersten avancirt, als er zu Anfang der dreißiger Jahre durch Erkältung bei einem Manöver sein Augenlicht angegriffen fühlte. Dies nicht achtend hatte er bis zum Tode seines alten Königs fortgedient, dann aber als sich das Uebel verschlimmerte, seinen Abschied genommen, der auf das Ehrendste bewilligt worden. Er war stets das Muster eines alten strammen Soldaten gewesen, der keine andere Macht anerkannte, als die Gottes und seines Königs. Wie schwer einen solchen Mann die Ereignisse von Achtundvierzig trafen, läßt sich denken. Seitdem hatte er sich ganz von dem öffentlichen Leben zurückgezogen, namentlich als sein einziger Sohn, der frühzeitig seine erste
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Gattin verloren und es nur bis zum Hauptmann gebracht hatte, in einem Duell den linken Arm verlor und sich nur mit der Landwirthschaft und der Verwaltung des kleinen Familiengutes beschäftigte, in dessen Besitz er bei der nächsten Vacanz zum Landrath des Kreises von den Kreisständen gewählt und von dem Ministerium bestätigt war. Seine drei Enkel, von denen der älteste Victor und die letzte, die jetzt zwanzigjährige Conradine seine Lieblinge waren, hatte er nach seinen strengen Ansichten von Loyalität und militärischem Gehorsam zu erziehen gesucht, wobei ihm freilich die Vorliebe und die Nachsicht seiner zweiten Schwiegertochter für ihren eigenen und einzigen Sohn viel Abbruch gethan, wie wir bereits Gelegenheit gehabt haben, zu erproben.
»Conrad,« unterbrach die noch immer auf die Rolle einer schönen und vornehmen Dame volle Ansprüche Machende, die der Hauptmann acht Jahre nach dem Tode seiner ersten sehr einfachen Gattin als den armen Seitensproß einer gräflichen Familie geheirathet hatte, jetzt die bisherige Unterredung, - »Conrad muß nach dem Telegramm, das er voraus sandte, Nachmittag auf der Station eintreffen. Der Kutscher wird doch zur rechten Zeit dort sein?«
»Ich habe ihn selbst geschickt. Aber ich möchte nur wissen, wie der Bursche jetzt auf Urlaub kommt? Wir haben uns doch erst in voriger Woche in Berlin gesehen. Kannst Du es mir sagen, Victor?«
»Du weißt ja, Vater, wenn die Manöver vorüber, und die Königsurlauber entlassen sind, wird gewöhnlich Urlaub bewilligt, Du siehst es an mir!«
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»Geld!«
Es war eine knorrige und mürrische Stimme, die das Wort zwischen die Unterhaltung warf. Sie kam von einem alten Mann, fast so groß und steif wie der General. Er trug wie dieser einen alten Uniformerock, mochte etwa zehn oder zwölf Jahre jünger sein und schien sich ganz seinen früheren Herrn zum Vorbild genommen zu haben. Er stand am Kaffeetisch und hielt in der einen ausgestreckten Hand weit von sich ab eine frischgestopfte Meerschaumpfeife, in der andern einen Fidibus.
»Du irrst Dich, Scholze; ich brauche kein Geld,« sagte mit leichtem Lächeln der Premierlieutenant. »Ich bin gewohnt, mit meiner Gage auszukommen und Wreschen bietet nicht viel Anreiz mehr auszugeben.
»Aber Er! - Befehlen der Herr General die frische Pfeife?«
»Gieb her - und zünd' los!«
Der alte Reitknecht überreichte ebenso steif die Pfeife, zündete den Fidibus an der Spirituslampe unter der Kaffee-Maschine an und hielt ihn mechanisch über dem geöffneten Meerschaumkopf, bis der Tabak zu glimmen begann. Dann machte er ebenso steif Kehrt und marschirte aus dem Zimmer, ohne weiter zu mucksen.
»Er ist und bleibt ein Original,« sagte lächelnd der Vicar, mit dankbarer fast galanter Verbeugung die Tasse duftenden Mokkas annehmend, die ihm eben die Landräthin präsentirte, die bei dem kleinen Intermezzo ziemlich unruhig und geschäftig hin und her gerückt war.
»Ich hoffe, Conrold bedarf es eben so wenig wie Du,«
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sagte der Landrath zu seinem älteren Sohn. »Ich habe ihm seinen Zuschuß für das nächste Quartal schon jetzt dort gelassen und er versicherte keine Schulden zu haben.«
Der Gutsherr hatte nicht ganz die Größe seines Vaters, aber er war immerhin ein stattlicher Mann von angenehmem, sich durch ruhige Haltung und ein sehr verständiges wohlwollendes Auge auszeichnendem Aeußeren. Er trug einfache Civilkleidung nur durch das Johanniterkreuz geschmückt, und den Aermel des fehlenden linken Arms mit dem Handschuh daran an der äußeren Brustseite des Rocks befestigt.
»Berichte weiter, Kurt!« befahl der General, »Du sagtest, daß der Saal im Englischen Hause die Versammlung kaum hätte fassen können. Wir Alle sind begierig, weiter zu hören, es müßte denn sein, daß der junge Herr aus der Stadt, der so viel ich weiß, zu den sogenannten Liberalen oder Fortschrittlern gehört, keinen Gefallen daran fände.«
Das lichtlose Auge, das der alte General ziemlich bärbeißig über den Tisch hinüberwarf, galt einem jungen Mann in einfacher aber gediegener bürgerlicher Kleidung, der zwischen dem Landrath und dem Vicar saß. Er schien einen Augenblick zu schwanken, ob er den Fehdehandschuh des alten Kriegers aufnehmen sollte, aber ein Blick auf die junge Tochter des Hauses, die neben dem Greise saß, ein kleines Schreibnecessaire vor sich auf dem Tisch, schien ihn zu bestimmen.
»Sie irren sich, Herr General,« sagte der jüngere Mann bescheiden, aber mit einer gewissen Festigkeit, -
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»wir haben in unseren Kreisen mit ebensolcher Theilnahme und ganzem preußischem Herzen den Hergang der unter allen Umständen denkwürdigen Versammlung verfolgt, wie nur irgend Einer der sogenannten Conservativen. Denn auch ich und mein Vater erkennen vollkommen die Berechtigung des Grundbesitzes und Handwerks an und billigen, wenn wir auch zur liberalen Partei gehören und in deren Hauptprincipien das Wohl des Vaterlandes und die Wahrung der constitutionellen Rechte des Volkes sehen, das allzu oppositionelle Vorgehn mancher Abgeordneten unserer Kammer nicht. Es kann und wird sich eben das Beste nur in der Ausgleichung der beiden Richtungen finden, und daß Vieles zu bessern ist, was nicht mehr in unsere Zeit paßt, das geben selbst die Conservativen zu - fragen Sie nur Ihren eignen Herrn Sohn, an dessen conservativer Gesinnung gewiß Niemand zweifelt und die selbst die Liberalen unseres Kreises achten und ehren, wie seine Wahl zum Vertreter unseres Kreises bewiesen hat.«
»Gehen Sie zum Henker mit der guten Gesinnung unseres Kreises. Das Landvolk hat es gethan, in dem noch ein guter Kern steckt. Haben doch die Städter zum zweiten Abgeordneten den radikalsten Schreier gewählt, den sie haben.«
»Und einen Ungläubigen dazu, einen Feind der Kirche und alles Glaubens an die Gebote des Herrn - einen Juden!« sagte salbungsvoll die Hände faltend und mit Abscheu der Pastor, der neben der Hausfrau saß und gegenüber dem katholischen Geistlichen ein sehr orthodoxes Aussehen hatte. Auch war er weit älter als dieser.
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»Das beruht auf dem Compromiß, den die beiden Parteien in unserem Wahlkreise geschlossen haben,« meinte der junge Fabrikant, »und eben dieser Compromiß ist der beste Beweis für den gesunden und billigen Sinn in unserem Kreise. Was übrigens die Wahl eines gebornen Juden betrifft, so wird sich vielleicht der hochwürdige Herr in christlicher Milde erinnern, daß gerade dieser Jude durch seine großen Fabrikanlagen auch unserem Kreise mehr als irgend einer meiner christlichen Kollegen mit Handel und Industrie aufgeholfen hat und vielen hundert fleißigen Arbeitern Brod und Verdienst giebt, die sonst an ihren primitiven Webstühlen hungern und darben mußten.«
»Auf Kosten des altbewährten Instituts der preußischen Seehandlung, der er mit seinen Helfershelfern die besten Fabriken durch Kniffe und Ränke aus den Händen in die eigene Tasche escamotirt hat, und die ihn zum reichen Mann gemacht haben. Der fromme gottesfürchtige Sinn, der früher wenigstens unsere Armuth stärkte, geht leider ganz zu Grunde!«
Ein feines Lächeln flog über das glatte Gesicht des Vicars bei den Klagen seines Herrn Confraters, denn es war bekannt genug, daß dieser stark der pietistischen Richtung huldigte und an der Spitze der Conventikel in den Weberdistrikten stand. Aber er hütete sich sorgfältig, mit ihm in einen religiösen Disput sich einzulassen, was übrigens der verständige Takt des sehr beliebten Landraths in seinem Hause nicht gelitten hätte. Er wurde überdies jeder Zu- oder Gegenstimmung durch die barsche Einrede des hitzigen alten Soldaten enthoben.
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»Donnerwetter,« polterte der General - »halten Sie wirklich, Herr, diese Compromisse für etwas Gutes? Blücher und Ziethen! ich sage Ihnen, an den Compromissen kann das preußische Königthum zu Grunde gehn, wenn dem Schwindel nicht bald ein Ende gemacht wird. Pariren heißt die Parole, - entweder Gehorchen oder Rebelliren! und mit dem Rebelliren ist das Königthum noch allemal fertig geworden.«
»Nicht überall, Herr General! - in einem constitutionellen Staate, und ein solcher sind wir doch durch die verliehene und die vereinbarte Verfassung, ist der Compromiß oft das einzige Mittel der Verständigung, und wir hoffen, daß durch einen solchen auch die neue und wie sich nicht verkennen läßt, sehr vieles Gute bietende Reorganisation der Armee zu Stande kommen wird, ohne welche es Preußen unmöglich sein würde, seine hohe Aufgabe für die Einigung Deutschlands zu erfüllen.«
Der alte General warf ihm einen finsteren Blick zu. »Gehören Sie etwa auch zu den Phantasten, die unser altes starkes Preußen zu Gunsten eines einigen Deutschlands aufgeben wollen?«
»Ich bin ein Mitglied des deutschen Nationalvereins,« sagte nicht ohne Stolz der junge Fabrikant, »aber es fällt mir nicht ein, preußische Rechte darum aufzugeben, und als preußischer Soldat, - ich bin Reservist, Herr General - würde ich gewiß jeden Augenblick bereit sein, mein Blut für mein engeres Vaterland zu opfern. Daß man nebenbei den Wunsch haben kann, es möchte etwas größer und nicht jeden Augenblick durch hundert Schranken
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partikularistischer Interessen in seiner Entwickelung gehindert sein, das werden Sie mir wohl selbst nicht verdenken. Man kann mit seinen Wünschen ein Deutscher sein und dabei doch von ganzem Herzen ein Preuße. Ich glaube Se. Majestät selbst ist Beides.«
Die kluge Einlenkung vermied jede weitere Verschärfung des politischen Streites und die Tochter des Hauses stellte den vorläufigen Frieden durch die Bemerkung her, der Vater schulde noch immer die Fortsetzung seines Berichts.
»Das ist auch wahr, und Eins nach dem Andern. Fahre fort, Curt!« brummte der alte Soldat, dessen höchstes politisches Ideal war: Preußen über Alles!
»In der That, es war eine merkwürdige Versammlung,« berichtete der Landrath, »alle Stände waren darin vertreten: der hohe und niedere Adel, der große und kleine Grundbesitzer, Lehrer, Beamte, selbst die Armee, obschon keiner ihrer Vertreter das Wort nahm. Bürger und Handwerker - die Geistlichkeit, selbst die Arbeiter fehlten nicht.«
»O, wie habe ich Pastor Besserer beneidet, wie gern wäre ich selbst dazu nach Berlin gereist, statt einem Anderen die Vertretung der evangelischen Kirche Schlesiens dabei zu überlassen,« flocht der Pastor ein.
»Bekamen Sie denn vom Consistorium keinen Urlaub?« frug ziemlich malitös der Fabrikant.
Der Pastor wurde etwas roth, namentlich als der sehr ungenirte alte Krieger murrte: »Hätte dessen gar nicht nöthig gehabt - fürchtete die Reisekosten und die geringe Gastfreundschaft seiner Herrn Kollegen in Berlin.«
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»Unsere Gemeinde ist arm, Niemand wird das besser beurtheilen können, als der Herr Patron selbst.«
»Ich konnte Sie in der That nicht einladen, mich zu begleiten, Herr Pastor,« sagte ruhig der Landrath, der den Geiz des Geistlichen und die guten Einkünfte seines Pfarramts sehr wohl zu schätzen wußte - »ich hätte ja dieselbe Einladung an den Herrn Vicar richten müssen, der allerdings ohne besondere Erlaubniß des Herrn Fürstbischofs nicht dahin gehen konnte, wie sich schon daraus schließen läßt, daß eben leider die katholische Geistlichkeit in der Versammlung nicht vertreten war.«
Diesmal war es der Vicar, der etwas verlegen erschien. »Wir sind allerdings nicht berechtigt, an politischen Vereinen uns zu betheiligen. Ohnehin war vierzehn Tage vorher erst die große Versammlung der katholischen Vereine in München, bei der Pfarrer Thissen die gemeinsame Aufgabe beider Confessionen wider Antichrist und Revolution betonte. Gewiß wird aber Niemand auch an unserer treuen Ergebenheit für unsere Könige und die gute Sache zweifeln.«
»Möge es in Preußen immer so bleiben,« sagte der Landrath. »Die katholische Kirche hat wahrlich keine Ursache, sich bei uns über die Parität zu beklagen. Sie stammen ja wohl aus der Familie des wackern Abts Tobias in Kamenz, Herr Vicar Stusche, der Friedrich den Großen vor der Gefangennahme durch die Kaiserlichen rettete, indem er ihn unter seinen Mönchen im Chor verbarg.«
»Ich habe die Ehre. Vielleicht wäre Schlesien sonst noch heute österreichische Provinz.«
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»Sie meinen: katholisch, wie Böhmen und Mähren. Aber darüber ließe sich streiten, die Reformation war schon vor dem dreißigjährigen Kriege in Schlesien mächtig. Doch das ist gleich, der wackere Pfarrer Drake hat in seiner Rede, die er im Englischen Hause hielt, die Aufgabe der katholischen Kirche so gut vertreten, wie die der unseren der wachsenden Irreligiosität gegenüber und den Angriffen des Liberalismus auf Kirche und Schule, und ich kann Dir sagen Vater: Kleist, Wagener, Blankenburg, der Sprecher der westphälischen Colone Bürgermeister Strosser und auch unser hochherziger Eberhard Stolberg, der so gewandt wie würdig den Vorsitz der Versammlung führte, verfolgten den einen Gedanken, daß wo keine Treue für den König lebt, es auch schlimm steht mit der Treue für Gott und die Kirche.«
»Sie können den Satz auch umkehren, Herr Landrath,« bemerkte der Vicar, der seine Niederlage von vorhin nicht ohne Schwertschlag für seine Kirche vorüber gehen lassen konnte.
»Da haben Sie recht, Vicar, und ich möchte fast behaupten, als am Schluß der Versammlung, die einen wahren conservativen Geist des Christenthums und der Treue athmete und vor Allem ein kräftiges Zusammenhalten aller tüchtigen Elemente, des Grundbesitzes wie des Handwerkerstandes anzubahnen suchte, ohne jede Vorbereitung unser Choral ›Lob, Ehr und Preis sei Gott!‹ von Aller Lippen ertönte, Sie hätten eben so gut eingestimmt. Kurzum, die mit dieser Versammlung beschlossene
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Gründung des Preußischen Volks-Vereins und einer neuen Wahlorganisation der Konservativen in Preußen ist als wichtiger Abschnitt in unserem politischen Leben zu betrachten und wird nicht ohne segensreiche Folgen bleiben. Gewiß haben auch Seine Majestät der König diese Aufraffung mit Beifall verfolgt. Die Zahl der Anmeldungen für den Verein betrug bereits am Tage der Gründung weit über zweitausend Mitglieder.«
»Blücher und Ziethen!« rief der General, »das ist doch einmal eine Gründung, die sich sehen lassen kann. Darauf trinken wir heute noch eine Flasche alten Ungar, sobald der Junge von Berlin kommt, und Sie sollen mit darauf eingeladen sein, Herr Hancke, wenn Sie auch nicht zu den Konservativen und dem preußischen Volksverein gehören.«
»So doch jedenfalls zu dem Verein des preußischen Volkes, Herr General,« sagte höflich der Fabrikant, »und als Mitglied desselben soll es mir eine große Ehre und Freude sein, mit einem der alten Helden desselben von 1813 und 14 anstoßen zu dürfen.«
»Schade um Sie,« sagte der alte Herr ganz gemüthlich, »schade um Sie, - ich mag Sie eigentlich ganz gerne leiden, Sie und Ihren braven Vater und selbst die Dine und der Scholze thun es, und der alte Bursche ist grade nicht verschwenderisch mit seinen Inclinationen!« Ueber die Sympathien des alten Scholze schien Herr Hancke zwar weniger contentirt, desto mehr aber Bedeutung für ihn deren Zusammenstellung mit der Tochter des Hauses zu haben, die erröthend den blonden Lockenkopf auf das kleine Schreibpult gebeugt hielt, in dem sie kramte und
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suchte. »Ihr Vater, der Papiermüller,« fuhr der General fort, mit dem einzigen Wort die Schranke wieder errichtend und den Fabrikbesitzer wieder in die alten Verhältnisse zurückweisend, ist ein wackerer Mann, der fast ein Knabe war, als er sich bei Leipzig das Kreuz holte, und ich muß sagen, auch Sie haben es nie an dem gehörigen Respekt fehlen lassen, obschon Sie sonst etwas hochtrabende Ansichten und verkehrte Ideen hegen!« - Der Premierlieutenant reichte begütigend dem Spielgenossen aus der Knabenzeit, der nur drei Jahre älter war, die Hand. »Ich denke, der Hauptmann« - der alte Haudegen nannte seinen Sohn, wenn er von ihm sprach, niemals den Landrath, sondern stets bei seinem militairischen Rang - »der Hauptmann wird es wohl einrichten können, daß Sie auf Erbpacht das Stück Haide an dem Mühlgraben erhalten können. Nur bitt ich mir aus, daß ich nichts von dem faulen deutschen Schwindel mehr höre oder gegen unsern König und Herrn. Wissen Sie denn auch, daß die Stänkerer in Berlin ihm selbst das Recht auf die Erbhuldigung in Königsberg wegzudisputiren versuchen? Das gierige Volk dort kann wahrhaftig nicht genug an Vortheilen für die eigene Tasche kriegen und gönnt es den Königsbergern nicht einmal, obschon auch von dort demokratischer Schwindel genug ins Land kommt.« Der General war seit Achtundvierzig nicht sehr günstig auf Berlin zu sprechen.
»Seine Majestät,« sagte vorsichtig der junge Fabrikant, »haben gewiß die richtige Form auch für die Bestimmungen der Verfassung gefunden in der Wahl der Krönung statt einer bloßen Erbhuldigung.«
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»Hm - es ist das erste Mal, daß Seine Majestät nicht mit Seinem Generalfeldmarschall ganz übereinstimmen. Wissen Sie, was der alte Wrangel an Seine Majestät über diesen Punkt geschrieben hat?«
»Wie sollte ich in meiner bescheidnen Stellung zu einer solchen Kenntniß kommen?«
»Na, dann kann ich's Ihnen sagen, denn mein alter Freund und Regimentskommandeur thut dem alten blinden Mann die Ehre an, ihn noch nicht vergessen zu haben, und ihm zuweilen ein vertrauliches Wort zu schreiben. - Nun Dina, hast Du nun genug unter den Papieren gekramt? Im letzten Briefe des Feldmarschalls steht, was er über die Huldigung und über die Opposition wegen der Armee-Reorganisation an Seine Majestät geschrieben hat. Lies es vor, Mädchen!«
»Vater!«
»Ei was - auf meine Verantwortung - es kann nur gut thun, wenn die Herren im Fortschritt oder im Nationalverein einmal hören, wie ein ehrlicher Soldat darüber denkt, damit sie wissen, was sie zu erwarten haben vom alten Wrangel, wenn er noch einmal in Berlin einrücken sollte. Lies Dine!
Das Edelfräulein hatte, ohne sich zu besinnen, einen der Briefe aus dem Packet gewählt, das sie in dem Pult bewahrt. »Er datirt von Anfang dieses Monats, Großvater,« sagte sie, »und die Stelle lautet:
»Und bin so zu der Ueberzeugung gelangt, daß die darin geltend gemachten Gründe in dem Wortlaut der Verfassung nicht enthalten sind; die Sophistik, die in
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jeder Zeile zu finden ist, vermag ich nicht zu beantworten ... würde ich mich als ein Landesverräther betrachten, dem des Vaterlandes Fluch über das Grab folgen würde, wenn ich Euer Majestät von der Erbhuldigung abrathen sollte ...: und erst wenn dieser Akt im Angesicht des Allmächtigen stattgefunden, sind Euer Majestät der wahre Erbe einer Krone von Gottes Gnaden - ohne Huldigung haben wir ein Volks-Königthum, das von den Schwankungen der Kammer gemeistert und gelenkt wird ...«
»Weiter Kind,« sagte der alte General, »es muß da noch eine Stelle sein über die Compromisse wegen der Armee. Lies auch diese den Herren vor.«
»Es sind deren zwei« und der hübsche Secretair des alten Blinden las:
(Das Haus der Abgeordneten verlangt jetzt gesetzliche Feststellung der 2jährigen Dienstzeit, ein Indemnitätsgesuch wegen der Durchführung der Reorganisation und eine Umgestaltung der Landwehr, mit einem Worte: ein Volksheer. - Und wäre dies gewährt, so würden sie noch mehr verlangen ... Es ist meine feststehende, wohlerwogene Ueberzeugung, daß dem jetzigen Abgeordnetenhause gegenüber jede Verminderung des Militair-Etats, welche als Konzession aufgefaßt werden könnte, nutzlos und schädlich sein wird. Für die Opposition im Abgeordnetenhause handelt es sich nicht um Geldersparung - vielmehr darum, um monarchische oder demokratische Gewalt ... Die Leiter der demokratischen Fraction werden versuchen, jede Heereseinrichtung zu beseitigen, welche ... die Armee zu einer scharfen Waffe in der Hand Sr. Majestät des Königs auch gegen innere Feinde macht.«
Die Vorleserin schwieg - die Anwesenden sahen sich etwas befangen an, selbst der Landrath bemerkte erstaunt »In der That, dieses Schriftstück des alten Herrn ist mir
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gänzlich unbekannt, und ich hätte Sr. Excellenz kaum ein so scharfes Eingehen auf politische Fragen zugetraut. Warum hast Du mir nicht eher davon gesprochen, Vater, Excellenz Wrangel muß großes Vertrauen zu Dir haben und ich sehe, mein Töchterchen versteht zu schweigen.«
Der General lächelte. »Dina ist mein Geheimsecretair, und ich glaube es giebt noch allerlei Dinge, von denen ein Landesvertreter wie Du nichts weiß. Uebrigens habe ich die Stelle citirt, um zu beweisen, daß auch andere Stimmen und zwar gewichtigere, als die meine, über die Compromisse grade so denken wie ich. Also Nichts gegen die Armee-Reorganisation, Herr Hanke, wenn wir gute Freunde bleiben sollen. - Die Armee, in der Erziehung und der Zusammengehörigkeit ihres Offiziercorps, darin liegt Preußens - meinetwegen auch Ihres Deutschlands Beruf für die Weltherrschaft.«
Die weitere Erörterung wurde durch den Eintritt des alten Scholze, wie sie ihn nannten, unterbrochen: »Habe zu melden, daß so eben ein Wagen anfährt.«
»Bruder Conrad!« Der junge Offizier, die Mutter und das Schloßfräulein hatten sich erhoben und eilten dem Eingänge zu, vor dem Scholze postirt blieb. »Habe zu melden, daß es nicht der Herr Lieutenant ist!«
Es lag beinahe wie ein »alter Narr!« auf der Lippe der Dame des Hauses, aber sie hielt an sich. »Wer ist's?«
»Seine Durchlaucht, der Herr Fürst - junior!« berichtete Scholze dickköpfig. »Beehrt uns ja zuweilen und wollte nur seinen Besuch gehorsamst anmelden!« Damit trat er in die Nähe des Generals an die Wand zurück.
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»Welchen Fürst meinst Du,« frug dieser - »es kann unmöglich unser Nachbar sein, er ist noch nicht aus Baden-Baden zurück!«
»Es ist der Andere,« - er hielt die Hand vor den Mund - »der Spieler, der Projectenmacher,« flüsterte er dahinter.
»Willst Du Seiner Durchlaucht nicht entgegen gehen, Kurt?« frug die Dame des Hauses ihren Mann, der sich bereits erhoben hatte, diese Pflicht der Artigkeit zu erfüllen, aber sein Sohn war ihm schon zuvorgekommen und öffnete eben wieder die Thür, den Besucher einzulassen.
Es war ein hübscher schlanker Mann von dreißig bis vierzig Jahren, der mit aller Sicherheit des gewandten Weltmannes eintrat, der Landräthin die Hand küßte und ringsum grüßte. »Bitte incommodiren Sie sich nicht - mein Kompliment, Herr General, ich freue mich, Sie so wohl und rüstig zu sehen. Nochmals lieber Landrath, ich ersuche Sie, sich nicht stören zu lassen und mir nur von den Händen der gnädigen Frau gleichfalls eine Tasse ausbitten zu dürfen. Wollte im Vorüberfahren zur Stadt, wo wir heute Abend bekanntlich eine Zusammenkunft wegen der neuen Bahn haben, bloß hier einen Augenblick vorsprechen, um mich nach dem Befinden der Damen zu erkundigen und meine alten Freunde einige Minuten zu besuchen. Freut mich sehr, Herr Premier, Sie zufällig hier zu treffen - habe gehört, daß Ihr ›Pluto‹ vortrefflich in Breslau gelaufen ist - hätte ihm lieber den Sieg gewünscht, als dem Fuchs des Baron Hoverden.«
»Es kann doch nur Einer gewinnen, und die ›Gabriele‹
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ist ein trainirter Läufer, Durchlaucht, während mein Rappe nur Campagnepferd sein soll.«
»Dennoch, dennoch - Graf Gaschin hat seine Eigenschaften sehr wohl gewürdigt, wenn er Ihnen, wie man sagt, ein gutes Gebot gemacht hat. Sollten es immerhin annehmen, heut zu Tage ist Geldverdienen die Hauptsache und mit der Reservirung für einen Campagne-Dienst hat es gute Weile. Ich hoffte Sie eigentlich schon in der Stadt zu treffen, lieber Landrath, und sah mehr auf gut Glück nach, ob Sie noch zu Hause. Sie haben doch die Einladung erhalten - die Versammlung ist zwar nur eine vertrauliche, aber Sie fahren doch jedenfalls mit?«
Der hohe Aristokrat hatte eine der präsentirten Cigarren genommen und sie angeraucht. »Es wird ein famoses Geschäft werden, alle Welt ist bereits begierig Aktien zu zeichen. Ich bin gewiß, daß sie schon vor der Edition auf hundertdreißig stehn - wir haben doch die Ehre, Sie in unserer Gesellschaft auch auf dem Prospekt zu sehen?«
»Wie meinen Durchlaucht?«
»Nun - das Comité soll heute gebildet werden - es bedarf nur dessen, um die Einladungen sofort in die Welt zu schicken. Ein Name wie der Ihre darf natürlich dabei nicht fehlen. Es würde uns so ehrenvoll als lieb sein, wenn selbst der Herr General sich auch entschließen könnte ...«
Der alte Haudegen zog den Meerschaum aus den Lippen. »Wozu, Durchlaucht?«
»Nun wozu sonst, als mit in das Comité für die
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neue warschauer Bahn zu treten. Die Linie wird vortrefflich. Bleichröder, der Herzog, Geheime Rath Görling, Bankiers wie Breslauer und Compagnie, Baron Cohn und Andere stehn an der Spitze, auch Engländer.«
»Sie vergessen, daß ich blind bin.«
»Mon Dieu, lieber General, was thut das zur Sache! - Wozu hat man seinen Sekretair - wir brauchen Ihren Namen, nicht Ihre Augen. Ich will Ihnen nicht zureden - aber ein Mann wie Ihr Herr Sohn darf natürlich bei dem Aufruf zu einem so gemeinnützigen Unternehmen nicht fehlen. Wir werden dafür sorgen, daß bei den Vermessungen die Tracirung der Linie etwas tiefer in den Kreis schneidet, als es anfangs beabsichtigt war, vielleicht - es läßt sich ja mit dem Ingenieur sprechen, - gelingt es, die Bahn direct mit Ihrem Territorium in Verbindung zu bringen, die Abschätzungen von Grund und Boden werden hoch sein. Zwei Millionen Stammkapital in Stamm-Aktien zu 100 Rth. -«
»Mein Sohn,« sagte der alte Soldat ruhig, »wird gewiß, so bald die Sache geregelt ist, eine oder zwei Aktien zeichnen, und ich selbst bin nicht abgeneigt, aus meinen kleinen Ersparnissen ein Gleiches zu thun, obschon ...«
»Eh bien?«
- »wie ich von allen Sachverständigen, z. B. hier von Herrn Hancke höre, die andere Linie für den Verkehr des platten Landes weit vortheilhafter sein soll.«
»Das sagen Ihnen nur kurzsichtige Leute, General - bei einer Eisenbahn kommt es auf die möglichst directe Linie schon in militärischem Interesse und billigen Bau
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an. Wir stehen da mit einem famosen Unternehmer in England in Unterhandlung. Aber in der That, hier handelt es sich darum, bewährte Namen wie den Ihren mit an der Spitze des Unternehmens zu sehen. Das giebt Vertrauen und ist für das Allgemeine mehr werth, als wenn Sie hundert Aktien zeichnen. Ueberdies ... Darf ich Sie einen Augenblick bitten, liebster Landrath ...« Er wies nach der Fensternische und der Edelmann folgte ihm dahin, während die am Kaffeetisch Zurückgebliebenen sich weiter unterhielten.
Der vornehme Aristokrat sprach lange und eindringlich auf seinen Mann ein und schien es sich besonders angelegen sein zu lassen, ihn für das Unternehmen zu gewinnen. Schließlich kehrte der Landrath mit einer höflichen Verbeugung, welche den fürstlichen Spekulanten nöthigte zu folgen, zu dem Kaffeetisch zurück. »Ich will die Entscheidung, Durchlaucht, ob es zweckmäßig ist, daß der alte Name Möllhoff unter dem Prospekt steht, meinem Vater überlassen, da er doch zunächst auch der seine ist.«
»Der Herr General wird gewiß Nichts dawider haben, wo Ehre und Vor[t]heil so eclatant auf der Hand liegen.«
Der alte Scholz hüstelte hinter der Hand - der General drehte den Kopf nach seiner Seite. »Hast keine Manövers nöthig, Scholze,« sagte er barsch. »Halten zu Gnaden Durchlaucht, aber die von Möllhoff's sind eine bloße Soldatenfamilie und gehören nicht unter die berliner Juden und Jobbers, um den Leuten, die Geld zu viel haben, blauen Dunst vorzumachen. Wir verstehen von Aktien
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und Börsengeschäften Nichts und d'rum gehört unser Name auch nicht unter die Gesellschaft.«
»Aber bester General - grade der Adel hat doch die Pflicht, die Industrie und die Interessen des Landes zu fördern,« sagte der Fürst, während der Landrath und sein Sohn doch etwas verlegen schienen über die ungenirte Derbheit des alten Soldaten.
»Hat Jeder seine Ansichten darüber Durchlaucht, und will die meinen keineswegs als unbestreitbar darstellen. Halte es auch nicht für unpassend, wenn der Gutsbesitzer für die Ausnutzung seines Grund und Bodens allerlei industrielle Unternehmen fördert oder selber treibt, sobald sie nur mit seiner Aufgabe des Landbaues in Einklang stehen, z. B. Brennerei, Wollwäsche oder Wassernutzung. Hat ihm der liebe Herrgott Kohlen auf sein Revier gelegt, wäre der Edelmann ein Dummkopf, wollt er den Segen verkümmern lassen, statt ihn zum Besten fleißiger Hände auszunutzen. Hat ein Edelmann auch in dieser Beziehung Rechte und Pflichten für Grund und Boden, nicht bloß ihn zu Heu und Korn zu benutzen, so weit eben seine Mittel zu einer solchen andern ehrlichen Benutzung und Förderung seines Wohlstandes ausreichen, denn die Steuern fallen doch zuletzt in Zeiten der Noth hauptsächlich auf den Grundbesitz. Haben dem jungen Herrn da noch eben unsere Bereitwilligkeit für Förderung seiner Fabrikanlagen bewiesen. Die Vermehrung der Verkehrsmittel durch Straußenbauten und Eisenbahnen ist ein heilsames Ding für das ganze Land und kommt diesem zu Gute. Aber ich sollte meinen, dazu ist die Regierung da und wird
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schon wissen, wo es Noth thut, und daß es ihre Sache ist, Straßen und Wege als Königs- und Landesrecht in der Hand zu behalten, statt sie einer Börsenspekulation in die Hand zu geben. Unsere Kreis- und Provinzialstände werden, wo es fehlt ihre Pflicht thun, auch die Steuern zu Straßen und Eisenbahnen bewilligen, und der Edelmann wird gewiß nicht zurückbleiben, wo Opfer für das allgemeine Beste nöthig sind. Von der Ueberstürzung mit solchen fremden Börsenspekulationen - wo noch so viel Nöthigeres und Wichtigeres für das Land zu thun ist, da soll der preußische Edelmann die Hand lassen, am Wenigsten aber seinen Namen dazu hergeben, der Gott sei Dank in unserm Vaterlande noch Ansehn und Gewicht hat, - um in's Blaue hinein dennoch die Leute zu einem industriellen Lotteriespiel verlocken zu helfen. Nichts für ungut, Durchlaucht, aber wir haben uns leider schon darin finden müssen, daß der Name des Adels als Objekt des Wechselschwindels figurirt und seinen Credit ruinirt - wir wollen uns wenigstens davor hüten, daß er noch en gros gebraucht wird, die Taschen der Juden und Jobber zu füllen. Das ist so meine Meinung, aber es versteht sich, daß mein Sohn thun kann, was er will und mit seiner Stellung nöthig oder vereinbar findet!«
Der Premierlieutenant war aufgestanden, nahm die Hand seines Großvaters und küßte sie. »Ich bin überzeugt, daß mein Vater denkt wie Du, und er ist es gewiß auch von seinem Sohne überzeugt.«
»Sie wissen, Durchlaucht, meine amtliche Stellung legt mir schon bedeutende Rücksichten auf,« sagte einlenkend
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der Landrath. »Wenn der Fürst, Ihr Oheim, als der bedeutendste Grundbesitzer dieser Gegend -«
»Bah - auf den ist nicht zu rechnen, aber glücklicher Weise sind die Herren in der Kammer nicht alle so penible, und der Titel ›Abgeordneter‹ ist auch nicht ohne Werth. Wollen Sie mich nicht wenigstens in die Stadt begleiten?«
Der Landrath entschuldigte sich mit der erwarteten Ankunft seines jüngeren Sohnes und nach noch kurzem Verweilen schied der vornehme Herr aus dem kleinen Kreise. Kaum war er fort, als sich eine lebhafte Unterhaltung über das Eisenbahnproject entspann, in der die Hausfrau ihren Gatten zu drängen suchte, sich an dem Unternehmen zu betheiligen und es aller seiner Energie bedurfte, seine Meinung als wohlberechtigten Entschluß aufrecht zu erhalten, bis die jetzt erfolgende Ankunft des jüngsten Sohnes alles Andere vergessen machte. Das sorglose Gesicht, das der junge Dragoner zeigte, der mit großer Freude von seiner Mutter empfangen wurde, ließ auch den Vater und älteren Bruder die unbestimmte Besorgniß vergessen, die beide über den plötzlichen Besuch gehegt hatten. So wurde denn die Flasche alten Ungar, wie der General vorher bestimmt hatte, in aller Gemüthlichkeit geleert, worauf der alte Herr erklärte, seinen gewöhnlichen Nachmittags-Spaziergang im Garten machen zu wollen, bevor er sich auf eine Stunde zur Ruhe lege, obschon der alte Scholz berichtete, der Wind draußen sei ziemlich stark und drohe für den Abend noch heftiger zu werden. Während der Landrath mit dem Pastor eine Amtsangelegenheit in Schulsachen zu besprechen hatte,
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nahm der junge Offizier die Gelegenheit war, sich an den Vicar anzuschließen. »Ich möchte Sie sprechen,« sagte er - »wann komme ich Ihnen morgen Vormittag am Gelegensten - doch wäre es mir lieb, wenn mein Besuch unter uns bliebe - er betrifft eine private Angelegenheit, und ich möchte nicht, daß mein Vater oder Bruder davon erfahren. Wann treffe ich Sie?«
»Ich bin für den Sohn meines Herrn Patrons zu jeder Stunde bereit - Sie kennen ja von früher die hintere Gartenthür der Vicarie - ich pflege nach der Messe bis 9 Uhr in dem Garten spazieren zu gehen, um mich für den Unterricht oder die nächste Predigt vorzubereiten.«
»Gut, ich werde von Ihrer Güte Gebrauch machen, auf Wiedersehen also - ich sehe, daß Herr Hancke dort sich eben verabschiedet und Conradine verlassen hat. Verzeihen Sie, daß auch ich es thue, denn ich habe mit meiner Schwester nothwendig zu reden.«
Der junge Geistliche hatte ihm die Hand gereicht. »Die gnädige Gräfin Ihre Frau Mutter scheint die Bewerbung des Herrn Hancke um das gnädige Fräulein nicht gern zu sehen,« sagte er boshaft.
Der junge Offizier sah ihn ganz erstaunt an - der Gedanke, daß der junge Fabrikant überhaupt eine solche Absicht haben könne, war ihm sehr überraschend und neu. »Ich glaube, da irren Sie sich ganz und gar, Herr Vicar, - die Conradine ist viel zu gescheut und - eine von Möllhoff. Doch besser ist besser, ich danke Ihnen.« Er fand jedoch für gut, jetzt etwas rascher seiner Schwester
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entgegen zu gehen und ihren Arm durch den seinen zu ziehen.
Dennoch hatten die beiden jungen Leute Zeit genug gehabt, einige Worte unbemerkt zu wechseln, die, wenn sie ein Anderer gehört hätte, den Verdacht des Geistlichen wohl bestätigt haben würden.
»Ich muß Sie noch diesen Abend sprechen, Conradine,« hatte der Fabrikant ihr leise gesagt, - »aber allein, es hängt mit der Ankunft Ihres Bruders zusammen.«
»Sie erschrecken mich, Ernst - es wird kaum angehn, da Conrad und Victor hier sind - ich werde nicht abkommen können, Sie im Garten zu treffen. - Ist es etwas Dringendes, so schreiben Sie mir doch - Lenchen ist treu und zuverlässig.«
»Ich glaube, sie hat jetzt mit sich selbst zu thun, das Mädchen kommt mir seit Kurzem ganz verändert vor, sie muß krank sein, oder einen geheimen Kummer haben. Aber ich muß Sie sprechen, vielleicht daß wir Ihrem Herrn Vater und Großvater damit einen schlimmen Verdruß ersparen.«
»Dann komme ich gewiß - erwarten Sie mich nach elf Uhr. Da kommt mein Bruder auf uns zu. Wissen Sie - ich traue dem Vicar nicht, er sieht uns immer so beobachtend an.«
»Nun der Jesuit steckt in jedem Pfaffen. - Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein und entschuldigen Sie mich bei dem Herrn Landrath, daß ich mich ihm nicht noch besonders empfohlen, aber es drängt mich, meinem Vater die erwünschte Nachricht wegen des Mühlbachs zu bringen.
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Auf Wiedersehen, Herr von Möllhoff - auf Wiedersehen Victor!«
Er küßte ceremoniös der Landräthin und ihrer Tochter die Hand und entfernte sich; das ›Adieu‹ des jüngern Möllhoff war ziemlich kalt. Er hielt den Arm seiner Schwester unter dem seinen. »Ich muß mit Dir reden, Dina! - Der junge Hancke kommt wohl oft zu Besuch?«
»Du weißt ja, daß er ein Spielgenosse und Jugendfreund Victors ist. Er ist erst von seiner großen Reise nach den rheinischen Fabriken und Frankreich zurückgekehrt und will nach deren Muster hier ein großes Etablissement anlegen.«
»Das weiß der Henker - Geld hat das Gesindel immer zu seinen Spekulationen. Habe übrigens nicht die Ehre seiner näheren Bekanntschaft. - Die Erziehung im Kadettenhause hat mich zum Glück von vorn herein von den Bauern- und Bürgerjungen salvirt und in anständiger Gesellschaft gehalten. Ich wünschte übrigens, der Papa nähme sich ein Beispiel an seinen Hanckes und spekulirte auch. Ist es wahr, wie mir die Mutter im Fluge erzählte, daß er verweigert hat, sich bei dem Eisenbahnunternehmen des Fürsten X. zu betheiligen?«
»Ich denke, Du kennst die Grundsätze des Vaters, und Großvater sprach sich sehr energisch, fast unartig, gegen den Fürsten aus. Er erklärte ihm rund heraus, daß er es nicht für passend halte, daß sich alte adelige Namen zu den Börsenspekulationen hergäben.«
»Bah - das versteht er nicht, er hat noch die alten verbohrten Ansichten über den sogenannten Reiteradel -
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die Franzosen sind uns darin weit voraus und selbst in Oesterreich, wo der hohe Adel doch exclusiv genug ist, findet man einen Baron von Sina oder die Heirath mit einer reichen Tänzerin, die ihr Diplom in ihren Fußspitzen trägt, ganz in der Ordnung. Heutzutage ist Geld die Parole und aller alte Adel hat keinen Zweck, wenn er einen armen Schlucker ziert wie unsereins.«
Sie hatte ihre Hand aus seinem Arm gezogen und sah ihn erstaunt an. »Conrad wie kommst Du mir vor - was ist mit Dir vorgegangen, seit Du das letzte Mal hier warst? Ich bitte Dich, um Himmelswillen laß den Vater und die Mama nicht solche Ansichten hören.«
»Bah - ich bin kein Narr, obschon die Mama neben ihrem Dünkel auf die gräfliche Abstammung doch die Vernünftigste ist und baares Geld oder gute Aktien sehr wohl zu würdigen versteht. Was mit mir vorgegangen? - Nichts ist mit mir vorgegangen, als daß ich endlich klug geworden bin und das Reelle mehr schätze, als abgestorbenen Klunker. Mit einem Pergament bezahlt man nicht Austern und Champagner und mit alten Vorurtheilen kauft man kein Vollblut. Selbst in der Armee fängt man an klüger zu denken und Handel zu treiben. Ich wünschte, ich hätte Victors ›Pluto‹, keinen Augenblick wollte ich mich bedenken, ihn loszuschlagen. Doch - weshalb ich mit Dir sprechen wollte. Hat der Alte Geld?«
»Geld - wer?«
»Nun der Großvater. Du bist ja seine und des Vaters kleine Kassirerin, da sie gemeinschaftliche Kasse führen!«
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»Also doch!«
»Was?«
»Der alte Scholz hatte also Recht - Als sie vorhin frugen, was Dich hierher führe, meinte der Alte, Du kennst ja seine schroffe Weise: Geld!«
»Den Teufel auch, - er könnte sich doch irren - der alte Narr! Aber freilich brauche ich Geld - Dina, das Messer steht mir an der Kehle, - ich muß 4000 Thaler haben binnen vier Tagen, oder - ich muß den Abschied nehmen und ...«
»Barmherziger Gott - wo soll der Vater in diesem Augenblick die Viertausend hernehmen?«
»Nun - die Scheunen - hat er nicht die Ernte verkauft?«
»Noch nicht - alle Scheunen sind noch voll - er wartet eben auf bessere Preise, die in den nächsten Tagen in Folge der Lieferungen sich heben müssen, Du weißt, daß er den Ertrag dieser Ernte bestimmt hat, die schon lange baufälligen Scheunen und den Kuhstall massiv bauen zu lassen!«
»Verflucht - der Bau muß warten - er muß bei einem Juden Geld auf die Ernte nehmen oder - auf das Gut!«
»Conrad!«
»Es muß sein - oder sein Sohn ist verloren!«
»Aber um Gotteswillen - wie kommst Du zu dieser großen Schuld? Der Vater sagte doch noch heute, daß er Dir den Zuschuß für das nächste Vierteljahr schon in Berlin gegeben!«
»Dummheiten - als ob ein Cavalier in Berlin mit
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lumpigen sechshundert Thalern Zuschuß auskommen kann, und das ist Alles, was der Vater mir giebt.«
»Du weißt, Conrad, daß wir keine reiche Familie sind und strenge Sparsamkeit nöthig ist, um das Gut zu erhalten, auf dem noch aus den Befreiungskriegen her schwere Hypotheken lasten. Der Vater hätte gewiß sonst längst manche sehr vortheilhafte Verbesserung und Anlage ausgeführt. Hätte er nicht das Gehalt als Landrath und die Unterstützung des Großvaters mit dessen Pension, da weißt Du wohl, könntet Ihr beide nicht bei der Cavallerie dienen, und die Mutter ... nun - auch die Mutter müßte manche Bequemlichkeit entbehren ...«
»Sage lieber, müßte die alljährliche Badereise und manche andere luxuriöse Ausgabe lassen, die sich kaum für ihr Alter und diesen Landwinkel schickt!« meinte der engherzige Egoist!
»Conrad!« -
»Es hilft Alles nichts - Noth bricht Eisen! - So muß Victor helfen, obschon ich nur ungern mit ihm rede! Er denkt beinahe so engherzig, als der Vater und Großvater, - aber er ist Offizier und wird sich in meine Lage versetzen. Ich sage Dir Dina - es steht Alles auf dem Spiel. Er besitzt ein Kapital von seiner verstorbenen Mutter her, ich weiß es! Deshalb hat er gut renommiren daß er mit seiner Gage auskommen kann, ohnehin in dem Judennest an der polnischen Gränze!«
»So weißt Du wirklich nicht,« rief fast schluchzend das Mädchen, »daß Victor schon vor zwei Jahren das Erbtheil seiner Mutter, die zehntausend Thaler dem Vater
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auf das Gut gegeben hat, als die letzte Hypothek gekündigt und eine andere nach dem Hagelschlag und den großen Ueberschwemmungen der Oder selbst mit Opfern nicht zu beschaffen war, weil die Güter ohnehin im Werthe gefallen sind!«
»Sie werden auch wieder steigen! Die verfluchten Juden ruiniren den Grundadel, und doch sind sie die einzige Hilfe. Verdammt - so wäre auch auf dieser Seite Nichts zu hoffen. Wie viel hat der Großvater in Kasse - sage die Wahrheit, - hier helfen keine Flausen ... denn ...« es wurde ihm noch immer schwer, die rechte Wahrheit zu sagen.
»Noch nicht volle tausend Thaler!«
»Das würde vielleicht reichen, wenigstens den schlimmsten aus der Welt zu schaffen - für das Andere, für Zweitausend muß der Vater sorgen, wenn sie nicht wollen - fange hier kein Geheul an, Dina, Du warst sonst immer ein vernünftiges Mädchen und meine Vertraute!«
»Aber wie war es möglich, Conrad - eine solche Summe« sagte das Fräulein, das sich mit Gewalt zu beherrschen suchte.
»Das verstehst Du nicht, wenn ich Dir's auch sagen wollte. Gewiß ist in der Kreiskasse Geld genug!«
»Conrad!« in dem Tone der Schwester, in welchem sie diesmal rief, spiegelte sich wirklich Entsetzen.
»Du bist nicht in meiner Lage! - ich meinte natürlich nur, die Kreise haben ja jetzt Sparkassen, aus denen man entlehnen kann!«
Sie hatte sich gefaßt. »Ich glaube wirklich es wird
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das Beste sein, daß wir mit Victor reden, er ist unser Bruder und jedenfalls zum Rathen verpflichtet, ehe wir dem armen Vater den Kummer machen. Großvater leiht gewiß auf meine Bitte das Geld - wenn auch Dir nicht - so mir, ich weiß, er spart es zu meiner Aussteuer, wenn einmal ...«
Die Landräthin kam mit dem Greise und dem Premier-Lieutenant den Gang herauf. »Nun wo bleibt Ihr, Kinder, ich dächte Dina, Du hättest jetzt den Bruder lange genug in Beschlag genommen. Es ist Zeit, daß er auch mir von den berlinern Circeln, den neuen Moden, und was die Krönung für Festlichkeiten in der Residenz bringen wird, erzählt. Wenn Dein Vater nicht so gar penible wäre, könnten wir im Winter recht gut vier oder sechs Wochen in Berlin zubringen. Ohnehin wird sich dort jetzt Alles sammeln, was auf Rang und Bedeutung Anspruch hat.«
Der Lieutenant kannte seine Mama wohl zur Genüge, wenn sie auf dieses Thema kam. Er nahm daher seinen Bruder am Arm und ging mit ihm den Gang entlang, während die Damen mit dem General später in's Haus zurückkehrten.
Dies Haus - das nach schlesischer Sitte die Gutsangehörigen mit dem stolzen Namen das Schloß bezeichneten, war ein noch aus dem vorigen Jahrhundert stammendes Gebäude, meist von Holz, wie auch die den Gutshof umgebenden Scheunen und Ställe. Die Familie hatte das Gut bald nach der Besitzergreifung Schlesiens durch Friedrich den Großen für geleistete treue Dienste in den
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schlesischen Kriegen vom König als Geschenk und Ersatz für andere schwere Verluste erhalten, es ist indeß bekannt genug, daß der königliche Philosoph von Sanssonci selbst bei seinen Geschenken ziemlich karg zu Werke ging und die meisten seiner Anhänger sich mit dem Ruhm, ihm zu dienen begnügen mußten. Kurz die Möllhoff's, - obschon von gutem Adel, der sich aus dem dreißigjährigen Kriege datirte und als Ahnherr einen Reiterführer des General Grafen Ulrich Schaffgotsch bezeichnete, mit dem er wegen seines Festhaltens am protestantischen Glauben in Gefahr war unter den Intriguen der Jesuiten sein Loos zu theilen - hatten niemals zu dem reichen Adel gehört oder in der Diplomatie gedient, sondern stets sich begnügt, mit ihren Söhnen in der Armee ihren Rang zu behaupten und als bloße Landedelleute die Achtung ihrer Umgebung zu genießen. Wir haben neben Herzögen, Fürsten und Grafen solchen Reiteradels noch gar viele Familien in Schlesien und er ist wahrhaftig nicht der werthloseste Schmuck der schönen Provinz, das wissen die Hohenzollern sehr wohl und schätzen ihn hoch.
Das Gespräch zwischen den beiden Brüdern hatte wohl eine Stunde gedauert und als sie in der Dämmerung in das Familienzimmer zurückkehrten, wo die Mitglieder den Abend gemeinsam zu verbringen pflegten, beobachtete das Auge des jungen Mädchens nicht ohne Besorgniß die ernsten Falten auf der Stirn des Premierlieutenants, der gleich nach dem Gespräch mit dem Bruder nach seinem Zimmer gegangen war, und jetzt einen Brief in der Hand in den Familienkreis zurückkehrte.
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»Du hast wohl nichts dagegen, Vater,« sagte er, daß ich durch Scholz einen der Knechte mit dem alten Braunen zur Stadt sende, um dort eine Depesche abzugeben. Ich möchte den ›Pluto‹ nicht unnütz strapaziren, damit ihn Graf Gaschin munter und frisch findet, wenn er ihn abholen läßt.«
Der Landrath wandte erstaunt das Gesicht nach ihm, selbst der Blinde kehrte sich um. »Blücher und Ziet[h]en,« sagte er - »was fällt Dir plötzlich ein, Victor? Noch heute Mittag dachtest Du nicht daran, den ›Pluto‹ zu verkaufen, weil es das beste Campagne-Pferd sei und obschon ich ihn nicht mehr selbst prüfen kann, ich doch weiß, daß er Dir ans Herz gewachsen ist, wie nur dem Cavallerist sein Pferd sein kann.«
»Du weißt, Großvater, daß ich noch den Fuchs habe - der ›Pluto‹ ist in der That etwas zu wild für ein Dienstpferd und es kostet Mühe, ihn im Zuge zu halten. Ich will ein jüngeres einstellen.«
»Papperlapapp« sagte der alte General - »für einen Husaren kann ein Pferd niemals wild genug sein. Ein Husar hält auf sein Pferd wie der Araber auf sein Roß und der ›Pluto‹ kann noch nicht zu alt sein.«
»Sechs Jahre!«
»Siehst Du wohl - er stammt von der Stute, die ich Dir schenkte, als Du 1848 eintratest - damals, als Du den polnischen Halunken zusammenhiebst, der gegen Ehr und Gewissen Lenens Vetter erschoß. - Du erinnerst Dich doch, Scholze?«
»Gewiß Herr General - es war ein Bubenstück, der
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verfluchte Polak hat mit Recht seinen Lohn erhalten und ich hatte seitdem den Herrn Premier-Lieutenant noch einmal so lieb dafür!«
Das edle männliche Gesicht des Offiziers war bei der Erwähnung des Vorfalls etwas bleich geworden. »Mag sein, daß die rasche That Dir und dem Großvater zusagt - ist jedoch leider von Anderen - anders beurtheilt worden und hat mir schon manchen Schmerz bereitet.« - Er gedachte seines letzten Gesprächs mit der schönen Polin. - »Ich hatte neulich noch das Unglück, die Gräfin Czatanowska mit ›Pluto‹ zu erschrecken, weil er gar zu unbändig sich geberdete, obschon sie doch selbst eine furchtlose Reiterin ist - schon damals entschloß ich mich, das schwarze Pferd zu verkaufen.«
»Das war bei dem Pascherzug, von dem Du mir schriebst,« frug Conradine, »wo das junge Kosackenmädchen erschossen wurde?«
Er begnügte sich, in tiefen Gedanken mit dem Kopf zu nicken. Endlich hob er das Auge. »Kennst Du die - einige polnische Melodien Conradine?«
Sie stand sofort auf, ging an das Clavier, und schlug die oginski'sche Polonaise an, die sie dann in das Nationallied übergehen ließ.
»Ich fürchte,« sagte der Landrath, - »es wird noch viel Unheil dort geben. Ihr an der Gränze werdet über kurz oder lang damit zu thun haben - es ist und bleibt eine unruhige Raçe. Wenn es bei uns nur still bleibt - wir haben der Polenprocesse nun grade genug gehabt.«
»Das kommt von der fortwährenden Begnadigung,«
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meinte der General. »Nun ich hoffe, unser jetziger Allergnädigster würde nicht mit sich spielen lassen. Ist das nicht die Lene, die da eingetreten ist?«
»Zu Befehl Herr General. Nun, was willst Du schon wieder, Mädel - weißt Du noch nicht, daß es sich nicht schickt, ungerufen zur Herrschaft zu kommen? Ihr müßt nicht Alles hören drunten in der Küche, was wir hier verhandeln!«
Das Ohr des Blinden hatte richtig gehört, es war der leichte Gang des hübschen Stubenmädchens, einer Enkelin des Alten, die eingetreten und jetzt roth und verlegen stammelte, sie habe nur fragen wollen, ob sie schon den Thee bringen solle. Dabei aber machte sie sich immer in der Nähe des jungen Offiziers zu thun, und wäre der Kaplan noch zugegen gewesen, er würde sicher bemerkt haben, daß sie mehr als einmal seinem Auge zu begegnen suchte, und - wenn er sich gleichgültig abwandte, ein schwerer Seufzer ihren Busen schwellte.
»Du bist ein alter Grobian, Scholz, vertheidigte sie gutmüthig der General, der seines Faktotums Enkelkind sehr gern in seiner rauhen Weise leiden mochte. »Ich weiß in der That nicht, warum Du immer mit dem Mädchen schil[t]st. Lene ist ohnedem so verschüchert und still, während sie sonst trillerte und sprang, wie eine Wachtel im Stoppel. Halt Dein Maul, Junge und hol mir den Rum!« Das ›Junge‹ galt wirklich dem alten Scholz, den der General in guter Laune immer noch so zu betrachten pflegte, wie damals, als er als Reitknecht mit 15 Jahren bei ihm in Dienst getreten war und den Krieg mitgemacht hatte.
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Der Alte warf dem Mädchen einen ärgerlichen Blick zu, ging aber gehorsam, die Rumflasche und eine andere Pfeife zu holen.
»Es ist in der That wahr, der General hat Recht,« sagte die Landräthin, - »Du mußt krank sein - so still und verdrossen bist Du jetzt. Der Sanitätsrath, wenn er das nächste Mal herauskommt, soll Dich einmal in die Kur nehmen!«
Das Mädchen hob bittend die Hände. »O, gnädige Frau - nur das nicht - glauben Sie mir, ich bin nicht krank. Ich - ich - fürchte mich vor dem Doktor!« Ihr Auge suchte wie Beistand heischend den Offizier. Das Mädchen war nicht groß und schlank, aber von jener Rundung und Fülle, die Männer oft am meisten reizt. Ihr Gesicht mit den vielen Sommersprossen war freilich nicht hübsch, trug aber den Ausdruck großer Herzensgüte und die blauen Augen boten mehr Sentimentalität, als in ihrem Stande gewöhnlich zu finden. Nur Kinn und Stirn zeigten auffallend entschlossene Form.
»Du bist und bleibst eine Gans,« meinte die Landräthin. »Im Ganzen, was kümmerts auch mich, ob Du krank oder nicht, wenn Du wirklich krank wirst, ist leicht ein Ersatz zu finden. An Dienstboten fehlt es Gott sei Dank nicht!«
Der General hatte eine scharfe Entgegnung für diese Lieblosigkeit auf der Zunge, aber das Fräulein kam ihr zuvor. »Ich habe Dir gesagt, Mama, daß Lenchen nicht krank ist. Ich muß das am Besten wissen, da sie ja stets um mich ist. Ich werde Dir schellen, Kind, wenn
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Du den Thee bringen kannst. Ich denke, die Herren werden ihn heute zeitig nehmen, das Wetter wird draußen immer rauher.«
Der Wind rüttelte in der That an den Fensterläden und der alte General faßte wiederholt an seine Beine. »Die verfluchte Gicht,« brummte er, »ich fühl es jedesmal, wenn das Wetter umschlägt.«
»Halten zu Gnaden,« brummte Scholz, »sollten halt lieber nicht so viel Rum und Cognac im Thee trinken.«
»Du bist ein Narr mit Deinem Predigen, - nimmst selber Deinen Schluck, und weißt sehr wohl, daß ich nicht zu viel thue, aber das labbrige Theezeug wäre sonst nicht zu genießen; wirst mich schließlich mit Camillen füttern. Geh hinaus auf meine Stube, und sieh nach dem Feuer - ich werde mich heute zeitig zur Ruhe begeben und will bis dahin mit der Familie reden.«
»Als ob ich nicht auch mit dazu gehörte!« knurrte der alte Diener, »Herr General erzählen mir's nachher doch wieder!«
»Marsch!«
Scholz machte Kehrt bei diesem Befehl, dem er in dem Tone nie zu widersprechen wagte, und verließ das Zimmer.
»Kinder,« sagte der alte Herr, der bei seiner Blindheit ein scharfer Beobachter war, »was gab's heute Nachmittag im Garten für Heimlichkeiten zwischen Euch Dreien - hab's wohl gemerkt, wenn ich auch Nichts davon hören sollte! Heraus mit der Sprache?« Das Fräulein parirte die Frage, die so ohne Vorbereitung gefährlich wurde.
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»Sollst es schon hören, Großvater, wenn's so weit ist. Ich habe einen Wunsch, den ich erst mit den Brüdern besprechen wollte. Du versprichst mir ihn zu erfüllen?«
»Schmeichelkatze!« weißt schon, wenn's irgend angeht!«
Der Dragoner athmete nun auf; - Conradine schien alle Liebenswürdigkeiten aufzubieten, das Gespräch nicht wieder in's Stocken kommen zu lassen, und sang dem Vater und Großvater unaufgefordert ihre Lieblingslieder, bis der alte Herr erklärte, er wolle zu Bett, denn der Rheumatismus zwicke ihn bei dem Winde immer mehr.
»Ich begreife auch nicht,« sagte die Landräthin, auch ihrerseits das Licht nehmend, »warum Sie nicht diesen Sommer nach Wiesbaden oder Teplitz gegangen sind, Papa!«
»Ha meinen Sie! Soll ich etwa mein gutes Geld noch aus dem Lande tragen? Wenn ich in's Bad müßte - wofür hätten wir denn in Schlesien unser schönes Warmbrunn, das eben so gut hilft?«
»Aber, General - es ist doch nicht mehr fashionable, - seit der Hof nur noch an den Rhein geht!«
»Schnickschnack,« murrte der Alte heftig. »Halte überhaupt die meisten Badereisen für bloße Komödie und die Spielbäder für puren Unfug. Ich lobe mir unser ehrliches Warmbrunn, da hätte sicher kein übergeschnappter Deutschthümler auf unsern König und Herrn zu schießen gewagt - das Volk hätte ihn in Stücke zerrissen. Darauf kenne ich meine Schlesier. Mein alter Feldmarschall Ziet[h]en hat verständig gethan, sich dort sein Grab auszusuchen, und ist ein so hübsches Stück von unsers lieben Herrgotts
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Erde, als nur eines sein kann, ist so recht geschaffen für alte Soldaten, und wenn der alte Wrangel nicht etwa Pulverdampf wittert, geht er im nächsten Winter auch hin - dafür ist er ein guter Preuße. Heda, Jungens, riecht's in Berlin noch immer nicht nach Pulver? Wär in der That einmal Zeit und ich wollt', ich könnte mitreiten!«
»Die Verhältnisse mit Dänemark und Hessen verbittern sich allerdings immer mehr,« bemerkte der Premier, »doch zunächst werden wir wohl wegen der polnischen Unruhen nach jener Seite Frieden behalten. - Aus Frankreich soll die Unzufriedenheit sehr geschürt werden!«
»Kreuz Sacrament - unser königlicher Herr hält sicher zu seinem Neffen, wie's nicht mehr als billig ist! Hoffte schon vor zwei Jahren, wir könnten mit den Rothhosen anbinden und wär auch sicher dahingekommen, wenn der Schlaukopf Napoleon nicht mit dem Frieden von Villafranca dazwischen gekommen wäre. Schuldet uns Dank genug, Oesterreich, aber - Dank vom Hause Habsburg ist schwerlich zu hoffen und die nichtsnutzigen Holters werden uns sicher zuvorkommen, wenn's gilt Ordnung zu halten im alten Rheinbund oder an der Eider traue den Diplomaten nicht, der Metternich stirbt nicht aus, und haben uns schon in Olmütz gezeigt, was wir zu erwarten haben. Thut mir doch leid Victor, daß Du den ›Pluto‹ verkauft hast.«
»Das ist nun nicht mehr zu ändern, Großvater! Darf ich Dich nach Deiner Stube führen, oder muß ich den Scholz rufen?«
»Danke Dir mein Junge - da ist er schon. Ist noch
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immer auf seinem Posten und wird es hoffentlich bleiben, bis sein alter Herr ihm dahin vorangegangen ist, wo wir keine helfende und führende Hand mehr brauchen, wenn wir hier unten nicht allzublind gegen die höchste Hand gewesen sind, die so oft aus den Wolken zu uns armen Erden-Würmern niederreicht. Gutenacht mitsammt, und geruhsamen Schlaf. Hast auch nicht verlernt, Dein Nachtgebet zu sprechen, Conrad? Die Jugend ist jetzt schlimm darin und hält das für alten Zopf, - denk aber nicht so und empfehle mich Gott meinem Herrn jeden Abend, ehe ich meinen alten Kopf auf das Kissen lege!«
Auch der Landrath hatte sich erhoben. »So wollen wir's zusammen thun, Vater,« sagte er ernst, »und Gott danken, daß er uns Alle hier unter dem Dach unserer Väter gesund und ohne allzugroße Schuld zusammengeführt hat. Nimm die Hausbibel, Dina und lies uns ein Kapitel, ehe wir schlafen gehen. Du weißt, ich liebe es, daß man sie aufschlägt ohne zu suchen!«
Das Fräulein hatte die alte Postille von dem Schrank genommen, wo sie zum Aerger der Landräthin bewahrt werden mußte, und sie am Tische aufgeschlagen, fuhr aber unwillkürlich zusammen, als sie sah, welche Stelle der Zufall sie hatte finden lassen. Sicher hätte sie eine andere gewählt, wenn das Auge des Vaters nicht auf ihr geruht hätte ...
»Nun - was ist's?«
»Das Evangelium Lucas 15.«
»Vom verlornen Sohn!« murmelte Scholz, der sehr bibelfest war, obschon er seine Enkeltochter, aus einer
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gemischten Ehe stammend, nach dem Willen ihres Vaters zu seinem großen Verdruß hatte katholisch erziehen lassen müssen, doch wagte er nur selten darüber eine Bemerkung, da der Landrath selbst eine solche Ehe mit seiner zweiten Gattin geschlossen hatte und wenigstens in dieser Richtung seine Enkeltochter unter dem Schutz der Landräthin stand. Es waren in jener Zeit, selbst nach dem Kirchenstreit unter Friedrich Wilhelm III. mit dem Erzbischof Droste Vischering die religiösen Verhältnisse in Schlesien bisher überaus glückliche gewesen und eine schroffe Haltung weder von der einen noch von der andren Kirche provocirt, so daß die gemischten Ehen grade in dieser Provinz keinen Anstoß gaben und bei fast gleicher Zahlenstärke der beiden Confessionen sehr häufig zu finden waren, so daß man fast in jedem Dorfe Kirchen beider Bekenntnisse antrifft.
Die zufällige Wahl des Kapitels blieb doch nicht unbeachtet, und das Auge der Schwester wandte sich einen Moment lang, aber auch nur einen solchen auf das leicht geröthete Gesicht des Bruders, dann las sie ohne Stocken von Anfang bis zu Ende, und mit dem Amen des Landraths ging die Familie auseinander, ihre Schlafzimmer aufzusuchen.
Das Haus oder Schloß hatte der Stuben genug, so daß auch die beiden Brüder nicht eine solche zu theilen brauchten. Der General mit seiner Enkelin wohnte auf der einen Seite des Hauses im Parterre, über ihm hatte der jüngere Sohn sein Schlafzimmer, während der jetzige Gutsherr auf der anderen seine Wohnung hatte, von wo aus er die Wirthschaftsgebäude bequem überwachen konnte.
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Hier auch, über den Eltern nahm der Premierlieutenant sein Quartier, wenn er zum Besuch auf dem Gute war. Das Gesinde schlief in einem angebauten kleinen Flügel, nur Lenchen hatte ihre Kammer in der Nähe des Fräuleins. Der Garten umgab diesen Theil des Hauses.
Es mochte gegen Mitternacht sein, und obschon die Familie lange zusammengesessen, schien doch Alles in tiefer Ruhe zu liegen, nur aus dem Fenster des Schlafzimmers des Dragonerlieutenants drang durch das Rouleaux noch Lichtschein, er mochte wohl von Berlin nicht gewohnt sein, so zeitig zu schlafen und lesen, oder über seine Fatalitäten, wie er es nannte, nachdenken, und aus dem in der vorderen Ecke des Hauses belegenen Zimmer des alten Generals leuchtete der sehr matte Schein des Lämpchens, das Scholz für die Nacht dort brennen ließ. Blos der Wind heulte durch die bereits sich entlaubenden Bäume des Gartens und drehte kreischend die rostigen Wetterfahnen auf den alten Giebeln oder fuhr über zum Theil selbst noch mit Schoben bedeckte Dächer der Wirthschaftsgebäude.
Dennoch war es keineswegs so still und einsam in und um das Herrenhaus, als es den Anschein hatte. In dem kleinen Gartenhause, das - wenn auch sonst offen - Schutz gegen den Wind gewährte, saßen zwei Personen Hand in Hand - es waren der junge Fabrikant und das Edelfräulein.
»Ich danke Ihnen, Conradine, daß Sie gekommen sind. Sie wissen, wie selten ich das Glück haben kann, und es war doch nothwendig Sie zu sprechen im Interesse Ihres Bruders.«
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»Ich danke Ihnen, Ernst, für die Mittheilung, ich hatte keine Ahnung, daß auch Sie von der Verlegenheit Conrads gehört, in die er mich erst heute eingeweiht hat.«
»Auch, daß seine Ehre - die Ehre Ihres alten und unbefleckten Namens durch seinen Leichtsinn gefährdet worden?«
Das Mädchen schrak zusammen. »Wie wäre das möglich? Es wäre entsetzlich für den armen Vater! Ich verstehe zu wenig von Wechseln, um darüber urtheilen zu können!«
»Nur, wenn Sie mir versprechen, meinen Rath und - Beistand anzunehmen. Sie wissen, wie ehrlich und treu ich an Ihnen hänge, und wie sehr ich Ihren Vater und Ihren Großvater hochschätze. Hat Ihnen Ihr Bruder gesagt, daß die von ihm ausgestellten Wechsel in die Hände seines Regimentscommandeurs zu fallen drohen?«
»So sagte er, und daß ihm deshalb alles Mögliche daran liegen muß, sie vorher einzulösen!«
»Auch weshalb?«
»Er müßte dann den Abschied nehmen!«
»Die Gefahr liegt leider noch tiefer und nach dem, was Sie mir eben gesagt, daß Victor seinen ›Pluto‹ verkaufen wird, muß ich glauben, daß Conrad wenigstens diesem eine Andeutung der wahren Sachlage gegeben hat.«
»Sprechen Sie - ich beschwöre Sie, Freund - also darum war Victor so finster und trübe gestimmt?«
»Durch Zufall,« erzählte der Fabrikant - »hat ein mir genau befreundeter Geschäftsmann erfahren, daß einer der angedrohten alten Wechsel - nicht richtig, mit unrichtiger Charge ausgestellt war. Er weiß, welchen Antheil
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ich an Ihrer Familie nehme und sendet mir deshalb die Warnung.«
»O mein Gott! was thun?«
»Das Papier muß unter allen Umständen von Conrad eingelöst werden. Hier - in diesem Couvert sind 2000 Thlr., - sie sind mein Eigenthum, meine Ersparnisse auf der Reise in England und Frankreich - Sie müssen sie annehmen und Conrad oder besser noch Victor geben, als kämen sie von Ihnen!«
»Geld, Ernst! Nimmermehr!«
»Diese Weigerung wäre Thorheit. Ich will damit nur Ihrem würdigen Vater Kummer und Schaden ersparen und es darf nicht aussehen, als wolle ich mir mit der kleinen Gefälligkeit ein Anrecht auf die große Bitte erwerben, die ich später an Ihre Familie zu richten habe, die Bitte um die Hand Derer, deren Herz ich ja doch besitze. Wollen Sie zögern, wo ich so hundertfach größeres Anrecht zu fordern im Begriff bin?«
Sie reichte ihm die Hand. »Nein, Ernst - Sie haben Recht - es wäre ein kleinliches Bedenken, wie ich Sie kenne. Das Geld soll morgen schon in Victors Händen sein, und ihm werde ich sagen, von wem es kommt! Doch nun muß ich gehen, ein Zufall könnte unsere Zusammenkunft verrathen - ich glaube, so eben ist der Knecht zurückgekommen, den Victor in die Stadt geschickt hatte. Conrad hat noch immer Licht in seinem Zimmer!« - Sie hatte sich erhoben und war aus der Laube getreten, nach der Hinterthür zu gehen, durch die sie sich in den Garten geschlichen hatte - er folgte ihr bis zum
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Ausgang, blieb aber plötzlich stehn und hielt ihren Arm fest. - »Bleiben Sie - guter Gott - diese Helle ist unnatürlich - was ist das - ein lauter Schrei! - es ist Feuer - Feuer in Conrads Stube! Es brennt im Hause!«
Dem schwachen Ruf, der zu ihnen gedrungen, antwortete der schrille Aufschrei des Edelfräuleins,« die erschrocken in die Knie gesunken war - der junge Mann, schnell besonnen, riß sie empor und schob sie nach der Thür zu: »Schnell in's Haus - es darf Niemand sehen, woher Sie kamen, und dann wecken Sie Ihr Mädchen und machen Lärmen - ich allarmire im Dorfe und hole die Spritzen!«
Sie flog davon zum Hause hin, während er sich nach der anderen Seite wandte, erst zögernd, ob er nicht auf alle Gefahr hin die Schläfer im Hause wenigsten wecken sollte - aber schon wurde es bei den Wirthschaftsgebäuden laut; der Knecht, der von der Station zurückgekommen und das Pferd gefüttert hatte, ehe er sich zur Ruhe begab, war aus dem Stall getreten und hatte gleichfalls die Helle bemerkt und nach dem Wächter gerufen - in wenigen Augenblicken scholl der Ruf »Feuer! Feuer!«
Er sah noch, wie der junge Offizier das Fenster aufriß und in diesem fast unbekleidet erschien - er kannte also wenigstens die dringende Gefahr, denn mit dem Oeffnen des Fensters schlug die helle Lohe dort heraus und am Giebel entlang, der Heerd des Feuers mußte also in Conrads Stube oder wenigstens in ihrer Nähe sein. Er flog nach dem Dorf, um dort zu wecken und Helfer herbeizuholen.
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Was nützte hier Hilfe, - bei solchem Wind! Nur das Herrenhaus selbst war mit Ziegeln gedeckt, nicht einmal der Nebenflügel, wo die Dienstleute wohnten. Und nun erst die Ställe, die Scheunen - im Rückwärtsschauen sah er bereits aus dem geöffneten Fenster die Flammen an den Jalousien aus trockenem Fichtenholz, und dann an dem Fachwerk der Giebelwand emporzüngeln.
»Feuer! Feuer!«
Es ist ein schrecklicher Ruf, wenn er des Nachts ertönt und aus dem ersten Schlaf emporschreckt. Halbwegs zum Dorf kamen ihm schon Leute entgegen, er sandte den Einen zurück nach der Dorfspritze und zur Papiermühle seines Vaters und den Fabrikgebäuden, wo seine Umsicht und Energie bereits unter den Arbeitern eine kleine Feuerwehr eingerichtet hatte, diese hierher zu beordern; - dann eilte er selbst wieder dem Herrenhause zu, um sich zu überzeugen, daß wenigstens kein Menschenleben gefährdet sei.
Das Edelfräulein war mehr in's Haus zurückgeflogen, als gelaufen, - sie hatte glücklich und unbemerkt ihr Zimmer erreicht, ließ nur den Mantel fallen, in den sie sich bei dem nächtlichen Gange gehüllt hatte und eilte zu der benachbarten Kammer, das Mädchen zu rufen und in die anderen Theile des Hauses zu senden - aber die Kammer, sie konnte es deutlich sehen, und dann an dem unaufgedeckten Bett fühlen - war leer!
»Magdalene! Lenchen!«
Jetzt überwog der Gedanke an die Gefahr des blinden Greises alles Andere und sie stürzte auf dessen Zimmer zu: »Scholze! erwach - es brennt im Hause!« Sie stieß
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an die Thür des Vorzimmers, in dem der alte Reitknecht, wie ein Cerberus vor dem Wohn- und Schlafzimmer seines Herrn zu schlafen pflegte - die Thür gab dem geringsten Anstoß nach - aus dem nächstbelegenen Wohnzimmer des alten Herrn erhellte der Schein der Nachtlampe das Vorgemach wenigstens so weit, daß sie zwei Menschen bemerken konnte, es war der alte Scholze und seine Enkeltochter, deren Arm seine nervige sehnige Hand fest umklammert hielt.
Das Mädchen stand ohne Bewegung, die Arme gekreuzt, das sonst so sanfte, gute Auge starrte finster vor sich hin, die Zähne waren fest auf die Unterlippe gepreßt, das Gesicht so todtenblaß, daß der eine Blick den das Edelfräulein nur Zeit hatte, auf sie zu werfen, diesem noch mehr Entsetzen einflößte und die Ueberzeugung gab, daß hier ganz Besonderes vorgekommen sein mußte.
»Scholz - um Himmelswillen, wecke den Großvater und sorge für seine Sicherheit. Es brennt im Hause, oben - bei Conrad!«
»So - es brennt also?« sagte dumpf der Alte - »mag's brennen! ich wünschte, es hätte die Metze hier verbrannt!« - Im nächsten Augenblick aber schienen ihm doch andere Gedanken gekommen. Er ließ den Arm der Enkelin los und stieß sie in einen Winkel der Wohnstube. »Rühr' Dich nicht von der Stelle - oder ich schlage Dich todt!« Dann öffnete er die Schlafstubenthür des Generals. - Die alte Gewohnheit überwältigte ihn trotz der Schrecken des Auftritts. »Halten zu Gnaden, Herr General, wachen Sie auf, Sie müssen aufstehn!« er hatte die Hand an das wenige graue Haar gelegt, das ihm feuchtkalt über die
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Stirne hing. »Habe zu melden, daß es im Schloß brennen soll, und - und -« er konnte die nächsten Worte kaum durch die Kehle würgen, - »und - daß die Lene - eine Hure ist!«
Der alte Soldat war bei dem ersten Ruf bereits aus seinem Schlaf erwacht und hatte sich auf dem Feldbett, - auf einem solchen schlief er noch immer aus Gewohnheit! - aufgerichtet. Jetzt saß er auf demselben, die Füße bereits in den Pantoffeln. »Kerl - bist Du verrückt?«
»Kann's nicht sagen, Herr General! aber wäre kein Wunder! - Die Taubenaugen, weiß jetzt zur Genüge, was ihr fehlte! - Belieben der Herr General die Beine auszustrecken, daß ich Sie anziehen kann! Welche Papiere soll ich retten?«
Der Blinde streckte die Arme um sich. »Blücher und Ziethen! Sprichst Du die Wahrheit, es brennt im Hause? Weiß es der - mein Sohn?«
»Großvater! Großvater, beeile Dich! Gott sei Dank - da hör' ich den Vater und Victor. Scholze tummle Dich - führ' den Großvater in's Freie - zunächst in den Garten!« Sie flog davon.
Das ganze Haus war jetzt wach - der Landrath hatte seine volle Energie und Geistesgegenwart bereits gewonnen und führte mit den Söhnen die Knechte und Mägde in das obere Stockwerk, eine Wasserchaine bildend - aber was halfen die wenigen Leute, das ungenügende Geräth - Conradine suchte die Mutter zu beruhigen. Bereits brannte es im obern Stockwerk in hellen Flammen an verschiedenen Stellen.
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»Es ist nicht zu dämpfen,« erklärte nach kurzen Anstrengungen der Hausherr - »ist der Vater in Sicherheit?«
»Scholze ist bei ihm - einstweilen im Garten!«
»Dann müssen wir unten wenigstens zu retten suchen, was möglich - das Silberzeug, Wäsche - die Familienpapiere. Das ist Sache der Frauen unter Deiner Aufsicht, Victor. Ich habe andere Pflichten und Du Conrad sieh zu, daß das Vieh aus den Ställen gebracht wird - ich fürchte, bei diesem Winde wird wenig zu retten sein! - wenn die nächsten Ställe sich entzünden - ist die ganze Ernte ohne Hilfe verloren!«
»Gott sei gelobt, daß Du wenigstens Alles versichert hast - die fünf Jahre liefen ja wohl am 1. September ab.«
Der Hauptmann sah finster vor sich hin. »Denke jetzt nur daran, soviel zu retten als möglich. Gott sei Dank - ein Freund in der Noth. Der Himmel führt Sie her!« Er reichte dem jungen Fabrikanten, der eben herbeistürzte, die Hand. »Helfen Sie den Frauen lieber Hancke, indeß meine Söhne hier sorgen - haben Sie etwas von der Spritze gesehen?«
»Sie wissen, wie langsam die Anstalten auf dem Lande sind, indeß sie muß gleich hier sein und ich habe einen Boten nach der Fabrik gesandt, unsere Feuerwehr zu holen. Ich habe Befehl gegeben ein paar Wagen anzuspannen, um die Frauen und den General zu uns zu bringen!«
»Das lohne Ihnen der Himmel - ich hätte kaum
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daran gedacht. Gott sei Dank, da kommt auch die Spritze! Woher steht der Wind?«
»Leider Nordwest - er weht nach dem Dorfe!«
»Dann Kinder - rettet was möglich, und rechnet nicht auf mich - ich kenne meine Pflicht!«
Als der Landrath das Haus verließ und in den Hof trat, sah er, daß der Gutshof verloren war. Dach und oberer Stock des Herrenhauses standen in heller Gluth - aber es wäre an dem alten Hause nicht viel gelegen gewesen, obschon es sein Erb- und Familiensitz war, in dem er und seine Kinder geboren und groß geworden waren. Das Schlimmste waren die nur in geringer Entfernung und ziemlich dicht bei einander stehenden Wirthschaftsgebäude. Die Funken stoben vom Winde getrieben wie ein flammendes Schneetreiben umher und fielen auf die Dächer. Nur der Schaafstall, ein neuerer Bau war ganz massiv, aber der bewährte Landwirth wußte recht gut, wie schwer es sei, die Thiere bei einer Feuersbrunst herauszutreiben, sobald die Leithammel die Gluth gesehen. War es doch schon schwer genug mit den schlagenden Pferden und dem brüllenden Rindvieh. Der Wind war so stark, daß kaum der Klang der Sturmglocken von den beiden Kirchen herüberdrang, obschon das Dorf kaum zehn Minuten von dem Gutshof entfernt lag. Dort waren die beiden Kirchen, die Schulhäuser, die Bauernhöfe, fast sämtlich groß, wohlhabend, wenn nicht ganz massiv wenigstens mit Ziegeln gedeckt, - der Landrath hatte seinen Stolz darein gesetzt, für die Sicherheit seiner Dorfschaft, ja aller Ortschaften im Kreise nach Kräften,
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mit Rath und Gesetz, ja mit eigenen Opfern zu sorgen, - nur das eigene private Eigenthum war darüber zu kurz gekommen.
Wie beliebt der Edelmann, der erste ländliche Beamte und Wächter des Kreises bei den Landleuten war, zeigte sich in ihrem Eifer zu löschen, der sie anfangs kaum an die eigene Gefahr denken ließ. Es waren viele Landwehrmänner und Ausgediente unter den Herbeieilenden, die sich sofort unter das Kommando der beiden Offiziere drängten; aber gegen die hier vereinigten Elemente war alle Menschenkraft zu schwach. Bald hatten die fliegenden Funken auf dem Dach eines der bis zum First mit Getreide gefüllten Stadel - es war ein trockener ausdörrender Sommer gewesen - gefangen und ehe Hilfe herankam, knisterte die Flamme auf.
Der Landrath wußte, daß mit den brennenden fliegenden Garben kein Halt mehr war.
»Schulze Heine!« Der Mann stand in seiner Nähe und schaute mit Besorgniß nach dem Dorfe hinüber.
»Lassen Sie sofort die Pferde wieder vor die Spritze legen und bemannen Sie die Wassertine - wir müssen zum Dorf!«
»Aber gnädiger Herr - das Schloß ... Ihre Scheunen! ...«
»Es ist nicht zu retten - was geschehen kann, wird von der Feuerwehr des Herrn Hancke geschehen. Die Fabrik und Mühle sind nicht gefährdet, sie liegen zur Seite und der Wald dazwischen. Schicken Sie alle Mannschaften zum Dorf zurück und halten Sie alle ankommenden Spritzen
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dort zurück. Lassen Sie jede gefährdete Stelle bespritzen und senden Sie Leute auf das Kirchdach. In zehn Minuten bin ich bei Ihnen, um selbst die Anstalten zu leiten! Das Dorf muß erhalten werden.«
»Gott vergelte es Ihnen, gnädiger Herr, und rechnen Sie auf uns!«
Der Junker drückte dem Schulzen die Hand - als der Befehl bekannt wurde, verdoppelten die Landleute ihre Thätigkeit und Alles eilte dann mit der dem Bauer selbst in seinen besten Gefühlen eigenen Selbstsucht, die eigene Habe zu schützen. Nur der junge Fabrikant mit seinen Leuten und die Knechte des Gutes hielten tapfer aus.
Eine leichte Kalesche rasselte in den jetzt auf drei Seiten brennenden Hof.
»Ist der Landrath hier?«
Der vollen kräftigen Stimme antwortete dieser selbst. »Seien Sie gegrüßt, Herr Hancke, - Ihr wackerer Sohn ist in voller Thätigkeit mit seinen Leuten!«
»Das dank ihm der Teufel,« sagte barsch der Papiermüller, eine kleine runde Gestalt mit vollem klugen Gesicht, von kurzem weißen Haar der Kopf bedeckt, indem er aus dem Wagen sprang. »Ihrer Gemahlin bin ich bereits begegnet - meine Alte erwartet Sie, aber wo ist der Herr General?«
»Drüben im Garten - Conradine sagt mir - er wolle nicht weichen, so lange das alte Haus stände!«
»Das sieht ihm ähnlich - natürlich ist der Scholze bei ihm. Haben Sie schon eine Ahnung, wie das Unglück entstanden ist?«
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»Noch nicht, Herr Hancke - das muß die Untersuchung morgen ergeben - was ist's, was giebt's?«
Das Fräulein drängte sich durch die noch immer Rettenden. »Ist die Lene hier?«
»Ich habe sie noch nicht gesehen - sie ist wohl drüben bei ihrem Großvater!«
»Barmherziger Gott - nein! ich komme eben von dort - Lene! Lene! - Dann muß sie noch im Hause sein!«
»Unmöglich!«
»Vor fünf Minuten,« sagte einer der Knechte, die bei dem Räumen im Parterre geholfen, »stand sie noch in des Generals Stube -, ich rief ihr zu, als ich aus dem Fenster sprang, und dachte, sie käme mir nach ... sie war so sonderbar, wie ich sie nie gesehn!«
»Gott im Himmel - dann ist sie noch auf der Stelle, wo sie Scholze stehn ließ - - - ich hatte sie ganz vergessen! Lene! Lene! - lebst Du noch -« das Fräulein stürzte gegen das brennende Haus - keine Antwort! nur das Prasseln der Flammen, die stürzenden oberen Wände und Balken.
Ein Steiger der kleinen Feuerwehr hatte die Leiter an das Eckfenster gestellt und war auf dieselbe gesprungen, um sich in's Fenster zu schwingen - aber Rauch und Flammen kamen ihm hier so gewaltig entgegen, daß er zurück taumelte und herabsprang. »Es steht wirklich ein Mensch an der Wand, aber die halbe Decke ist bereits eingestürzt!«
»Allmächtiger - sie verbrennt! Wagt denn Niemand, sie zu retten!?«
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Die Männer flogen auseinander - es war der junge Offizier - der eben vom äußersten Stall herbeieilte.
»Conrad - rette sie!«
»Wen?«
»Die Lene - sie verbrennt in Großvaters Zimmer - Scholz - ich, wir ließen sie dort zurück in der Aufregung -«
Der junge Offizier war bereits an ihr vorüber - er hatte sich schon zweimal in das brennende Haus gewagt, noch Sachen aus der Wohnung der Eltern zu retten. So blasirt er aber auch sonst war, so furchtbar schien ihn das plötzlich über seine Familie hereingebrochene Unglück ergriffen und zur Thätigkeit angespornt zu haben. Er war ohne Mütze, nur den leichten Uniformrock auf dem Leibe.
»Ich Wahnsinniger bin Schuld an ihrem Tode! die Leiter her!« Er riß sie den Männern aus den Händen und stürzte zu dem hohen Parterre. Hier hielten die stärkeren Mauern des Eckzimmers allerdings noch - aber es war voll Lebensgefahr, ihnen auch nur nahe zu kommen, denn aus dem oberen Stockwerk schlugen fortwährend Wandstücke und brennende Balken nieder zum Boden.
»Zurück, Herr Lieutenant - die Wand stürzt ein!«
Was oben noch von ihr stand, wankte, wie im Sturm, der Dragoner war bereits dicht unter ihr - der Haken der Leiter faßte im Gesims - im nächsten Augenblick war er auf ihr - im Fenster selbst - noch konnte man die schlanke Gestalt sehen, wie sie sich dunkel auf dem flammenden Grunde abzeichnete - dann war sie im Innern verschwunden und zugleich stürzte oben die Mauer herab
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dicht am Fenster und Flammen und Schutt wirbelten wie ein undurchdringlicher Schleier empor.
Der Landrath war herbeigeilt, er barg das Gesicht in den Händen.
»Mein Sohn! mein Kind!« Conradine lag ohnmächtig in den Armen des alten Fabrikbesitzers. Nur der junge Hancke schien die Besinnung behalten zu haben, denn Victor war weit entfernt am andern Ende des Hofes.
Mit einem Satz war der junge Mann um die Ecke, auch hier aus den auf den Garten sehenden Fenstern brachen Rauch und Flammen, aber die Grundmauern hielten doch noch.
»Leitern hierher! - Wasser! - Aexte! - Möllhoff - hier durch!«
Ein Fensterkreuz aus dem Schlafzimmer des alten Generals stürzte nach außen, in der Oeffnung erschien eine Gestalt, eine zweite tragend. »Platz da!« im nächsten Moment sprang, stürzte er heraus, die bewußtlose Gestalt im Arm, über sie hinfallend aber sie nicht loslassend, bis man Beide aus dem Bereich des Feuers und der stürzenden Trümmer zog.
»Hurrah unser Lieutenant!«
Er hatte sich aufgerafft, war allein emporgesprungen - neben dem Mädchen, es war in der That das Dienstmädchen Magdalene, die ›Jungfer‹ des Schloßfräuleins, und neben ihr kniete dieses, bemüht, die Ohnmächtige, Halberstickte wieder zur Besinnung zu bringen. Das Gesicht derselben war so starr, so drohend geblieben, die Zähne auf die Unterlippe festgebissen, die Arme noch in einander
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geschlungen - ganz wie sie vorher trotzend, regungslos ihr Großvater verlassen hatte.
»So - tragt die Dirne fort - zum Gartenhaus - gießt ihr Wasser in's Gesicht!« Der junge Offizier wollte wieder fort zur Vorderfront, sein Vater war ihm entgegen geeilt und hatte ihn in die Arme geschlossen. »Gott sei Dank, der Dich gerettet! Brav gemacht, mein Junge - ich sehe doch, daß Du vom alten Stamm bist, trotz manchen Leichtsinns!«
Der junge Offizier hielt den Landrath auf Armeslänge von sich abgedrückt. »Wie Vater - Du verzeihst mir, und das im Augenblick, wo ich Dir das Haus über dem Kopf angezündet?«
»Conrad! - Mensch! - Du? - Du selbst?«
Der Offizier preßte die mit Brandwunden bedeckten, rauchgeschwärzten Hände auf die Augen. - »Ich glaube, ich trage allerdings die Schuld! - ich wollte, ich wäre mit verbrannt!«
Der Landrath war tief erschüttert - aber schon eilten die Andern herbei - Conradine, der Premierlieutenant, die beiden Hancke - Knechte und Mägde.
»Bei Deiner Mutter - schweig Unglücklicher - der Schaden ist der unsere, wenn wir nur das Dorf retten! - Nimm ihn Victor - bewache ihn - keine Unvorsichtigkeit - kein Wort! - Herr Hancke, darf ich Ihr Fuhrwerk benutzen? Ich muß in's Dorf - sorgen Sie für den General!« Er sprang in die Kalesche des Fabrikanten »Vorwärts - rasch - zum Dorf! -«
Der Premierlieutenant hatte den blinden General
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herbeigeholt, so nahe als es die Hitze des Brandes ungefährlich machte. »Nun danken Sie Gott mit uns, Scholze, Ihre Enkelin ist glücklich gerettet, sie hätte verbrennen können!«
»Wäre sie's nur! besser todt, als - eine Metze!«
Nur der alte General hatte die Worte gehört - er blieb stehen.
»Maul gehalten! - Still - nicht gemuckst! Müssen die Sache erst untersuchen - thust ihr vielleicht Unrecht, alter Narr!«
»Halten zu Gnaden - nein! - ich sah sie selbst aus seiner Thür kommen - ich hatte eine Ahnung und lauerte ihr auf!«
»Schweig! - wie ich höre, hat Conrad sie aus dem Feuer gerettet! Aber es soll Dir Gerechtigkeit werden - Dir und ihr - auf das Wort eines Möllhoffs.«
»Denken Sie daran - der Name Scholz war bisher immer ehrlich und getreu dem Gutsherrn!«
»Still sag ich! Es trifft uns Unglück genug - muß erst wieder zur Ruhe kommen, bin ein alter Mann - und Du auch!«
»Zu Befehl, Herr General! Bin zwar nur ein gemeiner Kerl und es war meine Schuldigkeit als Ihr geborener Erbunterthäniger, daß ich Ihnen Vierzehn in den Krieg folgte und treu gedient habe, aber - auf sein unbescholtenes Blut kann auch der Niedrigste halten.«
»Schweig sag ich - Dein Recht soll Dir werden. Schick das Mädchen zu ihrer Mutter und sei nicht rauh zu ihr, wie Du gewohnt bist!«
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Das widersetzliche Factotum schwieg - der Alte mochte selbst schon lange gegen sein besseres Gefühl gekämpft haben, das ihm bei der Gefahr des Mädchens fast das Herz gebrochen und ihm die bittersten Vorwürfe gemacht hatte. Dennoch konnte sein angeborener Starrsinn nicht mehr über sich gewinnen, als daß er dem Befehl des Generals folgte. -
Erst gegen Morgen, als der Wind sich zu legen begann, konnte der Landrath vom Dorfe her die Meldung senden, daß mit Hilfe mehrerer aus der Umgegend dort eingetroffener Spritzen jede weitere Gefahr beseitigt sei. Desto schlimmer sah es auf dem Gutshofe selbst aus. Von der Ernte war so gut wie Nichts gerettet, von dem Viehstand auch nur ein Theil, denn Ochsen und Schafe waren mitunter blindlings in die Gluth zurückgestürzt und hatten darin ihren Tod gefunden. Ein vollständiger Neubau des Gutshofes war unvermeidlich. Der Landrath hatte sich einstweilen in dem kürzlich erbauten Schulhause einquartirt bis er die in der Kreisstadt belegene, ganz geräumige Dienstwohnung beziehen konnte und Weiteres beschloß; das gerettete Vieh war bei den Bauern untergebracht. Das Schulhaus hatte ihm der Pastor vorgeschlagen, obschon sein geräumiges Pfarrhaus selbst Raum genug geboten hätte, und der Landrath sein Patron war. Aber er war ein vorsichtiger und etwas geiziger Mann, einer von jenen, die stets über die schmalen Einkünfte der Kirche klagen, und die Aufnahme der Familie des Gutsherrn hätte viele Kosten gemacht - der Vicar dagegen hatte es sich nicht nehmen lassen, schon während der Nacht den jüngern
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Offizier zu sich einzuladen und hier finden wir diesen am Morgen wieder, unruhig auf- und niedergehend im Garten und den Vicar nach der Messe erwartend.
Er ging ihm entgegen, als er ihn sah und reichte ihm die Hand. »Haben Sie Zeit für mich, Ehrwürden?«
»Ich habe Ihnen bereits gestern gesagt - bei dem großen Unglück, das sie Alle betroffen, ist es nur die Gnade der heiligen Jungfrau, daß wenigstens kein Menschenleben zu beklagen ist. Ja, mehr, Sie haben, wie ich höre, ein solches gerettet, Eins meiner Beichtkinder.«
»Es war nicht mehr als meine Pflicht, denn ich gerade habe es gefährdet. Eben wegen des Mädchens wollte ich mit Ihnen sprechen, Ihnen ein Bekenntniß ablegen und - Ihren Rath und Beistand erbitten.«
»Sie sprechen, als wollten Sie eine Beichte thun, aber - Herr Lieutenannt, Sie sind nicht Katholik, obschon Sie es nach den Satzungen unserer Kirche sein könnten, sein müßten, Sie und das gnädige Fräulein. In Ihrer Familie ist es nur Ihre Frau Mutter.«
»Sehen Sie es an, wie Sie wollen - als Beichtbekenntniß, als das Vertrauen eines Freundes, - wenigstens macht Ihr Glaube - Ihnen zur Pflicht, Schweigen zu bewahren.«
»So ist es - darauf mögen Sie sich wenigstens verlassen.«
»Zuerst - was Ihr Beichtkind betrifft - als solches ist es Ihnen vielleicht kein Geheimniß mehr - wir haben uns vergangen, gesündigt meinetwegen - wir sind beide [j]ung und hätten klüger sein sollen - aber das heiße
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Blut, wenn man jung und leichtsinnig ist. Kurzum - Lenchen glaubt sich Mutter.«
»Das ist allerdings schlimm - die Kirche kennt nur eine Sühnung dafür!«
»Die Heirath - aber das ist es ja eben! Ich kann das Dienstmädchen meiner Eltern doch unmöglich heirathen, ohne mit meinem Stande, mit meiner ganzen Zukunft zu brechen!«
Der Vicar sah ihn scharf an. »Haben Sie dem Mädchen, als Sie ... ich darf Sie nicht schonen! - als Sie es verführten, ein dahin gehendes Versprechen gegeben? - Ich kann Ihnen nur bei größter Aufrichtigkeit rathen.«
Der Offizier schlug die Finger in einander. »Das ist das Unheil - ein Heirathsversprechen grade nicht, - aber sie besitzt einen Brief von mir, - in dem ich thörichter Weise ihr Allerlei zusagte, mich zu ihr bekenne, - ohne daß grade das Wort Heirath darin vorkommt - nur Absichtlichkeit kann es so auslegen, und dennoch - würde er mich bei den harten Grundsätzen in meiner Familie über Ehrenwort sehr compromittiren - und diesen Brief - der Teufel ist plötzlich in das Mädchen gefahren, während sie sonst um den Finger zu wickeln war - sie weigerte sich, ihn herauszugeben!«
»Es ist ein seltsamer Charakter die Lene - die Schwäche und Schüchternheit ihrer Mutter, aber die starke Energie ihres Vaters und der Eigensinn ihres Großvaters! - Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Das war einer der Gründe, die mich hierher führten
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- sie hatte an mich geschrieben. Gestern Abend vor dem Brande habe ich sie gesprochen - als die Anderen schlafen waren, - kam sie auf mein Zimmer, ich erwartete sie.«
»Und?«
»Wie gesagt, ein Teufel ist in dem Mädchen. Sie liebt mich - ich möchte sagen leidenschaftlich - sie will thun, was ich von ihr verlange, in's Wasser springen, wenn ich's will - jedes Geständniß weigern, ihr Unglück tragen, und sich Allem fügen, aber - -[«]
»Nun?«
»Den Brief herauszugeben weigert sie, - es sei ihr einziger Schatz, und gehöre ihrem Kinde! - ich sprach, ich bat, ich versprach sie nicht zu verlassen - sie blieb eigensinnig, - selbst Drohungen nutzten Nichts - zuletzt wurde ich so aufgebracht, so heftig, daß ich mich vergaß - daß ich ...«
»Sie schlugen?«
»Bewahre, Ehrwürdiger - ein Mann, ein Offizier und sie ein Mädchen - nein schlimmer als das, denn es brachte noch größeres Unheil - ich war so aufgebracht, daß ich - als sie schon die Thür in der Hand hatte, Leuchter und Licht hinter ihr drein warf!«
Der Vicar sah ihn jetzt wirklich erschrocken an - die andere Selbstanklage mochte ihm oft genug vorgekommen sein in der Beichte, als daß er so schweres Gewicht darauf legte. -
»Wie - und das Unglück ...«
»Ich weiß es nicht - es war allerdings eine große Unvorsichtigkeit, die ich begangen habe! Ich hatte mich
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ärgerlich nach der Wand gekehrt und die Augen geschlossen - als ich sie öffnete - bemerkte ich eine ungewöhnliche Helle - und eine Fenster-Gardine brannte ...«
»Heilige Jungfrau!«
»Eine Jungfrau war sie allerdings nicht,« sagte der Offizier barsch, - »um die ich das Haus meines Vaters angezündet habe - wenn sie es nicht gar selber gethan hat - um sich und mich zu verbrennen aus Rache - die Energie hatte sie plötzlich dazu - weiß der Teufel, wie sie ihr gekommen ist - es kann ein Zufall, eine Unvorsichtigkeit sein - daß ich erschrocken von dem Bett sprang, ich war noch halb angekleidet, und das Feuer zu dämpfen suchte, aber es brannte Alles wie Zunder in dem alten Hause, und als ich endlich das Fenster aufriß, um nach Beistand zu rufen, - machte ich das Uebel noch ärger!« Der junge Mann sah starr vor sich nieder - dann auf den Geistlichen, der ihn nicht ohne Theilnahme betrachtete. »Gott sei Dank, Mordbrenner bin ich wenigstens nicht geworden! - ich wäre nicht aus den Flammen zurückgekommen, wenn ich sie nicht hätte retten können! - Mag das Haus zum Teufel sein, über kurz oder lang hätte es doch umgebaut werden müssen, und Alles ist ja versichert! - Aber das Andere mit dem Mädchen? Sie müssen mit ihr sprechen, sie bewegen, daß sie das Papier herausgiebt - hoffentlich thut sie es jetzt aus Dankbarkeit, da ich mein Leben für sie gewagt habe!«
Der Vicar ging nachdenkend neben ihm her. »Wäre es nicht besser, Ihre Frau Mutter - in einen Theil des Geheimnisses zu ziehen - ich meine, was die fleischliche
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Sünde betrifft - Frauen haben mehr guten Rath und wissen einen Fehltritt zu verbergen!«
»O, was meine Mutter betrifft - es wird zwar ein arges Kapitel geben, - natürlich würde sie nie in eine Heirath willigen, wenn ich auch selbst daran denken könnte, sie würde das Mädchen fortschaffen, mit Geld! der Gedanke ist nicht übel, aber in diesem Augenblick unausführbar - Lene muß vernünftig sein und jetzt die Sache vertuschen, und dazu Ehrwürden müssen Sie mir beistehen. Sie sprachen von dem Charakter ihres Vaters - was wissen Sie von diesem, ist er überhaupt wieder zum Vorschein gekommen, wenn ich mich recht erinnere, sind es 15 Jahre her, seit er fortging, - ich war damals ein Knabe und kam bald nach dem Kadettenhause!«
»Ich weiß von ihm auch nur aus den Mittheilungen meines verstorbenen Vorgängers und was mir Lenen's Mutter erzählte. Danach war er ein Schäfer oder Bergmann aus Oberschlesien, der zufällig hierher kam, 1842 oder 43, hier gegen den Willen des alten Scholze Helenens Mutter heirathete, und sie mitnahm nach Oberschlesien. Drei Jahre, nachdem das Kind geboren war, mußte er wegen der damals in Oberschlesien herrschenden Noth auswandern nach Westphalen - es zogen damals viele Bergleute dahin - von dort schickte er den Seinen das Verdiente, auch aus England noch, wohin er mit Anderen sich engagiren ließ, später ist er verschollen - wenigstens haben Mutter und Kind nie wieder von ihm seit 15 Jahren fast gehört, und selbst die Nachforschungen, die Ihr Herr Vater durch unsere Gesandtschaft
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anstellen ließ, haben kein Resultat ergeben, als daß in jener Zeit viele Bergleute nach Amerika oder Australien auswanderten, theils freiwillig theils gezwungen. Lenens Mutter kam hierher aufs Gut und lebte von ihrer Hände Arbeit und der Unterstützung Ihrer Familie, denn ihr eigener Vater blieb ihr wegen der Heirath grollend, namentlich da sie sich weigerte, das Kind, das nach ihrem Gatten katholisch getauft war, anders zu erziehen.«
»Er ist ein starrer Bibelhusar, - noch heute!«
Der Vicar seufzte. »Leute wie er und der General sind in ihren Kreisen der heiligen katholischen Kirche immer starre Gegner. - Der Verschollene soll ein schöner und gescheuter Mann, zu jedem Dienst geschickt und brauchbar gewesen sein, aber ein wilder und rauher Charakter, und so hat er es auch durchgesetzt, daß Lenens Mutter gegen den Willen des alten Scholz ihn nahm. - Doch rechnen Sie darauf, Herr Lieutenant, ich werde allen Einfluß der Kirche auf das Mädchen anwenden, sie zum Schweigen zu bewegen. - Jetzt lassen sie uns zum Frühstück gehn, da kommt Ihr Herr Bruder vom Schulhause her.«
Beide mußten die Unterredung aufheben, der Offizier nur halb beruhigt - er mußte dem Premierlieutenant zur Brandstätte folgen, denn der Landrath war so eben zur Stadt gefahren. Noch hatte er mit den Seinen nicht Zeit gefunden, sich zu berathen, und wollte die Dienstwohnung in der Stadt besichtigen, ob er bald dahin übersiedeln könne.
So schön das Wetter nach dem heftigen Wind geworden war, - die Stimmung des wackern Edelmanns blieb schwer verdüstert und er hätte gern die Fahrt
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aufgeschoben, wenn es eben nicht der Tag gewesen wäre, wo er stets auf dem Amt zu sein pflegte. Der Brand selbst hatte ihm außerdem verschiedene Pflichten und Geschäfte auferlegt. Die Nachricht von dem Unglück hatte sich rasch verbreitet und fand aufrichtige Theilnahme, die selbst bis zum Lästigen sich steigerte.
Nachdem er die dringendsten Tagesgeschäfte erledigt hatte, und eben in seine Wohnung hinaufgestiegen war, meldete ihm der Kreisbote einen Besuch an, den ersten Bankier der wohlhabenden Provinzialstadt. Er ging ihm entgegen und führte ihn zum Sopha.
»Guten Morgen, Herr Breslauer, ich wollte eben zu Ihnen kommen, Einiges mit Ihnen zu besprechen!«
»Ist es mir doch desto lieber, daß ich das Glück habe, Sie noch zu treffen hier, Herr Hauptmann. Habe gehört von dem Unglück, das Sie betroffen hat diese Nacht nachdem gehofft wir doch Alle, namentlich ich, Sie gestern Nachmittag hier zu sehen bei der Versammlung wegen der Bahn, bei der wir bestimmt rechnen, Sie zu den Unseren zu zählen. Seine Durchlaucht werden gleichfalls sehr erschrocken gewesen sein, als er gehört hat heute Morgen das Unglück, das Sie betroffen über Nacht.«
»Schon dies wäre genügend, mich an andere Dinge denken zu machen, als das Eisenbahn-Unternehmen der Herren.«
»Bitte Herr Landrath - wenn man gut versichert ist, ist der Aufbau doch nur eine Frage der Zeit.«
»Versichert? Sie müssen es am Besten wissen, Herr Breslauer ...«
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»Nun, sollt ich doch meinen, 70000 Thaler, mehr als 10000 Pfund Sterling ist doch eine hübsche Summe für Gutshof und Ernte, und die Londoner Policen sind so gut wie baar Geld. Es ist doch gut, daß wir nicht haben in Schlesien eine Provinzial-Feuer-Versicherung, wie sie drüben haben in der Provinz Sachsen, die macht allerlei Chicanen, und in die doch zahlen müssen alle Rittergüter und das platte Land ...«
»Herr Breslauer - Sie haben kein Recht, mit dem Unglück, das mich und die Meinen betrossen hat, Ihren Spott zu treiben.« Der Landrath hatte sich stolz erhoben.
»Soll mir Gott, wo wird sich das Haus ›Breslauer und Compagnie‹ erlauben, Spott zu treiben, mit einem so würdigen und so geachteten Herrn, wie dem Herr Landrath, der sitzt in der Kammer als Vertreter des Landes und aller seiner Interessen in Grundbesitz, in Handel und Wandel, in Industrie und Eisenbahnen - doch geehrter Herr Landrath, da fällt mir eben ein, weswegen ich gekommen bin, Sie zu treffen so früh und mich gefreut habe, Sie anzufinden noch zu Hause. Ich habe doch noch Sie zu bitten um Ihre Unterschrift auf zwei Papierchens, die werden bringen Alles in Ordnung.« Der Bankier öffnete seine zierliche mit Papieren gefüllte Mappe.
»Meine Unterschrift? Sie wissen, daß ich nie in Wechseln oder dergleichen mache.«
»Gott bewahre, ist auch gar nicht nöthig, es müßte denn sein, der Herr Landrath brauchten sofort Geld zum Neubau auf die Police - ich werde nehmen keinen Anstand,
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darauf vorzuschießen tausend Pfund Sterling - es ist mir ja sicher.«
Die Stirn des Edelmanns hatte sich dunkel geröthet. »Spielen wir nicht länger Komödie, Herr - ich bin - nun ich war allerdings versichert bei der englischen Assekuranz, deren Vertreter Sie in Schlesien sind, obschon ich den Geschäftstrieb der fremden Assekuranzen in Preußen eigentlich nicht billige, aber die Coulanz, welche die londoner Direktion stets bewiesen hatte, und von der Sie mir vor zehn Jahren die Beweise vorlegten, hatte mich bewogen, bei den günstigen Bedingungen in fünfjährigem Versicherungsabschluß ihr den Vorzug zu geben, aber ...«
Der Banquier hatte sich gleichfalls erhoben und suchte ein Papier aus seinem Portefeuille.
»Sie wissen recht gut - Sie müssen es wissen, daß die Police am 21. dieses Monats,« der Landrath sprach zwischen den gepreßten Lippen und Zähnen - »am 21. dieses Monats abgelaufen war, während ich grade in Berlin war, - und daß ich im Augenblick die für meine Verhältnisse, weil ich die Ernte noch nicht verkauft hatte, nicht unbedeutende fünfjährige Prämie noch nicht gezahlt hatte und sie dann erst Gültigkeit haben konnte. Es ist ein Unglück und trifft mich hart ...«
Der Bankier lachte auf nach einem raschen Umblick, der ihm nochmals die Ueberzeugung gab, daß sie allein waren im Zimmer.
»Liebster, bester Möllhoff, was machen Sie da für Umstände, wir kennen einander doch schon länger, schon von meinem Vater seelig, der immer gehabt großes
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Vertrauen in Ihre Familie, - und wir haben auch gemacht zusammen manches Geschäft, - habe Ihnen abgekauft die Wolle, ohne daß Sie nöthig hatten, sie den langen Weg zu schicken nach Breslau, - ich kann mich doch betrachten als Ihren Bankier, der für Sie machen kann eine Auslage, wenn Sie einmal vergessen haben im Drang der Geschäfte oder in den Sorgen für den Staat, oder gerade einmal nicht gewesen sind bei baarer Kasse - die Herrn Söhne von der Aristokratie kosten Viel, wenn sie sind beim Militair! wir sind doch gewissermaßen bei dem Prospekt für die neue Bahn wie zwei Kollegen, die es nehmen nicht so genau - es bedarf Nichts, als daß der Herr Hauptmann die Güte haben, mir zu unterzeichnen den Antrag auf Erneuerung der abgelaufenen Versicherung auf weitere fünf Jahre; was die Bezahlung der Prämie betrifft, so war das Sache von Samuel Breslauer und Compagnie, der Credit hat in London mehr als die Lumperei ...«
Die fette Hand des Bankiers, an deren kurzen dicken Fingern zwei werthvolle Diamanten glänzten, schob dem Edelmann zwei Papiere hin und holte selbst die Feder von dem offenen Schreibtisch. »Hier, Herr Hauptmann, bloß Ihres Namen bedarf es, da - wo ich den Finger habe - und Sie sehen, auch bei dem Prospekt für die neue Bahn, wir haben ausdrücklich trotz Ihrer ersten Bedenken, doch den Raum für Ihre Unterschrift offen gelassen, gleich hier hinter dem Namen des Fürsten ...«
Er hielt ihm die Feder entgegen.
Es war eine schwere Versuchung für den Edelmann, - ein Federstrich - es war ihm Alles so plausible, so
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- wir müssen sagen, rechtlich gemacht worden - dennoch - sein Auge lag auf dem Antrags-Formular.
»Ich habe das Nöthige bereits ausgefüllt, Sie brauchen eben nur zu unterschreiben. - Wir wollen das Protokoll der gestrigen Versammlung in der Eisenbahnsache noch heute nach Berlin absenden.« Die dicke fette Hand schob auch das zweite Papier herbei.
Der Landrath hatte den Antrag aufgenommen - er legte ihn wieder nieder, die Feder daneben. »Sie haben sich in dem Datum geirrt, Herr Breslauer - wir haben heute den 24. und hier ...«
»Natürlich - es ist der Form wegen - da wir es Beide damals vergessen haben, doch - das ist meine Sache! Natürlich muß der Antrag acht Tage vor Ablauf der Police datirt sein.«
»Dann - wäre es ein falsches Dokument - und ein solches wird ein Mann von Ehre, ein Edelmann und Offizier niemals mit seinem Namen versehen.«
»Aber bester Herr Hauptmann, was denken Sie, Sie sehen die Sache in einem ganz falschen Lichte an. Wahrhaftig bei Gott - der Antrag ist, wie er hier liegt, ausgestellt schon vor vierzehn Tagen, es fehlte bloß Ihre Unterschrift, und Sie hatten mir ja früher selbst gesagt, daß Sie die Versicherung bei uns zu prolongiren wünschten.«
»Um so bitterer trifft mich das Unglück - ein solches ist es, daß ich eben versäumt habe, den Antrag schriftlich zu stellen und die Prämie zu leisten.«
»Gott der Gerechte - was machen Sie sich für Bedenken, - Herr Hauptmann, Siebenzigtausend Thaler
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ist kein Spaß und man darf sie nicht werfen auf die Straße wegen eines bloßen Formalitätenfehlers!«
»Ich erfahre dies leider schwer auf meine Kosten - aber - ich hätte wahrscheinlich ohnehin kein Recht gehabt auf die Zahlung der Versicherung!«
»Warum sollten Sie nicht haben das Recht? das allerbeste von der Welt!«
»Nach § 7 der Police verfällt das Anrecht, wenn die Feuerbrunst durch eigenes grobes Versehen des Versicherten selbst, oder - seiner Familie entsteht - und die amtlichen Recherchen über die Entstehung des Brandes sind noch nicht geschlossen - ich habe meinen ältesten Sohn und den Ortsschulzen damit beauftragt, - ich werde sie amtlich feststellen, sobald ich aus der Stadt komme.«
»Gott - Gott - was sind der Herr Landrath für ein scrupulöser Mann. Man kann auch sein allzugewissenhaft. Wo nicht grade vorliegt offenbare, absichtliche Brandstiftung - und der Herr Landrath haben keinen solchen Feind, - ein Versehen, ein Zufall liegt jedem Feuer zu Grunde, das wissen wir bei den Generalagenturen am Besten.«
»Den gesetzlichen Vorschriften muß unter allen Umständen genügt werden, das erfordert schon meine Stellung als erster Polizeibeamter des Kreises. - Doch - wir müssen dieser Unterredung ein Ende machen, Herr Breslauer, die für mich peinlich ist - und vielleicht auch für Sie. Beantworten Sie mir offen und wahr eine Frage!«
»Was befehlen der Herr Hauptmann zu wissen?«
»Nun wohlan - werden Sie noch ferner in mich
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dringen, diesen Versicherungsantrag hier zu unterschreiben - ich glaube gern, daß Sie sich in Ihrem Gewissen selbst für berechtigt halten, ihn als gültig zu acceptiren - wenn ich mich, nach meinem Gewissen für genöthigt halte, - diesem zweiten Papier hier meine Unterschrift zu versagen?«
»Wie - der Herr Landrath - wollen nicht beitreten dem Prospekt für unsere Bahn? - Aber das kann unmöglich sein Ihr Ernst - das thut doch sein eine abgemachte Sache!« Unter dem scharfen Blick des Edelmanns schien der gewandte Geschäftsmann sich förmlich zu winden.
»Eben darum, weil es ist eine abgemachte Sache, weil mein Vater und ich gestern bereits unsere Ansichten über das Unternehmen offen und zweifellos ausgesprochen haben, darf die Ueberzeugung eines Mannes sich über Nacht durch ein unglückliches Ereigniß, das ihn selbst betrifft, nicht andern lassen. Herr Breslauer - es thut mir leid - der Name Möllhoff wird nicht zu den Unterzeichnern des Prospekts gehören.«
Der Edelmann war zu seinem Schreibtisch gegangen, und hatte, als suche er dort etwas, dem Bankier den Rücken gewandt.
»Sie werden uns doch nicht lassen im Stich mit Ihrem angesehenen Namen, Herr Landrath,« sagte zögernd der Geldmann - »bedenken Sie, daß wir rechnen müssen mit der neuen Bahn auf das englische Kapital. Doktor Straußthal, der uns zusichert die englische Betheiligung, hat ausdrücklich zur Bedingung gemacht die Namen der angesehensten Herrn vom Adel aus der Provinz.«
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Als der Landrath zum Tisch vor dem Sopha zurückkehrte, überflog ein bitteres Lächeln sein ernstes Gesicht - ein Blick hatte ihn belehrt, daß nur das Protokoll des Prospekts noch dort lag, das Versicherungsschema war verschwunden.
»Die von Möllhoff's,« sagte der Edelmann, »sind zwar nicht als Ministerialen mit der heiligen Hedwig ins Schlesierland gekommen, wie die Schaffgotsche und Zedlitze, die in's vierzehnte Jahrhundert ihre Stammbäume nachweisen, - sie sind bloß ein ehrlich mit dem Schwert erworbener Reiteradel aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges, aber ihre adlige Gesinnung darf nicht weniger angezweifelt werden, und - weil ich dieses Erbe meinen Söhnen hinterlassen will, wie es mein Vater mir hinterläßt, wenn auch unser Haus in Asche liegt, - deshalb Herr Breslauer danke ich Ihnen für Ihren guten Willen und wünsche Ihrer Gründung alles gute Glück, auch ohne daß der Name von Möllhoff unter dem Prospekt steht. - Wir bleiben die alten - Bekannten!«
Er reichte dem Bank[l]ier die Hand zum Abschied. -
Auf dem Weg aus der Stadt, den der Hauptmann bald darauf wieder einschlug, begegnete ihm ein Bote vom Telegraphenamt, der eine Depesche für den Premier brachte und sehr erfreut war, daß ihm der Landrath die zwei Meilen des Expreßganges ersparen wollte.
Seine Stimmung war in der That nicht freudiger geworden, als er am Nachmittag zuerst bei dem Fabrikbesitzer, um seine Frau zu begrüßen, und dann an dem Schulhause im Dorf vorfuhr, wo er seinen Aufenthalt
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genommen hatte, und die Gesichter der Seinen waren wahrhaftig auch nicht darnach angethan, seine Sorgen zu mindern. Der General saß finster und wortkarg und der alte Scholz stand in gleicher Laune hinter seinem Stuhl, der Premier war nachdenkend, Conrad unruhig, es schien zwischen Beiden bereits eine lebhafte Erörterung stattgehabt zu haben.
Fast um dieselbe Stunde wie am gestrigen Tage saß die Familie wieder zusammen, der junge Hancke hatte die beiden Frauen herübergeleitet, sich dann bescheiden entfernt, und auch die Geistlichen fehlten. Dieses gemeinschaftliche Zusammensein pflegte der Landrath gewöhnlich zu Mittheilungen zu benutzen und so beschloß er auch heute zu thun. -
»Hast Du mit dem Schulzen die Leute vernommen, Victor,« frug er, »die zuerst den Brand bemerkt haben?«
»Es ist geschehn!«
»Und das Resultat?«
»Der Feuerschein ist zuerst in Conrads Stube bemerkt worden, der Knecht, der aus der Stadt gekommen und das Pferd noch gefüttert hatte, sah ihn von der Stallthür aus, es muß etwa Mitternacht gewesen sein, und als Conrad um Hilfe aus dem Fenster rief, schlug die Lohe bereits aus diesem.«
Der Landrath sah fragend den Sohn an.
»Ich muß eingeschlafen sein,« erklärte dieser, »Du weißt, mein Bett steht nicht weit ab vom Fenster, das Mädchen hatte dieses wahrscheinlich nicht gut zugewirbelt, bei dem Winde muß der Luftzug durch den Spalt den
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Vorhang in die Flamme des noch brennenden Lichts getrieben haben, kurzum, als ich aufwachte, stand das Zimmer bereits in Flammen,«
»Der heiligen Jungfrau sei Dank,« sagte eifrig die Landräthin - »daß Du noch so früh erwachtest, Du hättest selbst verbrennen oder ersticken können.«
»Halten zu Gnaden,« unterbrach mürrisch Scholz, »das wäre nicht gut möglich gewesen.«
»Nicht möglich? - ich sollte meinen grade! Warum hätte das Unglück nickt eintreten können?« Die Landräthin stand immer in Kampfbereitschaft gegen den alten Reitknecht.
»Weil der Herr Lieutenant eben noch Besuch gehabt und ihn eben erst entlassen oder - fortgeschickt hatte.«
»Besuch? war Victor bei ihm?«
»Nein!«
»Wer denn?«
»Eine liederliche Dirne!«
»Scholze!«
»Leider ist's so. Die Lene - die Lene Gödulla war bei ihm, wie sie wahrscheinlich schon oft bei ihm war!« Der Alte sagte nicht: meine Enkelin! er nannte das Mädchen bei ihrem Familiennamen.
»Das ist eine abscheuliche Verleumdung - ich muß Sie bitten, Herr Schwiegervater - diesen boshaften Lügner ernstlich zu bestrafen. Ich dulde ihn keinen Augenblick mehr in meiner Nähe. Komm Konradine, es schickt sich nicht für uns, solche Abscheulichkeiten anzuhören.«
»Halt! dageblieben Frau Tochter - die Sache soll untersucht werden!«
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Der alte Reitknecht streckte die Hand nach dem Lieutenant aus, der bleich, fassungslos dastand und krampfhaft die Lehne des Stuhls gefaßt hielt. »Sehen Sie ihn an und sagen Sie selbst, ob ich gelogen habe!«
»Dann ist er von der Dirne verlockt worden!«
»Halt da,« sagte der General - »wir sind Alle Menschen, Frau Tochter und können fehlen - aber die Lene war sonst ein gutes tugendhaftes Kind - wir dürfen sie nicht so verurtheilen. Wo ist die Lene, Scholz?«
»Ich habe sie holen lassen - sie muß draußen sein!«
Jetzt erst hatte der Landrath Kraft und Ruhe genug gewonnen, um sich als Vater und Hausherr selbst in die Befragung zu mischen. Er gebot durch einen Wink der Hand Schweigen. Dann wandte er sich an den alten Diener.
»Wie kommst Du zu der Anklage, Scholz - Du weißt ich halte Dir Vieles zu gut - nicht Alles. Warum beschuldigst Du Dein eigen Blut, - und meinen Sohn?«
»Weil ich sie um Mitternacht mit diesen eigenen alten Augen aus dem Zimmer des Herrn Lieutenant kommen sah. Ich lauerte ihr auf, denn ich hatte Verdacht gehabt, als ich ihn am Abend ihr etwas in die Hand schieben sah. - Ich faßte sie selbst am Arm, sie schien in großer Erregung, als sie aus dem Zimmer gestürzt kam, ich führte sie hinunter - gleich darauf entstand der Feuerlärm durch das gnädige Fräulein.«
Der Landrath sah immer trostloser um sich her - seine Gattin war geblieben, sie wollte den Liebling doch nicht in Stich lassen und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.
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»Willst Du nicht wenigstens die Conradine entfernen, Hauptmann,« sagte sie erregt. »Jugend hat nicht Tugend - am Ende ist es nicht so schlimm - es findet sich ein Mann für die Dirne bei einer passenden Aussteuer!«
»Ich fürchte, es stellt sich mehr heraus, als Du denkst. Ich muß, so sehr es mir widersteht, das Mädchen selbst befragen. Laß die Lene kommen, Scholz, - oder - besser, sieh Du zu, Conradine, ob sie wirklich draußen ist.«
Das Edelfräulein, selbst tief erschüttert, öffnete die Thür und ging hinaus; gleich darauf kam sie zurück - sie führte das Mädchen an der Hand, das fest die Lippen aufeinander gepreßt hielt. Sie hatte Zeit gehabt, ihr auf dem Weg bis zur Thür zuzuflüstern: »Lene - habe Mitleid mit ihm - erinnere Dich, daß er mein Bruder ist!«
Ein finsterer, entschlossener Blick hatte ihr allein Antwort gegeben, so war das sonst so schüchterne, scheue Mädchen vor ihre Richter getreten.
»Lene,« ermahnte der Gutsherr mit schmerzlicher Bewegung - »es sind schlimme Dinge vorgekommen diese Nacht - sprich die Wahrheit ohne Scheu und Rücksicht. - Dein eigener Großvater beschuldigt Dich, - Dich betroffen zu haben, wie Du kurze Zeit vor dem Ausbruch des Feuers aus dem Zimmer meines Sohnes gekommen seist. Ist dem so?«
»Ja!«
Ein tiefes Stöhnen antwortete dem kurzen Geständniß, es kam von dem Fragenden selbst, zugleich ein hysterisches Auflachen von Seiten der Landräthin.
»Du hast - Du hast ein Verhältniß mit ihm?«
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»Ja - wir sind Liebesleute. - Ich liebe Ihren Sohn - wie meine Mutter geliebt hat meinen Vater!«
»Soll er Dich etwa auch heirathen, Dirne,« brach die Landräthin los. »Hast Du darauf spekulirt, Schlange - aber Du könntest Dich irren - mein Sohn - Dich!«
Es war zum ersten Mal, daß eine tiefe Röthe statt der bisherigen Blässe über das Gesicht des armen Mädchens flog bei dem verächtlichen Ausruf der Landräthin.
»Es wäre seine Pflicht gewesen - jetzt - mag ich Ihren Sohn nicht! Ich werde das Kind unter meinem Herzen ohne ihn ernähren! - Es giebt einen gerechten Gott - für die niederen, wie für die vornehmen Leute!«
»Still Mädchen!« sagte mit tiefem Ton der General. »Hauptmann - Du kennst Deine Pflicht!«
»Ich kenne sie, Vater, sie ist mir heute schon schwer genug geworden. Mädchen - hat Dir dieser junge Mann hier - die Ehe versprochen? Ja oder nein?«
»Ja! - wir liebten uns!«
»So wird er Dich heirathen!«
»Niemals - sie - eine Magd!« kreischte die Landräthin - »ich werde es nicht dulden!«
»Die Lene Gödulla war ein unbescholtenes Mädchen - ein Möllhoff hat noch niemals sein Wort gebrochen!«
Die Gestalt des Mädchens hatte sich kräftig in die Höhe gerichtet, sie schien förmlich zu wachsen.
»Sie meinen es gut mit mir, gnädiger Herr, aber ich glaube, Sie haben nicht gehört, was ich gesagt habe.«
»Was willst Du - ich denke, das ist Alles, was
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Du fordern kannst - selbst Dein Großvater wird damit zufrieden sein.«
»Ich habe der gnädigen Frau gesagt - daß ich Ihren Sohn nicht heirathe! - ich - mag ihn nicht!«
»Soll er die Dirne etwa noch bitten,« kreischte die Landräthin - »eine Magd? - Laß sie klagen, Hauptmann - sie soll haben, was ihr zukommt! aber jag' sie fort. Es ist ihr viel zu viel Ehre geschehn, daß ein Offizier, ein Herr von Möllhoff ...«
»Still, Franziska - wir können sie nicht zwingen, dem Kinde den Namen seines leichtsinnigen Vaters zu geben - aber sie soll nicht beleidigt, und es soll für sie gesorgt werden - so weit eben unsere Mittel noch reichen. Ich habe Dich nur Eines noch zu fragen, Mädchen - kannst Du mir Auskunft geben, ob in Folge dieser unglücklichen Zusammenkunft, und wie dieser Brand entstanden ist?«
»Ja!«
Aller Augen wandten sich wieder mit einer gewissen Angst auf das Mädchen.
»So sprich - es ist kein Zweifel mehr, - daß ein unglücklicher Zufall ...[«]
»Nein!«
»Nun -? - um Himmelswillen rede - was war's?«
Eine kurze Pause - ihr Auge lag einen Moment lang auf dem vernichteten Offizier - dann sagte sie entschlossen hart: »Ich selbst war's - ich warf das Licht in den Vorhang, - diese Hand - damit er in seiner Wortbrüchigkeit verbrennen möge!«
»Lene!« Es war ein allgemeiner Aufschrei, der diesem Geständniß folgte.
»Ich selbst! - kann ich jetzt gehen - oder - wollen Sie mich dem Gericht übergeben? - thun Sie es!«
»Natürlich,« rief die Landräthin - »sie soll ihren Lohn haben!«
»Halt!«
Wieder war es das Kommando des alten Generals, das Alle fesselte.
»Schließ die Thür Scholz, daß wir nicht gestört werden!«
Mechanisch ging der alte Reitknecht zur Thür, schloß sie ab und drehte den Schlüssel im Schlüsselloch.
»Lieutenant Conrad von Möllhoff, komm hierher!«
Der junge Offizier bleich, schwankend, schritt auf den Greis zu und blieb vor ihm stehen. Seine Schwester war neben ihn getreten, - als sie an der jungen Sünderin vorüberging, hatte sie ihr die Hand gereicht.
»Was willst Du noch, Großvater?«
»Du bist ein Möllhoff!«
»Ja!«
»Und warst es bisher mit Ehren ...«
»Nein Großvater!«
»Was - was sprichst Du!«
»Frage nachher Victor - er mag Dir's sagen! - was willst Du wissen?«
»Hat das Mädchen, die Lene - die Wahrheit gesprochen ... in Betreff der Entstehung des Feuers?« -
»Nein Großvater!«
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Das Mädchen schrie auf. »Glauben Sie ihm nicht, - ich that's!«
»Nein Lene - Du sollst die Schuld nicht auf Dich nehmen! - Mein Leichtsinn - meine Achtlosigkeit hat den Brand entzündet, freilich ohne Absicht - so wahr ich ein Möllhoff bin!«
»Ich danke Euch Beiden! - Nun Frau Tochter - ist die Lene in Ihren Augen auch jetzt noch eine ehrlose Dirne, auch - wenn sie einen Fehltritt begangen hat?«
Die Landräthin schwieg - ihr Gatte war dazwischen getreten, »Gott sei Dank - wir brauchen weder das Mädchen noch den Sohn deshalb anzuklagen, denn - ich hätte niemals geglaubt, daß ich Gott dafür dankbar sein würde - unser Hab und Gut ist verloren, aber uns verloren - ich habe kein Recht an die Versicherung.«
»Mann - um Gotteswillen - sprich nicht so!«
»Es ist dennoch der Fall,« sagte der Landrath, der sich tief erschüttert gesetzt hatte. »Ich habe die Erneuerung der Versicherung wegen vieler Ausgaben versäumt, - zwar nur um wenige Tage, - aber gleichviel, der Name Möllhoff ist unbefleckt geblieben.«
»Armer Vater!« Es war das einzige Bedauern, das der ältere Sohn hören ließ, nur die Landräthin wehklagte, Scholz hatte Takt genug gehabt, seine Enkelin hinauszuführen - ja er brachte sie selbst bis zu ihrer Mutter zurück. »Du wirst von mir hören!«
Als die Familie allein war sagte der Landrath: »Es läßt sich nicht ändern - es ist ein Unglück, das getragen werden muß. Du Victor verlierst am Meisten, denn das
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Erbe Deiner Mutter war auf das Haus und die Gebäude eingetragen - und ich kann Dir Nichts dafür bieten, bis uns wieder bessere Zeiten kommen. Conrad - Du wirst Dich zur Infanterie versetzen lassen müssen, den Zuschuß kann ich Dir für die Kavallerie nicht mehr geben - Viktor weiß mit seiner Gage nöthigenfalls auszukommen - aber Du ...«
Der Premierlieutenant war zu seinem Vater getreten. »Ich muß leider Deine Kümmernisse noch vermehren,« sagte er - »so schmerzlich es mir wird. Es ist nöthig, daß Conrad überhaupt um seinen Abschied bittet.«
Der Landrath starrte ihn erschrocken an. »Guter Gott - lege mir nicht mehr auf, als ich tragen kann!«
Die Landräthin hatte wie außer sich den Arm des Stiefsohns umfaßt - »Mensch - was willst Du von meinem Sohn? ...«
»Ruhe - Fassung. Ich hätte es gern verschwiegen, und die Sache selbst geordnet, aber unter den obwaltenden Umständen ist es nicht möglich. Conrad ist hierhergekommen, weil er sich wieder verleiten ließ, Schulden zu machen - Wechsel auszustellen, die gedeckt werden müssen. Er ist bei seinem Regimentskommandeur deshalb verklagt worden, und dieser hat ihm die Alternative gestellt, sofort für die Bezahlung Sorge zu tragen oder den Abschied zu fordern. Indem ich mit dem Verkauf meines ›Pluto‹ Dich unterstützte, hoffte ich, daß wir die Wechsel decken könnten, selbst noch bei dem Unglück - aber Deine Mittheilung, daß die Prämie verloren ist - macht es fast unmöglich - dennoch dürfen wir den Kopf nicht verlieren.«
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»Wie hoch ist die Summe?«
»Viertausend Thaler - Conrad war leider in die Hände von Spielern und Wucherern gerathen!«
»Viertausend Thaler! Es ist unmöglich, sie aufzubringen!«
»Dennoch muß wenigstens der eine Wechsel von tausend Thalern auf das Schleunigste gedeckt werden - und hier - das Telegramm, das Du mir brachtest, ist vom Grafen Gaschin - er hat den ›Pluto‹ gekauft und bittet mich, sofort das Geld auf seinen Bankier in Breslau zu ziehen. So ist dem Schlimmsten vorgebeugt, denn -«
»Sprich - keine Verheimlichung mehr!«
»Der Name Möllhoff wäre sonst compromittirt - der Unbesonnene hat den Wechsel als Rittmeister von Möllhoff ausgestellt, was - ich noch nicht bin!«
»Bube!«
»Nein, Vater - nenn ihn nicht so - es ist ein leichtsinniger Streich, dessen Folgen Conrad nicht voraussehen konnte. Es trifft uns nur viel Unglück zusammen; - sobald ich für den ›Pluto‹ gezogen habe, will ich selbst nach Berlin und wenigstens Frist für die nächsten zweitausend Thaler zu erhalten suchen, bis wir die nöthige Ruhe gewonnen, um auf irgend eine andere Weise Rath zu schaffen.«
Das Edelfräulein war zu Vater und Bruder getreten. »Das ist unnöthig - hier ist das Geld! Sieh nach - zweitausend Thaler!«
»Conradine! - wie kommst Du zu dem Geld?«
»Es ist ehrlich erworbenes Geld - keine Schuld
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daran, die ich nicht tilgen kann, Vater - so wahr ich eine Möllhoff bin - gönne auch mir den Stolz - fragt jetzt nicht, sondern handelt - auf mein Wort, Du sollst noch heute Aufklärung haben.«
Die Landräthin hatte sich auf das Couvert gestürzt, und die vier Banknoten zu 500 Thaler herausgezogen. - »Gott sei Dank - Conrad ist gerettet, es sind wahrhaftig volle zweitausend Thaler. - Conradine, Mädchen - könntest Du wirklich so viel von der Wirthschaftskasse die Jahre her erspart haben, ohne daß ich's weiß? - oder kommt es vom General, dessen Kassirerin Du ja bist!«
Der Blinde lachte bitter und spöttisch. »Täuschen Sie sich nicht, Frau Tochter - bei Ihren Ausgaben spart man nicht zweitausend Thaler vom Wirthschaftsgeld - Sie und Ihr Liebling dort haben dafür gesorgt! Komm her Conradine - Du bist ein braves Mädchen, und sie mögen das Geld ohne Besorgniß nehmen, ohne Dich mit Fragen zu behelligen, bis Du selbst zu reden für passend findest. Ich, der General von Möllhoff bürge dafür - und Dina hat Recht, das Nöthigste ist jetzt, zu handeln.«
»Du sprichst wahr, Vater - Conrad setz' Dich dort an den Tisch und schreibe Dein Abschiedsgesuch - ich werde es noch diesen Abend befördern.«
»Wie - Conrad sollte den Abschied nehmen - jetzt, wo die sichere Aussicht da ist, Alles doch noch zu ordnen! - Aber das wäre Thorheit -«
»Der Hauptmann hat Recht,« sagte der General mit bestimmtem Ton. - »Der Bursche ist nicht ohne guten Fond, aber Thorheit wäre es, ihn weiter wirthschaften zu
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lassen, ohne daß seine Besserung erprobt ist. Er nimmt den Abschied, dabei bleibt es, und da er Nichts weiter gelernt hat, als Soldat zu sein, so möge er als solcher Gott den Herrn einige Jahre erkennen lernen. Krieg giebt's immer in der Welt, ich werde durch Dina Excellenz Wrangel um eine Empfehlung bitten an den Kaiser von Rußland, im Kaukasus brauchen sie immer Soldaten, - wenn er nicht etwa vorzieht, nach Amerika zu gehn und sich für oder gegen die Yankees zu schlagen - einen ehrlichen Namen wenigstens kann er durch Bruder und Schwester mitnehmen. Laß ihn das Gesuch schreiben, Hauptmann!«
Der Lieutenant hatte sich mit keinem Worte des Befehls geweigert - er wußte sehr gut, daß willenloser Gehorsam seine einzige Rettung war. Nur die Landräthin konnte sich nicht zufrieden geben und weinte fort, bis man einen Wagen vor dem Schulhaus vorfahren und halten hörte. Sie glaubte, es sei irgend noch ein Condolenzbesuch und trocknete schnell ihre Thränen. Eine geborne Gräfin durfte sich nicht also betreffen lassen.
Scholz trat wieder ein. »Sind der Herr Hauptmann zu sprechen? Herr Hancke bittet um die Erlaubniß.«
»Welcher?«
»Beide, Vater und Sohn!«
»Wir ließen bitten - es ist zwar in diesem Augenblick nicht grade erwünscht, - aber - es hilft Nichts!«
Der alte Diener hatte bereits die Thür geöffnet, der Fabrikbesitzer und sein Sohn traten ein - der Letztere
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begrüßte ehrerbietig die Landräthin, der Alte nahm mit Achtung die Hand, die ihm der Gutsherr bot.
»Verzeihen Sie Herr Hauptmann, daß ich Sie noch störe, aber ich komme eben erst aus der Stadt, und da Ihre Damen noch nicht wieder zurückgekehrt waren, dachte ich mir, daß wir sie gleich wieder mit uns nehmen könnten, - es ist Platz genug im Wagen für sie und den Herrn General, wenn er uns die Ehre für den Abend erzeigen will. Wir Männer können den kurzen Weg hinterdrein gehen.«
»Ich fürchte, das Letztere werden wir uns versagen müssen. Sie können wohl denken, daß so kurz nach dem Unglück - viele Geschäfte zu erledigen oder wenigstens zu besprechen sind.«
»Eben wegen der Geschäfte komme ich, ich habe mit Ihnen über Geschäfte zu reden, Herr Landrath!«
»So bald schon? - sollten Sie nicht meinen ...«
»So bald als möglich! Habe die Schecken deshalb die zwei Meilen von der Stadt im vollen Trabe machen lassen. Sie wissen, ich bin ein schlichter Mann und liebe es, Geschäfte kurz abzumachen, bin ich doch in meiner Jugend auch Soldat gewesen, wenn auch nicht lange.« Er legte mit einem gewissen Stolz die Hand auf das Eiserne Kreuz. - »Kurz heraus, Herr Landrath, und halten Sie mich nicht für aufdringlich und neugierig. Ich habe in der Stadt gehört, und mich gleich darüber bei Breslauer befragt, der ja die englische General-Agentur hat. Ist es wahr, daß Gebäude und Ernte nicht versichert sind, - daß die Gesellschaft keine Prämie zu zahlen braucht?«
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Der schon so viel gequälte Edelmann strich sich finster über die Falten der sorgenvollen Stirn. »So ist es also schon in der Stadt bekannt?«
»Können doch denken, daß der Breslauer nicht geschwiegen hat; - nachdem Herr Landrath weggefahren, hat er davon erzählt, - er sagt, die Gesellschaft habe keinerlei Verpflichtung.«
Der Hauptmann biß sich auf die Lippen. »Wenn es denn schon bekannt ist - im Publikum! warum sollte ich schweigen. Die Versicherung ist allerdings durch einen unglücklichen Zufall nicht rechtzeitig erneuert worden - mit einem Wort Herr Hancke - ich bin außer an Grund und Boden augenblicklich ruinirt, und wenn Ihre Geschäfte sich darauf beziehen ...«
»Gewiß beziehen Sie sich darauf - und was den Ruin betrifft, so reden Sie nicht solches Zeug. Wenn man so guten Grund und Boden besitzt und so tüchtige Wasserkräfte wie Sie, ist man niemals ruinirt, es mag die englische Gesellschaft auch noch so engherzig und schuftig handeln!«
»Aber - ich habe nicht die Mittel, wieder zu bauen ...«
»Eben deshalb komme ich - habe mich rasch entschlossen - ist freilich ein harter Verlust, schon durch die verlorene Ernte. Aber die Edelleute sind nun einmal nicht regulaire Geschäftsleute und können sich in dieser Beziehung nicht an Ordnung und Pünktlichkeit gewöhnen, wie ein Kaufmann oder Fabrikant. Der Gutshof muß gebaut werden - und zwar so rasch als möglich - aber - an anderer Stelle!«
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»Herr Hancke ...«
»Kann Ihnen doch unmöglich so viel an der alten Baracke gelegen haben, Herr Landrath, haben selbst mehr als einmal mit mir über das Unvortheilhafte derselben gesprochen. Kurz und gut Herr Landrath, ich habe bereits mit meinem Sohne darüber geredet, und er ist ganz meiner Ansicht - wenn Sie sich entschließen könnten, Schloß und Stallungen etwas näher an das Wasser zu legen, und mit einem Papiermüller ein gemeinschaftliches Fabrikunternehmen anzulegen, eine Holzschneidemühle, Holz genug zur Verwerthung ist auf dem Gut und Wasserkraft auch - so ließe sich das Unglück ertragen und in einigen Jahren redressiren. Geld zum Bau - für Gutshof wie Fabrik habe ich - für vierzigtausend Thaler baar ist der alte Hancke gut, wenn er auch nur ein Papiermüller ist - das nöthige Genie hat der Ernst!«
»Herr Hancke - Sie wissen doch, daß Grund und Boden mit zwei Dritttheil ihres Werths in der Landschaft belastet sind - ich kann Ihnen also keine Hypothek mehr geben.«
»Brauche sie auch nicht - weiß, daß das Gut bei verständiger Benutzung in Verein mit richtiger Industrie, keinem Schwindel - weit mehr werth ist, als die Pfandbriefe - und hier - habe gleich einstweilen zehntausend Thaler in guten Papieren flüssig gemacht und mitgebracht, damit Sie morgen den Bau beginnen können von Schloß und Wirthschaftsgebäuden, der Plan zur Fabrik braucht nur erweitert zu werden. Bis der Bau beendet, müssen Sie freilich in der Stadt wohnen, oder bei mir. Will
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mich schon bemühen, es Ihnen Allen angenehm zu machen, auch dem Herrn General! Bitte nehmen sie einstweilen das Geld, - braucht keinen Schein unter uns! - mein Vater seelig war schon Ihr Gutsangehöriger mit alter Erbunterthänigkeit - was wir erworben, haben wir auf Grund und Boden der Herrn von Möllhoff erworben, und wenn auch die Zeit und der König uns frei und selbstständig gemacht haben: die Herrn von Möllhoff bleiben unsere Gutsherrn.«
Der Papiermüller hielt noch immer das Packet mit dem Geld dem Edelmann hin. Der General hatte sich halb aufgerichtet auf dem Lehnstuhl, der aus dem Brande mit einigen andern Möbeln gerettet war, - der Hauptmann stand wie erstarrt vor dem schlichten Mann und zwei Thränen rollten ihm über die Wangen, neben ihm stand der Premierlieutenant und hielt seine Hand. »Vater - ich glaube, ein solches Anerbieten darfst Du getrost annehmen - statt der Eisenbahn! Die Zeit ist eine andere, als damals - als nur Schwert und Pflug galten.«
Der Hauptmann wandte sich zurück nach dem alten General. »Und Du, Vater?«
»Darfst es! Möllhoff bleibt deshalb Möllhoff!«
»Und darfst es um so mehr, Vater,« sagte die klare Stimme des Edelfräuleins - »als auch die Fabrik in der Familie bleibt. Sie haben einen Irrthum begangen, Herr Hancke, Sie sprachen von zehntausend Thalern - Sie haben zweitausend vergessen, die mein Verlobter, Ihr Sohn, mir gestern Abend schon als Brautgeschenk gab, - und Conradine von Möllhoff nahm sie an und hat
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sogar über das Geld bereits verfügt! - Großvater,« - sie hatte die Hand des jungen Fabrikanten ergriffen und zog ihn zu dem Greise - »Du wirst eine Möllhoff nicht wortbrüchig machen, die Dich lieben und pflegen wird, auch wenn sie einen bürgerlichen Namen führt. Gieb Deinen Segen, Großvater, das ist's, was ich zu bitten hatte!«
Der alte Herr schwieg einige Minuten ganz still, es schien ein gewaltiger Kampf in ihm vorzugehen - der Kampf mit seinen alten Vorurtheilen. Dann sagte er: »Hast Recht gehabt, Victor. Die Zeit ist eine andere geworden, - auch andere Kräfte gelten, als Schwert und Pflug. Meinen Segen hast Du, Kind und wenn Dein Ernst auch nicht von Adel ist, - aus wackerm Blut und ein Soldatensohn ist er dennoch, der in seiner Fabrik doch wohl auch ein Plätzchen für mich und den Scholze übrig haben wird! Geh zu Deinem Vater, Dina, er allein hat die Entscheidung!«
»Ich muß doch recht sehr bitten,« sagte die Landräthin - »es ist unsere einzige Tochter - aber vielleicht ließe es sich machen, - unsere Familie hat Verbindungen bei Hofe ...«
»Und er könnte sich adeln lassen, Frau Tochter, das ist doch, was Sie meinen,« sagte spöttisch der General. »Blücher und Ziethen! - keinen Fuß wollt ich in Dein Haus setzen, Dina, wenn Dein Mann ein Wappen sich anderswo holte, als auf dem Schlachtfelde, und an Gelegenheit dazu wird's nicht fehlen - bis dahin ist mir ehrliches Bürgerblut lieber wie adeliger Schwindel! Nimm
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meine Hand, Ernst, und bleibe dabei, adelig zu denken, so bist Du so gut wie ein geborener Edelmann.«
Der Landrath fühlte, daß es an ihm sei, durch seine Entscheidung auf die Erklärung Conradinens zu antworten. Sein Entschluß war längst gefaßt. Er reichte dem alten Fabrikanten die Hand.
»Ich habe Sie um einen Dienst zu bitten, lieber Compagnon!«
Das eine Wort machte viele frohe und glückliche Gesichter. Das Auge des alten Papiermüllers funkelte. »Ueberlegen Sie es wohl, Herr Landrath - so groß die Ehre für mich und meinen Sohn ist, - das eben Geschehene darf keinen Einfluß auf unser Geschäft haben! - für den alten Hancke bleiben Sie immer nur der Herr von Möllhoff - und das Schicksal unserer Kinder mögen Sie selber gestalten.«
»So ist es entschieden und möge es für Beide ein glückliches sein, das ist allein wofür wir Beide zu sorgen haben. Wenn Fabrik und Schloß ihr Richtfest nach altem Handwerksbrauch feiern, wird der junge Herr hoffentlich, was er bis jetzt nicht gethan, beim Hauptmann von Möllhoff um die Hand seiner Tochter angehalten haben und willkommen geheißen sein. Einstweilen ...«
Er konnte nicht weiter sprechen, Conradine und der Erwählte ihres Herzens hatten jedes seine Hand gefaßt und jubelnd sie an die Lippen gedrückt, während Victor und der Papiermüller ihm die ihren entgegenstreckten.
»Einstweilen,« fuhr der Landrath ruhig fort - »muß er auf den Verlobungsabend verzichten, und Victor noch
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diese Nacht mit dem Schnellzug nach Berlin begleiten, um den Adel seiner Braut dort wieder makellos machen zu helfen. Wenn Beide zurück sind, holen wir die Verlobung nach. Diktire Deinen Brief an den Feldmarschall, Vater, indeß ich Conrads Abschiedsgesuch an seinen Obersten couvertire und einstweilen um Verlängerung des Urlaubs für ihn bitte, den man in Betracht der Umstände ihm nicht verweigern wird!«
Die künftige Braut ging zu dem alten Scholze und faßte seine Hand. »Wo der Frieden und das Glück der Zukunft so wunderbar eingekehrt sind,« sagte sie, »darfst auch Du eine Freude mir nicht versagen: Nachsicht und Versöhnung. Die Lene geht mit mir und soll gehalten werden, wie eine Schwester. Geh zu ihr Scholze und bring ihr selbst ein gutes Wort.«
Der alte Diener war bewegt. Aber als er zu der Wohnung der Tochter in's Dorf ging, seine Enkelin dort aufzusuchen, fand er sie nicht. Die Wittwe konnte ihm nur sagen, daß das Mädchen zwar vor Kurzem zu ihr zurückgekehrt war, sich unter allerlei Vorwänden den letzten Brief hatte geben lassen, den sie selbst von ihrem verlornen Gatten noch bewahrt, sie zärtlich geküßt hatte, und dann nach einem kurzem Verweilen in der Kammer, die sie bezogen, mit einem kleinem Bündel wieder davongegangen war, wie sie gemeint hatte, zum alten General und ihrer Herrin zurück.
Dahin eilte auch jetzt betroffen der alte Reitknecht und die Erzählung, die er machte, war der bittere Tropfen, der sich in den Frieden Aller mischte, denn das Mädchen kehrte
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auch während der Nacht nicht zurück und blieb trotz der eifrigsten Nachforschungen verschwunden, die sich selbst auf die Spur eines Selbstmordes ausdehnten. Nur der Umstand, daß das Mädchen so eifrig den Brief ihres verschwundenen Vaters verlangt und mit sich genommen hatte, sprach gegen eine solche That. Der alte Reitknecht aber, als Woche auf Woche verging, ohne daß man von seiner Enkelin vernahm, wurde noch starrer und wortkarger, als er sonst gewesen war, und schien dem Jammer der eigenen Tochter gegenüber sich tiefe Vorwürfe über seine Härte zu machen, die selbst die Tröstung des alten Generals nicht zu heben vermochte. Der Name der Enkelin kam nicht über seine Lippen und er schüttelte nur finster den Kopf, wenn die Andern ihn erwähnten.
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Compiegne.


Siebenzehn Lieues von Paris an der Nordbahn liegt die alte Königsstadt Compiegne, vielgenannt in der französischen Geschichte der älteren und neuen Zeit.
Sie ist unregelmäßig gebaut wie meist die alten Städte und zählt gegenwärtig noch 9000 Einwohner, deren Handelsverkehr auf der hier sich verbindenden Aisne und Oise früher, ehe die innern Unruhen ihn zerstörten, nicht unbedeutend war.
Aelter als die Stadt selbst mit ihrem aus dem 14. Jahrhundert stammenden gothischen Bau des Rathhauses war die Burg, an die sie sich lehnte, das Palatium des Heiligen Ludwig, ursprünglich schon von Chlodwig erbaut und häufig von Fredegunde, der mordsüchtigen Gemahlin Chilperichs im sechsten Jahrhundert - später von Pipin und Karl dem Großen bewohnt.
Bei der Belagerung dieser Burg war es, daß die Jungfrau von Orleans in die Hände der Engländer fiel, die ihr in Rouen auf dem Scheiterhaufen den Märtyrertod bereiteten.
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Franz I., als er aus der spanischen Gefangenschaft zurückkam, begann ihre Erweiterung und die Umwandlung des großen an die Burg stoßenden prächtigen Waldes zum Park, des größten aller Königlichen Schlösser in Frankreich, durch die Anlage des Brunnens und Platzes in der Mitte desselben, wo die acht Hauptstraßen sich kreuzen. Als Heinrich IV. Paris belagerte, ließ er seine Geliebte hier wohnen, Ludwig XIII. seine Schwester Henriette mit dem unglücklichen Karl I. von England vermählen. Später residirte Christine von Schweden hier, als sie zum ersten Mal nach Frankreich kam. Auf derselben Stelle, wo früher die alte Burg, das Palatium, stand, begann Ludwig XIV. 1708 den prächtigen Neubau des heutigen Schlosses, nachdem der Palast zu den glänzenden Festen, die er nach der verrätherischen Usurpation von Elsaß und Lothringen bei Gelegenheit des Lustlagers von 1698 der Maintenon gab, zu klein befunden worden.
Ludwig XV. und selbst Ludwig XVI. setzten den Bau fort, bis die große Revolution dazwischen kam und zuerst ein Militairhospital, dann eine Schule der schönen Künste daraus machte.
Hier wurde die unglückliche Königin Marie Antoinette von Gatten und Schwiegervater empfangen und hielt ihre Flitterwochen.
Auch die dritte Oestreicherin in der französischen Königsgeschichte Marie Louise fand hier ihren Empfang. Napoleon, der große Schlachtenkaiser, hatte zwischen seinen Kriegen Zeit gefunden, das Schloß zu vollenden, erwartete hier seine junge Vermählte und hatte die Galanterie so weit
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getrieben, die Zimmer der jungen Kaiserin ganz nach den ihren in Schönbrunn einrichten zu lassen, und die Prachträume mit zahlreichen Kunstwerken ausgestattet.
In der von ihm erbauten Grande Galérie des Batailles, deren von 20 Marmorsäulen getragene Decke in vortrefflichen Malereien von Girodet noch heute allegorisch seine Schlachten zeigt, kam 1814 der zurückgekehrte Ludwig XVIII. mit Kaiser Alexander zusammen.
Der Bürgerkönig, der seinen Nachfolger verdrängte, feierte hier die Hochzeit seiner ältesten Tochter mit dem König des neu geschaffenen Belgien.
Und hierher hatte jetzt der dritte Napoleon den neuen König von Preußen eingeladen, als er sich vergewissert, daß dieser seinen Besuch in Baden-Baden erwiedern werde.
Diese Zusage hatte nicht allein in den diplomatischen, sondern auch in den Kreisen der vornehmen Welt das größte Aufsehen erregt, da Compiegne von der Kaiserin Eugenie zu den Jagdsaisons und zur etappenweisen Einladung der Gesellschaft von Paris in der Diplomatie, Politik, Mode und Kunst eingerichtet worden war, und schon lange vor dem Tage der Ankunft des Königs von Preußen, der dem Besuch des Königs von Schweden folgen sollte, war kein Unterkommen mehr in Compiegne zu finden, so hatte die Neugier und Schaulust der Pariser alle Quartiere in Beschlag genommen. Alle Welt schob diesem Besuch eine große politische Bedeutung unter, und die speculativ erscheinende Brochüre ›Rhein und Weichsel‹ galt weniger als Manifest des polnischen Revolutions-Comité's, denn als inspirirt vom Kaiser selbst,
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da ja die dreiste Ankündigung derselben in der Kölnischen Zeitung dies glauben machte.
Auch der ›Constitutionel‹ und die Stimme des französischen Publikums bezeichneten die Zusammenkunft als von hoher politischer Wichtigkeit, während ein großer Theil der preußischen Presse sie nur als Courtoisie-Besuch darzustellen suchte. Jedenfalls ließ sich die besondere Bedeutung nicht leugnen, welche ein Besuch des neuen Königs von Preußen bei dem Kaiser Louis Napoleon haben mußte. -
Im Laufe des 5. Oktober war bereits der französische Hof, der bisher meist in St. Cloud verweilt hatte, mit dem größten Theil der zu den Festlichkeiten Geladenen in Compiegne eingetroffen, und hatte das Palais bezogen. Nur ein Theil der Minister, und kein Mitglied des diplomatischen Corps, mit Ausnahme der preußischen Gesandtschaft natürlich, befand sich unter den vom Kaiser geladenen Gästen. -
Es war am Abend des Tages, Sonnabend, und das Wetter überaus schön und mild noch, als auf der großen Terrasse vor dem Palais und in den von ihr ausgehenden Alleen durch den Park sich viele Gruppen schaulustigen Publikums versammelt hatten, theils um die kaiserliche Familie, theils um die Anstalten für den Empfang des königlichen Gastes am nächsten Tage zu sehen.
Ein Mann in der Hausuniform der kaiserlichen Adjutanten schritt hastig durch den großen an 3000 Fuß langen Gang, der durch eiserne Gitter überwölbt, mit Laub bedeckt ist und einen schattigen Weg vom Schloß nach dem Park bildet, welcher letztere sich unmittelbar an
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den herrlichen, wohl über 56,000 Morgen großen, meist mit Laubholz, Eichen und Rüstern bestandenen Wald anschließt.
»He - Boulbon, nicht so eilig!«
Der junge Offizier blieb stehen. »Das ist Henry's Stimme, oder mich soll ...«
»Nun, was denn, vortrefflichster aller Günstlinge, der Du ehemalige Freunde im Malheur nicht mehr zu kennen scheinst!«
»Wahrhaftig,« lachte der junge Graf, »an Dir wird das Wort zur Wahrheit, daß die Leichtsinnigsten stets das meiste Glück haben und immer wieder beim Fallen auf die Beine zu stehen kommen. Es that mir leid, daß ich bei Deiner Ankunft in Paris nach der unsinnigen Wüsten- und Nilfahrt nicht zu Hause war, doch Du wirst von Bonifaz gehört haben, daß ich im Dienst nach Chalons geschickt wurde. Aber es versteht sich, daß ich Deine Wünsche nach meiner Rückkehr auf das Eiligste erfüllte, Dich möglichst nach allen Seiten entschuldigt und Dein Billet an Madame la Duchesse sofort selbst übergeben habe.«
»Und eben in Folge dessen siehst Du mich hier. Parbleu, man muß immer seine kleinen Gönnerschaften haben, und es war nicht zu viel, daß die Herzogin sich ihres leichtsinnigen Vetters erinnert und so lange bei der Kaiserin für mich petitionirt hat, bis die Ungnade aufgehoben wurde, die wie Du siehst, ohnehin nicht lange gedauert hat, denn am 30. August, drei Tage nach meiner Ankunft in Paris und dem Besuch bei Dir, schickte mich Seine Excellenz der gestrenge Herr Kriegsminister auf die Festung,
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und vorgestern schon bekam ich meine Begnadigung in Peronne, nur daß ich vorläufig zu einem Linien-Regiment versetzt bin, - ich, ein eleganter Husar, - das wahrscheinlich zum Expeditionscorps nach Mexiko bestimmt ist. Du siehst, Allerbester, daß ich keine Zeit verliere, die Tour um die Welt zu machen!«
»Du - nach Mexiko?«
»Wie Du eben gehört hast - man steckte es mir unter der Hand, und es soll wahrscheinlich eine kleine Strafe sein für den allerdings etwas willkürlichen Streich an der Adula Bai. Der Teufel konnte auch wissen, daß meine Odysseusfahrt so lange dauern würde. Vorläufig brauche ich erst in vier Wochen beim Regiment zu sein, Madame la Duchesse hat mir bis dahin Urlaub erwirkt, wahrscheinlich um mir Zeit und Muße zu geben, ihr meine Abenteuer mit Verstand erzählen zu können - à propos - die Herzogin ist doch hier? denn ich komme direkt von Peronne, mich bei ihr zu bedanken, und habe nicht einmal in Paris verweilt, hoffe also von Dir alle Neuigkeiten in Empfang zu nehmen.«
»Nein - die Herzogin hat den Dienst nicht in diesem Monat. Aber ich zweifle nicht, daß Du sie unter der Gesellschaft in der Stadt sehen wirst. Denn halb Paris ist, wenn nicht officiell, doch officiös hier!«
»Desto besser, dann hat sie mehr Zeit für mich.«
»Aber ich selbst weiß noch kaum, wie und auf welchem Wege Du zurückgekehrt bist?«
»Nun, daß ich glücklich in Cairo eintraf, nachdem ich wenigstens mein Ziel erreicht hatte, am Nil mit Lord
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Walpole Kugeln und einige Säbelhiebe in Gesellschaft zu wechseln, weißt Du. Der Bericht unseres Generalconsuls in Alexandrien, daß ich glücklich wieder zum Vorschein gekommen, ging mir ja voraus. Es war brav von Euch, daß Ihr mir wenigstens eine Krankheit auf den Hals gelogen hattet, obschon der Minister nicht recht an die verspätete Genesung zu glauben schien.«
»Die Entschuldigung hat Dir wenigstens nicht geschadet und die Handhabe zu Deiner Begnadigung gegeben. Aber Du bist mir noch die Antwort schuldig.«
»Parbleu - ich konnte doch keine Lust haben, mit meinem ehemaligen Gegner und Rivalen über Malta mich einzuschiffen, und so nahm ich das Anerbieten seines Vetters, des Conde Lerida, eines verteufelten Spaniers und Don Juans an, uns auf seiner Dampfyacht, - denn Du mußt wissen, daß wir auch den Grafen Saint Bris, einen Legitimisten aus Gaëta mitbrachten, - überzusetzen, hatte unterwegs ein kleines Abenteuer im Golf von Tarent, lernte in Roccabruna, dem Schloß des Conde, in aller Eile noch eine geheimnißvolle Spanierin kennen, und hielt dann über den Mont Cenis wieder meinen Einzug in Frankreich. Aber nun beichte - weißt Du Etwas von meiner russischen Cousine und unseren damaligen Reisegefährten, oder ist sie bereits glücklich mit Lord Walpole nach England auf und davon gegangen, wie es fast den Anschein hatte?«
»Du meinst die Fürstin Wéra Wolchonski?«
»Versteht sich - die Smaragdenfee, die mich verhexte und hinter sich drein in beiläufig sehr schlechter Gesellschaft durch die ganze nubische Wüste schleppte.«
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»Du mußt mir bei Gelegenheit das ausführlich erzählen. Aber die Fürstin Wéra ist in Paris, wenn auch noch nicht in der Gesellschaft eingeführt, denn sie widmet wie ich höre, einstweilen alle Zeit verschiedenen Studien, um ihre in Sibirien etwas zurückgebliebene Ausbildung während des Winters zu vollenden. Alle Welt aber fabelt von ihr das Wunderbarste und es sollte mich nicht wundern, wenn Du sie hier in Compiegne träfest; denn - Du hast ja die beste Gelegenheit, Näheres über sie zu erfahren.«
»Wieso?«
»Da Deine Beschützerin und Verwandte, die Herzogin von Rochambeau ja auch die Patronesse der jungen Fürstin geworden ist.«
»Mordi - daran dachte ich nicht - sie ist ja eben so nahe verwandt wie ich.«
»Eben deshalb! Aber nun ...«
»Halt, - ich sehe Du hast Eile, aber eine Frage noch! Was weißt Du von Lord Walpole?«
»Nun, er ist ebenfalls in Paris - war nur sehr kurze Zeit in England, und will sich, wie ich hörte, hier der englischen Gesandtschaft attachiren lassen.«
»Hol' sie Alle der Henker, die Puddingfresser, die überall ihre Finger haben müssen. Ich glaube gelesen zu haben, daß wir augenblicklich nicht besonders gut mit ihnen stehen.«
»So scheint es. Die Milizmanöver in England, so komisch diese Nationalgarde auch ist, - die Rüstungen für die Flotte, - die unklare Haltung gegenüber dem amerikanischen Krieg, - die Intriguen in Italien und
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Griechenland, die neusten Angriffe der Times wegen des morgenden Königsbesuchs aus Deutschland haben Verstimmung erregt - aber nun lebe wohl, ich muß Dich wegen eines Dienstauftrages verlassen. Nach dem Besuch des Königs wirst Du mich hoffentlich stets in meiner Wohnung finden!«
»So Adieu für heute - ich sehe, daß ich genug zu thun haben werde, um mich au fait zu setzen. Hast Du keine Einladungen zu vergeben, da Du doch jetzt protegiren kannst?«
»Das Einzige, womit ich Dir dienen kann, ist eine Karte für die Offiziere der Garnison!«
»Welche haben den Dienst?«
»Eine Compagnie Zuaven und eine Abtheilung der Guiden. Hier - nimm und handle vernünftig!«
»Adieu, Hofmeister! Seit Du Familienvater geworden bist, wie ich Dir aus Alessandrien schrieb, scheint Nichts mit Dir anzufangen!«
Der Husarenlieutenant trennte sich lachend von dem Freunde, der, um dem Weiteren zu entkommen, hastig nach dem Park vorwärts schritt. Am Ausgang der großen Allee wandte er sich links, und ging im Dunkel bis zur dritten Bildsäule am Beginn des Parks, einer Statue der Flora.
Am Fuß derselben lehnte ein Mann, trotz des warmen Abends in einen leichten Sommermantel gehüllt.
»Mein Herr, sind Sie Derjenige, welcher diesen Morgen das Schreiben an Se. Majestät den Kaiser: unterzeichnet ›Palikao‹ gerichtet hat?«
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»Ich bin es!«
Die Stimme war klar, etwas scharf, der Accent der Worte ebenso.
»Dann habe ich den Auftrag Sie zu Seiner Majestät zu führen, doch kann er Ihnen nur eine halbe Stunde widmen, Seine Majestät sind sehr beschäftigt.« -
»Ich werde mich bescheiden.«
»Bitte - hierher. Ich habe den Befehl, Sie durch den zweiten Flügel zu ihm zu geleiten - und ...«
Der Fremde sah ihn fragend an, dann sagte er:
»Wenn es nöthig sein sollte, da ich Seiner Majestät unbekannt und ein Fremdling bin, mich untersuchen zu lassen, daß ich keine Waffen bei mir führe, so bitte ich, sich nicht geniren zu wollen.«
»Ich habe keine Befehle, Ihre Versicherung zu beanstanden. Gehen wir also weiter.«
Sie setzten ihren Weg fort - der Graf führte den Fremden, dessen Stimme ihm nicht ganz fremd erschien, zu einem der Seitenportale. Ein Wort an die dort Posten stehende Wache, er wandte sich in dem erleuchteten Portal sogleich zu einem Corridor und stieg die Treppe zu einem zweiten hinauf. Der Graf konnte sich nicht enthalten, sobald er in das volle Licht der Gasflammen getreten war, einen neugierigen Blick auf seinen Begleiter zu werfen.
Er fand einen modern gekleideten Mann von etwa 40 Jahren von dunklem reichem Haarwuchs mit Bart, wie damals alle Franzosen zu tragen pflegten, etwas trägem Ausdruck der Augen, und obschon nichts Besonderes oder Auffallendes in dieser Physiognomie lag, konnte er sich
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doch des Gedankens nicht entschlagen, daß ihm dies Gesicht schon vorgekommen sein müßte.
An einer der Thüren des hell erleuchteten Ganges blieb der Graf stehen und klopfte an derselben.
Der Graf trat ein - das Gemach bildete offenbar ein kleines Antichambre, wahrscheinlich zu einem größeren, und war nur von einem ältern Mann in schwarzem Frack, Schuh und Strümpfen besetzt, dem man doch trotz seiner Toilette in dem unbeschreiblichen Air ansah, daß er zum dienenden Personal gehörte.
»Monsieur Martin, haben Sie die Güte, dem Herrn Kabinetssecretair zu melden, daß hier die verlangte Person ist. Legen Sie ab, Herr.«
Der Adjutant wollte sich wieder entfernen, aber der Kammerdiener hielt ihn mit einer Bewegung der Hand zurück.
»Monsieur de Mocquard, Herr Graf, ist in diesem Augenblick nicht in seinem Kabinet, aber er hat mich beauftragt, Sie zu bitten, auf ihn zu warten, da der Kaiser befiehlt, Sie zu sprechen. Ich werde die Ehre haben, Sie später aus dem Dienstzimmer abzurufen. - Wollen Monsieur nicht die Güte haben, Platz zu nehmen?«
Während der Fremde sich niederließ, entfernte sich der Adjutant.


In seinem Cabinet saß der Kaiser Napoleon, oder wie man ihn zu nennen pflegte Napoleon III., vor ihm stand mit mehreren Papieren in der Hand ein Mann,
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dem wir schon früher in seinem Cabinet in den Tuilerien als einem seiner Vertrautesten begegnet sind.
Der Kaiser trug einen bequemen Civil-Ueberrock, er sah etwas leidend aus und drehte wie er zu thun liebte, eine Papier-Cigarette.
»Ich bin im Zweifel lieber Mocquard,« sagte er, »wen ich mit dieser subtilen Mission beauftragen soll; Thouvenel dazu heranzuziehen, würde der Sache sofort einen diplomatischen Charakter geben und Sie wissen, daß der König von keinem seiner eigenen Minister begleitet ist, sondern nur Militairs in seiner Umgebung hat.«
»Warum Sire, sollte dann nicht Soldat dem Soldaten gesprächsweise die Vortheile einer Abtretung des linken Rheinufers gegen eine arrondirte Stellung Preußens in Deutschland und dessen Führerschaft andeuten können? Wozu haben Sie den Marschall - er will ja sehr gern nicht blos den Haudegen spielen, sondern auch den Diplomaten, und möge sich auf diesem Felde versuchen.«
»Sie haben Recht - es wird nichts Anderes übrig bleiben, und Sie müssen ihm heute Abend noch die nöthigen Andeutungen machen. In Berlin bei seiner Krönungsbotschaft kann er sie dann weiter führen, je nachdem er ein Eingehen darauf gefunden hat oder nicht.«
»Und Oesterreich?«
»Es hat ja selbst an Preußen solche Lockspeise gestellt und sich bereit erklärt, die Führerschaft am Deutschen Bunde ihm zu überlassen, wenn Preußen ihm seinen außerdeutschen Besitz garantiren und die revoltirenden
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Nationalitäten unterdrücken helfen will, selbst auf Kosten eines Bruchs mit Frankreich.«
Der Cabinetschef des Kaisers lächelte. »Sollte es wirklich Eurer Majestät so - Ernst sein mit dieser Unterstützung der Herren Garibaldi, Klapta und Kossuth und des polnischen Revolutions-Comité's?« frug er.
Der Kaiser warf ihm aus dem halbverschleierten Auge einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich dächte, wir hätten in Frankreich an solchen Tendenzen genug. Rouher schreibt mir zwar aus Turin, daß die italienische Agitation kaum im Zaume zu halten ist und ganz offen durch die britische Gesandtschaft unterstützt wird, und mein kluger Vetter wird bei seiner eiligen Rückkehr aus Amerika aus Besorgniß vor einem Rencontre mit dem Orleans und der öffentlichen Meinung wegen seines schmutzigen Prozeßes in der Patterson'schen Angelegenheit großen Lärmen schlagen im Namen seines Herrn Schwiegervaters über Rom, indessen, wenn wir mit dem englischen Drängen auf Zurückziehen unserer Besatzung fertig geworden sind, werden wir es auch mit ihm werden. Ich habe da einen Beistand, der sich nicht scheut, ihm entgegen zu treten.«
Wieder erhob der Kaiser das Auge in der früheren Weise zu seinem Vertrauten.
»Die Sympathien Ihrer Majestät für den heiligen Vater und das Patrimonium Petri,« sagte der Cabinetschef lächelnd und sich mit seinen Papieren zu thun machend, »stehen nicht allein. Die Partei der Kirche ist sehr groß in Frankreich.«
»Darum schadet es ihr nicht,« meinte der Kaiser,
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»daß die Brochüre des Ex-Jesuiten Passaglia und dieser neue Aufklärer von der Sorbonne Monsieur Renan so großes Aufsehen machen. Die Herren Bischöfe und der ganze Vatikan müssen fühlen, daß sie der weltlichen Macht nicht entbehren können. Sobald Frankreich seine Hand von Rom abzieht, ist das Patrimonium Pein, ja selbst die geistliche Oberherrschaft des Papstthums nur eine Frage der Zeit.«
Es schien wohl nur selten der Fall, daß die Vorsicht des Kaisers selbst seinen Vertrautesten gegenüber sich so weit vergaß und er lenkte auch diesmal sofort ein. »Wir dürfen mit einer offenen Beschützung des Professors Renan nicht zu sehr unsere Ultramontanen vor den Kopf stoßen, die Religion und der Einfluß der Kirche sind schließlich doch die beste Stütze der Monarchie. Indeß, was ich sagen wollte, diese perfide englische Politik, die sich eben nur hält durch die fortwährenden Putscherein und Intriguen auf dem Continent, will durch die Entblößung Roms von Truppen den Papst zwingen, in Malta oder unter der englischen Flagge seinen Schutz zu suchen, und damit ein neues Mittel haben, Europa fortwährend in Schach und Verwirrung zu halten. Deswegen lieber Mocquard, bin ich für die Fortdauer der Occupation Roms.«
»Ich glaube, Eure Majestät haben darin Recht und bleiben der schärfste Politiker Ihrer Zeit.«
»Und was ich Ihnen sagen wollte in Betreff Oesterreichs, und Sie mögen dem Fürsten Metternich und auch Grammont dahin einen Wink nach Wien geben, es ist mir ganz genehm, wenn die englischen Waffensendungen unter
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Baumwollen-Emballagen nach Ungarn über Triest endlich einmal confiscirt werden. Sagen Sie also Metternich direkt, Venetien oder die dalmatinische Küste würde mit meinem Willen gegenwärtig nicht von Italien aus angegriffen werden. Außerdem habe ich ein Pflaster für die österreichische Empfindlichkeit über das Geschehene.«
»Wollen Euer Majestät die Gnade haben, uns Näheres anzudeuten?«
»Die mexikanische Expedition!«
»Die Occupation Mexiko's?«
»Ja. - Ich werde dem König Wilhelm direkt den mexikanischen Thron für einen der Prinzen seines Hauses anbieten, wie das neue Rumänien, das sich doch mit den Couza's unmöglich halten kann, einem andern Prinzen des Hauses Hohenzollern. Auf diesem Wege gewinnen wir uns zwei Freunde. - Geht König Wilhelm auf diese Ideen nicht ein - sein Neffe Prinz Friedrich Karl ist ja doch ein ganzer Soldat und die neue preußische Flotte hätte damit eine vorläufige Aufgabe, so werde ich durch Grammont dem Kaiser Franz Joseph das Anerbieten für einen seiner Erzherzöge machen lassen, denjenigen z. B. seiner Brüder, der ihm der unbequemste ist.«
»Den Erzherzog Maximilian?«
»Mag sein - er hat einen ehrgeizigen, abenteuerlichen Charakter und ist ja wohl mit einer belgischen Prinzessin verheirathet?«
»Mit der Prinzessin Charlotte.«
»Immerhin - ich habe dabei einen weitern Zweck. Sie haben doch dem Grafen Boulbon sagen lassen, daß
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ich ihn noch zu sprechen wünsche, und den Mann, seinen Diener oder Vertrauten zu sich bescheiden lassen?«
»Ja, Sire!«
»Mit der Unterstützung des Erzherzog Maximilian zum Thronprätendenten von Mexiko würden wir drei Dinge erreichen: zunächst die Unterstützung der Südstaaten Nordamerikas, - ihre Verpflichtung gegen uns anstatt an Amerika; die Demüthigung Englands in dem Verhältniß zu Oesterreich, und das Vertrauen der katholischen Kirche, - während auf der anderen Waagschaale allerdings bei der Annahme eines preußischen Prinzen ebenfalls die Politik Palmerstons eine Niederlage erleiden und unser Einfluß auf die deutschen Angelegenheiten gesichert würde.«
»Ich bewundere die Combinationen Eurer Majestät!«
»Es hängt das Alles von der morgenden oder übermorgenden Unterredung mit dem König Wilhelm ab, uns für das Eine oder das Andere zu entscheiden. Wie gesagt, beruhigen Sie einstweilen Metternich über meine Gesinnung gegen Oesterreich und schieben Sie alles Odium auf England. Vergessen Sie nicht, auf den Tisch des Königs Wilhelm die Nummern der ›Times‹ und des ›Observer‹, des Leiborgans Palmerstons zu legen, welche die hämischen Angriffe gegen Preußen wegen seiner Bestrebungen für die Bildung einer Flotte, und gegen die preußische Armee enthalten, die doch nach den Berichten von den Manövern am Rhein schon jetzt geeignet wäre, den ganzen englischen Militair-Plunder mit Haut und Haar zu verschlucken.«
»Ich habe bereits dafür gesorgt.«
»Nun, wohl bekomms; - wenn ich diesen festen und
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militärisch stolzen Charakter richtig taxire, werden diese absprechenden Urtheile über die preußische Armee bei ihm den Einfluß der Weiber vollständig paralysiren. Es ist ein einziges gerechtes und gescheutes Wort in diesen beleidigenden und anmaaßenden Artikeln der englischen Presse, das ist: daß Preußen Europa gefährlich werden könnte, wenn es einmal einen energischen Minister an der Spitze seiner Politik hätte, etwa einen zweiten Richelieu! Dann wäre es natürlich auch uns gefährlich.«
»Aber Richelieu hatte Ludwig XIII. zum Herrn!«
»Desto schlimmer, denn König Wilhelm scheint mir ein ganz anderer Charakter, auf den man sich stützen, oder mit dem man kämpfen muß. Sie sehen, lieber Mocquard, daß Frankreich in diesem Augenblick Ursache hat, nach allen Seiten die Augen offen zu halten. Die nächsten Tage werden Viel für die Schicksale Europa's entscheiden. Ich will Ihnen ehrlich gestehen, daß ich ein gutes Einvernehmen mit Rußland und Preußen jeder anderen Coalition vorzöge, - schon um der Zukunft meines Sohnes willen. Lassen Sie dem jungen Czartoryiski einen Wink geben, daß er seine Propaganda in Polen einstweilen menagiren möge, oder ich werde durch den Constitutionel erklären lassen, daß die Brochüre ›Rhein und Weichsel‹ sein eigenes Machwert sei.«
Der Kabinetschef verbeugte sich. »Haben Euer Majestät noch weitere Befehle? In Betreff der mexikanischen Expedition möchte ich Sie nur noch an den Ehrgeiz des Generals Prim erinnern. Er hat eine Mexikanerin zur Frau, und die frühzeitige Decouvrirung der Bestimmung
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eines deutschen Prätendenten für den mexikanischen Thron, könnte ihn zum Feinde machen.«
»Bah - auf seine Gefahr. Er möge sich mit der Havannah begnügen, ich kann unmöglich, wie mein Oheim jedem Marschall zu einem Thron verhelfen. Er wäre schließlich ein zweiter Bernadotte, nicht lau, nicht kalt gegen England. - Sehen Sie zu, ob jener Mann, der mir so geheimnißvoll von Montauban empfohlen ist und eine besondere Mittheilung über England verspricht, an Ort und Stelle ist? Adieu - ich rechne auf Ihre Geschicklichkeit und Ihren Eifer.«
[»]Er reichte dem Kabinetschef seine Hand und machte ihm das Zeichen der Entlassung.
Kaum war der Kaiser allein, als er mühsam einen schwankenden Gang durch das Zimmer machte. »Connard hat Recht,« sagte er, - »ich muß ihn morgen consultiren. Dieses Uebel ist in fortwährendem Steigen und ich muß große Vorsicht üben. - Doch, er ist ja morgen zur Stelle, da er zu den Eingeladenen gehört. - Sehen wir zu, wen uns als seine zweite Entdeckung der General da geschickt hat. In Beziehung auf die mexikanische Expedition täuscht er sich. Dazu ist er viel zu habsüchtig, er hat in China genug gestohlen, so daß er jetzt Anderen den Platz lassen möge.«
Es klopfte leise an die Thür aus dem Kabinet seines Geheimsecretairs.
Der Kaiser statt der Antwort ließ einen Ton der silbernen Glocke auf seinem Bureau durch die damit verbundene Feder anschlagen, und erhob sich zugleich, mit dem Rücken an sein Bureau gelehnt bleibend.
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Thür und Portière öffneten sich, und der Fremde, den Graf Boulbon aus dem Park geholt hatte, trat ein.
Er blieb mit einer tiefen Verbeugung an der Thür stehn, richtete sich dann auf und kreuzte die Arme über die Brust. Dem Kaiser entging diese orientalische Geste nicht und er eröffnete sofort die Unterredung.
»Sie sprechen Französisch?«
»Vielleicht nicht ganz so geschickt wie Euere Majestät selbst, aber jedenfalls fertig genug.«
»Sie sind der Kaufmann Lacrosse, dem General Montauban die Ueberfahrt auf dem Dampfer ›Veloce‹ bewilligte?«
»So nannte man mich, Majestät!«
»Und Sie sind in Wahrheit der ehemalige Peischwa von Bithoor, Nena Sahib?«
»Ja, Majestät!«
Dieses offene und dreiste Bekenntniß des furchtbaren Feindes Englands imponirte dem Kaiser. Er wies mit einer Bewegung der Hand nach einem Sessel ohne Lehne und sagte bloß: »Setzen Sie sich, Herr!«
Es entstand eine kleine Pause, in der sich die beiden Männer mit scharfen Augen gleichsam maaßen.
»Ist Ihre Anwesenheit in Paris bekannt, Herr Srinath Bahadur?« frug endlich der Kaiser.
»Niemandem außer Euer Majestät mit Gewißheit,« sagte der Indier, »obschon ich fürchten muß, von einigen Personen auf der Ueberfahrt nach Aegypten beargwohnt worden zu sein.«
»Das wäre mir natürlich unangenehm, und, wenn
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ich auch gegen Ihren Besuch Frankreichs und Ihren Aufenthalt in Paris Nichts habe,« sagte der Kaiser, »da Frankreich jedem politischen Flüchtling offen steht und selbst der Diktator Rosa, dessen Ruf kaum weniger blutig ist, als der Ihre, noch kürzlich hier ein Asyl gefunden hat, muß ich doch wünschen, daß Sie so unbemerkt wie möglich hier bleiben.«
»Ich werde den Schutz Eurer Majestät nicht lange in Anspruch nehmen,« sagte der Indier, »da die Aufgabe meines Lebens mich weiter treibt. Bis dahin, Sire, werde ich nicht gegen die Gesetze Ihres Landes verstoßen.«
Der Kaiser nickte zustimmend mit dem Kopf. »Sie haben mir zwar gesagt, daß Sie der ehemalige Peischwa von Bithoor, der berüchtigte Nena Sahib sind,« sagte er, »aber ich habe noch keinen Beweis für Ihre Angabe.«
»Ich hatte mir erlaubt, dem Herrn General vor dem Frieden von Peking eine Perlenschnur für Ihre Majestät die Kaiserin von Frankreich zu übergeben.«
»Der Spitzbube - er schreibt, er habe sie in dem Palast des chinesischen Kaisers erbeutet. Aber - was soll's damit?«
»Die Schnur zählt 42 orientalische Perlen von hohem Werth. Jede Zehnte von beiden Seiten ...«
»Halt da, Monsieur,« unterbrach ihn der Kaiser. »Warten Sie einen Augenblick.« Er ließ zwei Mal die Glocke anschlagen. Sogleich trat der Kabinetschef Mocquard ein.
»Ich fürchtete schon, Sie hätten das Kabinet verlassen. Ich muß Sie in einer vertraulichen Sache nochmals bemühen.«
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»Euer Majestät waren nicht allein,« sagte mit einem Blick auf den Fremden der sorgsame Beamte.
»O ich weiß, daß Sie dann stets in meiner Nähe sind, wenn ich Sie brauche. Aber haben Sie die Güte, sich selbst zu Madame Lenoir, der ersten Kammerfrau der Kaiserin zu bemühen, und in meinem Auftrag für einige Augenblicke sich die Perlenschnur geben zu lassen, welche ihr Graf Boulbon von dem General Montauban überbracht hat. - Nun, mein Herr?« fuhr er zu dem Indier fort, während Mocquard sich entfernte.
»Die zehnte Perle, Sire, hat stets die birnenartige Form, welche nur die Juwelenschleifer von Birma ihr zu geben vermochten.«
»Wir werden sehen. Ah - da sind Sie schon. Ich danke Ihnen - Sie können es sogleich wieder zurücknehmen. - Hier, mein Herr!«
Der Kaiser reichte das geöffnete Etui mit dem kostbaren Schmuck dem Indier, der die Perlenschnur herausnahm und, indem er sie durch die Finger gleiten ließ, nur einen Blick darauf warf.
»Dies ist die Sendung des Sahib Generale?«
»Ja wohl - Lemonier, die Hof-Juweliere ihrer Majestät schätzen ihn auf achtzigtausend Franken.«
Der Mann lachte verächtlich. »Und glaubt der Beherrscher des mächtigen Frangistan, daß ich gewagt hätte, seiner Begum eine solche Erbärmlichkeit anzubieten, die in meiner Heimath die Frau jedes reichen Geldwechslers trägt? - diese Perlen gleichen denen, die ich Ihrem General zu bieten die Ehre hatte, so wenig wie der rothe Kieselstein
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des Feldes dem Edelsteine aus den Minen von Bischampoor. Die Perlenschnur, womit ich den Schutz Frankreichs erkaufte, hatte den zehnfachen Werth der Belohnung, welchen England auf das Leben Srinath Bahadurs gesetzt hat, also eine Million Rupien, war also würdig von jeder Fürstin getragen zu werden, denn sie stammt aus dem Schatz der Begum von Somroo!«
»Wahrhaftig? - und sie zählt 42 Perlen?«
»Ja Sire! In Indien würde man einen treulosen Diener, der seinem Herrn ein Kleinod stiehlt, mit Zangen zerreißen.«
»Verlassen Sie sich darauf, Prinz - wir werden Herrn von Montauban etwas schmerzlicher in's Fleisch zu treffen wissen, wenn der Umtausch sich bewahrheitet.«
»Sire - ich habe ein besseres Mittel, Sie von der Wahrheit meiner Aussage zu überzeugen - sobald wir allein sind.«
Der Kaiser hatte schon vorher mit einem Wink an seinen Vertrauten das Etui zurückgegeben und ihn entfernt.
»Sie sehen, wir sind es!«
»Sire,« sprach der Indier halblaut, - »man sagt, daß Sie ein altes Amulet, ein Erbstück Ihres großen Oheims, der die Engländer haßte wie ich, auf Ihrer Brust tragen?«
Der Kaiser konnte eine Bewegung des Erstaunens nicht verbergen. Dann - nach einer Panse - sagte er: »Es ist wahr, - zwar spreche ich nie davon und erinnere mich nur, es wenigen Personen gezeigt zu haben - zuletzt, so viel ich weiß, dem Großfürsten Nicolaus von Rußland. Woher haben Sie Kenntniß davon erhalten?«
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»Es ist gleichgültig, Sire - vielleicht hat der Fürst, den Sie nannten, es zufällig erzählt. Würden Euer Majestät mir die Gnade erweisen, es mir zu zeigen - man sagt, es stamme aus Indien, wie ich.«
»Es soll ein Geschenk des berühmten Khalifen Harun al Raschid an den ersten Kaiser auf dem Thron Frankreichs, an Karl den Großen gewesen sein, der es mit in sein Kaisergrab zu Aachen nahm. Die Stadt Aachen verehrte es als eine Art Reliquie an Napoleon I., der es meiner Mutter Hortense als Merkwürdigkeit schenkte, - doch, so viel ich weiß, hat es keinen Werth, als sein Alterthum ...«
Der Indier begnügte sich, ohne weitere Worte ihn fragend anzusehen.
Einige Augenblicke zögerte der Kaiser - dann drehte er sich um, öffnete sein Gilet und schien unter dem Hemd mit der Hand zu suchen. Endlich zog er eine starke aber dünne Schnur hervor, hielt den Gegenstand, den sie trug, in der Höhlung der Hand und zeigte ihn dem Fremden eine Minute lang. Dieser trat nach einem aufmerksamen Blick darauf bescheiden zurück, griff aber sogleich auch in seine Brusttasche.
»Sire, es ist, wie ich hoffte. Die Form ist zwar eine andere - aber überzeugen sich Eure Majestät, Farbe und Gegenstand sind dieselben.« Er streckte dem Kaiser die feine schmale Hand entgegen - an der ein matt goldener Ring mit einem grünen Stein funkelte.
»Das ist seltsam - dasselbe Zeichen. Können Sie mir Auskunft geben über dessen Bedeutung? Man findet
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zwar ähnliche Attribute des Galen oder Hippokrates nicht selten auf Gemmen aus dem Alterthum, aber ich sah noch keins in dieser Stellung.«
»Sire - es ist die grüne Schlange Ahriman, die nach der Deutung der Perser den Stier des Orumdz anfiel. Fast jedes Volk und jeder Glaube seit vielen tausend Jahren haben ihr Geheimniß in der Schlange gefunden, auch die Söhne Brahmas.«
»Es ist mir interessant gewesen, diese Aufklärung von Ihnen zu hören. Ich zweifle nun nicht mehr an der Identität Ihrer Person. Wir wären also gewissermaßen Verbündete in dem Zeichen der Schlange. Aber - was führt Sie aus dem fernen Osten hierher nach Frankreich und womit kann ich außer der schweigenden Duldung einem Mann dienen, der Juwelen von einer Million an Werth verschenken konnte.«
»Sire, ich habe die Geschichte Frankreichs kennen gelernt, aus Büchern und lebendigen Worten. Ich fand darin ein schwarzes Blatt, das - noch immer der Sühne harrt.«
»Die Geschichte Frankreichs enthält leider manches Unglücksblatt.«
»Sire - auf jenem Blatt steht ein einziger Name - er heißt: Sanct Helena!«
»Was wollen Sie mit dieser Erinnerung sagen? - Sie sind Englands Gegner und haben allerdings vielleicht Ursache, es zu hassen, aber ich ...«
»Sire, ich bin und bleibe sein Todfeind!«
»Das ist eben Ihre Sache - Frankreich steht nicht
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mit England im Kriege - die Politik der Staaten hat sich vielfach geändert - und wenn Sie in der That sich mit der Geschichte Frankreichs und meines Hauses vertraut gemacht, werden Sie gefunden haben, daß ich selbst manche Ursache habe, England dankbar zu sein und sein Verbündeter zu bleiben.«
»England ist falsch und treulos gegen Alle, die ihm trauen. Es kennt nur seine eigenen unersättlichen Interessen. Ich komme, Euer Majestät vor ihm als Feind zu warnen. Trauen Sie niemals in der Stunde der Gefahr auf britische Zusagen und Dankbarkeit. - Sie haben England gegen den Moskowiten beigestanden, und ihm auf diese Weise Indien erhalten. Wollen Sie sehen und wissen, wie es Ihnen lohnt?«
»Bah - Herr Srinath Bahadur treibt also höhere Politik? Sie vergessen, daß auch Frankreich durch den Bau eines Kanals in's rothe Meer einen offenen Weg nach Ihrem Indien gewinnt.«
»Und glauben Sie wirklich, Sire, daß Sie ihn für Frankreich bauen werden? Man hat mir gesagt, daß man auf den Rheden von Frankreich vortreffliche Schiffe zu bauen versteht und verstanden hat - für die Engländer!«
»Diese Zeit ist vorüber - England sieht ein, daß es mit seinem Prestige ein Ende und die Weltherrschaft mit Frankreich wenigstens zu theilen hat. Zwei große Nationen können auch friedlich neben einander leben, ohne sich immer anfeinden zu müssen. Sie werden vielleicht Gelegenheit haben, sich noch in diesen Tagen davon zu überzeugen.«
»Sire, Ehrgeiz und Habsucht werden niemals treue
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Verbündete sein für Ehre und Aufrichtigkeit. Ich bitte nochmals Euer Majestät, einen Blick auf dies Papier zu werfen.« Und er hielt dem Kaiser ein Heft Papiere entgegen.
»Was ist dies?«
»Es ist der geheime Tractat, den der englische Bevollmächtigte in China dem Kaiser von Peking anbot: gegen gewisse Vortheile der unbeschränkten Einfuhr, die britischen Truppen und Schiffe in Ihrem gemeinsamen Kriege zurückzuziehen.«
»Ich habe niemals an solcher Krämerpolitik gezweifelt, aber zum Glück sind es meine Soldaten gewesen, welche den Sieg von Palikao erfochten, so gut wie sie den Malachof erstürmten, nicht die englischen. - Und dies?«
»Es ist die Abschrift der geheimen Instructionen für die letzten beiden Vicekönige von Indien.«
Der Kaiser, der bekanntlich sehr fertig Englisch sprach, hatte sich in die Lectüre bereits vertieft und schüttelte wiederholt den Kopf.
»Es fehlt dem alten Pam10 in der That nicht an Schlauheit. Die Beherrschung des mittelländischen Meeres durch Gibraltar, Malta und Sicilien, das großmüthige Aufgeben des nutzlosen Ioniens gegen einen englischen Prinzen auf dem griechischen Thron. Eine feste Position in Galipoli - für das Versprechen des britischen Schutzes gegen Rußland und Oesterreich! - Bei erster Gelegenheit Occupation Aegyptens! - Ei, das wäre billiger Erwerb
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der Arbeit Anderer! - Und von Westen her? Bündniß mit den Afghanen und Unterstützung des Khans von Khiwa! - Vorsichtiges Verdrängen Frankreichs aus Birma und Siam. - Beförderung aller Ausstände gegen Holland auf den Molukken - und gegen die Holländer am Cap! Stärkere Befestigung Aden's und Besitz der Küste von Abessynien, somit Sperrung der Straße von Bab el Mandeb! Das Netz, das Frankreich zum Binnenstaat macht, und die neue Weltlinie ist fertig! Ob der honorable Sir Charles Wood wohl der geeignete Mann sein wird dazu?! - Aber ich deute, wir können ihnen einige Etappen auf dieser neuen Weltstraße verlegen. Ich danke Ihnen für diese Mittheilung, und - wenn Herr Labrosse auch augenblicklich keine Revange dafür sieht, er möge überzeugt sein, daß ein Bonaparte die Erinnerung an dieses Programm nicht aus den Augen verlieren wird. Sie haben mir gesagt, daß Sie Frankreich nicht zum längeren Aufenthalt gewählt haben, und ich will nicht fragen und wissen, wohin Sie sich wenden, aber jeder Wunsch an mich unter der heutigen Unterschrift wird stets die möglichste Beachtung finden. Es ist mir lieb gewesen, den Mann von Angesicht zu Angesicht zu sehen, dessen Name die Kinder in der Wiege in England schon erzittern machte und - - sein Sie vorsichtig, nicht in die Hände Ihrer Feinde zu fallen.«
Der Kaiser machte eine leichte verabschiedende Bewegung und begleitete den Fremdling höflich bis zu der Thür des Kabinets, - aber er reichte ihm nicht die Hand.
»Lassen Sie Graf Boulbon diesen Herrn bis zu der
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Stelle sicher zurückgeleiten, wo er ihn traf, und schicken Sie nachher den Kapitain zu mir. Bis dahin - lassen Sie seinen Diener eintreten.«
Er saß wieder nachdenkend in seinem Sessel und strich mit der Linken seinen Bart. »Dieser Montauban verdiente - General-Kommissair bei einer Landung in England zu sein! - Für Eugenie wird das Changement der Perlen stets ein kleines Beruhigungsmittel sein, wenn man ihre Sympathieen für Rom ein wenig beschneiden muß. - Ah - kommen Sie näher Freund! - Sie heißen?«
»Bonifaz Cornoche aus Avignon!«
»Sie waren ein Diener des in Mexiko gefallenen Grafen Raousset Boulbon?«
»Ich diene seiner Familie seit länger als zwanzig Jahren, Sire!«
»Ich weiß, daß Sie ein treuer Diener sind. Treue Diener muß man ehren, wie gute Soldaten im Dienst. Ich bewillige Ihnen das Kreuz!«
»Sire ... diese unverdiente Gnade ...«
»Sie haben auch Ihre Feldzüge gemacht - in Algerien, in Mexiko, in China, gleichviel unter welchem Namen und Rang. Wie lange waren Sie mit dem ältern Grafen Boulbon in Amerika?«
»Drei Jahre, Sire, - ich war drei Jahre von Frankreich abwesend - ich ging mit meinem Herrn nach der Katastrophe vom 2. December ...«
Der Kaiser winkte ihm unterbrechend. »Sie sind also Zeuge gewesen von dem Tode des Obersten Grafen Boulbon bei seiner Expedition in die Sonora?«
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Der alte Avignote wollte eine Bewegung machen, als kratzte er sich in den grauen Haaren, aber er besann sich, in welcher Gegenwart er sich befand und ließ die Hand wieder sinken.
»Ich grade nicht, Sire - aber Kreuzträger, Bras de Fère und Wonodongah, der junge Comanche - drei vortreffliche Bursche, von denen ich den zweiten in China wieder getroffen habe. Er ist Vormund über den jungen Kapitain so gut wie ich, und das erinnert mich, Eurer Majestät zu danken für die Bestätigung des Brevet für meinen jungen Herrn. - Ich war damals leider bei der Gräfin, aber es ist so gut als wäre ich dabei gewesen, denn das Wort Eisenarms ist so wahr wie reines Gold.«
»Um solches scheint es sich allerdings zu handeln. Man hat mir gesagt, daß der Oberst Graf Boulbon bestimmt hat, sein Sohn solle zu einer gewissen Zeit gleichfalls nach Mexiko gehen und für Frankreich eine - dort von ihm entdeckte werthvolle Mine in Besitz nehmen.«
»Einen Placero, Sire! Nur wird es ein tüchtiges Raufen darum mit diesen Schurken den Apachen kosten, mit denen wir oft genug an einander gerathen sind. Aber ich versichere Euer Majestät, daß dieser Placer wohl der Mühe lohnt!«
»So haben Sie ihn selbst gesehen, und wissen seine Lage?«
»Nein, Sire, aber Eisenarm weiß es und er hat mir Proben mitgebracht, damals an den Bonaventura und auch nach China, die alle Zweifel bei mir beseitigt haben. Pures Gold sage ich Ihnen! Ich habe ein Stück bei
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unserer Ankunft aus Aegypten hier verkauft für die Equipirung meines Mündels, und der Goldschmied, dem ich es anbot, hätte mich gern mit mehr solchen Käufen übers Ohr gehauen.«
»Sie hätten sich sollen an die Bank oder Münze von Frankreich damit wenden.«
»Ein ander Mal Sire, man kann nicht Augen genug haben gegen solche Schurken. Hätte ich gewußt, was ich jetzt weiß, hätte ich gewiß nicht ruhig zugesehen, daß Eisenarm so mir nichts dir nichts Ihrem geizigen General die schöne Goldstufe für die Aufhebung des Bischen Arrests an Louis zurückließ. Indeß er meinte, es gäbe genug des Zeugs da drüben.«
Der Kaiser strich mit der Hand über die Stirn - er schien manchmal zu glauben, er spräche mit einem Wahnsinnigen, überzeugte sich aber in dem sonst so einfachen und doch schlauen Wesen des ehemaligen Sackträgers von Avignon, daß er nur mit einem Original zu thun habe.
»Wissen Sie, daß Frankreich eine Flotte nach Mexiko zu senden im Begriff steht?«
»Man spricht davon, Sire, und auch die englischen Puddingfresser, die ihre Nase überall dabei haben müssen, und die steifen Dons.«
»Sie sprechen mit wenig Zuneigung von den beiden Nationen!«
»Bah, als ob ich sie nicht hätte zur Genüge kennen lernen, da drüben und hüben. Aber ich dachte mir, denn der Oberst sprach immer mit vieler Achtung von Ihrem Verstande Sire, daß Sie schon die beiden andern
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Hunde zur rechten Zeit wegbeißen würden von dem Knochen, wenn Sie nur erst erfahren hätten, wie fett der Bissen ist!«
»In der That! Also hätten Sie Lust, mit Ihrem jungen Herrn die Expedition nach Mexiko mitzumachen?«
»Mit dem Kapitain Sire? Bis ans andre Ende der Welt. Aber es wird besser sein, Sie lassen erst dort das Terrain säubern und behalten ihn noch so an zwei Jahre hier, denn die Kugeln dieser mexikanischen Banditen, namentlich des Gefleckten, und die Fieber in den Sümpfen zwischen Veracruz und Puebla könnten nur ihn zu Schaden bringen, ehe er ein Recht hat von Eisenarm die Erbschaft für Frankreich zu fordern.«
»Wann findet dieses Recht statt?«
»In zwei Jahren Sire, an seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag. So hat es mein verstorbener Herr gewollt und haben wir es mit einander abgemacht.«
»Und der Kapitain weiß, daß er das Recht in zwei Jahren haben wird? also im Jahre 1863?«
»Keine Sylbe weiß er davon, keine Ahnung hat er von all den Reichthümern. Er weiß nur, daß er die Freunde seines Vaters in zwei Jahren in Mexiko aufsuchen muß, um von ihnen seinen letzten Willen zu erfahren.«
»Aber werden Sie die Männer, die Bewahrer dieses Geheimnisses auch wiederfinden?«
»Bah Sire, Sie kennen Eisenarm nicht! Er wird an dem bestimmten Tage in Puebla sein an den Altarstufen der Kathedrale, so sicher wie Sie in Paris sind.«
»Hoffentlich! aber es könnten Umstände eintreten, die
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es schon früher wünschenswerth machen, seinen Aufenthalt zu erfahren und ob dieser Führer noch am Leben ist. Jeder Mensch ist sterblich.«
»Das ist wahr, und Sie müssen mir versprechen, in diesem Fall die Täuschung meinen Mündel nicht entgelten zu lassen. Eben darum haben wir uns entschieden, ihm Nichts vorher in den Kopf zu setzen von Hoffnungen. Wenn sich's erfüllt, wird es nicht zu viel sein, wenn Sie einen Marschall von Frankreich aus ihm machen. Er braucht zwar, wie ich mich überzeugt, dazu nicht viel zu lernen, - aber er hat bereits allerlei Allotrias im Kopf, grade wie sein Vater, und ein ernstes Studium hält die jungen Leute von vielen unnützen Dingen ab. - Uebrigens Sire, was Sie mir da sagten, daß wir Alle sterblich sind und daß das Geheimniß auf zwei Augen ruht, so vergessen Sie ganz, daß auch der große Jaguar der Comanchen unsern Schatz bewacht und daß wir ihn aufsuchen könnten.«
»Aber wie eine Person finden in einem Lande, das drei Mal größer ist als ganz Frankreich?«
»Ich habe die Gelegenheit gehabt, auf unserer Ueberfahrt von China die Bekanntschaft von zwei Trappern der amerikanischen Wildniß zu machen, die nächstens nach Amerika zurückkehren wollen, an den Colorado, jedenfalls nach den Prairien, und ich möchte wissen, wen ein Prairiejäger nicht finden würde, sobald er auf eine Spur verwiesen ist, und sollte der Raum zehnmal größer sein, als Frankreich, obschon es dort drüben keine Wegweiser giebt. Darf ich dem jungen Kapitain von der Ehre sagen,
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davon mich Euer Majestät durch diese Unterredung gewürdigt haben?«
»Ich werde das Nöthige ihm selbst sagen - noch in dieser Stunde.«
»Ich danke Ihnen dafür Sire, denn Louis darf mich nicht auf falscher Fährte ertappen und Mißtrauen gegen mich hegen. Gott erhalte Sie Sire, und verleihe Ihnen Sieg über alle Ihre Feinde, denn ich zweifle nicht, daß es auch stets die Feinde Frankreichs und der heiligen Kirche sind, über die man jetzt etwas locker denkt, als wären wir Ketzer, wie die Engländer oder die Deutschen. Kann ich abtreten Sire, denn ich darf nicht vergessen, daß ich für Louis noch allerlei Dinge auf morgen zu besorgen habe?«
Der Kaiser winkte ihm freundlich die Entlassung und während Bonifaz sich entfernte, murmelte er: »Wenn ein Herr stets so treue und uneigennützige Diener fände, wie Mocquard und dieser Avignote sind, müßte das Herrschen leicht sein! - Ich weiß nicht, aber diese Unterredung, obschon sie nur meiner Neugier über die Andeutungen des Generals dienen und mich von ernsten Dingen abwenden sollte, hat doch meine Nerven aufgeregt. Wenn es wahr sein könnte - diese Nachricht von einem unermeßlichen Goldlager! - Freilich, die Geheimnisse der Natur bleiben ewig neu und unerforscht, wie die Menschen unersättlich. Welche dann unbestrittene Weltherrschaft Frankreichs - ich wünschte fast, ich hätte jenen Trapper, von dem der Avignote erzählte, selbst befragen können!« Er strich mit der Hand langsam über Stirn und Mund, als wolle er
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den Gedanken verscheuchen und zur Wirklichkeit zurückkehren. »Bah - es ist eine Fabel, wie die vom ganzen Lande Golkonda oder den Diamantenfeldern Brasiliens. Diese sind für die Könige allein in den Taschen des Volks zu finden, wenn sie klug und - vorsichtig sind.« - Er griff nach einer Handschelle und bewegte sie.
Als der Huissier eintrat, sagte er kurz: »Der Adjutant vom Dienst, wenn er bereits zurückgekehrt ist.«
»Der Herr Kapitain erwarten die Befehle.«
»Dann soll er noch einige Augenblicke zu mir kommen und schicken Sie zu Ihrer Majestät der Kaiserin. Ich würde heute Abend noch die Ehre haben, sie zu sehen. Gutenacht dann - ich brauche keine Hilfe beim Coucher.«
Er winkte. Der Huissier öffnete bald darauf dem Adjutanten die Thür des Kabinets.


Es war am Sonntag den 6. Oktober Nachmittags 6 Uhr, als König Wilhelm von Coblenz und Cöln mittels Separattrains in Compiegne eintraf. Der preußische Gesandte war seinem Monarchen schon bis zur Grenze entgegengereist, und begleitete ihn von dort mit dem zur Begrüßung dahin gesandten Marschall Vaillant und General Frossard. König Wilhelm war von keinem seiner Minister sondern von den Generaladjutanten General Freiherrn v. Manteuffel, dem damaligen Chef seines Militair-Cabinets, General von Alvensleben, den Flügeladjutanten Oberst v. Boyen, Major Freiherr v. Steinäcker
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und Rittmeister Freiherr v. Loë, außerdem von dem Chef des Civilkabinets Geh. Rath Illaire begleitet.
Als der Zug auf dem Perron in Compiegne anfuhr, erwartete ihn dort bereits seit einer halben Stunde der Kaiser und beide Monarchen begrüßten sich auf das Freundlichste. Beide trugen Civilkleidung, ebenso ihre Umgebung, die aufgestellte Ehrenwache war von den Gardezuaven, die Tambours schlugen den Feldgruß, und die Musik spielte, und der Kaiser geleitete sofort seinen erlauchten Gast, nachdem er ihm seine Begleiter, die Generäle Duc de Montebello und Fleury vorgestellt hatte, mit diesen zum Wagen. Die Persönlichkeit des Königs in seiner hohen militairischen Haltung und seinem frischen gesunden Aussehen machte einen sehr günstigen Eindruck auf alle Personen, die Zutritt auf den Perron gefunden hatten, sowie bei dem ganzen Publikum; - die Erscheinung des Kaisers war die bekannte, von den Parisern oft gesehene, nur schien es ihm einige Beschwerden zu machen, sich grade und stramm zu erhalten.
Die Equipagen des Gefolges schlossen sich dem Wagen der beiden Herrscher an.
Nirgends in der Stadt sah man französische oder preußische Fahnen, dagegen die Köpfe zahlloser Neugieriger und verschiedene Anstalten zu einer Illumination, denn der Municipalrath von Compiegne hatte dem Maire einen unbeschränkten Credit für den Empfang des fürstlichen Gastes eröffnet.
Die Equipagen, es waren Isabellen mit Jockeys und Vorreitern in der beliebten Livrée des Marstalls der
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Kaiserin: Hellblau mit Silber, fuhren an der großen Freitreppe des Palastes vor.
Am Fuß dieser Treppe erwartete die Kaiserin Eugenie mit ihrem Sohn und der Prinzessin Anna Murat den königlichen Gast ihres Gemahls. Die Kaiserin hatte ein großes Gewicht auf diesen Besuch gelegt. Es ist bekannt, wie sehr sie sich schon bemüht hatte in den Kreis der fürstlichen Frauen von legitimer Herkunft eingereiht zu sein, und daß die Königin von England und die Königin Isabella die Einzigen waren, mit denen sie bisher als Souverainin in persönlicher Verbindung gestanden hatte.
Hinter der Kaiserin befand sich ihr Hofstaat, auf jeder Stufe der prächtigen Ehrentreppe stand ein Soldat der kaiserlichen Guiden in der schönen Uniform dieses Elitecorps, bis hinauf zum Foyer.
Das ganze Arrangement erinnerte Augenzeugen unwillkürlich an jenen Empfang der Königin Victoria bei ihrem ersten Besuch Deutschlands in dem preußischen Königsschlosse zu Brühl.
Es geschah damals, im Jahr 1846 - nachdem die große Freundschaft zwischen der Königin Victoria und Louis Philipp etwas einen Riß bekommen hatte durch die spanische Heirath mit seinem Sohn, daß die Königin den Rhein besuchte und jene Scene auch an der berühmten Ehrentreppe im Portal des brühler Schlosses spielte, dem früheren Besitz des Marschall Davoust und der 4. Cohorte der Ehrenlegion wobei der Prince consort von der Königin von Preußen die Lection in der Höflichkeit erhielt,
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welche die Herrscherin des hochmüthigen Englands in die napoleonischen Arme trieb und mit dem Kriege in der Krim jene letzte Rose von Charlottenhof bezahlen machte.
Auch die Besuche Derer auf den Thronen haben ihre Geschichte! Ob wohl auf der Freitreppe von Compiegne der künftige Sieger von Sedan und Paris der englischen Liebe für Preußen gedachte!? -
Die Kaiserin, immer berühmt auf Kosten der französischen Finanzen durch die Eleganz und den Geschmack ihrer Toilette, trug bei dem Empfang eine Robe hellgrüner Seide mit Bouquets und eine Spitzen-Mantille. Das ›Kind von Frankreich‹ das damals bereits 5\frac12 Jahr zählte, hatte nach der lächerlichen, sich damals für die Kinder anbahnenden sogenannten Abhärtungs-Methode schottische Tracht, diese Kleidung, die in unserm Klima schon gegenwärtig so viel Siechheit anrichtet.
Die Kaiserin hatte Diamanten im Haar, sie hielt in der Hand ein Bouquet mit den Blumen der Napoleoniden, den Veilchen. In Mitte dieser Veilchen aber sah man jene bescheidene Lieblingsblüthe des Königs Wilhelm, die jeder seiner Unterthanen kennt und deshalb ehrt: die einfache Kornblume.
Es war dies, wie nicht zu verkennen, offenbar eine Courtoisie gegen den erlauchten Gast.
Der König trat sofort, als er den Wagen verlassen, auf die Kaiserin zu, empfing ihre Begrüßung und küßte ihr als Kavalier die Hand. Dabei klopfte er das Kind, das 9 Jahre später seine ersten Kugeln von den Höhen bei Saarbrücken her gegen ihn versuchen mußte, freundlich
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auf die Wange; dann bot er der Kaiserin Eugenie seinen Arm und geleitete sie chevaleresk die Treppe hinauf; der Kaiser Louis Napoleon folgte mit der Prinzessin Mürat und führte nach der Verabschiedung von den hohen Damen seinen erlauchten Gast selbst bis zu der Flucht der für ihn und sein Gefolge bestimmten Gemächer.
Es waren dies 6 Zimmer und 11 Salons, meist mit den kostbaren Gobelins tapeziert, an denen die französischen Schlösser so reich sind. In dem Schlafgemach des Königs stand dessen Bett zwischen zwei lebensgroßen Bildnissen des Kaisers und der Kaiserin. Man sieht, daß der Beherrscher Frankreichs kein Zeichen der Aufmerksamkeit unterlassen hatte, seinen hohen Gast zu bestechen.
Nach einer Stunde holte der Kaiser selbst den König ab, um ihn zu dem aus nur 20 Couverts, also dem engsten Cirkel des Hofes bestehenden Diner zu geleiten. Nach der Tafel sollte das Curée, diese etwas läppische Nachahmung der alten Waidmannssitten stattfinden, für welche die Franzosen überhaupt keinen Sinn haben, die nur das Wild vom Bratspieß her zu lieben und zu suchen pflegen. Die pariser Sonntags-Jäger sind noch viel abgeschmackter, als es die deutschen sind.
Das Curée in Compiegne bestand in einer Koppel von 50 Jagdhunden, welche unter Hörnerschall von den Piqueurs nach dreimaligem Versagen auf ein Stück Wildfleisch losgelassen wurden. Der ganze Hof und ein zahlloses Publikum wohnte diesem Schauspiel von der glänzend erleuchteten Terrasse aus und im Kreise vor derselben bei.
König Wilhelm ist selbst ein Verehrer und Liebhaber
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der ächt deutschen Gewohnheiten der Jagd, und er hätte schwerlich jenem Gesetz der Aufhebung der Jagdberechtigung, diesem Raub an dem gesetzlichen Eigenthum vieler Unterthanen, darunter Wittwen und Waisen, dieser liberalen Schmach des Ministeriums Pfuel beigestimmt, wenn er damals schon die Macht dazu gehabt hätte. Er liebt es, selbst als Jäger thätig zu sein, scheut keine körperlichen Anstrengungen dabei, und ist ein bewährter Schütze; bei diesem Schauspiel zog er es aber natürlich vor, sich mit seinen kaiserlichen Wirthen und den vorgestellten Personen zu unterhalten. Namentlich war es die Kaiserin selbst, die zu diesem Schauspiel bereits die Toilette gewechselt hatte und eine rosafarbene sehr duftige Robe trug mit weißen Blüthen im Haar, mit der er sprach.


Der Streit der Meute um das blutige Stück Wildfleisch schien die Zuschauer wenig zu interessiren, und sie zerstreuten sich bald in Gruppen auf der Terrasse und auf den Wegen zum Park. Auch die Menge suchte offenbar das interessantere Schauspiel in den Personen der glänzend erleuchteten Terrasse, nicht bei den Piqueurs und den Hunden. -
Zwei Männer schritten auf einem der breiten Gänge des Gartens in der Conversation nebeneinander her, die mit jedem Augenblick fesselnder für sie zu werden schien. Sie gehörten offenbar Beide zu den distinguirten Kreisen und waren Militairs, obwohl sie Civilkleider trugen. Obschon allen ächten Soldaten diese Tracht stets eine Art ungewohnter Gène ist, sah man an den Bewegungen der beiden Spaziergänger, daß nicht bloß das Feldlager und
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der Paradeplatz, sondern auch das Parket ihnen ein gewohnter Boden sein mußte.
Wir sind nicht allgegenwärtig in den Kabineten der Fürsten und bei den Unterredungen der großen Staatsmänner der Gegenwart, wie unser berühmter Kollege mit dem russischen Pseudonym, wir haben auch niemals einer solchen Unterredung des Czaren in einem Kamin des Schlosses von Berlin beiwohnen können, die dem spekulativen Erfinder des berliner Droschkenfuhrwerks einst schließlich ein Niesen vom Ruß des Schlotes und eine gehörige Portion Kosackenkantschuh zugezogen - hätte! Wir sind bloß als bescheidener erster Vorgänger des deutschen Zeitromans auf die Phantasie und die Combination des Romanschriftstellers beschränkt, ohne Anspruch auf Unfehlbarkeit oder Schmähen gegen unsere klügeren und renommirteren Herren Kollegen machen zu wollen, wie etwa die Herrn Dumas und Macquet, Scott, Cooper und Samarow, weil sich irgend einmal eine Figur, die wir vom Verleger bezahlt nahmen, zu ihnen verlaufen hat, - ein abscheulicher Diebstahl, dem sich selbst unser großer Schiller mit seinem Demetrius gefügt hat, ohne die Leipziger und Stuttgarter Advokaten zu bereichern - wir bitten also unsere Leser, die nachfolgende Unterredung auch nicht aus ›Cäsars Ende‹, sondern aus Cäsars Glanzperiode und auch nur als das zu betrachten, was sie wirklich ist und sein soll: - das freie Recht des Romantikers, der in der Form des Dialogs wichtigeren Hintergrund zeichnet.


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»Wir freuen uns auf die Ehre, Herr Marschall, Sie in Königsberg und in Berlin wiederzusehen,« sagte der Eine der beiden Spaziergänger in elegantem aber offenbar nicht nationalem Französisch. Es war dies ein großer schlanker Mann im Anfang der Fünfziger, sein Gesicht hatte etwas Eigenthümliches: die breite, etwas finstere Stirn umgeben von einem noch sehr vollen Haarwuchs, darunter starke Brauen, die Gesichtsform etwas gepreßt, das tiefliegende Auge beobachtend, prüfend und klug. Man sah es dann zuweilen mit einer gewissen Vorsicht und Ueberlegenheit aufleuchten - kurzum auch der schärfste Menschenkenner wäre in Zweifel geblieben, ob er in dem Manne mehr einen befähigteren Diplomaten oder einen größeren Soldaten suchen sollte.
Einen ähnlichen und doch verschiedenen Eindruck machte der Zweite der Promenirenden, ein Mann von mittlerer Größe, fast gleichem Alter und jener fast theatralischen Eleganz in den Bewegungen, die den Soldaten der französischen Nation niemals fehlt. Er hatte etwas Leidendes in dem runden Gesicht und einen melancholischen Ausdruck in den Augen.
»Es ist sehr liebenswürdig von Seiner Majestät dem Kaiser gewesen und der König weiß dies vollkommen zu würdigen, daß ein so berühmter und glücklicher Feldherr mit dieser Mission betraut worden ist. Sie kennen unsern Norden noch nicht?«
»Der Herr General wissen wahrscheinlich, daß meine militairische Thätigkeit bis jetzt nur Gelegenheit hatte, im Süden verwendet zu werden; Antwerpen war der nördlichste
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Schauplatz, schon fünf Jahre, nachdem ich als Lieutenant in die Armee trat. Ich glaube, unsere militairische Karrière hat ziemlich zu gleicher Zeit begonnen.«
Der Preuße verbeugte sich höflich. »Nur daß sie andere Wege nahm. Der Name des Herrn Marschall ist bereits ein weltbekannter. Sie haben das Glück gehabt, fast nie ein Soldat des Friedens gewesen zu sein. Die Schlachtfelder von Algerien, der Krim, der Lombardei waren Stationen von so hoher Bedeutung, daß man sich ihrer stets erinnern muß.«
»Das waren glückliche Chancen für einen Soldaten, die in den politischen Verhältnissen lagen. Aber ich weiß auch, daß während mich in dieser Weise das Glück begünstigte, Sie Gelegenheit hatten, ebenfalls große Erfolge zu erreichen. Ich möchte fast fürchten, daß der Frieden von Paris und der von Villafranca durch gewisse Missionen sehr gefördert wurden. Seien wir also dem Schicksal dankbar, das König Wilhelm gestattet, seine große Mission einer Einigung Deutschlands in friedlicher Weise zu verfolgen. Eine Politik der Hand am Schwert und richtige Wahl von Bundesgenossenschaften erzielt oft größere Erfolge als eine bloße Schlacht.«
Der Andere machte eine leichte zustimmende Bewegung.
»Seien wir aufrichtig, Herr Kamerad,« fuhr der Marschall fort - »was haben wir im Grunde von unseren Siegen in der Krim und am Mincio gehabt? - Höchstens die Stärkung des englischen Einflusses und ein neues ziemlich undankbares Italien, das uns noch immer zwingt, auf Posten zu stehen, wenn wir nicht erleben
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wollen, daß das Oberhaupt unserer eigenen Religion selbst seiner Existenz und Freiheit beraubt wird. Der Einfluß Frankreichs auf die orientalischen Fragen ist nur ein künstlicher - und Sie werden doch nicht glauben, daß eine so unbedeutende Erwerbung unserer natürlichen Gränze am Mont Cenis als ein Aequivalent für Frankreichs große Opfer angesehen werden kann.«
»Sie sprechen offen, Herr Marschall!«
»Warum dürfte es der Soldat nicht zum Soldaten thun. Wir werden hoffentlich niemals Gelegenheit haben, mit dem Schwert uns gegenüber zu stehn. Der Kaiser ist voll aufrichtigster Gesinnung für Preußen und König Wilhelm. Er wünscht lebhaft, daß Preußen die gebührende Stellung einnimmt in Deutschland und sich arrondirt, - selbst auf Kosten Oesterreichs.«
Der General schwieg.
»Sie müssen Norddeutschland haben und eine Flotte. Aber hiezu gehören die Nordseeküsten. In einem Kriege gegen Dänemark, der jedenfalls nicht ausbleiben kann, würden Sie die Herzogthümer nehmen, über die man jetzt so viel polemisirt.«
»Und England?«
»Ja, diese Besitznahme würde allerdings ein Schlag gegen England sein, den man dort fürchtet. Haben Sie schon die ›Times‹ gelesen und mit welchem Hohn diese englische Presse gegen die Begründung einer preußischen Flotte polemisirt? Aber Sie werden keine Weltstellung einnehmen ohne eine Flotte, und dazu gehört eben ein Besitz an der Nordsee. Auch der Kaiser ist dieser Meinung.«
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»Ich zweifle nicht.«
»Die Ostseeküsten sind flach, Sie würden sich also dort selbst gegen englische Schiffsdiversionen decken können. Und von der Nordsee her würde Ihnen Frankreich den Rücken decken gegen alle Landungen. Das eben fürchtet man in England.«
»Meinen Sie?«
»Was nun Mitteldeutschland betrifft, so denke ich, daß Oesterreich schwerlich gegen Ihre Ausdehnung, Ihre Arrondirung Preußen's von der Weichsel bis zum Rhein etwas Erhebliches thun könnte. Es sind dies ohnehin Ihre natürlichen Gränzen, die Sie über kurz oder lang haben müssen.«
»Die Weichsel berührt nur im letzten Viertel preußisches Gebiet, Herr Marschall!«
»Ich weiß es - sie läuft meist in Polen. Aber Rußland würde mit dem linken Weichselufer eine große Last, eine ewige Wunde los werden, und ich kann Ihnen im Vertrauen sagen, daß die Polen es für sehr wünschend werth halten, im Fall sie nicht ein eigener selbstständiger Staat werden können, daß wieder ein Herzogthum Warschau hergestellt wird.«
»Sie beweisen augenblicklich dies wenig - in unserer Provinz Posen.«
»Oh - das liegt wohl an anderen Verhältnissen. Eine ernste Asylverweigerung im Hôtel Lambert und die bestimmte Erklärung, daß eine polnische Revolution gegen unsere Verbündeten nicht auf französischen Beistand zu rechnen hat, würde diese Heißsporne, die sich nur auf Frankreich
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und England vertrösten, sehr bald und voll zur Ruhe bringen.«
»Wir haben in unserer Combination ganz Oesterreichs vergessen.«
»Bah - Oesterreich ist ein sich selbst zersetzender Staat. Zweifeln Sie daran? Es mag seine Macht und Entschädigungen an der Donau abwärts suchen. Metternich fühlt das selbst und sucht vergeblich den Kaiser für diese neue Triasidee zu gewinnen, die man jetzt an Ihrem Bundestage, diesem ewigen Hemmschuh für die preußische Entwickelung plaidirt. Ich glaube kaum, daß der Kaiser selbst dagegen sein würde, wenn König Wilhelm das ganze Deutschland etwa bis zur Mainlinie in Anspruch nähme, indem er dafür einen zuverlässigen Bundesgenossen an Frankreich zu gewmnen suchte.‹
»Wäre dies Alles?«
Der Marschall nahm vertraulich den Arm seines Begleiters.
»Nun es verstände sich von selbst, daß wir um eine beiderseitige gesicherte Position zu gewinnen - die natürliche Gränze regelten, die Deutschland oder vielmehr dann Preußen von Frankreich scheidet; - es kann Nichts von der Natur mehr dazu Bestimmtes und Günstigeres geben, als den Rhein. Colmar, Straßburg, Belfort gehören ohnedies ja Frankreich an, die Mosel- und Saarlinie bilden nur die natürliche und politische Fortsetzung. - Das ist eben jene naturgemäße politisch richtige Verbindung, welche die Engländer fürchten. Darum verhöhnen sie Ihre Flottenbestrebungen und weisen Sie allein auf die Armee
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zurück. Sie erhoffen in dieser eine Verbindung gegen uns, gerade wie sie einst die hessischen Regimenter gegen die Nordamerikaner kauften.«
Der General blieb plötzlich stehen, zog seinen Arm aus dem seines Begleiters und sah diesem voll ins Gesicht.
»Sie glauben doch nicht Herr Marschall, daß ein König von Preußen im Dienste Englands marschiren würde?«
»Bewahre - aber ich fürchte, Sie mißverstehen mich. Die englische Presse thut freilich so, denn sie spricht ganz offen aus, daß England bei einem Kriege gegen Frankreich Subsidien verweigern würde, wenn der Bundesgenosse nicht blindlings nach dem britischen Kommando und Interesse handelte, sondern einen eigenen Willen zeige. Lesen Sie erst selbst diese Sprache und sagen Sie mir, ob die englische Unverschämtheit die preußische Politik nicht grade behandelt, wie eine ihr bereits verpachtete Domaine. - Dies Alles ist nichts Anderes, als die Besorgniß vor einer verbundenen Küste von Memel bis Bordeaux, vom Niemen bis Biarritz und zu den Pyrenäen, denn das hieße die Ausschließung der englischen Krämer-Interessen vom Kontinentalmarkt, jene Idee, die schon Napoleon I. hegte und die man so wenig zu würdigen verstand; freilich mag seine eigene Tyrannei daran die Schuld getragen haben, aber der Kaiser Louis Napoleon sein Neffe ist zu klug, um nicht die Selbstständigkeit der Nationen dabei zu achten. Ueberdies ist der Handel für die Bedürfnisse des ganzen Continents, welche sonst England berühren mußten, ein anderer geworden. Die Eisenbahnen verbreiten jetzt die Erzeugnisse
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der Levante und Indiens leicht durch ganz Europa, Aegypten baut selbstständig Baumwolle, ja wir erleben, daß England selbst Baumwolle von den rheinischen Magazinen kauft, und durch den von Frankreich gebauten Suez-Kanal werden die Erzeugnisse Indiens einen ganz andern Weg nehmen als damals, nämlich durch Italien, Deutschland und Frankreich. Schon aus diesem Grunde werden auch Sie sich der Anerkennung Italiens nicht länger entziehen können.«
»Es sind dies politische Fragen, die sich - unserer Beurtheilung entziehen. Der weltliche Vortheil kann nicht Thaten der Beraubung und der Ungerechtigkeit in das Gegentheil verkehren. Seine Majestät der König ist ein sehr gewissenhafter Herr und denken sehr religiös.«
»Deshalb findet auch die Beraubung des Oberhaupts der katholischen Christenheit bei ihm keine Zustimmung, alle guten katholischen Christen wissen das, und setzen deshalb große Hoffnungen auf ihn,« sagte hastig der Herzog.
»Verstehen wir uns recht Herr Marschall,« entgegnete der General. - »Seine Majestät der König denken in dieser Beziehung ganz evangelisch über die weltliche Macht der Kirche. Er schätzt aber Papst Pius persönlich.«
»Um so leichter wird eine Uebereinstimmung Frankreichs mit dem politischen Oberhaupt Deutschlands auch diese schwierigen Fragen lösen können. Das linke Rheinufer ist ja größtentheils so streng katholisch wie Belgien, und selbst in Holland sind zahlreiche Elemente dafür, so daß also eine Rheingränze ...«
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Der General war wiederum stehen geblieben und hatte sich zum Rückweg gewandt.
»Ueberlassen wir also getrost diese Entwickelung der Zukunft,« sagte er, »dem Willen und der Weisheit Gottes.«
Etwas frappirt folgte ihm der Marschall. »Ich stimme darin ganz mit Ihnen überein. Auch die weiseste Vorsorge der Völker und ihrer von Gott eingesetzten sichtbaren Leiter können eben nur den Entscheidungen Gottes die Wege bahnen. Ich hoffe sicher in dieser Beziehung ohne einen neuen Weltbrand und Umsturz Ihren Königlichen Herrn noch als Kaiser von Deutschland, und Preußen als Territorialmacht zu begrüßen, die das europäische Gleichgewicht sichert. Ich werde mich stets freuen, mit dem Manne, der schon so geschickt in die politischen Verhandlungen der Staaten eingegriffen hat, so vertraulich über diese Verhältnisse conversirt zu haben. Was meinen geringen Einfluß auf die Stimmungen in Frankreich betrifft, so rechnen Sie stets auf meine Sympathien für die preußische Armee und Flotte.«
Der General machte wieder eine höfliche Verbeugung und wandte das Gespräch, ohne daß esden Anschein eines Abbrechens von den bisherigen politischen Fragen gewann, auf die Umgebung und die Arrangements der für den nächsten Tag bestimmten Festlichkeiten und die bevorstehende Krönung in Königsberg.


Es war bereits Mitternacht, als sich die hohe Gesellschaft trennte. Der Herzog von Magenta hatte sich beeilt, auf einen Wink der Kaiserin seine Gemahlin aus ihren
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Gemächern abzuholen, um sie nach den ihnen selbst angewiesenen im linken Flügel des Palastes zurückzugeleiten.
Es ist bekannt, das die Gemahlin des Marschalls Mac Mahon eine sehr eifrige Katholikin ist und voll Ehrgeiz, die mit einem gewissen Fanatismus an der Abstammung ihres Gemahls von einem jener fabelhaften milesischen Königsgeschlechter hängt, die schon zu Zeiten des Romulus die Smaragd-Insel beherrschten. Die Vorfahren des Marschalls sind erst 1688 in Frankreich von Irland eingewandert, welches sie ihrer politischen und religiösen Ansichten wegen verliehen, sein Vater war bereits Pair von Frankreich, und einer der persönlichen Freunde Karl X. Dies erklärt auch gewisse legitimistische Sympathien und seine Abneigung gegen England. Brachte doch die napoleonische Presse im Jahr 1860 häufige Andeutungen, daß es nicht so unmöglich sei, daß der Abkömmling der alten milesischen Könige dermaleinst unter gewissen Umständen den Thron seiner Väter wieder besteigen könnte. -
In dem innern Salon der Kaiserin wandte diese sich sofort zum Marschall.
»Verweilen Sie noch einen Augenblick Herr Herzog, ich habe der Frau Marschallin einen Auftrag des Kaisers auszurichten. Wann reisen Sie also nach Berlin ab?«
»Ich denke in vier Tagen.«
»Dann muß ich mich allerdings beeilen, denn die Zeit zu Bestellungen in Paris ist kurz. Ich hoffe, Ihre Vorbereitungen, Frankreich mit Glanz dort zu vertreten, sind zumeist getroffen?«
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Der Marschall verbeugte sich: - - - - - -
»Seine Majestät haben es durch den unbegränzten Credit, den sie die Gnade hatten mir zu bewilligen, ermöglicht. Schade nur, daß die Lokalitäten unserer Gesandtschaft daselbst so beschränkt sind.«
»Aber ich habe die Zeichnung des Saals gesehen, den Sie zu Ihrem Ballfest anbauen lassen. Die Dekoration ist allerliebst. Und hier meine liebe Herzogin bin ich vom Kaiser beauftragt, Ihnen dies besondere Couvert für Ihre Toilette zu übergeben. Der Kaiser wünscht, daß diese Toilette die aller der preußischen Damen überstrahle, wie Ihr Name den ihren.«
Das Couvert enthielt 50,000 Franken.
»Und nun Herr Herzog, hier wartet Jemand, der sehr interessirt war, zu erfahren, wie uns dieses Haupt der deutschen Hohenstaufen gefallen hat.«
Die Portière einer Seitenthür öffnete sich und es erschien die Soutane des Priesters. Es war ein noch ziemlich junger Mann, aber die Tonsur bezeichnete ihn als einen bereits geweihten Priester.
»Treten Sie näher Herr Abbé Calvati,« sagte die Kaiserin. »Sie sollen auch alsbald die Antwort für Se. Eminenz haben. »Nun Herr Marschall, ich sah Sie lange mit einem der Cavaliere aus dem Gefolge des Königs Wilhelm sich unterhalten. Ich hoffe doch, daß es ein katholischer Herr war?«
Der Marschall zuckte die Achseln. - »Soviel ich weiß, gehört der General zu der protestantischen Kirche, und soll sogar ein sehr eifriger Protestant sein.«
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»Dann ist es Dir gewiß nicht gelungen, Maurice,« sagte die Herzogin zu ihrem Gatten, »die Meinungen dieser Ketzer über die Beraubung Seiner Heiligkeit zu erforschen. Natürlich werden die Protestanten sich mit jedem Angriff gegen unsere Kirche einverstanden zeigen.«
»Ich glaube Sie irren Frau Gräfin,« sagte der Marschall etwas chagrinirt darüber, daß die Kaiserin ihn zum Sprechen in Gegenwart eines Fremden nöthigen wollte - »wo es auf Eingriffe in die Rechte der Kirche, das heißt der Geistlichkeit ankommt, denkt die Orthodoxie beider Confessionen gleich. Selbst die Protestanten mißbilligen die Beraubung des Heiligen Vaters und bezeichnen sie als solche.«
»So sind wir also sicher, daß Preußen das sogenannte Königreich Italien nicht anerkennen wird?« frug der Priester. »Der König Franz wird als Krönungsbotschafter den Fürsten Carini nach Deutschland schicken.«
»Aber auch der König Victor Emanuel den Herzog della Rocca; die Politik Herr Abbé ist ein seltsames Feld und wechselt wie das Kriegsglück.«
Der Abbate verneigte sich höflich. »Das der Herr Marschall bisher stets an seine Fahnen zu fesseln verstand.«
»Bisher! - Ich hoffe dies im Interesse Frankreichs und der heiligen Kirche.«
»Der Kaiser,« sagte die hohe Frau, hat eine große Vorliebe für seinen hohen Gast und ich muß gestehen, daß seine Person auch mir einen Vertrauen erregenden Eindruck gemacht hat. Er hat etwas sehr Ritterliches und Gutmüthiges in seinem Gesicht! - Doch ich fühle heute noch
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keine Lust zum Schlafen. Ich will es daher machen wie der Kaiser, und da Sie ja selbst halbe Spanierin sind, wie ich Frau Marschallin, wollen wir Beide unsere gewohnte Cigarette hier nehmen und einige Augenblicke plaudern, bis die Frauen vom Dienst eintreten.« Ein Wink der Kaiserin, die sich in eine an dem ovalen Mitteltisch des Salons stehende Chaiselongue, ein Lieblingsmöbel der Kaiserin, lehnte, wies die Marschallin und die beiden Männer an, auf den gegenüber stehenden kurzen Sesseln sich niederzulassen.
»Wie kamen Sie zur Wahl Ihres Begleiters, Herr Marschall?« frug sie.
»Der Name verführte mich. Graf Pourtalès sagte mir, daß er das volle Vertrauen des Königs Wilhelm genießt. Es ist ein Vetter dieses Herrn, der Preußen bei dem Frieden von Paris vertrat.«
»Ah - ich erinnere mich, auf die Einladung des Kaisers, denn Preußen selbst hatte wohl einen sehr geringen Einfluß darauf. Aber diese deutschen Namen sind so schwierig auszusprechen.«
»Der damalige Ministerpräsident ist wie gesagt ein Vetter des Generals. Es ist ein ziemlich altes Geschlecht, das den Hohenzollern häufig verdiente Soldaten und Staatsmänner gab. Der General ist durch mehrfache diplomatische Sendungen nach Wien und Petersburg bekannt und soll in diesem Sommer noch für seine militairischen Ueberzeugungen ein Duell mit einem der preußischen Oppositionsführer gehabt haben.«
Die Kaiserin machte eine leichte Bewegung, als hege
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sie kein Interesse dafür. »Sind Sie eine Liebhaberin von Edelsteinen, Frau Marschallin?« frug sie.
»Wie alle Damen, - ich besitze einige werthvolle Familiendiamanten.«
»Dann vergessen Sie nicht, sich zu überzeugen, ob unter den Krondiamanten, welche die Königin tragen wird wie es heißt an einer Broche, sich auch jener berühmte Diamant befindet, welchem man den Namen ›der Regent‹ gegeben hat, und der eigentlich unserer Familie gehört.«
Die Marschallin blickte sie fragend an.
»Der ›Regent‹,« sagte die Kaiserin, die in allen Schmuckangelegenheiten vortrefflich Bescheid weiß, »ist einer der fünf großen Diamanten, die man kennt. Als der größte galt der des Großmoguls, der die Große eines halben Hühnereies hat und 279 Karat wiegen soll, aber seit der Einnahme von Delhi spurlos verschwunden ist. Man sagt, daß ihn die Empörer versteckt oder zu Nena Sahib gebracht haben sollen, bis das Reich des Großmoguls wieder aufgerichtet wird. Der zweite ist der Kohinoor oder Berg des Lichts, der auf drei Millionen Rupien geschätzt wurde und dem Radschah von Lahore gehörte, bis er in den Besitz der Königin Victoria kam. Wie man hört, wird er bei der Ausstellung in London im nächsten Jahre zu sehen sein, der dann hoffentlich bald eine in Paris folgt. Der im Jahre 1741 in Brasilien gefundene 1680 Karat schwere, dem Kaiser von Brasilien gehörige, Stein ›Braganza‹ ist noch nicht geschliffen, weil man fürchtet, ihn dann als unächt zu erkennen. Der berühmte Diamant ›Orlow‹ in der russischen Krone soll das Auge einer
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Bramastatue in Indien und von einem holländischen Soldaten dieser geraubt worden sein. Die Kaiserin Katharina II. ließ ihn im Jahre 1778 in Amsterdam kaufen. - Dann kommt der ›Sancy‹, der seit 400 Jahren in Europa ist und Karl dem Kühnen gehörte, der ihn in der Schlacht bei Nancy trug. Ein schweizer Soldat fand ihn bei dem Erschlagenen, und verkaufte ihn für einen Gulden an einen Geistlichen. Im Jahre 1489 kam er an Anton, König von Portugal, der ihn aus Geldnoth für 100,000 Franken an einen Franzosen verkaufte, von dem ihn später Sancy erbte, nach welchem es den Namen führt. Als Sancy als Gesandter nach Solothurn ging, befahl ihm König Heinrich III., daß er ihm als Unterpfand seiner Treue jenen Diamanten schicke. Der Marquis willigte ein, aber der Diener, dem er vertraut war, wurde unterwegs angefallen und ermordet, hatte aber vorher den Diamanten verschluckt. Es ist eine seltsame Geschichte mit dieser Ermordung. Sie wissen, ich liebe seltsame Geschichten und deshalb weiß ich so genau Bescheid davon. Sancy ließ den Diener öffnen - man sagt, bei lebendigem Leibe, indem man an jener Ermordung zweifelte, und man fand den Diamanten in seinem Magen. Jacob II. von England, der letzte Stuart auf dem englischen Königsthron besaß diesen Diamanten 1688, als er nach Frankreich kam. Später war er im Besitz Ludwig XIV. und Ludwig XV., der ihn noch bei seiner Krönung trug. Im Jahre 1855 wurde er von dem Oberjägermeister des Kaisers von Rußland für eine halbe Million Rubel gekauft.«
»Aber von wem?« frug der Marschall.
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Die Kaiserin sah lächelnd auf den Geistlichen.
»Doch wohl von seinem damaligen Besitzer - ich kenne nur die Daten. Er wiegt über 53 Karat und soll gegenwärtig im russischen Scepter sein. - Doch der Diamant, um den es sich hier handelt, der ›Regent‹ oder ›Pitt‹ so genannt, weil er durch den Engländer Pitt dem Regenten Herzog von Orleans verkauft wurde ...«
»So könnten also die Orleans darauf Anspruch machen?« sagte den Stich von vorher erwiedernd, unbefangen der Abbate.
»Hochwürdiger Herr,« war die etwas spottende Antwort, »die Orleans erheben zwar sehr vielerlei Ansprüche, aber der Diamant gehörte Napoleon I., dem ihn die Preußen nach der Schlacht von Belle-Alliance raubten. Seitdem soll er sich im preußischen Kronschatz befinden, obschon aller anderer Raub an Frankreich im zweiten Pariser Frieden zurückgegeben werden mußte, bis ...«
»Sie unterbrach die Fortsetzung der Worte, nur war der römische Geistliche nicht so discret, sondern sagte leise:
»... bis Frankreich die Gelegenheit hat, ihn wiederzuholen, wie manches andere ihm genommene rechtmäßige Gut, z. B. den Schatz der heiligen drei Könige am Rhein.«
»Still, still - keine Politik, Herr Abbé,« sagte die Kaiserin - »ich hätte kaum geglaubt, daß Sie eine so gefährliche Mission haben. - Kurz man leugnet den Besitz in Berlin und darum wäre es mir interessant, durch das scharfe Auge der Frau Marschallin etwas Sicheres zu erfahren.«
Der Marschall hatte den Geistlichen bloß von der
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Seite bei dieser Andeutung über die Gedanken des Vaticans in Betreff der Zusammenkunft zu Compiegne angesehen; doch das ruhige behagliche Gesicht des Abbé zeigte keine Spur des Bewußtseins davon.
»Ihre Majestät,« sagte die Marschallin, »haben in der That da eine bessere Beobachterin in mir vorausgesetzt als ich bin. Ich muß bekennen, daß ich mich in der Beurtheilung von Edelsteinen ganz auf den Juwelier verlassen muß und daß ich als Creolin die farbigen Steine selbst den Brillanten vorziehe. Die Smaragden, die man gegenwärtig als solche Wunder an Schönheit bei Tissot anstaunt, gefallen mir weit besser.«
»Smaragden? Man hat sie mir noch nicht vorgelegt?«
»Ich glaube, sie sind noch nicht in seinem Besitz, sie sollen noch das Eigenthum einer jungen russischen Fürstin sein, die kürzlich aus Indien oder China hier angekommen ist.«
»Ah, der Fürstin Wolchonski? - Ich hörte davon, Kapitain Boulbon erzählte uns bereits früher von dem Reichthum dieser Dame an Juwelen.«
Die Marschallin verneigte sich bejahend.
»Auch die Herzogin von Rochambeau sprach mir daher und wird die junge Fürstin nächstens vorstellen. Ja Rußland muß in der That ein merkwürdiges Land sein. Herr von Morny erzählt manche pikante Anekdote davon. So hörte ich neulich noch von ihm eine interessante Spielergeschichte aus der Zeit des jetzigen Kaisers, welche die Banken von Baden-Baden und Homburg beschämt.«
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Sie wartete offenbar auf die Aufforderung, sie zu erzählen, sei es es auch nur, um nach dem französischen Sprüchwort pour passer le temps, denn ihre Augen hatten dabei flüchtig die Uhr von Vermeil auf dem Kaminsims von schwarzem spanischen Marmor gestreift.
Der Marschall war, wie bereits erwähnt, nicht bloß Soldat, sondern auch Hofmann. »Wenn Euer Majestät nicht etwa geruhen, uns zu entlassen, - es ist bekannt, wie vortrefflich Sie zu erzählen wissen! Wenn Sie die Gnade haben wollten?«
»Warum nicht, es ist mir ein Zeitvertreib, wie jeder andere. - Es war bald nach dem Krimkrieg. Das Ereigniß machte damals in Petersburg Aufsehen, obschon man den inneren Zusammenhang nicht erfuhr. Ein russischer Kavalier, - man hat mir den Namen genannt, aber diese russischen Namen sind so schwer zu behalten wie die deutschen, - also ein russischer Offizier aus hoher Familie, der bei der Garde gestanden, nahm zu allgemeiner Verwunderung seiner Freunde den Abschied und erhielt ihn. Er war ein starker Spieler und Lebemann gewesen, und es soll in Rußland nicht ungewöhnlich sein, daß auch die besten Familien durch den großen Aufwand, den sie machen müssen, sich ruiniren.«
»Es giebt trotz der Aufhebung der Leibeigenschaft noch immer kolossale Vermögen in Rußland,« sagte der Marschall.
»So scheint es, aber bei dem Vorgang, den ich Ihnen erzähle, scheint der russische hohe Adel sehr interessirt gewesen zu sein. Die Russen sind bekanntlich große Spieler.
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Man munkelte, daß jener Kavalier - nennen wir ihn meinetwegen mit dem Namen jener Smaragdendame: Graf Wolchonski - trotz seines großen Vermögens sich ruinirt habe. Um so mehr war man erstaunt, nach kurzem Verschwinden aus der Gesellschaft ihn wieder in dieser erscheinen zu sehn und zwar mit einem Glanz, der seine früheren Depensen überbot. Er hatte eine Villa oder ein Haus in der Umgebung von Petersburg gekauft und mit einem wahrhaft orientalischen Luxus einrichten lassen, in welchem er Gesellschaften gab, die an die Feste eines Potemkin oder der Regentschaft in Frankreich erinnerten und bald die ganze junge Männerwelt Petersburgs an sich zogen. Alles, was an Eleganz und Reichthum sich in der Czarenstadt sammelte, suchte dort Zutritt, denn die Gesellschaft war natürlich sehr exclusiv und aristokratisch, und es galt als ein Passepartout für die vornehmsten, selbst die Hofkreise, bei den Abend-Gesellschaften des Herrn von Wolchonski Zutritt zu haben. Man wußte zwar, daß dort gespielt wurde, denn in welcher Gesellschaft wird in Rußland nicht gespielt, aber es geschah unter den Augen der Polizei und diese konnte nur die höchste Loyalität und Noblesse bei dem Spiel constatiren, obschon das fabelhafte Glück des Obersten das größte Staunen erregte. Ich habe gehört, daß ein Landsmann von mir, ein Herr Garcia in diesem Jahre in den rheinischen Bädern ein ähnliches fabelhaftes Glück gezeigt hat. Es war natürlich, daß diese kleinen Abendgesellschaften und das Spielerglück selbst bei Hofe besprochen wurden und zu Ohren des Kaisers kamen, um so mehr, da in rascher
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Aufeinanderfolge mehrere der angesehensten und reichsten Familien fast ruinirt wurden und zwei Selbstmorde von Offizieren vorkamen, die hier ihr Verderben gefunden hatten. Der Kaiser gab dem Chef der Polizei, die bekanntlich in Rußland sehr gut sein soll, die strengsten Befehle zur Ueberwachung jener Gesellschaften, aber wie gesagt, sie konnte nur das Beste berichten.«
»Unter Kaiser Nicolaus,« sagte der Marschall, »hätte man sie ganz verboten und den Herr Obersten eingesperrt, wie man es überhaupt mit den Verführern der jungen Offiziere machen muß.«
»Die Familie des Bankhalters scheint doch zu vornehm gewesen zu sein, um zu einem solchen Mittel ohne allen Beweis greifen zu können. Kurz so viel steht fest, daß der Oberst selbst bei den Festen im Winterpalais Eintritt behielt. Endlich eines Tages ließ einer der verdientesten Generäle aus dem Krimkriege um Audienz bei dem Kaiser bitten und bat um seinen Abschied. Der Kaiser frug ihn vertraulich nach der Ursache, und da erfuhr er, daß der General diesen nehmen wolle, weil sein einziger Sohn, der als Offizier in der reitenden Garde stand, ihn und die ganze Familie durch sein Spiel vollständig ruinirt und gezwungen habe, selbst sein Haus in Petersburg zu verkaufen, um einen Kassendefect zu decken, den der junge Offizier begangen hatte.
Die Kassendefekte sollen nun zwar in Rußland nichts so Seltenes sein, daß der Kaiser darüber erstaunen konnte, doch desto mehr über die Selbstanklage des Generals, der einer seiner Lieblinge war.
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›Wie hoch haben sich Deine Verluste belaufen, Fedor Nikolajewitsch,‹ frug er.
›Ueber hunderttausend Rubel, Majestät!‹
›Das ist allerdings viel,‹ sagte der Kaiser. ›Und das ganze Geld hat Dein Sohn verspielt?‹
›Leider!‹
›Aber wo?‹
›In dem von Gott verfluchten Hause des Obersten Wolchonski!‹
›Ich dachte es mir fast,‹ sagte der Kaiser. ›Höre Fedor Nikolajewitsch, Du bist nicht der Einzige, dem es so gegangen ist. Aber dieser Sache muß ein Ende gemacht werden. Gehe nach Hause, behalte Dein Regiment und Dein Haus und sprich mit keinem Menschen von dem was Du mir vertraut hast. Dein ungerathener Sohn aber wird noch heute nach dem Kaukasus versetzt werden.‹
Der General ging getröstet nach Hause, der Kaiser aber setzte sich alsbald nieder und schrieb einen Privatbrief an den Kaiser von Oesterreich, mit dem er also damals sehr gut gestanden zu haben scheint. In diesem Briefe ersuchte er den Kaiser Franz Joseph, unter bestimmten Vorsichtsmaßregeln ihm den geschicktesten Polizeibeamten, den Wien hätte, zuzuschicken.
Es vergingen nicht acht Tage, so ließ sich ein Baron Eötvös bei dem Kaiser Alexander melden, als der Ueberbringer einer Allerhöchsten Empfehlung und wurde alsbald eingeführt.
Der Baron mit dem ungarischen Namen entpuppte sich als ein österreichischer Polizeibeamter.
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›Sind Sie Spieler?‹ frug der Kaiser.
›Sire, ich kenne alle Spiele, die in Europa üblich sind.‹
›Verstehn Sie sich auf falsche Karten?‹
›Sire, ich bin drei Jahre in Italien Croupier gewesen. Die Verfolgung falscher Spieler ist eine meiner Hauptforcen.‹
Der Kaiser erzählte ihm hierauf den Verdacht, den man gegen den Obersten hegte, aber er verhehlte ihm nicht, das es selbst den schärfsten Augen nicht gelungen sei, einen solchen Verdacht zu begründen.
›Sire,‹ sagte der Beamte - verzeihen Sie, aber - sollten die russischen Beamten, die mit der Beobachtung betraut waren, nicht vielleicht bestochen gewesen sein, ein Auge zuzudrücken?‹
›Ich habe selbst daran gedacht,‹ sagte sehr offenherzig der Kaiser, ›aber in diesem Falle ist es nicht möglich. Sie wissen alle, was sie zu riskiren hatten. Man hat sich die Karten, die dort gebraucht waren, zu verschaffen gewußt, und - hier sind drei solcher Spiele.‹
›Dann bleibt nur übrig, mich selbst zu überzeugen, Majestät, aber ich muß dazu Gelegenheit haben, das Spiel des Herrn Oberst zu beobachten, denn diese Karten sind allerdings ganz unverfänglich. Es müßte demnach auf eine so geschickte Weise die Volte geschlagen werden, wie es nur Wenige in Europa verstehen, und diese kenne ich alle.‹
Der Kaiser dachte nach, dann sagte er. Ich will unter allen Umständen der Sache auf die Spur kommen. Quartieren Sie sich unter dem Namen, unter dem Sie
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gemeldet wurden, denn wir müssen dem Gegner gegenüber möglichst vorsichtig und offen zu Werke gehen, in dem ersten Hôtel an der Newski Perspektive als vornehmer Fremder ein, scheuen Sie keine Kosten, und lassen Sie sich auch bei Hofe vorstellen. Das ist die beste Gelegenheit, in alle Cirkel eingeführt zu werden. Sobald Sie in dem Hause des Verdächtigen Eintritt gefunden haben, lassen Sie sich wieder bei mir melden.‹
Der Baron Eötvös, dem von Wien aus die besten Empfehlungen zur Seite standen, folgte dem Befehl, fand bald in der vornehmen Gesellschaft Zutritt, da er ein vollendeter Kavalier und sehr angenehmer Gesellschafter von der feinsten Bildung war, und es dauerte auch nicht lange, bis er von in Offizierkreisen gewonnenen Bekannten bei dem Obersten Wolchonski eingeführt wurde.
Zwei Tage darauf ließ er sich beim Kaiser melden.
›Nun, mein Herr, ist es Ihnen gelungen, das falsche Spiel zu entdecken?‹
›Sire, ich bin entweder blind, oder der Dupe eines schlauern Mannes. Ich habe Gelegenheit gehabt, während eines ganzen Abends dem Spiel des Herrn Obersten zuzusehen, sogar meinen Platz mehrfach geändert, selbst mitpointirt und ihn auf's Genaueste beobachtet. Er schlägt entweder die Volte in einer bisher ganz unbekannten Weise und mit Karten, deren Kennzeichen nur ihm bekannt sind, oder - er hat ein Pakt mit dem Glück gemacht.‹
›Und was glauben Sie?‹
›Er spielt falsch - aber es ist mir unmöglich gewesen, bisher zu entdecken, wie?‹
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›Gehen Sie und setzen Sie Ihre Beobachtungen fort - wir müssen die Entdeckung machen um jeden Preis.‹ -
Der Beamte entfernte sich und blieb acht Tage fort. Dann ließ er sich wieder bei dem Kaiser melden. ›Sire,‹ sagte er, ›der Oberst steht mit dem Teufel im Bunde, oder - sein Glück geht mit rechten Dingen zu, und - ich bin ein Stümper in meinem Amt. Es sind in meiner Gegenwart wohl zweimalhunderttausend Rubel in dieser Zeit von dem Obersten gewonnen worden, ohne daß ich ein falsches Spiel entdecken konnte. Ich bitte Euer Majestät, mich entlassen zu wollen, denn - zur vollen Ueberzeugung gäbe es nur ein Mittel, und das wäre zu kostspielig.‹
›Sprechen Sie,‹ sagte der Kaiser, ›ich muß die Ueberzeugung haben, selbst um jeden Preis.‹
›Dann müssen Euer Majestät mich zu einer Haussuchung bei dem Obersten bevollmächtigen, aber einer Haussuchung, bei der ich nöthigenfalls das ganze kostbare Haus demoliren kann.‹
›Was brauchen Sie dazu?‹
›Die Vollmacht Eurer Majestät und eine halbe Sotnie Ihrer Kosacken, die nur mir zu gehorchen und von niemand Anderem Befehle anzunehmen hat.‹
›Was bezwecken Sie damit?‹
›Sire, ich bin überzeugt, daß mit falschen Karten gespielt wird. Diese müssen nach dem Spiel irgend wohin bei Seite geschafft werden, aber es war unmöglich zu entdecken wohin und wo sie sich befinden, denn es wird jede Taille mit frischen Karten gespielt. Die Karten, welche Ihre Polizei confiscirt oder entwendet hat, tragen keinerlei
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beweisende Merkmale. Es ist bekannt, daß in jedem vornehmen Hause die beim Spiel gebrauchten Karten ein Douceur der Dienerschaft bleiben. So ist es auch bei dem Herrn Obersten und ich habe mich überzeugt, daß die von den Dienern ganz offen verkauften Karten ganz unverdächtig sind. Aber ...‹
›Nun?‹
›Ich habe ermittelt, daß nicht alle Karten verkauft werden. Es muß also ein Vorrath gebrauchter im Hause zurückbleiben. Aber wo? - das ist nur auf die von mir bezeichnete Weise zu ermitteln.‹
›Mut, es sei denn, obschon ach gern Aufsehen vermieden hätte. - Warten Sie!‹ - Der Kaiser ging an einen Tisch und schrieb eigenhändig eine Ordre. ›Nehmen Sie - aber ich rathe Ihnen selbst, erst im Augenblick der Ausführung davon Gebrauch zu machen und - wie alle Fremden thun müssen, Ihre Abreise drei Tage vorher anzukündigen. Sollten Sie Etwas entdecken, so bin ich bei Tag und Nacht für Sie zu sprechen.‹
Der Beamte dankte und empfahl sich. Die Zeitungen brachten in der gewöhnlichen Weise die Anzeige, daß der Baron von Eötvös Petersburg zu verlassen gedenke und alle Forderungen an ihn einzureichen bitte.
Der gewöhnliche Spielabend bei dem Obersten traf auf den zweiten Tag vor der angezeigten Abreise. Der Baron kam etwas spät in die Gesellschaft. Er war erst im Dunkel nach einer der zahlreichen Kasernen gefahren und hatte dort den wachehabenden Offizier rufen lassen. Dieser erhielt von ihm die nöthigen Instruktionen, aber
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nur die Angabe, wo er mit seinem Detaschement anzutreffen sei.
Als der Baron in das Landhaus eintrat, war das Spiel bereits in vollem Gange und er wurde mit aller Liebenswürdigkeit empfangen, die dem vornehmen Russen eigen ist, und seine Abreise bedauert. Er verweilte, bis die Gesellschaft um 2 Uhr in der Nacht aufzubrechen begann und war einer der Letzten, welche fortfuhren.
Aber er hatte kaum tausend Schritte gemacht, als er seinem Iworsnik umzukehren und zurückzufahren befahl. Mit Erstaunen sah die Dienerschaft des Obersten ihn wieder eintreten und - direkt nach dem Kabinet gehen, wo der Hausherr noch mit zwei Damen der Gesellschaft saß und ihm entgegen kam.
›Welches Vergnügen Sie noch wiederzusehen, Herr Baron, Sie haben gewiß etwas vergessen.‹
›Ich komme, Herr Graf,‹ sagte der Beamte, ›um Ihnen einen kleinen Irrthum aufzuklären. Ich bitte Sie, dieses Papier zu lesen, ich habe den Allerhöchsten Auftrag, bei Ihnen Haussuchung zu halten, und ersuche Sie, Sich vorerst nicht von Ihren Platz zu rühren, es sei denn, Sie wollten mir freiwillig Ihren Vorrath an Spielkarten aushändigen?‹


Der Oberst schien weder betroffen noch besorgt. Er legte sich ruhig in seinem Fauteuil zurück.
›Die Sache ist nicht neu‹ sagte er, ›die Polizei hat schon früher mein Glück zu erklären gesucht, die Karten, die heute Abend gebraucht worden sind, liegen noch im
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Salon, und hier ist der Schlüssel zu meinem Pult, worin mein ganzer Vorrath von Karten aufbewahrt wird.‹
›So erlauben Sie?‹ der Beamte öffnete ein Fenster und that einen Pfiff. Nach einigen Augenblicken trat ein Kosaken-Offizier mit mehreren Arbeitsleuten herein. ›Zu Deinem Befehl, Gospodin. Hier sind die Leute. Das Haus ist rings besetzt, und keine Seele kann es verlassen ohne Deine Erlaubniß.‹
Es waren ein Schlosser, ein Maurer, ein Tischler, die mit ihren Werkzeugen eingetreten waren, andere warteten draußen. ›Befehl des Kaisers,‹ sagte der Beamte. ›Ich übernehme alle Verantwortung.‹
Und nun begann unter seiner Leitung eine Haussuchung, bei der auch kein Möbel, keine Schublade, kein Fuß breit der Mauer oder des Parquets ungeprüft blieb. Der Oberst wohnte derselben mit großer Ruhe bei und öffnete bereitwillig jedes Behältniß. Die Nachsuchung dauerte volle drei Stunden, aber der wiener Beamte konnte nicht das geringste Verdächtige finden. Mit Ausnahme der Karten, welche der Hausherr ihm selbst angegeben, fand sich kein anderes Blatt, und jene Packete enthielten ganz richtige Karten. Nach vollen drei Stunden mußte der Beamte sich selbst gestehen, daß alle seine Mühe vergeblich gewesen, und daß er sich, und - was wichtiger war, - der vornehmen Gesellschaft gegenüber den Kaiser blamirt hatte. Er mußte sich zuletzt entschließen, die Arbeiter und die Eskorte fortzuschicken und versuchte sich mit dem Befehl, der ihm geworden, zu entschuldigen.
Der Graf war jeden Augenblick der vornehme Mann
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geblieben, hatte keinen Augenblick seine Haltung verloren oder sich dem Befehl des Kaisers zu widersetzen Miene gemacht. Als der Beamte ihm jetzt anzeigte, daß die Haussuchung beendet und ohne Resultat geblieben, nahm er dies eben so kaltblütig auf und geleitete den Beamten durch die Vorzimmer bis zum Ausgang.
Dieses Vorzimmer zeigte keinerlei Möbel, die Wände waren ohne Schränke, nur mit alten Waffen und musikalischen Instrumenten und ähnlichen Gegenständen geschmückt. Indem der falsche Baron bereits die Thür in der Hand hatte, fing er zufällig einen spöttischen Blick des Hausherrn auf, der über eine gewöhnliche spanische Mandoline streifte. Ein Gedanke blitzte ihm durch den Kopf und er trat in das Foyer zurück. -
›Erlauben Sie, daß ich hier noch meine Pflicht erfülle.‹
›Thun Sie ganz nach Ihrem Belieben,‹ sagte der Hausherr mit der bisherigen Ruhe. Der Beamte ging direkt auf die Stelle zu, wohin er den Blick des Spielers aufgefangen hatte und streckte die Hand nach der Guitarre aus. In diesem Augenblick fühlte er eine andere auf der seinen. Diese Hand war feucht, es war die des Grafen. ›Bitte einen Augenblick mein Herr,‹ sagte dieser - ›treten Sie gefälligst hier herein, ich habe mit Ihnen zu sprechen.‹ Er öffnete selbst eine Seitenthür und Beide traten in ein Zimmer, der Beamte hatte noch immer die Guitarre in der Hand, aus der beim Schütteln mehrere Spiele Karten fielen. Der Graf hatte sein Portefeuille gezogen und mehre Bankchecs herausgenommen. ›Unser Spiel ist gespielt,‹ sagte er eben so ruhig wie früher - ›Sie haben
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gefunden was Sie suchten, diese Karten sind allerdings genügend, pour corriger la fortune. Ich denke, wenn ich Ihnen mein Ehrenwort gebe, künftig keine Karte mehr anzurühren und Sie ersuche, diese dreißigtausend Rubel für Ihre Kosten von mir anzunehmen, kann auch der Kaiser zufrieden sein.‹
Der Beamte schwankte einen Augenblick - dreißigtausend Rubel waren ein Vermögen, mit dem er sich in Oesterreich eine wirkliche Baronie kaufen konnte. Aber er blieb fest, und wies die Scheine zurück. ›Herr Graf‹ sagte er, ›ich kenne meine Pflicht. Werfen Sie sich Ihrem Monarchen zu Füßen, - ich glaube es kommt ihm nur darauf an, Ihr Spiel aufhören zu machen, das die besten Familien ruinirt.‹ - Der vornehme Graf warf ihm einen Blick zu, dann sagte er. ›Verzeihen Sie mein Herr, ich habe Sie verkannt. Das wäre, was man einem russischen Beamten hätte bieten können. Hier in diesem Portefeuille sind einmalhunderttausend Rubel. Nehmen Sie es, schweigen Sie und bewahren Sie einen der ersten Namen Rußlands vor Schmach. Ich bitte Sie darum und verpfände Ihnen nochmals mein Wort, keine Karte anzurühren und Rußland zu verlassen.‹
Diesmal war die Versuchung zu groß - der Beamte nahm das Portefeuille und verließ das Haus.
Am andern Tage zeigte er dem Kaiser schriftlich an, daß seine Mission mißglückt sei, daß er nichts Verdächtiges gefunden habe und beschämt nach Wien zurückkehre.
Am Nachmittag hörte er im Hôtel von einem großen Diebstahl sprechen, der am vergangenen Tage dem Grafen
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Wolchonski zugefügt sei und ihn, den Liebling der vornehmen Gesellschaft, zu ruiniren drohe. Die ganze Polizei sei wegen dieses Diebstahls bereits auf den Beinen und der Telegraph spiele nach allen Hauptstädten Europas, denn die Nummern der gestohlenen Banknoten seien wohl bekannt. Die Zeitungen brachten bereits ein genaues Verzeichniß derselben.
Der Wiener hatte nichts Eiligeres zu thun, als die Zeitung zu nehmen, auf sein Zimmer zu gehen, die Thür abzuriegeln und dort die Brieftasche mit ihrem Inhalt genau mit den Angaben in der Bekanntmachung des Ober-Polizeimeisters zu vergleichen.
Es stimmte Alles auf das Genaueste: die Beschreibung des Portefeuille, die Nummern und Buchstaben der Banknoten, - er sah, daß ihn der Russe überlistet hatte, denn nach dieser Bekanntmachung war keine der Banknoten irgendwo auszugeben, ohne daß sie als gestohlen erkannt und angehalten worden wäre. Dagegen war nach einiger Zeit der Werth durch Nichtigkeitserklärung von dem früheren Besitzer sehr leicht wieder zu realisiren.
Und er selbst hatte nicht den geringsten Beweis gegen ihn wegen falschen Spiels in Händen, denn natürlich hatte es ihm nicht einfallen können, gegenüber einer solchen Bestechung die gefundenen gezeichneten Karten mitzunehmen. Er sah, daß er ganz in den Händen des Russen war, schlug sich vor die Stirn und dachte nach.
Endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt. - Statt sich nach der Eisenbahn zu begeben, fuhr er noch einmal zum Winterpalast und ließ um eine Audienz bitten.
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Der Kaiser empfing ihn diesmal ziemlich kalt in seinem Kabinet. ›Ich bedaure sehr,‹ sagte er, ›daß Ihre Mühe vergeblich gewesen ist und ich kann nun Nichts weiter unternehmen, um so mehr, da der Graf nach dem Polizeirapport ein bedeutendes Unglück gehabt hat. Ihre Bemühungen werden Ihnen in Wien honorirt werden, und wir wollen Beide von dem Geschehenen das möglichste Schweigen beobachten.‹
Aber statt auf diese Entlassung sich zu entfernen, fiel der Wiener dem Kaiser zu Füßen und streckte ihm die Brieftasche entgegen. ›Sire,‹ sagte er, ich bitte um Gnade. Der Teufel des Reichthums hat mich einen Augenblick verblendet. Meine Mission war vollständig gelungen.‹ Und nun erzählte er dem Kaiser alles Geschehene auf das Genaueste, ohne seine Schuld zu verheimlichen, und legte zugleich die Zeitung vor, welche die Nummern der angeblich gestohlenen Banknoten enthielt.
Der Kaiser war überrascht - er that mehrere Fragen, welche ihn von der Aufrichtigkeit des Geständnisses überzeugten, verglich die Nummern und dachte dann nach.
›Sie haben allerdings sehr gefehlt,‹ sagte er, ›aber ich vergaß Sie auf das Wort meines Ahnherrn11 aufmerksam zu machen, mit dem er die Niederlassung der Juden in Rußland gestattete. - Es kam mir bloß darauf an,
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Gewißheit über meinen Verdacht zu erhalten. Nehmen Sie dreist diese Noten mit sich als Ihre Belohnung und seien Sie stets ein ehrlicher Mann gegen Ihren Kaiser. Geben Sie her, ich werde sie Ihnen selbst umtauschen, und daß ich die Nummern gestohlen habe, wird man wohl nicht behaupten!‹ -
Der Kaiser ging in sein Kabinet, brachte selbst dem Wiener die umgetauschten Banknoten und entließ ihn. - Am andern Morgen hielt die bekannte Kibitka in der Dämmerung vor der Villa des Grafen Wolchonski, der angebliche Baron Eötvös aber soll in Unterösterreich sich eine prächtige Villa an einem der schönen Bergseen getauft und sich in das Privatleben zurückgezogen haben.«
»Und von dem Grafen Wolchonski, wie Euer Majestät ihn zu bezeichnen beliebten,« frug die Marsch allin, der als Dame diese Freiheit wohl gestattet war, »hat man nie wieder gehört?«
»Verzeihen Sie, Frau Marschallin,« sagte der Abbé, »wenn ich mit Ihrer Majestät Erlaubniß die Bemerkung mache, daß der Herr Herzog von Morny wohl nicht mitgetheilt hat, daß die Anekdote bereits zur Zeit des Kaisers Nicolaus und nur wenige Jahre vor dem Krimkriege sich ereignete, in einer Zeit, wo Frankreich noch nicht das Glück hatte, eine so ausgezeichnete Erzählerin seine Beherrscherin zu nennen, und daß seitdem der jetzige Czar den angeblichen Oberst Wolchonski längst aus Sibirien begnadigt hat und er in der Armee, die jetzt am Pruth zusammengezogen wurde, eine hohe Charge bekleidet.«
Die Kaiserin lachte. »Sie sehen,« sagte sie, »daß
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die hohe Kirche ihre Rapports überall hat. Zur Sühne sollte der Herr Abbé eigentlich dafür uns mit einer Anekdote aus Rom unterhalten, wenn ich nicht die Frau Marschallin noch erinnern möchte, daß sie nicht versäumen möge, in Berlin sich die neuen Sensitiven anzusehen, die selbst die Erinnerungen an unsern Hume in Schatten, oder vielmehr ins Lichte stellen sollen. Ich hoffe, daß die Kirche Nichts gegen eine solche kleine Exkursion auf das Gebiet der weißen Magie und der Theorie von Geistererscheinungen haben wird.«
»Euer Majestät wissen, daß die heilige Schrift selbst die Erscheinungen von Geistern bestätigt und nur die Beschäftigung mit den bösen und teuflischen verbietet.«
»So daß also die Nekromantie eigentlich erlaubt wäre?«
»Nach ihrer Bedeutung als solche verbietet sie als ein Teufelswerk die Kirche ganz bestimmt. Dennoch hat sie sich leider nicht bei allen Völkern und zu keiner Zeit ganz unterdrücken lassen. Die heilige Inquisition, diese vortreffliche Einrichtung des vierten lateranischen Concils und des Papstes Innocenz zur Reinhaltung und Festigung des katholischen Glaubens, hat vielfach Gelegenheit gehabt, sich mit dieser schlimmen Wissenschaft als einer sehr gefährlichen Ketzerei zu beschäftigen.«
»Hat nicht auch der berühmte Cagliostro in den Kerkern der Inquisition zu Rom sein Ende gefunden?«
»So ist es, Majestät, es war dies im Jahre 1795, daß jener entwichene Priester Giuseppe Balsamo vom heiligen Vater als arger Freimaurer und Aufwiegler der
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Geister zum Tode verurtheilt und zur ewigen Haft begnadigt auf dem Fort San Leon starb. Diese Art der Ketzerei nimmt leider wieder sehr überhand, und es ist grade das katholische Frankreich, wo gegenwärtig die Freimaurerei so hohen Schutz wieder genießt.«
Die Kaiserin machte eine spöttische Bewegung. »Oh, wenn Sie damit unsern werthen Vetter, den Prinzen Napoleon meinen,« sagte sie, »der so gern Großmeister der Logen von Frankreich werden möchte, so bleiben Sie unbesorgt über diesen Ehrgeiz. Ich lasse dem Herrn Cardinal die Versicherung geben, daß Plonplon niemals ein Carbonari von Bedeutung sein wird, so wenig wie sein Concurrent, dem es mehr am Herzen liegt, sich zum König von Neapel ernennen zu lassen. Aber so viel ich weiß, ist seit alter Zeit gerade Rom, der Sitz des heiligen Vaters, eine Stätte der Nekromantie und der Weissagungen gewesen.«
»Leider, leider,« sagte der Abbé. »Das Ketzerthum hat durch die Duldung der Juden, dieser steten Hehler des gefährlichsten Unglaubens und der verbotenen Künste wieder sehr überHand genommen. Hat doch unter'm Schutz des erhabenen Gemahls Ihrer Majestät dieser Herr Mocquard selbst ein Theaterstück aufführen lassen können, das die jüdische Apostasie in Schutz nimmt und dürfen die französischen Gerichte in diesem Augenblick eine Abtrünnige in Schutz nehmen, die der Macht der heiligen Kirche sich entzogen hat.«
»Oh - Sie meinen die Sängerin Carlotta?«
»Eine Verfluchte - eine Verworfene!«
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»Ja, lieber Herr Abbé,« meinte die Kaiserin - »Mademoiselle Carlotta gehört zum Theater und beginnt jetzt in Paris Mode zu werden, grade wie jene kleine Russin mit ihren Smaragden, von der wir vorhin sprachen. Wenn sie nicht so schwerfällig und träge wäre, wie ich höre, könnte sie vielleicht die Theresa ersetzen, die seit dem Feldzug in der Lombardei, also seit zwei Jahren verschwunden ist. Mit der Mode und mit dem Theater lieber Abbé ist Nichts zu machen, und das halbe Theater, das wissen Sie von der Rachel und Offenbach her, gehört zum alten Testament. Also muß sich die Kirche hier schon mit der Erinnerung an eine Abtrünnige genügen statt mit der Person. Aber unser Gespräch hat eine ganz andere Wendung genommen, als ich beabsichtigte. Sie haben uns gesagt, Herr Abbé, wie die Kirche zu der alten Nekromantie und Zauberei steht, aber was sagt sie zu den Klopfgeistern, dem Magnetismus, Mesmerismus und den jetzigen Spiritisten?«
»Erlauben Eure Majestät mir mit Ihren eigenen Worten zu antworten, - mit der Mode und mit dem Theater ist Nichts zu machen!«
»So glauben Sie also nicht an die Klopfgeister und Gespenster?«
»Ich glaube nur an Geister, welche die Kirche als solche bezeichnet, am wenigsten an die Gespenster.«
Der Marsch all sah ihn fest an.
»Haben Sie noch nie ein Gespenst gesehen?«
»Nein - und Sie?«
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Der Abbé schien die Sache halb scherzhaft behandeln zu wollen.
»Haben Sie niemals von dem Schlachtengespenst gehört?«
»Ich habe wohl von dergleichen gehört - ich leugne überhaupt nicht die Möglichkeit der Erscheinung der Geister, es wäre das gegen die Religion, ja ich möchte sagen gegen jede Religion - und wir Christen wissen am Besten, daß Gott der Herr die Macht hat, zu seinen weisen Zwecken die Todten aus ihren Gräbern erstehen zu lassen. Ich behaupte nur, daß die Menschen nicht das Recht haben, sie zu rufen, ohne Frevel und Sünde zu begehen. Ich wiederhole, die Kirche lehrt, daß es böse und gute Geister giebt. Zu den letztern gehören die Engel, zu den erstern die Dämonen, die Heerschaaren des Teufels.«
»Und zu welchen von beiden gehört also das Schlachtengespenst?«
»Der Herr Marschall haben mir meine Frage noch nicht beantwortet, haben Euer Durchlaucht das Schlachtengespenst gesehen?«
»Ja, Herr Abbé - zwei Mal! jeder alte kriegserfahrene Soldat kann Ihnen davon erzählen. Ich habe es zwei Mal gesehen. Nach dem Sturm auf Constantine, und nach der Schlacht von Magenta. Sie sehen, Herr Abbé, daß sein Erscheinen sich nicht an die Nationalitäten oder an die christliche Kirche bindet.«
»Das müssen Sie uns erzählen,« sagte die Kaiserin, »aber ein anderes Mal, heute habe ich Sie hier behalten,« und sie sah zugleich auf die Uhr über dem Kamin und
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nach der Thür ihres Schlafgemachs, in der ihre erste Kammerfrau erschienen war, »nur wegen ein wenig Kartenschlagens oder Wahrsagens, und das wird doch keineswegs in Gegenwart einer schönen Frau, eines tapfern Soldaten und eines Geistlichen etwas so Erschreckendes oder Gefährliches sein wie eine Geistererscheinung.«
»Wie, Euer Majestät wollten sich wahrsagen lassen? Aber es giebt hier keine Lenormand,« sagte heiter die Herzogin.
»Nun - aber etwas Originelleres. Einen alten Schäfer aus der Nähe von Pierrefonds, der einen großen Ruf besitzt und den uns eines unserer Kammermädchen, das aus Compiegne stammt, sehr gerühmt hat. Sie müssen als halbe Spanierin wissen, Frau Marschallin, daß wir Alle ziemlich abergläubisch sind, und ich habe mir diesen Wahrsager expreß für diese Gelegenheit aufgehoben. Nun, wie ist's Madame de Lenoir, hat Ihre Françoise den Mann herbeigeschafft oder nicht?«
»Der Mann wartet seit einer halben Stunde in meinem Zimmer!«
»Nun da führen Sie ihn her. Er wird sich doch nicht vor anderen Personen scheuen?«
»Euere Majestät werden sich, fürchte ich, in Ihren Erwartungen getäuscht fühlen. Der von Françoise gerühmte Mann ist zwar da, aber es ist ein sehr einfacher und schlichter Bauer, der vielleicht das gebrochene Bein eines Schaafes besprechen kann aber schwerlich geeignet ist, Euer Majestät eine Unterhaltung zu gewähren.«
»O, Sie dürfen auch eben Nichts über unsere Personen
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sagen, deshalb Frau Marschallin hielt ich Sie zurück. Der Mann kennt, wie ich hoffe, nicht einmal die Person des Kaisers, wenn er auch von unserer Anwesenheit gehört hat.«
»Es scheint so,« sagte der Marschall, »daß Euer Majestät mich bestimmt haben, den Kaiser selbst vorzustellen?«
»Bitte, Sie werden ihn ja ohnehin bei der Gelegenheit repräsentiren, über welche ich eben ein so unbefangenes Orakel hören möchte. - Holen Sie also Ihren Propheten, liebe Lenoir.«
Die Kammerfrau entfernte sich und kam nach einigen Augenblicken mit einer für diese Umgebung allerdings seltsamen Persönlichkeit zurück.
Es war in der That ein alter und sehr einfacher Landmann, wie man ihn in einer gewissen Entfernung von Paris auf abgelegenen ländlichen Ortschaften noch heute oft findet. Er mußte nach den schlichten weißen Haaren, die er unter einem Kamm am Hinterkopf trug, über siebenzig Jahr alt sein, trug kurze Lederhosen und hohe wollene Strümpfe, die bis über die Knie reichten, dicke und plumpe Schuhe, dazu die gewöhnliche blaue Blouse der französischen Bauern und hielt die gestreifte Zipfelmütze in der Hand. Der Mann hatte etwas Gutmüthiges aber überaus Linkisches und Befangenes, was freilich in der seltsamen Situation, in die er gradezu aus seiner Schaafheerde abgeholt worden war, seine Erklärung fand. Dazu hatte er äußerst blöde und geröthete Augen.
Die Kaiserin hatte der Herzogin einen Wink gegeben, den Mann zu befragen.
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»Wie heißt Du, Freund?«
»Pierre, Madame.«
»Ist das Dein ganzer Name?«
»Die Leute, die mich suchen wollen, fragen gewöhnlich nach dem Schäfer Pierre von den Römergräbern. Ich wünschte, sie ließen mich in Frieden bei meinen Schaafen.«
»Aber sie glauben, Du könntest in die Zukunft sehen und sie ihnen voraussagen.«
»Die kann Gott allein wissen und die heilige Jungfrau. Die einfältigen Leute meinen freilich, daß ich mehr wissen müsse als Andere, weil ich meine Schaafe immer auf den alten Heidengräbern hüte. Die Thiere sind klüger als die Menschen glauben, Madame, und haben mich in den fünfundsechszig Jahren manches Kraut kennen lernen, das gegen allerlei Krankheiten hilft.«
»Nicht auch gegen den Tod?«
»Nein, Madame - wir Alle müssen sterben, die Reichen und Mächtigen so gut wie die Niedern und Armen. Das ist gut und hat der liebe Gott so in seiner Weisheit gemacht, damit wir Alle einen und denselben Trost haben.«
»Und der ist?«
»Ich sagte es Ihnen schon: das Grab, auf das wir uns Alle vorbereiten sollen.«
»Das sind weise und hohe Worte im Munde eines Schäfers!«
»Warum sollte Gott nicht auch den Aermsten, den Hirten, Erleuchtung des Geistes gegeben haben! Schon die heilige Schrift lehrt, obgleich ich nicht gelernt habe, sie zu lesen, daß Hirten es waren, welche den Heiland
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zuerst erkannten und ihn auf dem Schoos der heiligen Jungfrau verehrten, eher als die Könige aus dem Morgenland kamen.«
»Du hast Recht, die wahre Weisheit ist oft bei der Einfalt zu suchen!«
»Sie mögen immerhin meiner spotten, Madame, aber hat nicht Gott grade auch eine arme Schäferin gewürdigt, Frankreich aus der Macht der Engländer zu retten, bis er sie grade an dieser Stelle wieder in ihre Hände gab, damit sie durch den Tod als Märtyrerin Zeugniß ablege für ihn. Ich sehe oft in der Nacht die weiße Taube über die Bäume niederschweben, die ihr Geist ist, und die wiederkehren darf, wenn Frankreich ein Feind naht, und meine Schaafe sehen sie auch.«
»So! - also die Seele der Jungfrau von Orleans läßt sich in Gestalt einer weißen Taube vor Dir sehen, wenn Frankreich ein Feind naht?«
»Ein Feind oder wenn ein Unglück bevorsteht. - Schon mein Vater seelig, der Klosterschäfer war wie ich, hat sie gesehen noch ehe ich geboren wurde, und ich bin nun bald achtzig Jahre alt.
»Das wäre also vor der großen Revolution gewesen?«
»Ja, Madame, ehe die bösen Leute in Paris die schöne Königin ermordet haben, die oft in Compiegne war.«
»Und wann hast Du die Taube dann wiedergesehn?«
»Oft, Madame, sehr oft, damals zuerst, als der große Kaiser nach Rußland zog und die Preußen und die Russen kamen und den großen Kaiser verjagten, der selber so viele Könige und Herren vertrieben hatte.«
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»Hast Du ihm denn nicht als Soldat gedient in Deiner Jugend?« frug der Marschall.
»Nein, Herr, sie konnten mich nicht brauchen, weil sie dem Maire sagten, ich wäre manchmal schwach im Kopf. Aber die wahre Ursache war wohl, daß sie schon zwei von meinen Brüdern in den Krieg geschleppt hatten, von denen Keiner zurückgekehrt ist, und daß ich eine verstümmelte Hand hatte.«
Er nahm die Zipfelmütze in die andere Hand und zeigte seine Linke.
»EI - dann ist's erklärlich. Wie kamst Du zu der Verstümmelung?«
»Der Eber hatte Zähne und der Wolf Klauen. Hüte auch Du Dich, Herr, vor dem Eber und dem Wolf, ich seh' Dir's an, daß Eber und Wolf auch Dir Unglück bringen werden!«
»Da haben Sie gleich eine Prophezeiung, Monsieur,« sagte die Kaiserin, das Gespräch weiter führend. »Wann hast Du die Taube denn zum letzten Mal gesehen?«
»Als heute die Sonne aufging, sah ich sie über dem Walde schweben, Madame, und meine Schaafe sahen sie auch.«
»Das bedeutete also die Ankunft eines Feindes?
»Oder ein Unglück, Madame. Man sagt in der großen Stadt an der Seine werde das Brod wieder sehr theuer,12 und Hunger thut den armen Leuten gar wehe, dazu sei der Preuße im Lande.«
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»Als Freund oder als Feind?«
»Das weiß ich nicht, Madame, nur soviel ist sicher, daß für Frankreich noch niemals viel Gutes von den Preußen und Russen gekommen ist. Meine zwei Brüder sind dort erschlagen worden oder erfroren. Es muß ein böses Land sein und es ist besser davon zu bleiben.«
»Hm - wie man's nimmt, Mann. - Du hast eben diesem Herrn hier gesagt, wovor er sich hüten soll - kannst Du mir auch eine solche Warnung geben?«
»Warum nicht, aber wenn Sie mehr wissen wollen, müssen Sie die Knochen meiner Schaafe fragen.«
»Die Knochen Deiner Schaafe?«
»Ja - es ist nicht viel Mühe und es trügt niemals.«
Er griff in die Tasche unter seiner Blouse und zog fünf jener durch den Gebrauch glatt polirten Hammelknöchelchen hervor, welche die Kinder zuweilen als Würfel oder Spielwerk brauchen, und eine Art Becher von Schaaffell die Wolle nach Innen gekehrt, worein er die seltsamen Würfel that.
»Sie müssen es gut schütteln und drei Mal werfen, indem Sie ein Ave sprechen, Madame, und dabei an eine Frage denken.«
Die Kaiserin sah erst auf den allerdings nicht sehr saubern Apparat und dann auf ihre bekanntlich sehr schönen, bereits von den Handschuhen entblößten Hände.
»Ich ziehe es doch vor, lieber Freund,« sagte sie, Du sagst mir Deine Warnung ohne diese Knochen.«
»Wie Sie wollen, Madame, sonst kann ich auch für Sie werfen, obschon es allerdings nicht so gut ist.«
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Und seine Zipfelmütze auf die Erde legend und den schmuzigen Becher schüttelnd, nachdem er das Zeichen des Kreuzes darüber gemacht, warf er drei Mal die improvisirten Würfel auf die Tafel, jedes Mal ihren Fall sorgsam beobachtend und einen der Würfel versetzend, bis ein Kreuz sich bildete oder das bekannte Spiel verunglückte.
»Nun - glückt es?« frug die Kaiserin belustigt.
»Nein, Madame! die Knochen wollen nicht. Hüte Dich über ein großes Wasser zu gehen, es ist Unheil für Dich, und doch wirst Du's thun.«
Die Kaiserin lachte. »Ich denke noch manche Seereise zu machen. »Ist das Deine ganze Weisheit, Schäfer? - Antworte mir bestimmt, was Dein Orakel Dir weissagt. Meint es der Gast, den ich im Sinn habe, gut oder falsch mit mir?«
»Es kommt darauf an, Madame, ob man es selbst redlich meint oder nicht. Es ist gut, wenn man nicht nach eines Anderen Gut strebt, des Einen Höhe ist des Andern Erniedrigung. Ich sage Ihnen nur, lassen Sie Die, welche Ihnen nahe stehen, nicht über ein großes Wasser gehn und thun Sie es selbst nicht. Es bedeutet immer Unglück für Sie.«
Die Kaiserin versank unwillkürlich einige Augenblicke in ernstes Sinnen, dann sagte sie: »Kennst Du mich?«
»Nein, Madame!«
»Und kennst Du diese Dame?«
»Nein, Madame, - aber ...«
»Nun, sprich ungescheut.«
»Eine von Ihnen wird, wenn ich die Taube der
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Jungfrau zum letzten Mal sehe, die höchste Frau in Frankreich sein.«
»Deine Aussprüche sind immer etwas reservirt, guter Freund, und unbestimmt.«
»Und wann wirst Du die Taube zum letzten Mal sehen? Du bist alt, wie Du selbst sagst.«
»Fünfundsiebenzig Jahre, Madame, aber Gott allein weiß es, wenn er mich abzurufen gedenkt.«
»Wenn Dir die Gabe verliehen ist, in die Zukunft zu sehen - hast Du auch das Auge für die Vergangenheit?«
»Oft, Madame, ich kann jedem Lamm ansehn, ob der Wolf ihm schon nahe gewesen ist.«
»Das ist allerdings kein sehr ermuthigender Vergleich. Indeß - ich bin zwar keines Deiner Lämmer, aber was brauchst Du zu Deiner Prüfung?«
»Die Besichtigung der Handfläche.«
»Also auch hier bei dem einfachen Schäfer die Fabeln der Nekromantie und der Chiromantie! Sie haben Recht, Herr Abbé, der Aberglaube ist doch sehr verbreitet. Bitte meine Herren, zeigen Sie einmal dem neuen Paracelsus in der Blouse Ihre Hand.«
Der Marschall und der Abbé hielten ihre Hände hin.
Der Schäfer berührte das Innere derselben mit der Spitze seines Zeigefingers und verfolgte damit die Linien der Handfläche.
»Es ist viel Blut an dieser Hand gewesen,« sagte er dann ruhig, dem Marschall in's Gesicht sehend, »und wird noch viel Blut daran sein.«
»Das war nicht schwer einem Mann zu sagen,«
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meinte spöttisch der Marschall, »von dem man errathen kann, daß er französischer Soldat war. Du mußt etwas Genaueres sagen, Freund!«
»Das war im Kampf, aber Du hast schon zwei Mal das Mut Dessen vergossen, der das Deine geschont hatte,« fuhr der Schäfer immer auf die Hand sehend ruhig fort, »und das ist schlimm für Dich!«
»Unsinn - und doch - es könnte etwas Wahres daran sein, ich erinnere mich wenigstens eines Vorfalls ... aber betrachte einmal dagegen die weiche und zarte Hand des Herrn Abbé hier, da kannst Du etwas Anderes daraus lesen, als aus meiner Soldatenfaust.«
»Und dennoch,« sagte der alte Mann, die Hand des Abbß mit seinen Fingern aufhebend und dann rasch fallen lassend: »seh ich auch hier vergossenes Blut daran, Weiberblut, und es wird nicht das letzte sein.«
Eine fahle Blässe hatte sich über das Gesicht des jungen Geistlichen gebreitet und rasch zog er seine Hand zurück. »Das ist die gerechte Strafe für einen Diener der Kirche,« sagte er hastig, »daß er sich zu solchem Aberglauben hergeben konnte. Dein Beichtvater, alter Mann, sollte Dir strenge Bußen auflegen für solche sündhafte Worte.«
Aber schon hatten die Marschallin und die Kaiserin ihre Hand hastig auf den Teppich des Tisches gelegt und deren Inneres dem Schäfer zugekehrt.
»Sie waren stets eine gute Mutter und gesegnete Gattin gewesen,« sagte der alte Mann. »Ihre Lebensweise ist wie die des Mannes, den Sie lieben. Nur Einer Ihres Namens droht Gefahr.«
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»Und ich?«
»Ihre Lebenslinie, Madame, ist früh getheilt. Haben Sie vielleicht zwei Gatten - gehabt?«
Der Marschall lachte - »Ihre Majestät sehen,« sagte sie, »hieraus am Besten, welche Bedeutung all' den Faseleien dieses halb blödsinnigen Menschen zu gewähren ist! Darf ich den Mann fortschicken?«
»Thun Sie es, Herr Marschall - ich bin in der That bestraft für meine Leichtgläubigkeit. Wenn der Kaiser ein Wort davon erfährt, wird er uns verdient ausspotten.« Sie hatte, in der Causeuse zurückgesunken, die Hand nach der Glocke gestreckt. Die Kammerfrau war eingetreten. »Entfernen Sie den Mann wieder, liebe Lenoir, und belohnen Sie ihn reichlich für die Unterhaltung, die er uns gewährt hat - ein anderes Mal will ich doch vorsichtiger sein. - Es ist Zeit uns zur Ruhe zu begeben. Gutenacht, meine Herrschaften - versäumen wir die Stunde der Jagd nicht.«
»Sie winkte zur Entlassung - ihre Gesellschafter hatten sich bereits erhoben, nur der alte Schäfer, den die beiden Benennungen wie Blitzstrahle getroffen, lag noch immer auf den Knieen und schien ganz betrübt.
»Eine Kaiserin - ein Marschall von Frankreich? - ich Unglücklicher, die heilige Jungfrau möge mich Aermsten beschützen, daß ich ihnen solche Dinge gesagt.« Er wäre am Liebsten zu der Kaiserin gerutscht, ihre Füsse zu umfassen, aber die hohe Frau war bereits verschwunden, und der Abbé, der - von der eigenen Prophezeihung ziemlich betroffen, auf die folgende Scene wenig geachtet hatte, berührte seine Schulter.
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»Steht auf, Mann, und folgt dieser Dame. Ihr seht, welches Unheil Euch aus dem Treiben dieses von der heiligen Kirche verbotenen Gewerbes entstehen kann. Bereuet die Sünde und entfernt Euch schnell.«
Er folgte dem Marschall und seiner Gemahlin, während Madame Lenoir den alten Schäfer fortführte und ihn der neugierigen Zofe übergab, um ihn weiter zu schaffen. Nachdem der Abbé sich von Herzog und Herzogin verabschiedet hatte, verließ er selbst das Schloß durch das Hauptportal und nahm an der Schildwache vorüber seinen Weg über Vorplatz und Garten zur Stadt, wo er bei einem der Geistlichen ein Unterkommen gefunden hatte.
Auf dem Platz vor der Kirche St. Jacques mit ihrem merkwürdigen Thurm erwartete ihn jedoch noch eine weitere Verzögerung.
Wer Compiegne besucht hat, wird gewiß die Ruinen der Abtei von Corneille besichtigt haben, an deren Stelle Karl der Kahle eine Kirche baute, die zuerst wie die berühmte Kathedrale von Paris den Namen Notre Dame führte, so wie den Thurm ›Julius Cäsars‹ oder des ›heiligen Ludwig‹, oder wie andere Chronisten ihn bezeichnen ›der Jungfrau von Orleans‹, die an dieser Stelle den englischen Pfeil, der sie zur Gefangenen machte, aus der Wunde zog mit den Worten: Es ist nicht Blut - es ist Ruhm!
In der Nähe befand sich das Haus, wo der Abbé Wohnung genommen.
»Sie haben ziemlich lange auf sich warten lassen, ehrwürdiger Herr,« sagte die etwas brüske Stimme eines Herrn, der vertraulich den Arm unter den seinen schob.
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»Indeß ich wollte doch wissen, woran wir sind. Diese Preußen sind jetzt da - haben Sie die Kaiserin oder wenigstens die Frau Marschallin gesprochen?«
»Beide, Durchlaucht, ich komme sogar eben von einer ziemlich seltsamen Szene, der ich mit ihnen beigewohnt.«
»Und die Mission Seiner Eminenz?«
»Ist erfüllt. Die Kaiserin ist eine zu getreue Tochter der Kirche und Verehrerin des heiligen Vaters, als daß sie nicht versprochen haben sollte, Alles aufzubieten, kein Bündniß mit Preußen zu Stande kommen zu lassen und den Kaiser wieder Oesterreich zu nähern. - Sie ist sehr erbittert gegen diese Hinneigung zu Turin, die sie allein dem Einfluß der Prinzessin Mathilde und ihres Bruders zuschreibt.«
»Die Unterstützung der italienischen Revolutionäre und der fortwährenden Agitation in Venedig, Ungarn und Galizien ist nicht viel besser als eine Kriegserklärung und widerspricht allen Zusagen von Villafranca. Wir haben jetzt genug zu thun, den preußischen Intriguen um die Oberherrschaft in Deutschland zu begegnen. Sagen Sie dem Kardinal, daß das Haus Hohenzollern an der Spitze die gänzliche Auflösung des Kirchenstaats, ja über kurz oder lang der Ruin der römischen Hierarchie wäre. Schon in diesem Sinn ist es nothwendig, Frankreich von einer Alliance mit Preußen auf Kosten Oesterreichs abzuhalten, und es auf das natürlichere Bündniß mit letzterem zu verweisen. Rom hat in uns seine einzigen wahren Freunde und verliert mit der Schwächung unserer Macht
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immer mehr die Kraft des Widerstandes gegen die ketzerischen Staaten.«
»Warum stellt sich denn Oesterreich nicht offen an die Spitze Deutschlands durch eine Neubildung seiner Verhältnisse, in der man der nationalen Einigkeitsschwärmerei einige Zugeständnisse macht, aber die wahre Herrschaft in den Händen der katholischen Höfe läßt.[?]«
Der Fürst schüttelte den Kopf. »Denken Sie daran, daß schon mein Vater Seine Heiligkeit und den Herrn Kardinal vor diesem Experiment als sehr gefährlich warnte. Concessionen sind eine sehr abschüssige Bahn. Wenn wir ehrlich sein wollen, hat Papst Pius mit den seinen zuletzt Rom verloren und die Republik Garibaldi und Mazzini allein hervorgerufen.«
»Und wie ein Triumphator ist er wiedergekehrt! und ob die Kirche auch einen Augenblick weichen muß, sie wird immer zuletzt den Sieg gewinnen.«
»Sie denken an den bekannten Spruch der Jesuiten vor Pombal. Aber erinnern Sie sich, daß es der Kirche unserer Zeit nothwendig wird, sich auf eine große politische Macht zu stützen. Und wo findet sie einen treueren Boden als Oesterreich.«
»So daß - wenn Papst Pius vor Victor Emanuel Rom verlassen müßte, er stets in Oesterreich die Aufnahme finden würde?« Der Blick, mit dem der Abbé den Diplomaten dabei ansah, enthielt einen versteckten Spott.
»Sie werden es billigen, wenn ich Ihnen offen sage, daß es immer besser sein wird, Seine Heiligkeit halten unter allen Umständen in Rom aus. Es wird dies ein
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Märtyrerthum sein, aber eines, dem die Kirche sich zu ihrem eigenen Heil unterwerfen muß.«
»Es würde auch zu kostspielig und unbequem für Oesterreich sein. Beruhigen Sie sich, Durchlaucht, und melden Sie nach Wien, daß der Kaiser Napoleon auf das Drängen der Kaiserin Eugenie bereits daran denkt, der Familie des Kaisers Franz Joseph einen Beweis seines Vertrauens zu geben.«
»Oh,« sagte der Diplomat ziemlich frostig: »Sie sind Beide noch zu jung und außerdem wünscht die Kaiserin als bayerische Prinzessin die Verbindung mit ihrer eigenen Familie. Es ist dies eine alte Familienconvention!«
»Deren Wichtigkeit man in Rom auch vollkommen anerkennt. Nun, der Kaiser hat noch zwei Brüder, deren man sich bei der Wahl für einen Thron wohl erinnern wird.«
Der Diplomat sah aufmerksam seinen Begleiter an. »Ich kenne keinen freien Thron?«
»Throne entstehen so gut wie Dynastien. Erinnern Sie sich an die Zeit des ersten Napoleon.«
»Wie - man denkt doch nicht an einen polnischen Wahlthron für einen Erzherzog von Oesterreich? Rußland würde diese Wahl nicht dulden, wahrscheinlich auch Preußen kaum, selbst auf die Gefahr eines Krieges nicht.«
»Auch das nicht! Aber es ist nicht immer nöthig, daß ein neuer Thron die Eifersucht der europäischen Regentenhäuser erregen muß. Es ist diese Eventualität nur eine Andeutung der persönlichen Sympathien des heiligen Vaters und des Kaisers Louis Napoleon, welche den sonst
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ganz gerechtfertigten Groll der Hofburg in Wien beruhigen möge. Sorgen Sie also dafür, sobald dieser kleine König von Preußen wieder über den Rhein zurück ist, die Tuilerien zu frequentiren, Sie werden das beste Entgegenkommen finden. - Doch um von etwas Anderem zu sprechen, das heilige Kollegium, Sie verstehen mich, das Kollegium di Tre wünscht für die Dienste bei dem Kaiser Napoleon Ihren Einfluß in Wien in einigen anderen unbedeutenden Sachen.«
»Mit Vergnügen! was ist es?«
»Zunächst - es wird mit Unterstützung der Kirche für die Katholiken und deren Institute eine besondere Bank und Sparkasse in Brüssel von einem sehr tüchtigen Geschäftsmanne und Freund der Kirche gegründet werden. Die österreichische Regierung möge den Filialien dieser Unternehmung in den österreichischen Staaten keine unnöthigen Schwierigkeiten in den Weg legen.«
»Ich werde das befürworten.«
»Dann möge man der Unterstützung der armen Polen, dieser treuen und von Rußland systematisch mißhandelten Söhne der katholischen Kirche, wenn die Sendungen über Wien und Krakau geleitet werden müssen, keine zu rigorose Aufsicht zuwenden.«
»Sobald die revolutionaire Agitation, wie jetzt von Ungarn aus geschieht, sich nicht auch gegen den österreichischen Staat wendet. In Betreff Preußens und Rußlands haben wir nicht dasselbe Interesse.«
»Sie würden damit nur im Einverständniß mit
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Sachsen handeln. Der Weg über Gotha und Dresden ist bereits gesichert.«
»Und das Dritte?«
»Eine ganz unbedeutende Sache. Eine Sängerin, eine getaufte Jüdin, hat, um gewissen Kirchenstrafen für ihren frevelhaften Lebenswandel sich zu entziehen, sich nach Frankreich geflüchtet. Wenn sie sich nach Wien und Galizien wenden und dort Schutz suchen sollte, möge man die Autorität der Kirche über solche Abtrünnige achten.«
»Das ist vielleicht der schwierigste von allen drei Aufträgen,« sagte der Diplomat. »Es kann der Regierung die ganze oppositionelle Presse auf den Hals laden.«
»Die wiener Polizei wird im Einverständniß mit unserem Nuntius leicht Mittel und Wege finden, die Ausweisung oder Auslieferung einer gefährlichen Verbrecherin ohne unnützen Eclat zu bewirken.«
»Ich werde dafür sorgen, daß die Frage in die geschicktesten Hände gelegt wird.«
»Das ist Alles, was wir wünschen, und man wird dem wiener Kabinet dafür stets die zuverlässigsten Nachrichten über die revolutionairen Pläne gegen Tyrol, das Friaul und Istrien zugehen lassen. Und nun Durchlaucht, da wir einig sind, sage ich Ihnen gute Nacht, um auch meinerseits die Ruhe zu suchen. Mögen Gott und die Heiligen stets mit Ihnen sein und alle Feinde der heiligen Kirche strafen.«
Er verschwand in dem Portal des geistlichen Hauses, der Diplomat aber wandte seine Schritte eilig dem
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Bahnhofs-Hôtel zu, in dem er ein Unterkommen genommen, um mit dem nächsten Morgenzug nach Paris zurückzukehren.


Im Schlafgemach des Königs Wilhelm von Preußen stand das Bett des hohen Herrn, das bekanntlich in den Heimathschlössern so sehr einfach feldmäßig ist, wie erwähnt worden zwischen den lebensgroßen Bildern des Kaisers Ludwig Napoleon und seiner Gemahlin. Ehe sich der König in der gewohnten Weise zur Ruhe begab, hatte es sein Generaladjutant für Pflicht gehalten, ihm kurz über den Eindruck zu berichten, den sein Gespräch mit dem französischen Marschall auf ihn gemacht hatte.
»Sie haben Recht in der vorsichtigen Aeußerung Ihrer Ansichten gethan, lieber General,« sagte der König, »und in der Meinung, die Sie selbst über meine Gesinnungen in der Rheinfrage haben. Ein König von Preußen hat Schwert und Krone von Gott vor Allem auch in der Aufgabe erhalten, daß er sich als ein deutscher Fürst fühle, und ich denke, so lange mich Gott auf diesen Posten gestellt, daß kein Fußbreit deutsches Land und kein deutscher Mann an die Fremden verloren gehen soll. Und deßhalb ist es meine Pflicht, das preußische Schwert stark zu machen und nicht nachzugeben in Allem, was ich dazu für zweckmäßig halte. Was Preußen jetzt thut, wird mir vielleicht später Deutschland danken. ›Suum cuique‹, sagt der alte Wahrspruch meines Ahnherrn, und deshalb lassen Sie uns fest, allen Anfeindungen zum Trotz, an dem Werke der neuen
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Organisation der preußischen Armee halten, an dem ja auch Sie und mein wackerer Roon so treulich mitgeholfen haben. Das Weitere müssen wir Gott anheim stellen.«
Er reichte dem General die Hand.


Der nächste Morgen brach warm und schön herein. Im Laufe des Vormittags ertheilte König Wilhelm mehrere Audienzen, nahm eine Adresse der Deutschen in Paris entgegen und ließ dem deutschen Hilfsverein daselbst ein Geschenk von 3000 Franken übermitteln. Um 9\frac12 Uhr fand die chasse à tir statt, eine Fasanenjagd in dem schönen Waldgehege von Compiegne, bei der König Wilhelm, der links von dem Kaiser stand, den ersten Fasan schoß, der Kaiser den zweiten. Beide waren in grünen Jagdüberröcken und zwölf Unteroffiziere von den Guiden bildeten die Büchsenspanner der beiden Souveraine. Um 11 Uhr kehrten sie in das Schloß zurück und jetzt fand jene Unterredung zwischen ihnen statt, von deren Inhalt die pariser Presse in den Zeitungen und mit der Brochüre ›L'Empereur et le roi Guillaume‹ so viel fabelte, bis um 2\frac12 Uhr der hohe Besuch und der ganze Hof in sieben offenen Jagdwagen eine Fahrt durch Park und Wald nach den mächtigen Ruinen des Schlosses Pierrefonds machte, an dessen riesigen Mauern, die der Ligue und der Fronde getrotzt, sich selbst der gewaltige Zorn eines Richelieu erschöpft hatte. Auf dem ersten Wagen saß der König zwischen dem Kaiser und der Kaiserin, die ein graues Kleid mit einem himmelblauen Spitzenshawl darüber und einen Hut à la Louis XV. mit Hahnenfedern trug. In Pierrefonds wurde der König zu seiner Ueberraschung von
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dem Musikcorps der Garde mit den Klängen des dessauer Marsches begrüßt, worauf ein im Freien servirtes Dejeuner eingenommen ward, und die Rückfahrt über die Ruinen des römischen Theaters und die Heidengräber stattfand.
Ob die Kaiserin Eugenie dabei wohl nach der weißen Taube der Jungfrau blickte?
Später fand in dem von Napoleon I. erbauten Saal das große Diner statt mit mehr als 80 Couverts, und später in dem 800 Personen fassenden Theater des Schlosses die Darstellung eines ziemlich unbedeutenden Stückes durch die Schauspieler des Théâtre français, bei der alle Damen in großer Toilette erschienen, die Kaiserin in weißer Robe à la Pompadour mit Rosen aufgenommen, Diamanten-Collier und Stirnband. Paris war voll von dem entwickelten Glanz und die Verkäufer der improvisirten Brochüre und der Statuette des Königs Wilhelm machten brillante Geschäfte.
Aber von den gehofften politischen Resultaten wollte nichts Zuverlässiges verlauten, - diese Preußen waren zähe ernste Erscheinungen, die zwar der Constitutionnel am andern Tage bei dem Scheiden nach der kleinen Parade über die Garde-Zuaven und die Guiden dem Kaiser die Hand küssen sah, von denen aber Keiner an solche Devotion gedacht hatte. Daß am Abend vorher die Ouvertüre der Theatervorstellung aus einigen Takten des bedeutsamen Arndt'schen Volksliedes ›Was ist des Deutschen Vaterland?‹ bestanden hatte, war wohl nur Wenigen aufgefallen. Und dennoch wog die Erinnerung daran damals so schwer.
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»Aux Revoir aux bord du Rhin!« lautete der Ruf des Kaisers Napoleon, als er sich gegen 12 Uhr auf dem Bahnhof von dem Preußenkönig verabschiedete. »Auf Wiedersehn an den Ufern des Rheins!«
Sie haben sich noch einmal wiedergesehen und zwar bei der großen pariser Weltausstellung von 1867, ehe die Parole Wahrheit wurde, eine Wahrheit, welche zehn Jahre später die Welt bewegte!
»An den Ufern des Rheins! Hast Du es gehört, Henry,« sagte, als der Kaiser eben den Bahnhof verlassen hatte, um zum Palast zurückzukehren, ein junger Offizier. »Dann bin ich wahrscheinlich fern davon, wenn ich überhaupt noch lebe!«
»Unsinn, Louis - Du bist kaum 21 Jahre und hast ein Leben vor Dir. Wo solltest Du sein?«
»Es ist mir zugesichert, später den Marschall Forey nach Mexiko begleiten zu dürfen, in zwei Jahren, aber bis dahin wird in Europa wenig los sein, es müßte denn in der That zu einem Bruch mit England kommen. - Doch - ich wollte Dich fragen, hast Du Madame de Rochambeau gefunden?«
»Meine Cousine Claire und, - was Dich doch mehr interessirt, meine Cousine Wéra, und - was Dich am meisten interessiren wird, ihr Schooskind Tank-ki. Parbleu - die schlitzäugige Chinesin ist ordentlich eine Schönheit geworden, seit sie Mutter ist und hat den kleinen Sprößling ihrer Liebe selbst nicht einmal verlassen wollen, um gestern Abend die gräßliche Hitze des Theaters mit den beiden Damen zu theilen.«
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»Also war die Fürstin dort?[«]
[»]Ich dachte es mir fast, als ich von meinem zurückgelegenen Standpunkt in der Mittelloge, denn Herr von Cambazères war sehr streng in der Anweisung der Plätze, die Offiziere der Garnison und die jungen Cavaliere von Paris sich recken und ihre Aufmerksamkeit zwischen der kaiserlichen Loge und den reservirten Fremdenplätzen in den Seitenlogen theilen sah. Und sind die Damen schon zurück nach Paris?«
»Nein - mit dem zweitnächsten Zug, ich fahre mit demselben Train. Und Du?«
»Ich begleite Dich, wenn Dir's genehm, denn mein Extradienst ist zu Ende. Ich wäre sonst mit dem Marschall gefahren, der nur die Abfahrt des Königs abwartete. Es mag Dir lächerlich vorkommen, aber ich gestehe Dir, Henry, daß ich Tank-ki und den Knaben sehen möchte, von dessen Geburt ich keine Ahnung hatte.«
»Familienvater,« spottete der Husar, »Du weißt, daß das Kindergeschrei in der modernen pariser Welt verpönt ist und man die Kinder zu den Ammen aufs Land thut, selbst die legitimen.«
»Und schwer wird sich diese Unnatur vielleicht einmal rächen. Du weißt jetzt Henry, daß ich selbst ein Kind der Liebe bin, obgleich die Gerechtigkeit meines Vaters mich später legitimirt hat. Also spotte nicht und laß mich mit Dir gehen. Wer weiß, ob es ihm nicht geht wie mir und der Knabe nur kurze Zeit Gelegenheit hat, sich des Vaters zu erfreuen.«
»Was kümmerts mich? - so mache Dich bereit, wir
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werden gute Gesellschaft haben, ein Reisegefährte schon aus Aegypten begleitet uns, der Marquis von Saint-Bris, der durch seine Wunde meine Rückkehr von dort verzögerte, und ein römischer Geistlicher, der bereits die Ehre Deiner Bekanntschaft hat, nebst einem irischen Baronet, ein ziemliches Original mit seiner steifen Lady!«
»Von welchen Personen sprichst Du - ein römischer Geistlicher? Ich hatte nur wenig Gelegenheit, in Rom Verbindungen anzuknüpfen, außer in dem Abbé Calvati ...
»Und gerade dieser ist es, um den es sich handelt. Kein Ascet, sondern ein Weltgeistlicher von Bildung und Tournüre. Ich machte seine Bekanntschaft heute Morgen bei der Herzogin. Doch nun einstweilen Adieu, denn ich soll die Damen zur Bahn abholen und in einer halben Stunde schon folgt der Zug dem königlichen Train.«
Sie trennten sich - es war in der That ein eigenthümliches Zusammentreffen, das so viele der uns bekannten Persönlichkeiten hier sich finden ließ.
Als bald darauf die Gesellschaft sich zusammengefunden, bedurfte es nur weniger Vorstellungen und die Unterhaltung erging sich natürlich zunächst in dem Thema der festlichen Tage. »Die Besuche scheinen permanent,« berichtete der Graf, »so eben, als ich mich im Schloß verabschiedete, war die Depesche angekommen, daß heute noch der Prinz auf seiner Rückkehr aus Amerika eintrifft.«
Der Abbé horchte auf. »Sind Seine kaiserliche Hoheit so eilig, zu vernehmen, ob man hier die Anerkennung des Königreichs Italien erreicht hat?«
»Ich glaube schwerlich - doch kann ich Ihnen eine
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andere Neuigkeit aus der Umgebung König Wilhelms sagen; der bisherige preußische Gesandte in London ist auswärtiger Minister geworden, und in Warschau haben neue Demonstrationen der polnischen Nationalpartei stattgefunden.«
»Ein Anhänger des englischen Kabinets Minister in Berlin?« sagte verstimmt der Geistliche, »dann wird allerdings die Anerkennung nicht warten lassen; aber die zweite Nachricht, Herr Graf, ist von Wichtigkeit, da wie ich so eben Nachricht erhielt, der Erzbischof von Warschau vorgestern daselbst gestorben ist. Es kann noch Manches geschehen in diesem Monat.«
Er versank in tiefes Nachdenken, aus dem ihn erst der zufällig genannte Namen Lautrec weckte.
Er blieb auch nicht der Einzige, der darauf achtete, auch der Begleiter des jungen Husarenoffiziers war es, der auf ihn horchte. »Lautrec - ist das nicht ein alter Seekapitain aus Hâvre, später einer der angesehensten Pflanzer auf Guadeloupe ...?«
»Ich weiß von dem Vater weniger,« sagte die Herzogin, »aber wenn der Vater ein Corsar war, dann kann diese abscheuliche Rebellion der Tochter gegen die frommen Frauen um so weniger verwundern, von der seit vorgestern ganz Paris voll ist.«
Der Abbé sah unwillig auf die Herzogin, aber der junge Marquis frug hastig: »Mademoiselle Josephine Lautrec? - was ist mit ihr geschehn?«
»Man sieht, Monsieur, daß Sie fast noch ein halber Wilder sind, gerade wie mein Cousin hier, nur daß Sie
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doch seit vier Wochen nach Paris zurückgekehrt sein wollen, während er diese Zeit in wohlverdientem Prison saß. Ich hörte zufällig davon, und dachte schon daran, Mademoiselle Lautrec, deren Charakter mir gefällt, Aufnahme bei mir anzubieten, bis ihr natürlicher Beschützer zurückgekehrt ist.«
Die Herzogin machte eine äußerst mißbilligende Miene. »Wie, Sie Durchlaucht diese Rebellin gegen Zucht und Gehorsam, wie sie jedem jungen Mädchen geziemen, bei sich aufnehmen?«
»Warum nicht, Frau Herzogin. Mademoiselle Lautrec scheint so verlassen, wie ich es sein würde, wenn Sie nicht so freundlich gewesen wären, die Patronage über mich zu übernehmen. Und Sie wissen, daß etwas rebellisches Blut von meiner Erziehung her in mir steckt. Ich dachte in der That daran, Mylord mit der weitern Nachfrage zu beauftragen, aber er ist so steif und engherzig, daß er mir seine Hilfe verweigerte, und so wird mir wohl Nichts übrig bleiben, als mich an meinen Hitzkopf von Cousin zu wenden.«
»Wenn Sie einen Beistand brauchen können, Durchlaucht,« sagte hastig der junge Aristokrat, »so bitte ich, meine Person in Anspruch zu nehmen, denn ich muß Ihnen sagen, daß ich die Ehre habe, Mademoiselle de Lautrec und ihren Vater von früher zu kennen und gesonnen bin, dieses Recht früherer Bekanntschaft in Anspruch zu nehmen, seit ich aber erfahre, daß Mademoiselle in Europa ist, und ihr Vater ...«
»So wie man sagt, die hiesigen Zeitungen sprechen bereits von dem Abenteuer, augenblicklich in Italien, - in Neapel.«
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»In Neapel? Parbleu - da sind wir wieder vielleicht grade vorbeigegangen. Warten Sie, Henry - wann waren wir doch nach der Begegnung mit General Borges in Neapel?«
»Anfang September! - Sie wissen, daß wir nur kurze Zeit da weilten, da Lerida eilte, nach seinem Felsennest zu seiner geheimnißvollen Spanierin zu kommen, und ich es endlich auch für Zeit hielt, mich in Frankreich wieder zu zeigen. - Aber Caramba, wie er zu sagen pflegt, damit habe ich noch immer nicht erfahren, um welche Rebellion es sich mit dieser Mademoiselle de Lautrec handelt? Meine schöne Tante und die Fürstin vergessen ganz, daß ich erst seit zwei Tagen wieder ein Mensch bin. Also erzähle mir geschwind die Geschichte, wenn Du sie weißt, Louis.«
Der Adjutant zuckte die Achseln. »Ich habe den Namen nicht einmal gehört, - doch halt, ich darf nicht lügen! War nicht eine Mademoiselle Lautrec im April dieses Jahres Brautjungfer bei der Vermählung der schönen dänischen Dame, für die sich die Kaiserin interessirte?«
Die Herzogin nickte, der Husar aber meinte: »Damit komme ich immer noch nicht zu meiner Geschichte!«
»Sie sind unverbesserlich, Henry,« sagte die Dame. »Nun, damit ich Ihre Neugier befriedige, die unersättlich ist, wenn Sie nur von einer jungen Dame hören, welcher der liebe Himmel kein gradezu häßliches Gesicht gegeben hat: Mademoiselle Lautrec ist mit ihrem Vater im Frühjahr von Guadeloupe herübergekommen, um in eine Pension gebracht zu werden zur Vollendung ihrer Erziehung, und der alte Kapitain hat sie, als er in Geschäften oder aus
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sonst einer Ursache nach Italien reiste, von woher er noch nicht zurückgekommen ist, in das Pensionat und unter die Obhut der heiligen Damen vom sacré c ur gegeben! Wie hätte er auch besser und passender für sie sorgen können, als bei so frommen Frauen, deren Pension sich des höchsten Ansehns in der Aristokratie erfreut. Aber diese wilde creolische Katze scheint ein Ausbund von List und Bosheit zu sein, sie hat die Pensionärinnen förmlich zur Rebellion gegen die frommen Nonnen verleitet, die scandalösesten Auftritte und Verleumdungen hervorgerufen und hat zuletzt, man sagt, mit teuflischer Schlauheit und förmlicher Gewalt eine Flucht aus dem Kloster ausgeführt, die man bei einem so jungen Mädchen kaum glauben kann!«
»Aber was ist mit ihr alsdann geschehn?«
»Was leider in Frankreich jetzt an der Tagesordnung, wo die Kirche in frevelhafter Weise unterdrückt wird! sie hat sich in die Arme der weltlichen Macht geflüchtet und Polizei und Gerichte zu ihrem Beistand gerufen, die jetzt, statt sie in das Institut der Damen vom sacré c ur mit Gewalt zurückzuführen, wo sie die Ruthe verdient hätte, eben daran sind, ihr einen weltlichen Vormund zu stellen, bis sie unter die Obhut ihres Vaters zurückgegeben werden kann.«
Die drei Offiziere lächelten. Sie kannten die Geheimnisse von Paris gut genug, um nicht Alles so unbedingt zu glauben, wie es die Herzogin im Interesse des von ihr protegirten Frauenstifts darstellte.
Auch die Fürstin war ungläubig.
»Einer meiner Lehrer hat mir die Sache etwas anders
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erzählt,« sagte sie spöttisch. »Das junge Mädchen soll den empörendsten Versuchen ausgesetzt gewesen sein, sie für das Klosterleben zu gewinnen und zu einem Gelübde zu verleiten. Ihr Trotz und ihre angebliche Bosheit sollen nur Jugendmuth und Lebenslust sein, die sich gegen den ihr angethanen Zwang auflehnten, ja gegen gradezu abscheuliche Künste, die unter der Maske der Religion ihre Ehre zu verderben suchten.«
»Abscheuliche Verläumdungen,« sagte die Herzogin. »Wenn, liebe Tochter, unter der Zahl Ihrer Lehrer, denen Sie zu viel Einfluß gestatten, sich Männer befinden, die Ihre Unerfahrenheit mit solchen Verdächtigungen mißbrauchen, so wird man sie aus Ihrer Nähe entfernen und durch andere geeignetere Personen ersetzen müssen.«
»Verzeihung Madame,« sagte die junge Fürstin mit einem Ausdruck hochmüthiger Härte, »Sie werden sich erinnern, daß ich die Auswahl der Lehrer für mich und Tank-ki mir selbst vorbehalten habe. Mylord Walpole und der russische Gesandte haben, ehe sie mir die betreffenden Personen anriethen, erst die sorgfältigsten Erkundigungen über sie eingezogen.«
...Auch ein englischer Lord und Graf Kisseleff können sich irren,« sagte die Herzogin pikirt die Unterlippe beißend, »namentlich, wo es sich um die Beurtheilung einer ihnen fremden Confession handelt - die Religiosität ist für uns Frauen eine wichtige Gemüthssache ...«
Die Fürstin lachte, und legte die Hand auf das Knie der ihr gegenüber sitzenden Dame. »Lassen Sie uns nicht darüber streiten, Altesse,« meinte sie heiter, »Sie wissen
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aus Erfahrung schon, daß ich eine halbe Ungläubige bin und zur Betschwester keine Anlage habe. Aber - vielleicht hat Mademoiselle Lautrec, die mir dadurch noch interessanter wird, eimal eine Erbschaft zu erwarten?«
»Die schöne Königin von Guadeloupe, wie man sie dort zu nennen pflegt, ist eine der reichsten Erbinnen der ganzen Insel,« berichtete der Marquis.
»So daß demnach, wenn sie sich, wie man sagt, Gott weihte, also den Schleier nähme, diese ganze reiche Erbschaft ihrem Kloster und der lieben Kirche zufallen dürften.«
Der scharfe Verstand der Fürstin schien mit dieser unbarmherzigen Logik nicht allein die Herzogin, sondern auch den römischen Abbé getroffen zu haben.
»Sie ist ein Satan in ihrer Selbstständigkeit!« murmelte die Herzogin, die, wie die Sibirianka scherzhaft bemerkt hatte, auch in dieser Beziehung wahrscheinlich schon allerlei Erfahrungen mit ihrer Patronage gemacht hatte.
»Yes, yes!« sagte die irländische Baronesse in ihrer steifen puritanischen Haltung. »Ich habe immer gehört, daß die Leute von der Kirche seind sehr interessirt. Was sagst Du, Sir Terenz?«
»Ich stimme Dir ganz bei, Judith,« meinte der willenlose Ehemann, »nur habe ich auch stets immer gefunden, daß die irischen Väter verteufelt gute Burschen waren, sei es beim Punschbrauen, bei einem guten Leichenschmaus, oder selbst bei einem Kirchthurmrennen. Pferde- und Mädchenfleisch geht ihnen über Alles.«
»O pfui, Sir Terenz,« naserümpfte die steife Lady, - »solche Worte sind schokking!«
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»Der Teufel hole sie, aber es ist trotzdem die Wahrheit, Gentlemens und Ladies.«
Die jungen Offiziere lachten recht herzlich über die Offenherzigkeit Paddy's, an dem sie großes Gefallen fanden, aber Lady Judith begnügte sich mit diesem einen Versuch, ihn in's Gespräch zu ziehen.
»Sie mögen das Rechte getroffen haben, Fürstin,« erneuerte der Marquis das Gespräch, »aber doch dürfte die Spekulation sich darin irren, daß die liebenswürdige Josephine Lautrec die einzige Erbin ihres Vaters war.«
Der römische Abbate konnte sich nicht enthalten, den Sprecher fragend anzuschauen. »Wie so, Monsieur le Marquis?«
»Kapitain Lautrec,« sagte dieser, »hatte einen Neffen, einen tapferen Offizier der französischen Armee, der nach Solferino seinen Abschied nahm und mit mir in Gaëta diente.«
»Sein Namen?«
»Kapitain Gauthier,« sagte der junge Mann. »Sie müssen sich seiner erinnern, Signor Abbate, aus jener Nacht unsers Ueberfalls von San Agatha, denn seitdem ich Sie hier wiedergesehen, ist mir die undeutliche Erinnerung, die mir schon damals bei unserer Begegnung in Rom Ihr Gesicht bekannt sein ließ, klarer geworden.«
»Ich habe nicht die Ehre, mich des Offiziers zu erinnern, den Sie eben genannt,« meinte kaltblütig der Priester. »Ich habe die Gewohnheit, Alles zu vergessen, was außerhalb meines Amtes ist.«
»Aber Ihr Amt oder Beruf schien es doch damals
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gewesen zu sein, die lockere Gesellschaft zu beaufsichtigen und die Aufmerksamkeit der piemontesischen Offiziere abzulenken, was unserem kecken Unternehmen so trefflich zu statten kam, wenn der Ueberfall auch leider nur zum Theil gelang und wir uns dann mit Hilfe des wackern Kapitain Tonelletto zurückschlagen mußten zu den Unseren. Sie müssen doch wissen, was aus den Weibern geworden ist, namentlich der früheren Chanteuse Theresa, die unserem tapferen Führer den Tod gebracht haben soll. Ich habe in der That nicht erfahren können, ob Kapitain Gauthier damals ein Opfer unseres kühnen Streichs geworden, oder ob er nur verwundet in die Gefangenschaft der Piemontesen gerathen ist, die unserer kleinen Schaar zu mächtig wurden.«
Der Abbé Calvati schien sich trotz dieser Appellation an sein Gedächtniß sehr ungern zu erinnern. »Ich kann Ihnen in der That nichts Sicheres berichten, Monsieur le Marquis. Ich folgte wie Sie damals nur einem Auftrag meiner Oberen im Interesse des armen König Franz und gegen die Feinde Seiner Heiligkeit. Jene frivolen Weiber konnten keinen Gegenstand meiner weiteren Beachtung bilden!«
Er zog aus der Tasche seiner Soutane das Brevier, ein Beweis, daß er nicht weiter befragt zu sein wünsche.
»Der arme Gauthier!« sagte der Marquis hartnäckig. »Er hatte eine Ahnung seines Todes und schien ihn ohnehin zu suchen und zu wünschen. Aber er sprach noch wenige Augenblicke vorher von dieser Cousine Lautrec zu mir und vertraute mir sogar ein Schreiben an ihren Vater den Kapitain an. Ich sandte es zwar von Rom aus später
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an seine Adresse nach Guadeloupe, aber das legt mir um so mehr jetzt die Pflicht nahe, mich nach seiner Tochter zu erkundigen.«
Die beiden Offiziere und die Fürstin versprachen ihm darin ihren Beistand, - so war der Bahnhof erreicht.
Auf dem großen Vorplatz desselben fanden sie den Wagen der Herzogin, und nachdem die drei Offiziere verabredet hatten, sich am Abend im Café Anglais zu treffen, trennten sie sich, nachdem Graf Boulbon und der Marquis die Fürstin um die Erlaubniß gebeten hatten, ihr am andern Mittag aufwarten zu dürfen.
Der Abbé Calvati hatte nach kurzer Beurlaubung bei der Herzogin alsbald einen Fiacre bestiegen. »Rue des postes!« lautete sein Befehl - »Rasch und ein gutes Trinkgeld!«
Kaum eine halbe Stunde später finden wir ihn hier in einem ziemlich bequem, wenn auch klösterlich eingerichteten Gemach des großen Hinterhauses, das noch heutigen Tags der Congregation der Gesellschaft Jesu gehört, obschon deren Anerkennung in Frankreich längst aufgehoben ist.
Der Abbé saß an einem Pult und schrieb eifrig - ihm gegenüber stand ein Mann von etwa fünfzig Jahren, in der schwarzen Soutane mit dem weißen Kragen, wie sie noch immer die Mitglieder des Ordens in ihrer Häuslichkeit oder bei ihren amtlichen kirchlichen Verrichtungen zu tragen pflegen. Sein Gesicht hatte einen strengen, fast ascetischen Ausdruck, sehr entgegengesetzt der Bonhommie und feinen Physiognomie des Römers. Er sah auch mit einer gewissen Feindseligkeit auf den jungen Kleriker, ohne
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jedoch mit dem geringsten Wort dessen kurzen und entschlossenen Befehlen zu widersprechen.
»Haben Sie den Courier für Rom bereits instruirt, hochwürdiger Bruder?« frug der Abbate.
»Er weiß, daß er seine Depeschen zuerst in unserm heiligen Collegium abzugeben hat und dann erst im Quirinal den Cardinal aufsuchen soll.«
»Gut - und ist der Mann verschwiegen und zuverlässig?«
»Auf Ihren Befehl wählte ich den gewandtesten unserer Laienbrüder aus, der stets für die geheimen Missionen benutzt wird, und den Weg nach Rom unter verschiedenen Gestalten schon zehn Mal gemacht hat. Ich bürge für ihn.«
»Das genügt. Hier dieses Telegramm durch einen Privaten zum Bureau.«
»Darf ich fragen, wohin es bestimmt ist? Sie wissen, daß es keine müßige Neugier ist, sondern Vorsicht.«
»Nach Warschau!«
»Dann ist diese um so nothwendiger. Wir wählen von hier stets den Weg über Breslau und die Unterbrechung daselbst.«
»Aber die Nachricht hat die größte Eile.«
»Baruch Lehmann ist der aufmerksamste Correspondent. Nur muß ich Sie bitten, keine Chiffern anzuwenden, sondern die gleichgültigsten Worte zu wählen, möglichst in Form eines kaufmännischen Auftrags.«
»Lesen Sie selbst, lieber Bruder!«
Der Abbé reichte dem Vorsteher des Ordenshauses
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das Manuscript des Telegramms zu und dieser las halblaut:
»Der hochwürdigsten Frau Mathildis, geborenen Gräfin Zerboni, zur Zeit in Warschau, Hôtel d'Angleterre.
Unsere Frau Priorin ist am Sechsten im Herrn gestorben und wird am Zehnten feierlich beerdigt.
Schwester Rosalia.«
Der Superior, denn diesen Rang in der hierarchischen Gliederung des berühmten Ordens hat der Vorsteher des pariser Ordenshauses für gewöhnlich, schüttelte den Kopf.
»Sie geben mir nur halbes Vertrauen, hochwürdiger Bruder,« sagte er, sich an die andere Seite des Schreibtisches setzend und die Feder zur Hand nehmend. »Die Fassung dieses Telegramms, so einfach sie ist, könute der russischen Polizei, die jetzt überaus mißtrauisch ist, verdächtig erscheinen. Sagen Sie mir, was davon nothwendig ist.«
»Adresse, die Daten und die Unterschrift.«
»Dann überlassen Sie mir gefälligst die Abfassung,« und der alte Jesuit schrieb:
»An Baruch Lehmann in Breslau.
Die hochwürdigste Frau Mathildis, Gräfin Zerboni, in Warschau, Hôtel d'Angleterre wohnend, ist sofort zu benachrichtigen, daß die durch Schwester Rosalia am Sechsten bestellten Perlen bis zum Zehnten dort eintreffen werden.«
Und er reichte diese neue Fassung über den Tisch hinüber.
Der Abbé las das Telegramm und machte ein Zeichen
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der Zustimmung. »In der That, dies genügt und ist besser. Haben Sie nach dem Hôtel Lambert gesandt?«
»Der Bote ist bereits zurück, der Prinz wird in einer Stunde hier sein.«
»Etwas langsam für einen Prätendenten auf die polnische Krone, - doch wir müssen uns damit begnügen und einstweilen eine andere Sache verhandeln. Die Frau Oberin des Klosters vom heiligen Herzen hatte direkt berichtet, daß unter den gegenwärtigen Pensionairinnen ihr eine junge Dame von den Antillen zur Vollendung ihrer Erziehung anvertraut ist, der nach dem Tode ihres Vaters ein sehr bedeutendes Vermögen zufällt, und der Provinzial von Central-Amerika hat die letzteren Angaben bestätigt und darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig es sei, daß die Hand dieser Erbin nur einem zuverlässigen Anhänger der Kirche zu Theil werde.«
Der Superior begnügte sich mit einer zustimmenden Verneigung.
»Was ist in dieser Beziehung geschehen?«
»Die Frau Vorsteherin war von dieser Nothwendigkeit unterrichtet und ersucht worden, dieser Pensionairin die größte Sorgfalt zu widmen, ebenso der Beichtvater des Klosters vom sacré c ur - aber leider ...«
»Nun?«
»Es scheint ohne unser Verschulden und in allzu großem Eifer für das Beste der Kirche diese Pensionairin etwas zu hart behandelt worden zu sein, so daß ihr eigensinniger Charakter zu bedauerlichen Excessen getrieben worden ist.«
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»Das heißt, man hat sie zur Ablegung eines Gelübdes veranlassen wollen, statt sie als Weltkind zu behandeln und sie durch Vorschub ihrer Neigungen zu gewinnen. Das war ein thörichtes Verfahren. Aber es scheinen noch andere Ereignisse dabei vorgekommen, welche die junge Pensionairin veranlaßt haben, den Schutz des Klosters zu verlassen?«
Der Superior sah, daß der junge Priester bereits mehr wußte, als er ihm hatte mittheilen wollen. »Es ist allerdings dabei leider eine bedauerliche Ungeschicklichkeit vorgekommen, die bereits ihre strenge Bestrafung gefunden hat. Der neue Beichtvater des Klosters ...«
»Nun? - er hat dem Mädchen Gewalt anthun wollen?«
»Nein - nicht so weit! - Aber er hat geglaubt, bei ihrem leichtfertigen leidenschaftlichen Charakter durch eine allzurasche Entwickelung ihrer Sinnlichkeit sich eine Herrschaft über sie zu sichern.«
»Und er ist dabei zu plump und unvorsichtig zu Werke gegangen!«
»Sie bezeichnen sein Vergehen ganz richtig, hochwürdiger Bruder. Der Pater Falmayer hat sonst große Fähigkeiten und eignete sich persönlich sehr gut zu dem Beichtiger des Instituts. Ich habe ihn sofort davon entfernt und Pater Falmayer befindet sich bereits in Pönitenz.«
»Falmayer - ich muß den Namen kennen. Ist er nicht ein geborener Schweizer aus Freiburg?«
»Er ist allerdings von deutscher Abstammung, wurde im Collegium zu Dole im Jura erzogen und ist sonst, bis
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auf diese - Schwachheit des Fleisches, eine der gewandtesten und scharfsinnigsten Stützen des Ordens, dabei -«
»Sprechen Sie nur weiter!«
»Einer der schönsten und stattlichsten Männer, die ich kenne.«
»Das entspräche! - Noch Eins, Sie erhielten von Rom den Auftrag, hier ein jüdisches Geschäftshaus, oder vielmehr das Hauswesen seiner Besitzer unter genauer Beobachtung zu halten.«
»Moses und Aaron Ruffeli aus Galizien oder Italien.«
»Si! die Zahl der Familie ...«
»Sie hat sich seit August durch die Anwesenheit einer Verwandten, einer angeblichen Sängerin vermehrt.«
»Warum sagen Sie einer angeblichen? Die Sängerin Carlotta Ruffeli war eine der berühmtesten Primadonnen Europa's. - Sie rivalisirte mit Glück mit der Lind und Alboni.«
»Ich kenne dergleichen Nichtigkeiten nicht.«
»Unrecht genug gerade hier in Paris, wo Nichtigkeiten die Hauptsache sind. Wie steht hier das Haus Russell?«
»Es macht sehr gute Geschäfte, namentlich gegenwärtig in Waffenlieferungen nach Ungarn, Polen und der Türkei, also nach dem Osten. Es beschäftigt zahlreiche Commis in seinem Comtoir.«
»Blos jüdische?«
»Nein, hochwürdiger Bruder - Sie wissen, ein Schelm traut dem andern nicht. Sie könnten schließlich der russischen oder österreichischen Gesandtschaft, die ihre
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Spione überall haben, die Adressen und Wege der Sendungen verkaufen. Noch kürzlich sind zwei Commis aus diesem Verdacht entlassen worden.«
»Hätten Sie Mittel und Wege, eine bestimmte Person in ihre Dienste zu bringen?«
»Mit einigen Umwegen gewiß.«
»Und sind die Geschäfte des Hauses Ruffeli bedeutend?«
»Sehr bedeutend - die Entziehung gerade dieses Zweiges ihrer Thätigkeit würde ihnen den grüßten Nachtheil bringen - ja unter Umständen selbst den Credit des Hauses vernichten.«
»So lassen Sie den Pater Falmayer rufen - ich will ihn selbst sprechen.«
Der Superior machte eine ablehnende Bewegung. »Ich hatte bereits die Ehre, Ihnen zu sagen, hochwürdiger Bruder, daß der Pater in diesem Augenblick unter strenger Pönitenz steht, der er schon des Gehorsams und des Beispiels wegen nicht entzogen werden darf.«
Der Abbate sah den im Range ja weit über ihm stehenden Jesuiten hochmüthig an. »Sie wissen, hochwürdiger Herr, daß ich vom General selbst unbedingte Vollmacht habe. Kraft dieser hebe ich die Pönitenz einstweilen auf, so verdient sie auch gewesen sein mag. Also lassen Sie immerhin den Pater holen.«
Bei der Berufung auf den General des Ordens verneigte sich der ältere Jesuit demüthig und erhob sich. Aber bevor er sich noch entfernen konnte, wurde drei Mal an die äußere Thür geklopft und ein Diener im geistlichen Gewande trat ein.
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»Was giebt es? Was hast Du zu melden?«
Der dienende Bruder verneigte sich demüthig:
»Seine Hoheit der Fürst Witold Czartoryski ist so eben eingetreten und frägt nach dem hochwürdigen Herrn.«
»So führen Sie ihn schleunig hierher - ich werde ihn mit Ihrer Erlaubniß, hochwürdiger Herr, selbst empfangen.«
Der Superior entfernte sich, den vornehmen Gast zu begrüßen und zu geleiten.
Einige Augenblicke darauf führte er das nunmehrige Haupt der polnischen Propaganda in Paris ein. Der Abbate kam dem Fürsten mit der ganzen Devotion eines geschulten Hofmanns entgegen.
»Euer Majestät wollen mir verzeihen, wenn ich Sie um Gehör bitten ließ. Sie kennen mich hoffentlich noch von der Versammlung im April her?«
»Ah - Abbé Calvati! Sehr erfreut, Sie zu sehen, und ich bin Ihnen doppelt verbunden, daß Sie die Vorsicht geübt, nicht in unser Hôtel zu kommen. Was bringen Sie uns für Nachrichten?«
Der Abbate hatte den Fürsten zum Sopha geführt und in bescheidener Entfernung selbst Platz genommen.
»Haben Euer Majestät bereits Nachricht aus Warschau von dem Tode des Herrn Erzbischofs?«
»Vor einer halben Stunde ist sie von Posen eingetroffen - und was nun?«
»Dann Euer Majestät hält uns Nichts mehr zurück und Sie haben die Einwilligung Seiner Heiligkeit, zu handeln. Ich habe mir bereits erlaubt, unsere Freunde
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in Warschau von Ihren Absichten in Kenntniß zu setzen, daß das Märtyrerthum beginnen kann. Das Begräbniß des verewigten Erzbischofs wird die beste Gelegenheit zu einer energischen Demonstration bieten.«
»Lassen Sie sehen - das Begräbniß wird wahrscheinlich schon übermorgen stattfinden - aber es ist unmöglich, daß bis dahin einer unserer Vertrauten Warschau erreichen kann. Das Zusammentreffen einer Demonstration in Warschau zum selben Tage mit der ausgeschriebenen Verbrüderung nach Horodlo wäre sonst allerdings vortrefflich. Doch mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Sie mir einen Titel geben, der vielleicht meinem Vater zukam, mir aber ohne Berufung der Nation nicht gebührt. Ich bitte Sie also, erst der Zukunft ihr Recht zu lassen.«
Der Abbate verbeugte sich. »Euere Durchlaucht sind der erste Prinz Ihres Hauses, also der rechtmäßige Erbe Ihres verewigten Vaters. Eden wegen des Zusammentreffens erlaubte ich mir durch den Telegraphen unsere Zustimmung zu ertheilen. Man hat nur darauf gewartet, Euer Durchlaucht haben demnach alle Zeit, die weiteren Maßregeln der Erhebung zu ordnen. Man wird Ihnen auf dem Wege über Wien und Krakau keine Schwierigkeiten mehr in den Weg legen, sobald Sie nur die österreichischen Interessen schonen.«
»Vortrefflich - Sie haben Ihr Versprechen gehalten. Aber nun, wen wird Seine Heiligkeit oder der Herr Kardinal zum Nachfolger des verstorbenen Erzbischofs Fialkowski ernennen?«
»Die Administration der Erzdiöcese von Warschau fällt
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zunächst an Bialabrzewski, der die ganz geeignete Persönlichkeit ist, die Strenge der russischen Regierung herauszufordern und das Märtyrerthum zu beginnen.«
»Aber als Erzbischof selbst?«
»Wir hoffen, daß das Petersburger Kabinet sich hat täuschen lassen und selbst die Wahl des Priesters Felinski als ihm wünschenswerth bezeichen wird. - Wir wissen bestimmt, daß man zugleich dem heiligen Stuhl das Anerbieten machen wird, die päpstliche Nuntiatur in Petersburg wieder herzustellen.«
»Aber Felinski - sind Sie seiner auch sicher? Man hat ihn mir als einen Lauen bezeichnet!«
»Er wird im rechten Augenblick ein Mann sein und der Würde der Kirche Nichts vergeben. Grade seine bisherige Haltung wird sein Auftreten um so bedeutsamer machen. Er ist ein Mann, viel entschlossener als Przyluski in Posen.«
»Dann verlasse ich Sie sehr beruhigt, ehrwürdiger Herr - Sie werden sicher ein Licht der Kirche werden. Haben wir sonst noch Etwas zu besprechen?«
»Nur die Bitte, vorläufig die Agitationen auf Polen zu beschränken. Preußen muß geschont bleiben, schon wegen seiner Haltung in der italienischen Frage. Wir hoffen dort noch bedeutende Concessionen zu erreichen. - Außerdem - wie ist das Comité mit Ihren Waffen-Spediteuren zufrieden?«
»O - das Haus Ruffeli scheint wirklich ganz vortreffliche Verbindungen angeknüpft zu haben.«
»Trauen Euer Durchlaucht ihm nicht zu viel - ich
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weiß, daß das ungarische Comité in Genua seit Kurzem Ursache erhalten hat, ihm zu mißtrauen.«
»Ich danke Ihnen für diese Warnung und werde sie beachten lassen. Empfehlen Sie mich dem Kardinal und legen Sie Seiner Heiligkeit meine Ehrfurcht zu Füßen, sobald sich Gelegenheit findet.« Der Fürst reichte dem Jesuiten die Hand und wurde von ihm bis zum Ausgang des Hauses begleitet.
Als der Abbate in das Gemach zurückkehrte, fand er den deutschen Pater aus der Pönitenz bereits dort.
Es war ein Mann von etwa 33 bis 35 Jahren, groß, kräftig, eine prächtige Gardegestalt mit einem interessant schönen Gesicht und jenen tiefen geistvollen Augen, welche für die Frauen so unwiderstehlich zu sein scheinen.

Ein König von Gottes Gnaden!

Die Krönung in Königsberg war vorüber mit all' der würdigen Prachtentfaltung, wie sie dem Monarchen eines mächtigen Staates gebührt, der seine Krone durch das legitime Erbrecht nach dem Willen Gottes erhalten, nicht aus der Wahl der politischen Parteien und wechselnden Volksgunst, der Erbe einer Reihe von großen Fürsten, reich an Weisheit und Ruhm, treuen Schirmherrn des Gottesglaubens und Förderern der Wohlfahrt ihrer Unterthanen, wie sie ihnen nach inniger Ueberzeugung die wahrste dünkte.
König Wilhelm hatte in dieser Ueberzeugung seines göttlichen Rechtes und Berufes vom Hochaltar der Schloßkirche zu Königsberg am 18. October, diesem deutungsvollen Datum für Preußen und Deutschland, die Krone entnommen und auf sein königliches Haupt gesetzt, nachdem er am Tage vorher beim Empfange der Mitglieder beider Häuser des Landtags die Deutung dieser Handlung mit den Worten ihnen dahin erklärt:
»Die Herrscher Preußens empfangen ihre Krone von Gott. Ich werde deshalb morgen die Krone vom Tische
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des Herrn nehmen und sie auf mein Haupt setzen. Dies ist die Bedeutung des Königthums von Gottes Gnaden und darin liegt die Heiligkeit der Krone, welche unantastbar ist.«
und beim Empfang der berufenen Vertreter der Armee am Sechszehnten die inhaltschweren Worte sprach:
»Von Gottes Handen ist mir die Krone zugefallen und wenn ich mir dieselbe von Seinem geweihten Tische auf das Haupt sctzen werde, so ist es Sein Segen, der sie mir erhalten wolle. Sie zu vertheidigen, ist die Armee berufen und Preußens Könige haben die Treue derselben noch nie wanken sehen. Auf diese Treue und Hingebung rechne auch ich, wenn ich sie aufrufen müßte gegen Feinde, von welcher Seite sie auch kommen mögen.«
Es war der alte Feldmarschall Wrangel, dem er als Vertreter der Armee bei diesen Worten die Hand reichte und der ihm für das große Werk der Verstärkung dieser Armee durch die Reorganisation ihren Dank sagte. -
Am 20. October hatte König Wilhelm Königsberg verlassen, und am 22. hielt er als König und Kriegsherr Preußens hoch zu Roß, mit der Königin, die in dem achtspännigen Krönungswagen sah, nebst allen Prinzen und einem zahlreichen Gefolge durch das Frankfurter Thor seinen Einzug in die Hauptstadt seines Landes, in Berlin.
Wer sie mit augeschaut jene Tage der Festlichkeiten in Berlin, der wird wissen, wie die alte preußische Treue in der glänzenden Hauptstadt trotz all der seitherigen Wühlereien und Anfechtungen zum unverfälschten enthusiastischen Jubel ausbrach, der den königlichen Herrn empfing und durch die Tausende gleich kräftig bis zum Königschloß seiner Väter geleitete, in jenen Jubel, der
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immer und immer wieder unter dem Volk mit und ohne Waffen sich Luft machte, wo König Wilhelm sich zeigte.
Es war am Abend des festlichen Einzugs, längst waren die Gewerke und Deputationen, welche das Spalier des festlichen Zuges von der dazu errichteten Bahnhalle an der Frankfurter Chaussee bis zum königlichen Schloß gebildet hatten, nach dem großen Zug am Schloß vorüber zu ihren Ausgangsplätzen zurückgekehrt, und die Bevölkerung wogte gleich einer unermeßlichen Fluth durch die in glänzender Illumination schwimmenden Straßen so massenhaft, daß auf vielen derselben nicht mehr Durchkommen blieb für die unabsehbaren Reihen der Wagen. Alle Lokale waren überfüllt und jeder Augenblick brachte neuen Zudrang oder sandte neue Wogen daher in den Strom der Schaulustigen, die durch die Straßen auf und nieder flutheten.
Vor dem Palais des Königs hielt sich die Menschenmasse gestaut - immer hoffend und harrend, den König wieder und wieder zu sehen und zu begrüßen.
»Ist's nun genug der Komödie,« sagte eine rauhe harte Stimme in das Ohr eines Mannes, der trotz des Gedränges den Platz am eisernen Gitter des Denkmals festgehalten und mit düstrer Miene auf den Jubel umher und die glänzend erleuchteten Fenster des Palais geblickt hatte, auf dessen Rampe zwischen den hohen Säulen, welche den großen Altan tragen, mächtige Flambeaux brannten. »Schaun Sie diese Kanaille an, die dem neuen König
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von Gottes Gnaden zujauchzt, und grade heute vor 13 Jahren berieth das deutsche Parlament ohne all diese Fürsten und Könige die Grundrechte des deutschen Volks in Frankfurt a. M., der Tyrannenknecht Windischgrätz forderte die Köpfe der besten Vertheidiger der Volksfreiheit von den Wiener Bürgern und unser Robert Blum hielt seine flammende Rede in der Aula! Schleswig-Holstein feierte seine eigene Regierung, drei Tage noch - ich fand heute zufällig meine Einladungskarte! - und es ist der Jahrestag, daß wir Beide mit in jenem Saal des Englischen Hauses, wo vor vier Wochen die schwarz-weiße Reaction tagte, auf dem Congreß der Demokratie unter Georg Fein die deutsche Republik beriethen! - und heute, heute - sehen Sie um sich, es ekelt mich vor dieser schweifwedelnden Bourgeoisie! Kommen Sie, Freund, wir wollen frische Luft schöpfen jenseits des brandenburger Thors, das mir hier die Brust beklemmt.«
Der fast gewaltsam aus dem Gedränge Gezogene schritt durch eine der leerern Straßen mit dem Gesinnungsgenossen dem Thiergarten zu.
»Die Bourgeoisie ist's nicht allein, die heute für ein neues Hoflieferantenschild schweifwedelt,« sagte spöttisch sein Begleiter, - »gab's doch auch Viele von der sogenannten Volksvertretung, die der Eitelkeit nicht hatten widerstehen können, dem Ruf nach Königsberg zu folgen, und dort eine Rolle zu spielen - nur die Polen und wenige Andere blieben ihrer Opposition treu und kamen nicht. Und nun,« sie waren in den Thiergarten eingetreten und bogen in einen der inneren Gänge ein, wo
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ihnen nur Wenige, die querdurch zur Stadt eilten, oder von dort zurück kamen, begegneten - »haben Sie gelesen, welchen Commentar heute die Times sehr ungenirt zu den Worten in Königsberg über die constitutionellen Rechte der Volksvertreter bringt?«
»Wohl - und was wird sie zu der neuen Krönungsgabe der Provinz Schlesien, dem Dampfkanonenboot sagen, wenn der Umzug von Breslau zurückkehrt? - In dieser vertrakten Provinz und in Pommern hatten wir schon Achtundvierzig die meiste Noth, einen liberalen Geist hinein zu bringen. Der Geist von 1813 ist leider noch immer wach, und passen Sie auf, der Hof wird es gewiß verstehen, die fünfzigjährigen Erinnerungen in zwei Jahren wach zu rufen. Zum Glück, daß es unter dem letzten schwachen Regiment gelungen ist, die Seehandlungs-Etablissements im schlesischen Gebirge zu sprengen und in die Hände unserer Freunde zu manipuliren, denn die Regierung hatte durch sie großen Einfluß auf die Bevölkerung grade der Fabrikdistrikte. Jetzt wählen diese bereits Männer wie Reichenheim oder die polnischen Kapläne, der Einfluß des Adels und der Landräthe ist auch dort täglich im Sinken.«
»Das sind einzelne Erfolge und es wird noch lange währen, ehe die Bevölkerung demokratisirt ist. Ich sage Ihnen, Berlin ist und bleibt unser bestes Terrain, wenn wir erst diese Bourgeoisie gewonnen haben, und sie ist jetzt im besten Zuge, wenn nicht ein äußerer Krieg darein kommt, denn dann allerdings käme der fatale berliner Tick dazwischen. Aber was nun? - ich denke über die große Grundidee sind wir einig: ein allgemeines Deutschland
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unter liberaler Volksvertretung mit liberalen Grundrechten, vorläufig in constitutionellen Stäatchen, später eine deutsche Republik nach schweizer Muster, oder ein nationales System Cavour, und zu diesem Ende Schwächung der Hohenzollerndynastie, denn das ist die gefährlichste. Aber der Weg, der Weg dazu?«
»Die bevorstehenden Wahlen sind so gut wie in unseren Händen. Einer compakten demokratischen Majorität in der Volksvertretung kann auf die Dauer keine Regierung widerstehen. Die Macht der preußischen Krone liegt in der Armee. Nachdem die Grundsteuer vom Herrenhause angenommen ist, konnten wir allerdings die Vermehrung und die neue Organisation dieser Armee nicht verweigern, aber die Bewilligung der Geldmittel darf nur eine provisorische sein, niemals eine definitive, oder die Macht über die Armee ist uns aus der Hand gewunden. Natürlich müssen die Forderungen der Regierung im Etat stets wichtige Abminderungen erfahren. Jede Bewilligung muß sie mit neuen Rechten an die Volksvertretung erkaufen. Indem man die Zahl der Einstellung in die Armee von der alljährlichen Bewilligung im Budget abhängig macht, werden wir in höchstens zwei Kammersaisons schon die zweijährige Dienstzeit durchgesetzt haben, die sich leicht noch herabsetzen läßt, - dann haben wir ein Volksheer, nicht ein Königsheer. Durch Drängen auf bloße Selbstverwaltung der Gemeinden brechen wir die Macht einer immer von der Regierung abhängigen Bureaukratie. - In der Justiz muß der Einzelrichter, der Kreisrichter souverain und unversetzbar ohne seine
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Zustimmung sein. Das sichert ihm den Einfluß auf das platte Land, er tritt an die Stelle des Landraths. - Das Aufsichtsrecht der Geistlichen über die Schulen muß aufhören: in den Kreisrichtern und den Schullehrern liegen die wichtigsten Hilfsmittel für den Liberalismus und die Heranbildung republikanischer Einrichtungen. Durch die Gewerbefreiheit ist der Handwerkerstand als Corporation schon gebrochen. Die Beschränkung des Individuums zum Besten des Ganzen ist eine falsche Idee, je mehr inviduelle Freiheit, desto weniger Ganzes, desto weniger Corporation, desto weniger Druck müssen wir haben. Mit zweihundert Einzelnen läßt sich mehr für die Freiheit erreichen, als mit einer Compagnie, die als solche auftritt. Untergräbt man nun noch die religiösen Vorurtheile, lockert das Institut der Ehe als kirchliches, macht man den Volkswohlstand von dem Stande der Börse abhängig, erleichtert und schützt die Spekulation und die Aktienunternehmen, wobei doch immer der Klügste die Anderen ausbeutet - dann lassen Sie uns immerhin noch fünf, ja zehn Jahre in Deutschland Monarchen haben, ja selbst die Hohenzollern, die Habsburger, die Welsen und Wittelsbacher, - ich sage Ihnen, in zehn Jahren haben wir doch die deutsche Republik, wo Jeder von uns das Recht hat, souveram zu werden von Volks und seines Verstandes Gnaden, nicht von Gottes Gnaden! - Nur immer drängen, immer vorwärts drängeln, selbst mit Compromissen, denn jeder Compromiß reißt eine Bresche in den Damm.«
Sie schritten Beide schweigend weiter - so eingefleischte Republikaner sie auch waren, dem Einen mochte
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doch ein gewisses Grauen ankommen, an den alten Grundvesten des Königthums zu rütteln - dem Andern stieg eine noch schwerere Besorgniß auf und unwillkürlich blieb er stehen. »Und wenn wir alle die Macht in Händen bekommen, die wir für das Volk erstreben - der Jude da drüben an der Potsdamer Straße, wie denken Sie über den?«
»Ueber Lassalle?«
»Ja!«
»Après nous le deluge! was kümmert's uns. Dazu behalten wir ja eben die Soldaten des Königthums, um die Kanaille im Zaume zu halten. Meinen Sie wirklich, daß er daran denkt, sich vom Terrorismus des Pöbels aus seinen seidenen Fauteuils reißen zu lassen? Es ist Komödie bei diesem Sybariten. Das Volk, das Proletariat ist ihm Nichts, als die Stufe für seinen Ehrgeiz. Der Plebs wird immer Plebs bleiben - es handelt sich nur darum, daß recht Viele herrschen können, statt daß jetzt Einzelne das Vorrecht haben. Die bloße Humanität ist ein Unsinn - und bis die Communisten im Parlament die Oberhand haben und die Gesetze machen, statt wir, ist's noch lange hin! Verdienen, verdienen, die Macht haben ist das Wahre!«
Er ließ den langen, rothblonden Bart durch die Finger laufen. »Kommen Sie und trinken bei mir eine Flasche Sekt - ein Pereat auf die Hohenzollern, aber das zweite Glas ein Pereat auf jede Pöbelherrschaft!«
Er öffnete das elegante Gitter eines der Vorgärten. -
Zur selben Zeit - kaum zwei Straßen weiter gingen
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zwei andere Männer, gleich ihnen schlimme Feinde des preußischen Königthums.
Der Eine schien noch jung, höchstens dreißig Jahre, dem Andern ließ der grau melirte Bart ein Alter von wohl fünfzig Jahren geben. Beide sprachen bald französisch, bald polnisch.
»Welche Nachrichten bringen Sie aus der Gesandtschaft?«
»Die besten. Die zahlreiche Cortège des Marschalls und der pariser Arbeiterschwarm, die jetzt drüben am Platz hämmern, tapezieren und decoriren unter den Augen der Polizei haben wenigstens das Gute gehabt, einer Anzahl der Unseren unbemerkt hierher zu helfen. Wir bringen sie spielend über die Gränze. Es wird nicht auffallen, daß sie den Hof nach Breslau begleiten, sei's als Zeitungsreporter, sei's als bloße Schaulustige oder Geschäftsleute. In solchen Tagen hat die Polizei keine Augen, und seit das Ministerium Schwerin sie mit dem Prozeß Patzke und Stieber ruinirt hat, wagt Keiner den Mund aufzuthun. Ich weiß nicht, wo man augenblicklich blinder ist, in Petersburg, in Warschau oder Berlin? Alles geht vortrefflich. Die kluge Neutheilung der Wahlbezirke sichert uns im Großherzogthum mindesten sechs Plätze mehr, die Regierung in Posen überbietet sich an Schwächen. Nur der alberne Hirtenbrief des Bischof Marwitz hat uns hier und drüben über der Gränze geschadet. Aber doch schreiten wir mit den Nationalandachten vor. Przyluski und sein Domkapitel saßen bei der Predigt, die ihnen der Probst Prahinowski über die Pflichten des polnischen Klerus hielt,
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als säßen sie auf der Anklagebank; so lange Bonin Chef der Provinz bleibt, hat es keine Noth und wir müssen diese Zeit nützen zur Bildung der Agitation und der Waffendepots an der Gränze. Das Auskunftsmittel unserer Pröbste, fremde in der Gemeinde ganz oder nur den Zuverlässigsten bekannte Geistliche, die nationalen Reden halten, um sie gleich darauf verschwinden zu lassen, so daß keine Anklage erhoben werden kann auf Grund der Kanzelparagraphen, war schlau gewählt. Mit solchen Wanderpredigern und den National-Andachten - gleichviel welche Namen und Tage wir wählen - wird das Volksgefühl gehoben und der Einfluß des Erzbischofs, wenn er auch wirklich den niedern Klerus beschränken wollte, brachgelegt. Wir haben nach dem Beschluß des Central-Comité's in Paris fast zwei Jahre Zeit zur Vorbereitung, und bis dahin hoffe ich die Organisation auch bei uns hüben so weit gediehen, daß wir zugleich mit drüben losschlagen können. Wissen Sie, daß Bakunin glücklich in England angekommen ist?«
»Ich wußte, daß es ihm gelungen, Amerika zu erreichen, aber nicht, daß er schon in England ist.«
»Herzen jubelt darüber. Sie finden ein Packet der neuen Nummern des krakauer ›Czas‹ und der ›Straznica‹ bei mir und können Sie mit nach der Provinz zur Vertheilung nehmen; - aber nun - welche Nachrichten von Warschau? Hat die russische Tyrannei neue Gewaltthaten gegen die Kirche gebraucht?«
»Sie übt den am 14. über das Land erklärten Kriegszustand sehr lässig. Der neue Oberpolizeimeister Oberst
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Pilsudski scheint noch nicht warm geworden, Suchozanet fühlt sich nach der Abreise Lamberts nicht sicher - die Abwesenheit des Kaisers Alexander in Livadia kommt uns zu statten, grade wie unseren Verbündeten in Petersburg und an den andern russischen Universitäten. Ein wahres Glück ist es, daß es gelang, ihren Kriegs-Gouverneur, den Tyrannen Gerstenzweig zu dem Selbstmord zu treiben.«
»Und wie geschah dies?«
»Sie wissen, daß er mit Lambert und Wielopolski stets auf dem Kriegsfuß stand. Man hat ihn Lambert zu verdächtigen gewußt und es kam zwischen Beiden zu einem heftigen Auftritt. Der Selbstmord liegt in der Familie! Es ist gut, daß es gelang, bevor Lüders seine Ernennung hat, denn diese Beiden an der Spitze der Regierung wären uns mit ihren Eisenköpfen in der That gefährlich gewesen. Das beweisen die Verhaftungen nach der Feier des Koscziuskotages, den wir überall durchgesetzt haben. Die Russen glaubten zwar, besonders schlau gewesen zu sein, daß sie die Geistlichen der Kathedrale und der Bernhardiner Kirche zwangen, ihnen nach dem Eindringen des Militairs und der Polizei in die Kirchen und dem gewaltsamen Herausholen der Patrioten schriftlich zu bezeugen, daß die Heiligthümer nicht entweiht seien und kein Sakrileg vorliegen sollte, aber die Energie Bialobrzewski's: alle warschauer Kirchen dennoch zu schließen und selbst die Schließung der protestantischen Gotteshäuser und der Synagogen hat dies wett gemacht, und sie gaben sich bisher vergebene Mühe, die Wiedereröffnung der Kirchen zu erreichen.«
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»Aber wird man endlich nicht neue Gewaltthaten üben?«
»An Drohungen fehlt es nicht, Bialobrzewski erwartet täglich seine Verhaftung, - aber er ist entschlossen auch den schlimmsten Anklagen zu stehen und nur zu erwidern, er habe die Schließung der Kirchen nur deshalb verordnet, um das Absingen der verbotenen Nationallieder zu verhindern. In der That, seine Wahl zum Verweser war die beste, welche das Kapitel vornehmen konnte. Die Verhaftung des Superintendenten der protestantischen Kirche und des Oberrabiners, so wie vieler Mitglieder des unteren Klerus genügt nicht, der Bisthums-Verweser muß sein Märtyrerthum erzwingen, sie können nicht anders mehr. Uebrigens erfolgen allmählig neue Haftnahmen - es sind bereits mehr als vierhundert Patrioten nach der Citadelle geschleppt worden - aber sie halten fest und gestehen nicht.«
»Aber wenn dieser Eisenkopf General Lüders wirklich Statthalter werden sollte?«
»Auch dafür ist gesorgt - schließlich ist ein Patriot bereits gefunden, der sein Leben preisgeben will, um ihn zu beseitigen. Einstweilen werden die neuen Zwistigkeiten des Adels mit den Bauern wegen der aufgehobenen Roboten ihm genügende Beschäftigung geben.«
»Ich begreife dies nicht ganz - wenn nun die Russen die Bauern gewähren ließen, wie Sechsundvierzig die österreichische Regierung in Galizien that - erinnern Sie sich, daß die dortigen Bauern fast vierhundert Edelleute mit Weib und Kind ermordeten!«
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»Was thät es auch bei uns? wir haben ohnehin des anmaßenden Adels zu viel - sie gehören doch Alle nur zu den Weißen. Aber die Russen können nicht umhin, ihr eigenes Ablösungsgesetz gegen die Bauern aufrecht zu erhalten und so unter diesen wieder die Sympathien zu verlieren, die sich der Kaiser wirklich durch die Aufhebung der Leibeigenschaft erworben hatte. Der Bauer ist zu dumm und störrisch, als daß er unter der Ablösung nicht lieber, wie die Propaganda ihm einredet, die Aufhebung jeder Abgabe verstehen möchte! So macht das russische Gouvernement sich nach beiden Seiten verhaßt. Der reichere Adel war überdies klug genug, die Sympathien der Bauern durch die splendide Bewirthung ihrer Deputationen am Koscziusko-Tage zu erkaufen. Die russischen Schergen haben trotz aller Untersuchung nicht einmal die Veranstalter des Festmahls im Hôtel de l'Europe ermitteln können. Kurz es wird dem neuen Statthalter Nichts übrig bleiben, als aus dem Kriegszustand den Belagerungszustand zu machen und dann ist die Erbitterung allgemein und sie werden nicht Truppen genug haben, ihn aufrecht zu erhalten.«
»Trauen Sie nicht zu viel - ich kenne den General und weiß, welcher Energie er fähig ist!«
»Dann, wie gesagt, haben wir ein äußerstes Mittel: Gewalt gegen Gewalt. Wenn wir uns auf die Stimmung in Posen und Galizien verlassen können, daß man die Waffen zuführen kann und den Zuzug nicht hindert, dann möge immerhin trotz aller Beschlüsse des Central-Comités in Paris der Aufstand schon eher losbrechen. Nur der Schlag in Lublin macht es für den Augenblick unmöglich,
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15000 Gewehre sind zu viel Verlust. Er hat uns geschädigt, und solche Fälle müssen um jeden Preis verhindert werden!«
»Aber wie war der Verrath möglich?«
»Es ist uns bisher trotz aller Mühe nicht möglich gewesen, den Namen der Verrätherin zu entdecken. Die That soll mit dem Selbstmord Gerstenzweigs zusammenhängen. Soviel wir wissen, wurde grade ihm der Verrath zuerst angeboten, aber der geforderte Judaslohn war ihm zuviel, oder er glaubte überhaupt nicht mehr daran. General Lüders war klüger und kümmerte sich den Teufel um das Ansehen der Zamoyski. Der Graf war nahe daran, der Anklage als Mitwisser zu verfallen, und nur die Selbstanklage seines Sohnes rettete ihn. Deshalb auch mußte er dessen Verhaftung sich schweigend gefallen lassen. Wir wissen eben nur, daß der Verrath von einer Frau geschah, daß sie die genausten Details angab, das Geld in Empfang nahm und eben so tief verschleiert und unbekannt entkam, wie sie im Schloß erschienen war.«
»Und der General?«
»Er gab seinen Offizieren keine Zeit, sonst hätten wir die Gefahr zeitig genug erfahren und die Waffen fortschaffen können. Jedermann glaubte, daß die abmarschirenden Truppen von Lublin zur Verstärkung der Garnison von Warschau bestimmt wären, als sie plötzlich Contreordre erhielten, welche der Hund Atschikoff überbrachte, den Marsch änderten und in den nächsten sechs Stunden war das ganze Gut und das Kloster schon von den Kosaken besetzt, so daß es unmöglich blieb, einen Widerstand zu
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organisiren, oder die Waffen fortzubringen. Ich muß gestehen, das war das erste Mal, daß es den Russen gelang, ihre Maßregeln bis zum letzten Augenblick geheim zu halten. Selbst die Aebtissin, deren teuflischer Schlauheit und Umsicht doch selten Etwas verborgen bleibt, erfuhr Nichts, und unsere besten Spione im Brühl'schen Palais waren dupirt. Dieser Schlag und der Verrath des Schurken Asnik waren schlimme Dinge.«
»So muß man die Aufmerksamkeit verdoppeln, und keine Gnade bei dem geringsten Verrath und Mißtrauen. Der Prinz Napoleon in Paris ist eifrig bemüht, den russischen Einflüssen und den Rathschlägen Morny's bei dem Kaiser die Stange zu halten.«
»Rechnet er vielleicht auf einen Heinrich II.? die Polen haben genug gehabt an dem Verrath eines Valois und den gebrochenen Zusagen des ersten Napoleons! - Der Kaiser wäre übrigens sehr zufrieden, ihn los zu werden.«
»Wir wollen die Republik! Nicht einmal einen Wahlkönig oder einen von Gottes oder der Fürsten Gnaden.«
»Das muß die Zukunft lehren - was übrigens dieses Königthum von Gottes Gnaden betrifft, so wurden mir im Gesandtschaftspalais Andeutungen, daß der Kaiser daran denkt, das Fiasko von Compiegne mit einer Erklärung über Volksrechte zu erwidern, denen er allein seine Wahl und die Krone verdanke und die dem Artikel der Times Nichts nachgeben wird. Nach einer solchen und wenn die Kurie auch erst erklärt, daß die Kirche, wenn die Fürsten ihre Rechte nicht schützen wollen, sich mit der Revolution verbinden müßte, - dann geht alle
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Legitimität zum Teufel, vielleicht in Rußland zuerst. Der Boden ist dort günstiger, als wir denken, und der Socialismus wächst selbst den Republikanern dort über den Kopf.«
Der andere Pole, anscheinend der vornehmere, machte eine zweifelnde Bewegung. Dann sagte er: - »Wie ist es der Aebtissin von San Rosalia gelungen, sich bis jetzt dem Verdacht der russischen Polizei zu entziehen und - ist ihr in der That zu trauen?«
»Sie thuen da zwei Fragen in einem Athem. Grade die Keckheit, mit der sie den Schutz der russischen Behörden suchte, und ihrem Verkehr eine gewisse Oeffentlichkeit giebt, entfernt jeden Verdacht. Ihr Vorgeben eines Prozesses gegen den Grafen Czatanowski hat ihr den Schutz des Rath Krautowski und das Vertrauen Pauluccis gesichert. Die Rolle, die sie spielt, ist allerdings eine schwierige, wie auch nur ein Weib eine solche Aufgabe lösen kann, aber die Dienste und Rathschläge, die wir ihr bereits verdanken, sind sehr wichtig. Ueberdies ist sie von Rom her aufs Beste empfohlen und - entbehrt auch einer gewissen Ueberwachung nicht.«
»Es sollte mir übrigens leid thun, wenn den Czatanowskis durch ihren wahren oder vorgeschobenen Prozeß ein Unheil entstände. Er selbst ist zwar ein Lauer und sein Sohn, der Offizier, nicht viel besser, aber der Graf ist doch ein Ehrenmann und ein guter Pole - die Schwägerin aber, die bei ihm wohnt und eigentlich die ganze Familie dominirt, eine enragirte Patriotin und eine unserer besten Stützen an der Gränze. Sie wissen doch, daß der Graf hier ist mit seiner Tochter und dem jüngsten Sohn, um
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den Festlichkeiten beizuwohnen? Die Gräfin selbst war dafür, weil dergleichen allen Verdacht verbirgt.«
»Ich wußte es nicht und wünsche nur, daß, wenn es später gilt, er die Sache des Vaterlandes nicht im Stiche läßt. Wo wohnt er?«
»Im Hôtel de Rome. Aber wir dürfen ihn nicht überstürzen - wir müssen es der Gräfin überlassen, ihn nach und nach zu uns herüberzuführen. Werden Sie nach Breslau gehn?«
»Ich muß es, es trifft eine Waffensendung über Gotha und Dresden bei Baruch Lehmann ein und ich muß sie übernehmen, ehe wir sie über die Gränze bringen, denn der verdammte Jude übernimmt das Risico nicht. Das geht aber nur über Oberschlesien.«
»So sehen wir uns schwerlich wieder. Grüßen Sie die Freunde in Warschau und sie möchten vorsichtig sein und von Lüders keine Nachsicht erwarten.«
Sie waren zum Potsdamer Platz gelangt, der in der strahlenden Beleuchtung der Illumination schwamm und Beide zur Vorsicht mahnte. Der Aeltere drohte hinüber nach dem Hause der Kreuzzeitung. »Mit Denen da drüben haben wir auch eine Abrechnung zu halten! Der Henker hole die ganze berliner Presse - selbst die der Demokratie, sie schadet mehr als sie nützt. Ich bin einem der Federfuchser noch aus dem Prozeß ›Post‹ eine Lektion für seine Impertinenz schuldig, und wünschte, ich hätte ihn einmal drüben über der Gränze. Dobra noc! über Breslau erhalten Sie Nachricht, wenn ich glücklich wieder in Warschau angekommen bin!« -
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Der Abendzug vom Rhein war eben angekommen - auf dem Perron wartete ein noch junger Mann in Civil, den jedoch Haltung und Bart als Militair erwiesen und dessen scharfes Auge die aussteigenden Fremden musterte. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte, eine Dame, deren Gesicht zwar durch den Schleier von dem barettartigen Hut verdeckt wurde, deren linkisches Wesen aber durch die Bewegungen blos der einen Hand auffiel.
Er war rasch herangetreten. »Fräulein von Marowska?«
Sie anwortete französisch. »So ist mein Name - was wünschen Sie?«
»Dann erlauben Sie, daß ich mich vorstelle und Ihnen zunächst diese Last abnehme. Ich bin der Premier-Lieutenant v. Möllhoff und Comteß Kazimira Czatanowska hat mir die Ehre erwiesen, mich zu beauftragen, da der Herr Graf bei Hofe abgehalten ist, eine Dame Ihres Namens auf dem Bahnhof abzuholen und sie durch das heute sehr große Getümmel sicher zum Hôtel zu geleiten. Erlauben das gnädige Fräulein mir also, mich zu ihrer Disposition zu stellen und zunächst um Ihren Gepäckschein zu bitten.«
Die junge Polin war zwar erstaunt, einen preußischen Offizier sie empfangen zu sehen, aber doch zu fein gebildet, ihre Befremdung merken zu lassen. »Es ist sehr liebenswürdig von Comteß Kazimira,« sagte sie höflich, »mir einen Cavalier zu senden, der mich der Verlegenheiten überhebt, da ich zum ersten Mal in Berlin bin und Ihre Hauptstadt, wie ich schon unterwegs zu meinem Schrecken hörte, zu Ehren des Einzugs Ihres Königs in Jubel und voller Bewegung ist. Ich darf wohl kaum fragen,
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wie es Ihnen gelungen, mich so rasch unter der Menge der Reisenden zu erkennen?«
Sie hatte jetzt den Schleier zurückgeschlagen und sah mit Bedeutung nach der Stelle des fehlenden Gliedes. »Selbst das Unglück hat also seine Vortheile.«
Der Offizier hatte zu viel Takt, um auf den schmerzlichen Spott einzugehen. »Der angenehme Auftrag war eigentlich nicht mir bestimmt, meine Gnädige,« sagte er, »sondern dem ältern Bruder der Comteß, doch er war noch nicht im Hôtel zurück, als die Zeit drängte, und dies verschaffte mir das Glück der Wahl. Aber erlauben Sie mir, Sie zur Droschke zu führen, denn ich kann Ihnen leider nur eine solche bieten, da die Equipage des Hôtels bereits in Anspruch genommen und eine andere am heutigen Abend nicht zu beschaffen war.«
Er hatte ihr den Arm geboten, sie zu geleiten, und die Polin, der das ernste taktvolle Benehmen des Fremden trotz seiner Nationalität gefiel, seinen Arm genommen.
Der Premierlieutenant hatte einem der Packträger den Schein gegeben, und die Nummer des Wagens bezeichnet. So führte er die Reisende zu diesem und plauderte leichthin weiter, um ihr jede Verlegenheit zu ersparen.
»Ich bin gleichfalls eigentlich nur Gast in Berlin und erst gestern wieder von Hamburg zurückgekommen, wohin ich einen Bruder geleitete. Ich hatte keine Ahnung, die gnädige Comteß hier zu finden und war erst heute Mittag so glücklich, sie mit ihrem Herrn Vater beim Einzug auf der Tribüne des Herrenhauses zu erkennen. Der Herr Graf, dem ich die Ehre habe, durch meine seinem Gute
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benachbarte Garnison bekannt zu sein, und dessen Sohn ein Kamerad meines jüngern Bruders ist - oder vielmehr war! hatte die Güte mich in sein Hôtel einzuladen und so wurde mir, wie gesagt, die Ehre des Auftrags zu Theil, da der Herr Graf selbst verhindert war, dem jüngeren Bruder der Comteß ein solches Geschäft aber wohl nicht überlassen werden konnte, er auch ehrlich gesagt lieber unter den Linden in dem großen Trubel umherschweift. Comteß Kazimira erwarten das gnädige Fräulein mit Sehnsucht und hoffen, Sie nach den Festlichkeiten für einige Zeit mit nach Slawice zu nehmen.«
»So werde ich also dort noch Gelegenheit haben, Ihnen für Ihre Artigkeit zu danken,« sagte die Polin - »da Sie gewiß häufiger nach Slawice kommen?«
Es war wohl mehr eine hingeworfene Bemerkung als eine Frage, und der Premierlieutenant vermied auch darauf zu antworten, er sah vielmehr nach dem Fiakerkutscher und befahl ihm den Weg durch die Dorotheenstraße zum Hôtel zu nehmen, um nicht in die unendliche Wagenburg zu kommen, die sich die Linden entlang zog. So setzten Beide schweigend die Fahrt fort, die Aufmerksamkeit nur der rechts und links flammenden Illumination zugewendet, bis sie an der Ecke der Charlottenstraße halten mußten, weil der Wagen nicht vorfahren konnte. Der Offizier war rasch ausgestiegen und bot der Polin die Hand, sie zum Eingang zu führen, vor dem eine glänzende Equipage hielt. »Kommen Sie, gnädiges Fräulein. Die Comtesse Czatanowska ist doch zu Hause?«
Man trat damals noch von der schmälern Front der
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Linden her in das schon zu jener Zeit durch seine Eleganz und die Coulanz des Besitzers weltbekannte Hôtel, das seitdem durch den Neubau zu einem der berühmtesten in allen Weltstädten des Continents geworden und stets gern von dem vornehmsten polnischen und schlesischen Adel besucht war. Herr Mühling stand mit dem Journalisten, den wir zuletzt in Baden-Baden getroffen, grade unter der Thür, mit seiner gewohnten Aufmerksamkeit die Ausfahrt eines vornehmen Gastes erwartend - und dennoch Auge und Ohr für Alles habend. »Madame la Comtesse warten in ihren Zimmern. - Wollen Durchlaucht die Gnade haben?« Eine Handbewegung bat die Ankommenden, einer Dame Platz zu machen, die eben ungehört auf den weichen Teppichen von der Treppe herunterrauschte, ein alter Herr im Sürtout, unter dem auf dem schwarzen Frack Ordensband und Stern hervorschimmerten, folgte ihr, auf einen Stock und den Arm seines Kammerdieners gestützt - es war der schlesische Fürst, dem man vor wenigen Monaten im Spielsaal von Baden-Baden die kostbare Dose gestohlen hatte.
»Die Frauen sind doch wahrhaft unermüdlich ihrer Schaulust zu fröhnen,« sagte er ironisch, »da sehen Sie, lieber Mühling - die meine muß mit Gewalt noch die langweilige Illumination in der Nähe beschauen, und schleppt mich mit sich, obgleich ich hoffte, nach all' den vielen Strapazen des Tages, und obschon uns dasselbe in Breslau bevorsteht, mich heute Abend an einer Tasse Thee zu erholen. Aber was kann man thun dagegen? Ah,
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sieh da, Herr Doktor! Freue mich, Sie zu sehen! Werden Sie auch nach Breslau gehen für Ihre Zeitung?«
Der Journalist entschuldigte sich mit den vielen Arbeiten, die Berlin noch böte und verneigte sich tief vor der Fürstin, die das feine Taschentuch wie aus Unachtsamkeit zu Boden fallen ließ, während der Fürst schon davonhumpelte, um den Wagen mit Hilfe der Diener zu besteigen, und nur unterwegs noch halb über die Achsel zurückfrug: »Sind Sie Jäger, lieber Doktor? Habe Sie lange nicht gesehn.«
Der Journalist zuckte verneinend die Achseln, während er sich Kellnern und Wirth zuvorkommend nach dem Taschentuch bückte, um es der vornehmen Dame selbst zurückzureichen.
»Schade! schade - ich hätte Ihnen sonst gesagt, zu uns zur Jagd zu kommen - es soll magnifique viele Hasen geben in diesem Jahr, wie mir meine Förster melden. Für mich ist's freilich Nichts mehr - die fatale Gicht verleidet mir jedes Vergnügen, das Anstrengung erheischt. Nun, auf Wiedersehn im Frühjahr, halten Sie nur fest in der Zeitung gegen den demokratischen Schwindel!« Er saß bereits glücklich in den Seidenpolstern.
Der Journalist hatte das Tuch überreichen können, da die Dame absichtlich mit der Abnahme zögerte.
»Etwas Neues für mich, Doktor?«
Er bemerkte, daß während der Frage ihr Auge bereits nach dem Ausgang starr hinüber sah, aber nicht nach dem Gatten im Wagen, sondern nach zwei Personen, die eben eintraten hinter dem Premierlieutenant und der Polin,
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und von denen die eine dem Erstgenannten bereits die Hand bot.
»Sie also auch hier, Herr von Möllhoff? Es freut mich, Sie zu sehen!«
»Und mich gleichfalls, Herr Hauptmann - wir trafen uns seit dem traurigen Schmugglerabend zu Strzalkowo, bald nach dem Tode des hochseeligen Königs, nicht mehr. Erlauben Sie mir, Lieutenant Graf Czatanowski Ihnen vorzustellen. Sein Papa, den Sie an jenem Abend kennen lernten, und die Comteß befinden sich gleichfalls hier. Hauptmann Krüger vom Stab in Posen, Herr Kamerad!«
Die Vorstellung klärte den Journalisten sofort auf über die Richtung, welche die Augen der Fürstin genommen hatten, die jedoch kalt und unbefangen die ehrerbietigen Grüße der beiden Offiziere erwiederte.
Der Journalist hatte auf die Frage der Dame leicht eine verneinende Beantwortung mit dem Kopf gemacht und war zurückgetreten. Die Stimme des Fürsten vom Wagen her unterbrach übrigens die Scene.
»Nun, ma chère, wenn es Ihnen gefällig ist - ich warte!«
Mit einer graziösen Verbeugung rauschte die schöne Frau hinaus und sprang leichtfüßig, ohne der Hilfe des galanten Wirths zu bedürfen, über die Tritte in den Wagen. »Lassen Sie uns immer den Thee bereit halten, Herr Mühling,« sagte sie, noch einmal bedeutsam den Blick in den Flur zurückwerfend. »Länger als zwei Stunden hält es doch der Fürst nicht aus. Was thun Sie dort mit dem Kinde?«
Die Frage galt dem Portier, der, während der Diener
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des Fürsten sich zum Kutscher auf den Bock schwang, einen Straßenjungen, der sich keck mit den Pferden zu schaffen gemacht, etwas unsanft bei Seite schob.
»Ein naseweiser Bengel, Durchlaucht, man kann nicht genug auf die freche Bettlerbrut aufpassen,« sagte entschuldigend der Mann. »Vorwärts, Johann, da ist eben eine Lücke im Zuge!« Er winkte noch dem berittenen Schutzmann vertraulich zu, der die Ordnung aufrecht hielt und gegen das Zwischenfahren der Equipage Einspruch erheben wollte, und drohte dem verscheuchten Knaben mit der Faust.
»Mach', daß Du fortkommst, Bengel, oder ich rufe dort die Polizei!«
Der Knabe war trotzig stehn geblieben und hatte den anrückenden Pferden nachgeschaut. Jetzt wandte er sich zu dem Portier zurück und stemmte den Arm in die Seite. »Ich bin keine Bettlerbrut und kein Bengel, Mann,« sagte er energisch. »Ich habe dem Handpferd nur das linke Hinterbein über die Zugleine zurückgehoben, was Sie zu thun versäumt hatten, als es ausschlug. Wahrscheinlich verstehen Sie von Pferden Nichts, deshalb brauchen Sie aber nicht gleich grob zu sein gegen Leute, die es besser wissen!«
»Narr - was versteht ein Knirps, wie Du, von Pferden? Pack Dich, oder ich rufe den Schutzmann hier um die Ecke.«
Es war ein hübscher kecker Junge von etwa neun Jahren, der dem Mann hier Gegenrede bot, anscheinend ein ächtes berliner Kind, obschon sein Dialekt etwas
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Fremdartiges hatte. Das Gesicht war stark gebräunt von Wind und Wetter und hatte etwas Freches, Vagabondenartiges, obgleich bei näherem Anschauen die Züge sich fein und wohlgebildet erwiesen. Das blaue Auge mehr kühn als dreist, die Stirne frei und wo sie von der Kopfbedeckung gegen Luft und Sonne geschützt gewesen war, aristokratisch weiß und durchsichtig, die Nase in dem jungen Gesicht war von schöner Form, adlerartig, das reiche Lockenhaar, das sich bis auf die Schulter ringelte, braun und glänzend, die Hände waren, trotz der Beschäftigung, deren sich der Bube rühmte, überaus zart und weiß. Dagegen zeigte die fast dürftige Kleidung, daß der Bursche den niedern, wenigstens den ärmsten Ständen angehörte, obschon sie etwas Kokettes und Phantastisches hatte: eine Art Stalljacke, am Kragen mit einer verblichenen Goldtresse besetzt und offenbar für ihn nicht gemacht und viel zu weit, eine grüne Tuchhose mit rothen Galons und Mädchen-Stiefeletten. Dazu trug er eine kleine Sammetkappe mit alter Goldtroddel, kaum den Scheitel bedeckend, unter der das Haar üppig hervorquoll.
Der Hôtelbesitzer war auf die Vortreppe mit dem Journalisten getreten, nachdem er die Offiziere einstweilen in den Salon gebracht hatte und die Polin von ihrem Begleiter zum zweiten Stock geführt worden war.
»Lassen Sie den Knaben gehen,« sagte er zu dem Portier - »an einem solchen Tage hat Jeder das Recht auf Freiheit und Freude. Und wenn Du zufällig Appetit haben solltest, mein Junge, denn zu den Millionairen scheinst Du grade auch nicht zu gehören, so melde Dich
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in der Küche unten und sage, ich hätte befohlen, Dir ein tüchtiges Stück Braten und eine Flasche Bier dazu zu geben.«
»Mille merci, Monsieur!«
»Was der Henker - wo hast Du den französischen Brocken aufgeschnappt?«
»Mein Geschäft, Sir. I spooken auch Englisch!«
»Den Teufel auch - ein kleines Universalgenie! und was, wenn man fragen darf, ist Dein Geschäft?«
Statt der Antwort schlug der Junge ein Saltomortale, bei dem ob aus Bosheit oder zufällig sein Fuß ziemlich dicht an der Nase des Portiers vorüberstreifte.
»Ich bin freier Künstler, Monsieur, das heißt gegenwärtig außer Engagement! ich bin so frei, Ihre Einladung anzunehmen, denn in der That, ich habe großen Appetit und eine sehr leere Tasche!«
»Wie heißt Du, mein Kind?«
Der Kleine blies sich auf. »Carl Hrotek, so nennt mich meine polizeiliche Legitimation, aus Nachod in Böhmen, sonst Carlo Carlini das Wunderkind, auch Charles le fils de l'air, auch genannt die Luftkugel!«
»Das ist ein großer Name und ein sehr kleiner Bursche. Also Herr Carl Hrotek, oder Monsieur Charles, oder Signor Carlini - wo pflegen Sie denn Ihr müdes Haupt niederzulegen?«
Der Knabe kratzte sich in den Haaren. »Ach Herr,« sagte er kläglich, »um die Wahrheit zu gestehen, seit ich bei Wollschläger wegen einiger kleinen Unregelmäßigkeiten aus meiner Lieblingsbeschäftigung fortgejagt worden, und
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dem Tänzer Cotrelly davongelaufen bin, weil er unter dem Vorwand, ich würde zu groß und fett mir Nichts mehr zu essen gab, - ist mir's schlimm genug gegangen. Ein armer Bursche, der weder Vater noch Mutter hat, selbst unter den Zigeunern nicht, und auf sich selbst und sein Genie angewiesen ist, bis er alt genug geworden, um Püffe mit Püffen und Ohrfeigen mit Faustschlägen zu vergelten, ist schlimm daran, wenn er sich nicht aufs Mausen verlegen will. Eine Gans oder ein Huhn, Herr, das achtet man nicht, aber - auf Wort, Herr, - ich habe noch niemals Anderes gestohlen! und deshalb bin ich in meinem Aeußeren etwas heruntergekommen, sonst hätte ich vielleicht wohl eine Civilanstellung erhalten, denn ich bin anstellig und nicht ohne Geschick!«
Der Besitzer des Hôtels lachte. »Nun, vielleicht läßt sich dafür sorgen. Ich glaube, der Kutscher der Durchlaucht, die eben zur Illumination fuhr, braucht eben eine Art von Groom oder Stalljungen und hat schon darum geschickt. Wenn die Herrschaft zurückkommt, will ich mit dem Mann selbst sprechen. Und wie alt bist Du, mein Sohn?«
Der Kleine zog auf komische Weise die Achseln bis zu den Ohren. »Ja, Monsieur, wer das wüßte! von meinem Pflegevater, dem ich die Mausefallen und Pfropfenzieher trug, hörte ich, daß ich damals drei Jahre gewesen - ein Jahr lang war ich bei den Akrobaten als Kind der Luft; dann lernte ich Seiltanzen, und zwei Jahre im Marstall bei einem wandernden Dorfcircus - ich denke, ich muß jetzt mit Haut und Haar neun Jahre
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zählen, also um Seiner Majestät dem Kaiser Franz Joseph zu dienen, fehlen mir noch verschiedene Zoll und Jahre.«
Dem wohlwollenden Mann, hinter dem bald sein Oberkellner und der Portier standen, gefiel der gute Humor des Kleinen.
»Nun wohl, mein Junge - ich denke, wir wollen morgen weiter sehen; einstweilen rufen mich meine Geschäfte, und ich hoffe, Du wirst wohl heute ein Nachtlager in der Kutscherstube finden. Sorgen Sie dafür, Henry, und daß es den Herrschaften in Nr. 24 an Nichts fehlt und für Se. Durchlaucht den Fürsten bei Zeiten der Thee servirt wird.«
Er kehrte in den Salon zurück, wo sich bereits die drei Offiziere wieder zusammengefunden und der junge Graf Czatanowski eben Champagner bestellt hatte.
»Es ist zu langweilig bei den beiden Mädchen, die zusammen nur drei Arme haben,« sagte der junge Graf, »und der Bengel Walery zu naseweis und unverschämt in Abwesenheit des Vaters, als daß man ihn nicht jeden Augenblick hinter die Ohren schlagen sollte. Sie haben den klügsten Theil erwählt, Herr Kamerad, als Sie sich empfahlen, nachdem Sie diese Schwärmerin abgeliefert hatten. Hol's der Henker, ich bin zwar auch ein guter Pole, aber diese Märtyrerin ihres Patriotismus ist ja noch fanatischer als meine Tante Oginska. Wie denken Sie über die Sache, Herr Kamerad?«
Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Ich bemühe mich, mich nur mit meinen Dienstpflichten zu beschäftigen und denke wenig an die politischen Fragen.«
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»Zum Henker - sie kommen von selbst aus jeder Rocknaht, - um uns das Leben zu verbittern. Der Teufel hole alle Politik - Pferde, Wein und Weiber sind das Einzige, was der Mühe werth ist. Wenn mich heute der Kaiser von Rußland zum General machte, könnten meinetwegen alle Patrioten gehängt werden. Ein preußischer Husarenoffizier ist mehr werth als fünfzig Rebellen und - beiläufig gesagt!« - er wandte sich zu dem Premierlieutenant, - »ich habe es Ihnen noch keinen Augenblick verdacht, daß Sie den Narren, meinen Vetter, vom Pferde hieben, als er sich unnütz machte. Nur, daß ich den Mund halte vor meiner Tante, die leider einmal in unserem Hause das Regiment führt und meinen Papa unter'm Kommando hat, wenn er es auch noch so sehr leugnet.«
Dem Premierlieutenant schien die Erwähnung unangenehm, der Hauptmann hatte kaum darauf gehört, er saß in leisem Gespräch mit dem Journalisten.
»Ich wünschte, Ihr Bruder Conrad hätte nicht den dummen Streich gemacht, wegen der lumpigen Bagatelle von Schulden seinen Abschied zu nehmen,« fuhr der junge Graf fort, - »die Kanaillen, die Wucherer mögen warten! oder Prinz Hatzfeldt käme, er versprach, mich hier, da sein Alter doch hier logirt, zu treffen. Prinz Stanislaus ist ein prächtiger Kamerad, und daß es ihm an Schneid nicht fehlt, wird er sicher noch einmal beweisen. Der Fürst, sein Vater hält ihn nur gar zu kurz, und war doch selbst ein Lebemann. Was erzählten Sie doch so eben von dem närrischen Jungen, lieber Mühling? wahrhaftig,
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den Burschen könnte ich brauchen, wenn er einen anständigen Groom spielen, meinetwegen auf der Ritsche ein Pferd zäumen, Liebesbriefe bestellen und meiner Tante auf zwanzig Schritt aus dem Wege gehen kann, denn - ich zanke mich nicht gern!«
»So wäre dem Burschen ja geholfen!«
»Stellen Sie ihn mir morgen vor. He, Walery - was soll die Unverschämtheit? Du gehörst in die Kinderstube, nicht unter Männer!«
Der jüngste Sohn des Grafen Czatanowski, der würdige Gymnasiast Walery, der einige Augenblicke vorher sich ungenirt eingefunden und an dem Tisch Platz genommen hatte, schenkte das ausgetrunkene Glas Champagner wieder voll. »Eben darum scheint es, hat man Euch von drüben fortgeschickt. Der Papa ist da, und die heilige Wanda hat ihn sogleich in Beschlag genommen und von Familiengeschichten gesprochen. Als ob man davon nicht zur Genüge hörte bei Tante Helene in Slawice. Kazimira ist mit der Einarmigen ein Herz und eine Seele und da hatte ich garnichts dawider, als der Papa mich fortschickte nach Dir, daß Du hinüber kommen möchtest.«
Der ältere Bruder, so leichtsinnig er sonst auch war, hatte doch mit unverhohlener Mißbilligung den Frechen augesehen. »Wenn Du Dich als den polnischen Patrioten aufspielen willst, der Du zu frühreif sein möchtest,« sagte er ernst, »so solltest Du doch Achtung vor dem Unglück einer Dame haben, die aus wahrem Patriotismus sich geopfert hat, um einen unserer Verwandten zu retten. Fräulein von Marowska ist in Wahrheit eine zu achtungswerthe
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Person, um von einem vorlauten Bengel, wie Du bist, beleidigt werden zu können. - Entschuldigen Sie meine Herren, daß ich Sie für einige Augenblicke verlasse, da, wie Sie eben hörten, der Graf, mein Vater meine Gegenwart verlangt. - Kellner - eine andere Flasche - und für diesen jungen Menschen, etwas Selters- oder Zuckerwasser!«
Er hatte sich erhoben und beurlaubte sich von den anderen Herrn, - der Gymnasiast brummelte zwar allerlei Frechheiten, aber er wagte doch nicht, sie offen zu sagen, denn er kannte seinen älteren Bruder, und wußte, daß mit diesem in solcher Beziehung nicht zu spaßen war. So nahm er die Gelegenheit wahr, noch ehe die bestellte Flasche gebracht worden, sich stillschweigend zu drücken und sich unter das Gewühl vor der Thür zu mischen.
Im Salon der zweiten Etage, den der Graf Czatanowski nebst den zwei anstoßenden Schlafzimmern bei dem Gedränge der Fremden allein noch hatte erhalten können, saß er selbst mit Comteß Kazimira und der jungen Märtyrerin für ihren Patriotismus.
»Der heiligen Jungfrau sei Dank, daß Sie glücklich zurückgekehrt sind von dem traurigen Werk, dem Sie sich unterzogen: der Sühne für jenen schändlichen Mord an meinem unglücklichen Verwandten,« sagte der Graf; »denn ich kann und will die That nicht anders nennen, trotz aller Verdächtigungen des Armen. Um so mehr danke ich Ihnen und dem wackeren Langiewicz, daß Sie seine Ehre und seinen Patriotismus auch vor dem polnischen Central-Comité in Schutz genommen haben. Wenn Männer wie
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er, rein und edel, einem bloßen Verdacht blinder Fanatiker hingeopfert werden können, dann, liebes Fräulein, steht es schlimm mit unserer Sache und kein ehrlicher Patriot kann sich entschließen, ihr zu dienen auf Kosten seiner besseren Gefühle.«
Fräulein von Marowska hatte die Stirne gesenkt und die ihr gebliebene Rechte über die thränenden Augen gelegt.
»Der Verräther Asnik,« sagte sie mit schwerem dumpfen Ton, - »ist nur der geringere Schuldige, der seinen Manen fallen mußte. Schwerere und gewichtigere Opfer, die jetzt der Befreiung des Vaterlands noch nöthig sind, müssen ihnen zur Sühne werden, wenn sie erst der Sache vollends entbehrlich oder ihr untreu geworden sind, wie jener Verräther. Fragen Sie mich nicht darüber, Herr Graf, aber seien Sie überzeugt, daß das Blut meines hingemordeten Verlobten nicht ungerächt bleiben wird. Wanda Marowska ist eine getreue Tochter Polens, aber sie ist auch die Verlobte Hypolit Oginski's. - Ich danke Ihnen, daß Sie hierher gekommen, mir auf meinem harten Wege zu begegnen. Ich habe ein Vermächtniß an Sie, und es drängte mich, es in Ihre Hände niederzulegen, ehe ich meine schwere Pflicht weiter verfolge. Und dennoch, Herr Graf, weiß ich kaum, ob ich gut und recht daran thue, selbst um der Sache Polens willen.«
»Was es auch sei, Fräulein,« sagte der Graf, »Sie müssen dem Gesetz der Ehre und Pflicht folgen in Ihrer eigenen Brust, ohne Menschenfurcht und irdische Rücksicht.«
Der junge Graf war unterdessen eingetreten und hatte auf seinen Wink am Tische Platz genommen.
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»Sprechen Sie ungescheut, Fräulein Marowska,« sagte der ältere, »ich habe vor meinen Kindern in der angedeuteten Sache kein Geheimniß.«
»Ich fürchte,« bemerkte die junge Polin, »man beabsichtigt einen Angriff auf Ihr Vermögen, man will Ihnen den Besitz von Slawice und zweier andern Güter streitig machen!«
»Ich weiß - ich weiß - ein warschauer Advokat hat mir darum geschrieben - im Auftrag einer Aebtissin aus Italien, einer geborenen Gräfin Zerboni.«
»So ist es, Herr Graf! der Mutter Mathildis, Aebtissin des Klosters Santa Rosalia im Neapolitanischen oder dem sabiner Gebirge.«
»Die gute Dame, beiläufig eine ziemlich nahe Verwandte meiner Schwägerin, die Sie in Slawice kennen lernen werden, der Tante Ihres gemordeten Verlobten. Nach der Mittheilung des Advokaten behauptet sie in dritter Generation in weiblicher Linie von dem Sohne des berühmten Großhetmann von Litthauen Grafen Michael Oginski abzustammen, der 1799 verstarb.«
»So hörte ich, Herr Graf.«
»Und sie hat die Beläge ihrer Abkunft auch bereits bei den warschauer Gerichten deponirt, um sich durch die russische Gesandtschaft, mit der preußischen Justiz in Verbindung zu setzen; - ihr Wunsch nach meinen Gütern scheint also nicht an Widerwillen gegen die russischen Behörden zu scheitern.«
»Ich möchte wünschen, Herr Graf,« sagte die junge Polin, »daß Sie die Sache nicht so leicht betrachten
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möchten - die Frau Aebtissin dünkt mich nach der geringen Kenntniß, die ich von ihrem Charakter gewonnen, eine gefährliche Gegnerin und hat in Warschau großen Einfluß bei allen Parteien.«
»So - also Sie kennen sie persönlich?«
Die junge Verstümmelte nickte Bejahung.
»So ist es, Pan - ich kenne sie, - und Graf Hypolit kannte sie - leider auch!«
»Ich verstehe dieses Bedauern nicht recht. Jedenfalls muß ich die Einleitung einer Klage mit wohl ziemlich schwer zu erweisenden Ansprüchen auf mein Eigenthum bei den preußischen Gerichten erwarten - wenn ...«
»Bitte, Herr Graf!«
»Wenn es der römischen Aebtissin nicht etwa bloß auf eine anständige Abfindungssumme ankommt, - über die sie, offen gesagt, bereits einen Wink uns hat zugehen lassen!«
»Wie Papa - davon hast Du mir noch gar nicht gesprochen?« sagte der Offizier. »Was ist es überhaupt mit diesem Anspruch?«
»Du hast ziemlich wenig Zeit und Sinn für ernste Geschäfte, lieber Ignaz,« sagte mißbilligend der Graf, »es sei denn für Ausstellung gewisser geschäftlichen Papierstreifen, und so hielt ich es nicht für zweckmäßig, mit Dir bereits über diesen Prozeß zu sprechen, der allerdings den besten Theil unserer Familienbesitzungen bedrohen würde, wenn der Anspruch bewiesen werden könnte.«
»Aber dies kann er sicher nicht. Halte mich nicht für so leichtfertig, über meine eigenen Interessen unbesonnen
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zu denken. Willst Du mir nicht wenigstens in allgemeinen Zügen die Natur dieses Anspruchs mittheilen? Kazimira denkt gewiß wie ich!«
»Sehr gern,« sagte der Graf, »und es sollte mich freuen, bei Dir zu wenig Ernst für ein Besitzthum vorausgesetzt zu haben, das bestimmt ist, früher oder später das Deine zu sein und seit mehr als hundert Jahren unserer Familie gehört. Denn der große Grundbesitzer darf nicht blos ein Verzehrer seiner Ernten und Pachtzinsen sein, er soll auch ein wirkliches persönliches Interesse an seinem Grund und Boden haben und für die darauf wohnende ländliche Bevölkerung, die ihm von seinen Vorfahren überkommen ist. Darin besteht eben eine Aufgabe des wahren Adels, ob er deutschen oder polnischen Ursprungs sei!«
Die Comtesse hatte die Hand ihres Vaters genommen und sie zärtlich geküßt. »Möge die heilige Jungfrau geben, Papa, daß uns noch lange das Unglück verschont, in Dir nicht mehr das Haupt unserer Familie zu sehen.«
»Ich weiß, daß es Dein aufrichtiger Wunsch ist und Ignaz eben so denkt. Auch für Walery wird es gut sein, und vielleicht für viele Andere, wenn mir Gott noch einige Jahre das Leben fristet. Aber um auf die Sache zu kommen, um die es sich hier handelt, Ihr wißt, daß zwischen den Familien Oginski und Czatanowski vielfache Familienverbindungen stattgefunden haben, schon in alter Zeit, als noch Polen in den Gränzen des Jagellonenreichs bestand und vor dem Kampf gegen die Sapiehas, der so unglücklich bei Okolnit für die Oginskis endete.«
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»Ich erinnere mich, Vater. Die Gattin des Großhetmann von Wilna war eine geborene Czatanowska, und auch die seines Sohnes. Seine Enkelin Wanda heirathete einen Nachkommen unseres Urgroßvaters.«
»Den Grafen Ludwik Czatanowski im Jahre 1807. Da hast Du ja die ganze Stamm- und Heirathstafel, die Du zu dem Prozeß brauchst. Mein Großvater, also Euer Urgroßvater, war 1733 geboren, demnach ein Zeitgenosse des Großhetmanns von Litthauen und sein treuer Jugendfreund. Doch hielt er sich damals vor der ersten Theilung Polens von den politischen Kämpfen fern und diente sogar unter dem großen Preußenkönig, woher sich noch unsere Zuneigung zu den Hohenzollern schreibt. Ehe der Krieg gegen Rußland unter Suwaroff ausbrach, der 1771 mit der Niederwerfung Polens und der ersten Theilung endete, übertrug der Großhetmann Michael die Güter, die seine Familie und zuletzt er selbst im Großherzogthum durch Heirathen besaß, durch Vertrag oder Kauf an seinen Jugendfreund, Deinen Urgroßvater. Der unglückliche Ausgang des Kampfes der Republik mochte ihm vielleicht vorschweben oder er brauchte zu diesem Geld. Kurz bald nach dem siebenjährigen Kriege befand sich unsere Familie bereits im unzweifelhaften Besitz von Slawice und der beiden anderen jetzt angefochtenen Güter.«
»So habe ich es immer gehört.«
»Die Ahnung hatte den Großhetmann nicht getäuscht; mit der Niederlage der Republik und dem Siege Rußlands wurde auch das ganze Vermögen des Großhetmannes confiscirt, doch wurde er 1776 amnestirt, ohne die Güter im
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Herzogthum wieder zu erhalten oder auch nur zu beanspruchen. Auch sein Sohn Michael, der eine Tochter Deines Urgroßvaters, Wanda Czatanowska heirathete, hat sie niemals reclamirt. Nun kommt eine Enkelin desselben: die Aebtissin Mathilde Zerboni mit einem Anspruch auf die vor länger als hundert Jahren von ihrem Urgroßvater an die Czatanowskis verkauften oder durch Familienvertrag abgetretenen Güter und beansprucht diese auf Grund eines Testaments, worin der Sohn des Großhetmanns die ganze Erbschaft seines Vaters, deren Besitz ohnehin wieder nach dem Aufstand Koscziuskos, an dem er theilnahm, durch seine zweite Vermögensconfiscation sehr problematisch war, auf die weibliche Linie übergehen und an die jüngste Tochter in dritter Generation fallen soll, und das wäre denn die Frau Aebtissin, die aus Rom hierher geschickt worden ist, um das Erbe für den Stuhl Petri zu requiriren. Das ist nun der Klage- und Thatbestand, so weit er mir bis jetzt bekannt geworden ist, und, wie gern ich auch Gerechtigkeit gegen die Familie Oginski zu üben bereit bin, was mir Fräulein von Marowska, ja auch unsere Verwandte von meiner Mutter her, wohl bestätigen wird, so fehlt doch von vorn herein das Fundament des ganzen auch sonst sehr anfechtbaren Anspruchs: der Vertrag Eures Urgroßvaters mit dem Großhetmann Michael.«
»Wenn die Sache weiter keine Begründung hat,« sagte lachend der Offizier, »so wird sich wohl die römische Klerisei an Slawice den Magen nicht verderben, obschon sie bekanntlich einen sehr weiten hat. Und was hast Du dem warschauer Advokaten geantwortet?«
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»Wie mir mein alter Freund, Justizrath Walleiser in Schrimm rieth, Nichts. Mögen sie ihr Recht bei den preußischen Gerichten suchen - ich werde jedenfalls das meine vertheidigen. Deshalb bin ich außer, um dem Einzüge der königlichen Herrschaften beizuwohnen, nach Berlin gekommen, um hier die Ansicht eines zweiten Rechtskundigen zu hören.«
»Hol der Henker die fromme Klosterfrau, daß sie mir auch nur auf einen Augenblick die gute Laune verderben konnte. Das Eigenthum der Oginkis ist zwei oder drei Mal vom Staat confiscirt und unsere Güter liegen ohnehin im Preußischen. Nicht eine Kopeke würde ich für den Schwindel herausgeben, der nur der Rebellion zu Gute kommen würde.«
Die Einarmige sah ihn strafend an. »Nennen Sie die heilige Sache Polens einen Schwindel, Herr Lieutenant?« frug sie - »ich hoffe Ihr eigener Vater denkt anders darüber, und ich bedaure ihm gegenüber, daß grade ich leider berufen sein soll, seine Sicherheit zu stören!«
Der alte Graf sah sie erstaunt an. »Was meinen Sie damit, liebe Wanda? - ich sagte Ihnen bereits, Sie dürfen nur die Ehre und Ihr Gewissen zu Rathe ziehen!«
»Dann Herr Graf, muß ich Ihnen dies Papier übergeben, das sonst Ihrem Neffen, meinem Verlobten gehört hätte, und das erst jetzt in meine Hände gekommen ist.«
Sie war aufgestanden und hatte ihre Schreibmappe geöffnet, aus der sie ein ziemlich vergilbtes Papier zog.«
»Es ist, wie ich sagte, auf ziemlich seltsame Weise in meine Hände gelangt, durch den Knaben, der mich nach
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Paris begleitete, und der es aus einem alten Soldatenranzen nahm, der seinem Großvater gehörte, welcher zugleich mit meinem Verlobten im Februar vor dem Bernhardiner Kloster verwundet wurde und in derselben Stunde mit ihm dort starb.«
Und sie erzählte mit einfachen ergreifenden Worten das Ende des greisen Fahnenträgers Lagienki, des treuen Dieners und Patrioten.
»Der Knabe Janko,« fuhr die Marowska fort, »hatte den alten Ranzen, von dem der Greis ihm auf dem Todtenbett sprach, heimlich zertrennt und in seinem doppelten Boden dieses Papier gefunden, von dessen Bedeutung er keinen Verstand, das er aber in meine Hand gelegt hat. Die Mutter Mathildis suchte nach einem solchen Papier und den Greis selbst auf seinem Sterbebette noch auszuforschen, ob er von seinem Vorhandensein wüßte. Aber der Greis und der Knabe schienen kein Vertrauen in sie zu setzen und der Letztere geradezu sie zu hassen.«
Der Graf hatte die Hand nach dem Dokument ausgestreckt, das die Marowska ihm reichte, aber er zögerte noch, es zu entfalten.
»Also die Aebtissin forschte und suchte grade nach diesem Papier, meinen Sie?«
»Ja, Pan!«
»Dann mußte sie von dessen Existenz wissen aus jenen Mittheilungen, auf welche sie überhaupt ihre Ansprüche gründet, und die wahrscheinlich aus den Papieren des Großoheims Ihres so schändlich gemordeten Verlobten herrühren, des Großschatzmeisters Kleophas Oginski, der in
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Rom starb und dessen Nachlaß in die Hände der Jesuiten gefallen sein mag. Der Orden ist schlecht genug auf unsere Familie zu sprechen von Alters her, weil sie seinen schlimmen Intriguen 1723 in Thorn entgegentrat und, obschon gut katholisch, die Rechte der polnischen Dissidenten gegen die Bischöfe Soltyk von Krakau und Massalski von Wilna vertheidigte. Die Gesellschaft Jesu vergiebt nie einen Widerstand und verfolgt ihren Haß durch Jahrhunderte. Doch lassen Sie mich den Inhalt prüfen.«
Er las das Papier, erst ziemlich gleichgültig, dann aber mit steigender Aufmerksamkeit, und fuhr mit der Hand ein paar Mal über die Stirn. Dann las er es unter der ängstlichen Spannung seiner Kinder zum zweiten Mal.
»Was Sie mir da anvertraut, Fräulein Marowska,« sagte er endlich, »ist in der That wichtig, und könnte in der Hand der Aebtissin zu vielem Unheil führen, wenigstens den Prozeß sehr in die Länge ziehn und die Advokaten bereichern!«
»Was enthält diese Schrift denn?« frug ungeduldig der junge Offizier.
»Es ist der Originalvertrag zwischen Deinem Urgroßvater und dem Großhetmann von Litthauen, in welchem der Erstere bekennt, gewisse Güter von dem Anderen in Versatz oder Uebertragung erhalten zu haben und sich unter gewissen Voraussetzungen zu deren Rückerstattung oder Werthsersatz verpflichtet. Die Sache ist mir noch nicht ganz klar, denn es ist keine Verfallzeit und kein Termin der Rückgabe darin genannt.«
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»Dann ist das Recht daran längst verjährt, Vater!«
»Der alte Graf sah ihn mißbilligend an. »Unter Ehrenmännern, mein Sohn, verjährt niemals eine Verpflichtung,« sagte er stolz. »Das Einzige, was dieses Dokument zweifelhaft macht, ist ... Doch da Sie in jedem Fall den Gerichten die Kenntniß dieser Schrift nicht entziehen dürfen, wäre es unvorsichtig sich über seinen Werth oder Unwerth vorher auszusprechen. Darf ich Abschrift davon nehmen?«
»Gewiß, Herr Graf - das Papier ist mir übergeben, als Erbin meines Verlobten, nicht Ihrer Gegnerin.«
»Und Sie gestatten, daß ich von dem Papier eine notariell beglaubigte Abschrift nehmen lasse? - ich sage Ihnen offen, daß mir grade das Beglaubigte des speziellen Wortlauts von Wichtigkeit ist! - Sie werden das Original-Dokument zurückerhalten, noch bevor ich Sie Ihrem Wunsche gemäß, über die Gränze zurück nach Warschau geleite, wenn Sie darauf bestehen, dahin zurückzukehren um als Pflegerin in das große Krankenhaus einzutreten.«
»Ich wünsche mir keinen anderen Beruf. Es ist das Einzige, womit ich der Sache meines Vaterlandes noch nützen kann.«
»Ich bewundere und - bedauere Sie, Sie wissen, daß Wanda Marowska, die Verlobte Hypolits stets in meiner Familie eine herzliche und achtungs- und theilnahmsvolle Aufnahme finden wird. Möge diese Versicherung Ihr schweres Geschick, mein armes Kind, Ihnen lindern helfen.«
Man sah, wie die Verstümmelte in ihrem Innern kämpfte, wie sie so gern ihrem Herzen Luft gemacht hätte
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und mit Gewalt ihre Gefühle unterdrückte. Plötzlich stand sie auf, warf sich vor dem Grafen in die Knie und küßte seine Hand. »Versprechen Sie, nie an mir zu zweifeln?«
Von einem Antrieb ihrer Gefühle hingerissen, kniete Kazimira neben ihr. Der Graf hatte die Hand auf ihr Haar gelegt, das braune und schwarze. »Ich will es niemals, unbeirrt sollt Ihr Beide Euern Weg gehen, auch Du mein Kind, und möge Gott der Herr, der die Eine von Euch bereits so schwer geprüft hat, Alles zu Euerem Besten wenden! an mir, Kazimira, soll es nicht liegen. Was sind blinde Vorurtheile und fanatischer Haß gegen die Macht des warmen Herzens!«
Der Knabe Walery riß eben in seiner ungestümen, frechen Weise die Thür auf: »Der Lieutenant von Möllhoff will Euch Gutenacht sagen!« schrie er, und hereinstürzend fuhr er auf die Schwester zu. »Er ist ein ganz hübscher Bursche, Mira,« raunte er ihr zu, »aber kriegen sollst Du den verdammten Deutschen doch nicht, dafür werden ich und die Tante sorgen.«


Als die beiden Vertreter der Opposition im Publikum und der Landesvertretung ihren Platz am Gitter des Denkmals gegenüber dem königlichen Palais verließen, um in den ungestörteren Gängen des Thiergartens weiter zu politisiren, wandte sich unwillig ein Mann, der von der Menge auf seinen bisher behaupteten Platz gepreßt die haßerfüllten Worte des Radikalen hatte anhören müssen, drohend gegen den Fortdrängenden, als wolle er ihn am Kragen fassen und festhalten.
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»Hei spräkt you ganz vertraktes Tüg, där Rebell Herr Lieutenant! Hebben Se nicht gehärt? Soll i den nichtsnutzigen Karl nich int's ungewaschene Mul schlagen, dat he de Thäne in'ts Schnuppdooch nach Hause dragen kann? So'n verdunnerter Maulape will von's königlich q qpreußische Militair reden und Seine Majestät gute Lehren gewen duhn! I da sull'n ja klik ...«
Es war ein stattlicher Gardist, der wohl seine zwölf Zoll maß und über die Köpfe der Meisten hin auf diese Weise seinem Groll Luft gemacht hatte. Er gehörte offenbar zu einer kleinen Gesellschaft, die sich festzusammenhielt: drei Männer und drei Mädchen von sehr verschiedenem Stand und Aussehen: neben dem Gardemann in seiner Uniform ein großes kräftiges Mädchen in ländlicher Tracht, die obschon des Auffallenden entbehrend, doch für den Kundigen auf ihre Heimath, das Ravensberg, schließen ließ. Neben ihnen ein junger Mann mit keckem blonden Schnauzbärtchen und einem gewissen militairischen Aplomb, ein sehr hübsches und frisches junges Mädchen unter'm Arm, einfach aber gut und zierlich gekleidet, und ein drittes Paar: eine große und schlanke Brünette mit blitzenden Augen und modern geputzt, obschon man ihr trotz des Staates ansah, daß sie nicht von vornehmem Stand. Zu ihr gehörte ein junger Mann in einfachem halbfeinem Rock, dessen hübsches und kühnes Gesicht etwas hager und sorgenvoll aussah.
»Lassen Sie den Narren immerhin gehen, Kamerad Sellhausen,« sagte der Erstere, »heute dürfen wir die Worte nicht auf die Wagschaale legen und müssen jedenfalls
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Zank und Streit vermeiden. Er ist, wenn ich mich der Physiognomie recht erinnere, überdies ein Kollege Ihres Vaters, Einer aus dem Abgeordneten-Hause und denen steht der Hochverrath und Ungehorsam jetzt frei. Lassen Sie uns das Gedränge verlassen und kehren wir lieber in irgend ein solides Lokal ein, gesehen haben wir ja doch Alles.«
»Dann wollen wir doch zu Kulikens gehen, gradeüber von unserer Kaserne, der Vater will uns ja unten treffen, da er im Hause Wohnung gefunden hat, und die Bockschatze kommen vielleicht auch, dann seid Ihr ja gleich beisammen,« meinte der Gardist.
»Mir janz recht,« stimmte in ächt berliner Dialekt die Brünette zu - »Frisch kann ja gleich da hören, ob's mit dem Laden und die Fabrik Etwas wird oder nich. Die Jegend is jut vor's Jeschäft, das hab ik jleich jesagt!«
Dem Eleganteren der drei Männer schien die Wahl zwar nicht besonders lieb, aber die Jugend ist weniger heikel, selbst in der Wahl der Gesellschaft und ein Blick in das liebe frische Gesichtchen an seiner Seite, das gern zuzustimmen schien machte ihn mit Allem einverstanden, und so wanderten die drei sehr verschiedenartigen Paare in Eintracht aus dem Gedränge der Linden nach der Richtung des Dönhofplatzes.
Der Gardist ging mit dem Landmädchen voran - er hatte sie nicht in städtischer Weise am Arm, sondern ging neben ihr, indeß sie sorgfältig vor allen Fährlichkeiten im Gedränge hütend.
»So bist Du also entschlossen, Fritz,« frug das
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Mädchen, »und mir nicht gram, weil ich mich mit dem Hindrik versagt habe?«
»Gewiß und wahrhaftig nicht, Klörke - ich habe den Hindrik von Herzen gern und gönn Dich ihm. Jetzt, da's nun so weit gekommen ist und der Wilm für seine Kurasche nicht in des Königs Rock kriechen kann, wird der Vater auch Nichts dawider haben, daß ich für ihn mitdiene und kapitulire, wenn hier meine Dienstzeit zu Ende ist. Ich hewwe die Zusicherung von meinem Hauptmann erhalten, im nächsten Jahr schon Unteroffizier zu werden, und wenn sie erst wissen, daß ich zu kapituliren willens bin, wird mir's partout nicht fehlen. Ich habe nun einmal Plaisir am Soldatenstand und so wird mir's der Alte nicht abschlagen, wenn ich ihm noch heute reinen Wein einschenke und ihm rund erkläre, daß ich des Fritzen Rechte auf Dich respektire und ich Dich nicht nehmen kann. Was will er machen, wenn wir zwei Beide darin einig sind. He kommt mich überhaupt seltsam vor und ganz verändert, nicht mehr so starr und herrisch wie sonst.«
»Das ist seit der Geschichte mit Deinem Bruder und daß er fühlte, er habe nicht ganz recht an ihm gehandelt und könne doch nicht die Menschen beugen nach seinem Willen.«
Der Gardist nickte. »So mag's sein. Hab ich Dir schon gesagt, daß he mit dem Demokraten da hinter uns angebündelt hat?«
»Nein - woher kennt er ihn?«
»He muß ihn troffen hewen, als he im vorigen Monat mit dem Borgemeester hier war zur Versammlung
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der Königsgetreuen, Du weißt, daß ich mit dem Regiment noch zum Manöver war, und ihn deshalb nicht gesehen habe. Da hat he Herrn Frisch kennen lernen, ik glowe im Lokal selbst, wo wir hingehn, und ihn seine vertrakten Ideen auskramen hören; denn eine verteufelte Suade hat er und ein braver Kerl ist er auch sonst, das muß wahr sein. Nun hat der Olle sich in seinen Kopp gesetzt, eine Probe mit ihm und seinen Prinzipalien zu machen, und will ihm's Geld vorstrecken zu einem Genossenschaftswesen, um zu zeigen, ob's geht oder nicht. Nun wahrhaftig, Klörke, ich habe Nichts dawider, denn er hat sich's fauer genug werden lassen und kann mit seinem Ersparten machen was er will.«
Das Mädchen faßte vertraulich seinen Arm: »Weißt Du Fritz, was ich mir denke darüber?«
»Nee - ich bin nicht so gescheut, daß ich's ergrübeln kann! Wenn's der Hindrik wäre, könnt ich's wohl begreifen, der hat alle so neumodsche Ideen.«
»Eben um des Hindrik's willen geschieht es!« sagte das Mädchen. »Der Meier, Dein Vater ist an ihm zu Schanden geworden mit seinen Gedanken, und nun will er an einem Andern erweisen, daß es in Wirklichkeit doch Nichts ist mit dem liberalen Kram, und wagt dazu das Geld dran. Da glaubt er den passenden Mann gefunden zu haben, und s'ist ohnehin sächsisches Wesen, daß der arme Mann so gut sein Recht hat für die Arbeit, wie der Reiche, der das Geld oder Land giebt, das Kapital zur Arbeit wie sie's nennen, deshalb haben auch bei uns sächsischen Colonen die Häusler und Sassen ihr Anrecht
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auf den Ertrag der Ernte und was Wald und Flur ergiebt. Die Dienstmannen sind was die Colone den alten Herzögen waren, freie Männer, nicht fremde Knechte, die von der Willkür der Reichen abhängen. Das hat mit beigetragen zu seinem Wunsch. - Paß auf, ob ich nicht Recht behalte.«
»Mag sein - obschon ich mir nicht denken kann, daß es auf einem Colonenhof so oder in irgend einem Geschäft gut thun würde, wenn Jeder gleiches Recht hätte und Einer so gut befehlen könnte wie der Andere. Würd' einen schönen Parademarsch im Bataillon abgeben, wenn jeder Corporal oder Soldat sein Tempus halten könnte nach Belieben. Dazu sind die Feldwebel da und über den Feldwebeln die Herrn Lieutenants und über den Offizieren der Batallions-Kommandeur. Klörke, ich glaube nicht, daß Du auf dem Brüninghof leiden würdest, daß die Großmagd oder die Milchmagd gleiches Recht wie Du haben wollte und ihren Lohn selber sich zumäße. Denn ich denke immer noch, wenn der Hendriks den Gestudirtenkram einmal satt hat, wird er doch noch Colone auf dem Brüninghof, und Du seine tüchtige Bauerfrau statt seiner Professorin. Art läßt nicht von Art.«
»Wie Gott will,« sagte fromm das Mädchen, »jedenfalls Fritz, was der Hendrik thut, wird er redlich thun und ich werd' ihm treu zur Seite stehn dabei. Und sollt er sich doch noch einmal für den Brüninghof entschließen, soll der gestrenge Herr Feldwebel Fritz stets seine richtigen Schinken und Mettwürste zu den hohen Festtagen haben, und wenn es ihm paßt seinen Altentheil. Hierher hat
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der Vater mich sicher blos mitgenommen, um Dich noch einen Sturm machen zu lassen auf mich und den Brüninghof, der glücklich durch unsere Liebe zu Fritz und Deinen Wunsch Soldat zu bleiben beseitigt ist.«
Die beiden jungen Leute lachten fröhlich in dieser Gewißheit und bei dem Versprechen der künftigen Colonenfrau.
»So wäre Alles gut und ich wünsche nur, daß der Lieutenant hinter uns so treu und zuverlässig zu dem jungen Mädchen hält, das Dir so sehr gefällt, seit ich Dir sie zum Kleidermachen rekommandirt habe.«
»Warum soll er nicht, wenn sie auch arm ist? Er hat ein gutes Auge und spricht verständig und scheint auch nicht Viel zu haben, wenn er auch von Adel ist. Es wird auch einem Oberförster oder Förster gut thun, wenn die künftige Frau seinen Töchtern die Kleider selber machen kann. Ich muß Dir sagen, Fritz, daß sie mir besser gefällt als die Andere, die mir für ihren Stand zu staatsch ist, und ihr Liebster.«
»Der Frisch ist ein braver Mensch, wenn auch zu demokratisch und social, wie er's nennt. Vielleicht kommt er mit dem Gelde zu Verstande, das ihm der Vater leihen will.«
Unter den Beiden, von denen eben die Rede war, fand eine andere scharfe Unterhaltung statt.
›Fräulein‹ Pauline hatte ihren ›Fritz‹ oder ›Friederich‹ in ein weit schärferes Examen genommen. »Also Euer Strike ist ganz in's Wasser gefallen?« frug sie.
»Leider - wir haben keine Mittel mehr, ihn
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durchzuführen und schon sind viele Kameraden zur Arbeit in der Fabrik zurückgekehrt!«
»Das Vernünftigste, was sie thun konnten, statt daß sie wie Du ein Kleidungsstück nach dem andern verkauft und versetzt haben. Und Du willst nun wirklich den Rathschlägen des geilen Juden folgen und mit den fünf Vagabonden eine eigene Fabrik - wie heißt Ihr's doch ...«
»Eine Produktiv-Association!«
»Ah so, eine Produkten-Societät anfangen.«
»Ja Kind - wenn der Mann, der gestern so aufmerksam zuhörte und es versprach, das Kapital dazu vorstreckt!«
»Also borgt! Aber warum hat's denn nicht schon längst der Doktor Lasall selber gethan, der den Arbeitern den Kopf verdreht mit all' dem Zeuge, und Geld genug hätte oder verdient bei seiner Gräfin.«
»Ich habe ihn allerdings darum angegangen, als jetzt der gelegene Fabrikraum in dem Hause frei wurde. Nur um fünfhundert Thaler zur Anschaffung der Werkzeuge, der Ausführung der neuen Wickelmaschine, die ich erfunden habe, und der ersten Anschaffung des Materials. Aber es geht gegen sein Prinzip, - der Staat müsse den Credit hergeben, lehrt er. Das ist eben seine Maxime.«
»Und dabei können die Arbeiter verhungern, bis der Staat so dumm ist, an Bummler und Schwätzer, wie Deine Kameraden sind das Geld wegzuwerfen, damit sie es verthun. Höre, Friederich, ich weiß nicht, weshalb der Herr aus Westfalen, der doch auch nur ein Bauer ist, und die Hand anlegt gleich jedem seiner Arbeiter, wie die Mamsell sein Mündel erzählt, der ich das Nettchen zurekommandirt zum Kleidermachen, sein Geld wegwerfen will an Euere verrückte Idee, aber des sag' ich Dich, sollst Du allein vor den Riß stehen, so sollst Du mank auch Herr sein von des Jeschäft, das am Ende nicht schlecht sein mag, namentlich wenn Du den Laden im Vorderhause mit dazu kriegst, aber nicht jeder Narr und Faulenzer gleiche Rechte darin und gleichen Antheil am Verdienst haben!«
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»Aber Paulinchen, das wäre ja grade gegen unser Prinzip!«
»Papperlapapp« erklärte sehr energisch die Geliebte - »Ik heirathe Dir mit's Jeschäft oder jar nich und will den Miteijenthümern schon den Weg weisen, dadrauf kannst Du Dir verlassen, davor hab ich ein berliner Mundwerk! Willst Du mir heirathen oder die janze Jesellschaft?«
»Versteht sich, ich!«
»Und doch wollt Ihr die Ehe als ein bloßes Jeschäft betrachten und Euch nicht 'nmal richtig trauen lassen wie die Wilden und die Heiden! Ik habe zwar keine Lust, mir von Fourniern eine Maulschelle jeben zu lassen vor en Bisken Extraverjnügen, und Du würd'st's jewiß och nich leiden, aber jetraut und jetauft muß's werden, sonst is keen Respekt darin, weder vor den Mann noch vor die Frau und vor die Nachbarn und Hauswirthe, und danach richte Dir!«

Fußnoten:

1III. Band S. 232 und 261.
2III. Band S. 294.
3I. Band S. 44.
4Die Grade nach dem Scheikh sind: die Dailkebirs, Dais, Refiks, Fedais und Lassiks.
5Alem Penah - Titel des Großherrn, - desgleichen Hunkiar: Menschentödter.
6Er verunglückte später auf der Eisenbahn von Alexandrien, durch Entgleisung des ersten Zuges, auf dessen Schienen sich, wie es heißt, ein Ismaëlit geworfen hatte.
7Mohammed von seinem Sohn Hassan III. vergiftet, und Rokneddin Charschah, der seinen Vater Mohammed III. ermorden ließ.
8Vorwärts! Komm links!
9Schwalbe.
10Palmerston.
11Peter der Große, als ihm gegen das Gesuch der Juden um die Erlaubniß zur Niederlassung in sein Reich eingewendet wurde, sie konnten bei dem bekannten Handelscharakter dieser Nation das Volk durch Betrug übervortheilen, meinte: ›O, für meine Russen wäre mir nicht bange, nur für die Juden!«
12In der That drohte damals Paris große Theuerung, so daß ein Zug von tausend Arbeitern nach Compiegne kommen wollte, als ob der König von Preußen ihnen helfen könnte. Die Polizei verhinderte den Zug.




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