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Die politische Verantwortung des Schriftstellers

Tagung der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft in Schloß Eichholz vom 26. bis 30. September 1996



Das diesjährige Thema der Tagung lautete: »Glaube und Gesellschaftskritik. Politische Verantwortung bei Dostojewskij, Heinrich Böll und in der zeitgenössischen russischen und deutschen Literaturh. Die Veranstaltung war eine Fachtagung für Russischlehrer an Gymnasien und wurde durchgeführt in Zusammenarbeit mit der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft, dem Heinrich Böll - Archiv, sowie Professoren, Dozenten und Studenten aus Russland und Deutschland.

    Besonders eindrucksvoll waren die Vorträge von Lew Kopelew und dem russischen Schriftsteller Daniil Granin. Der langjährige Sekretär Heinrich Bölls, Erich Kock, vermittelte den Teilnehmern ein lebendiges Bild der Persönlichkeit Bölls.

    Die Referenten behandelten in ihren Vorträgen die Auseinandersetzung mit politischen und ethischen Fragen in den Werken Bölls und Dostojewskijs.

    Die Tagung wurde eröffnet mit einem Vortrag von Prof. Busch (Kiel) über Nabokovs Dostojewskij-Kritik. Busch sieht in Nabokovs Abscheu gegen jede Art von Botschaft und Sinnorientierung in der Kunst den Hauptgrund für dessen Ablehnung Dostojewskijs. Christliche Humanität als maßgebliche Motivation der menschlichen Natur sei dem modernen Freigeist Nabokov fremd. In der anschließenden Diskussion wandten sich verschiedene Teilnehmer entschieden gegen die von Busch vertretene These, Nabokovs Figuren fehle es an existentiellem Potential. Vielmehr seien sie durchaus leidensfähig, auch ohne eine betont christliche Motivation, wie bei Dostojewskij.

    In seinem Referat »Um des Nutzens willen« behandelte der russische Schriftsteller Daniil Granin den Begriff der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit als individueller Akt appelliere an den Einzelnen und nicht an das Kollektiv, weshalb dieser Begriff von der kommunistischen Ideologie verworfen wurde. Dostojewskij habe wie kaum ein anderer Schriftsteller das Mitleiden und die Barmherzigkeit erforscht. Einer Welt der ideologischen Vergewaltigung, die das Leiden der Menschen verwirft, stellt er Barmherzigkeit und Mitleiden entgegen. Die auch heute immer noch populäre Idee vom Nutzen - als Rechtfertgung für Verbrechen - ist ein zentrales Thema seiner Romane. Die einzig wirksame Kraft dagegen ist bei Dostojewskij das persönliche Beispiel.

    Prof. Müller (Tübingen) untersuchte in seinem Referat »Das politische Vermächtnis Dostojewskijs« dessen Puschkin-Rede vom Juni 1880 und den politischen Hintergrund, vor dem diese Rede gehalten wurde. Er erläuterte Dostojewskijs Überzeugung vom Wesen und der Bestimmung Rußlands: dem Streben nach Allweltlichkeit und Allmenschlichkeit. Müller betonte den christlich-humanen Grundgedanken der Rede, wodurch einige nationalistisch anmutende Passagen relativiert würden.

    In seinem Referat »Glaube, Vergebung und Gesellschaftskritik im Werk Heinrich Bölls« setzte sich Prof. Bernhard (Rostock) mit der immer wieder erhobenen Forderung auseinander, Kunst solle sich auf ihr Eigentliches besinnen und moralischen Ballast abwerfen. Böll habe dagegen nie eine Trennung von Literatur und politischem Leben, von Ästhetik und Moral, akzeptiert. Dies verbinde ihn mit Dostojewskij. Beiden Autoren gehe es nicht nur um Verständnis für die Lage der Armen und die Bloßstellung sozialer Ungerechtigkeiten. Sie deckten darüber hinaus die Gefahr des Verlusts der menschlichen Würde auf.

    In diesem Sinn sprach auch Lew Kopelew über seine Zusammenarbeit mit Heinrich Böll. Er betonte das große Interesse an Bölls Werken in Rußland sowie das Ansehen, das dieser beim sowjetischen Lesepublikum und vielen Schriftstellern genoss, gerade wegen seiner Unbestechlichkeit.

    Dr. Fokin (Kaliningrad) und Dr. Bukowski (Hamburg) behandelten in ihren Vorträgen Bölls enge Beziehung zu Rußland und seiner Kultur, die Rezeption seiner Werke in der Sowjetunion und die zahlreichen Auseinandersetzungen mit der offiziellen sowjetischen Kulturbürokratie.

    Abschließend sprach Prof. Kasack (Köln) über Dostojewskij und die politisch-ethische Verantwortung in der zeitgenössischen Publizistik russischer Schriftsteller.

    Insgesamt wurden die zahlreichen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Schriftstellern deutlich, insbesondere der Einfluß Dostojewskijs auf das Werk Heinrich Bölls. Es zeigte sich aber auch, daß Dostojewskij in seiner Darstellung gesellschaftlicher Konflikte häufig radikaler war als Böll. So ist bei Böll die Familie oft noch ein intakter Raum, umgeben von einer zerrütteten Gesellschaft, während bei Dostojewskij auch die Familie dem entwurzelten Menschen keinen Halt mehr geben kann.

    Zum Abschluss äußerten sich die Teilnehmer sehr positiv über das hohe wissenschaftliche Niveau der Tagung und die angenehme Arbeitsatmosphäre, die auch bei kontrovers geführten Diskussionen nicht beeinträchtigt wurde.

Ina Knörnschild


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