//27//

Heinrich Heines »Leise zieht durch mein Gemüt«

Überinterpretation zum Marburger Abend »Komische Lyrik«



Dieser Beitrag wurde vom Verfasser während der Abschlußveranstaltung der 2. Marburger Komiktage vorgetragen, die unter dem Titel »Komische Lyrik« als geschlossene Veranstaltung anläßlich eines besonderen Jubiläums des Vorstandssprechers der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften in der Marburger Waggonhalle stattfand. Da es sich bei dieser Feier um eine sehr vergnügliche handelte - wie der Leser nach der Lektüre des Artikel eventuell nachvollziehen kann - und auch der 200. Geburtstag von Heinrich Heine in diesem Jahr gebührend (und vergnüglich) gefeiert werden soll, drucken wir diesen Text mit besonderer Freude in den »Mitteilungen« ab.

Die Literatur speist sich aus ihrem Anspielungsreichtum. Heinrich Heine, in diesem Jahre just 200 Jahre alt, ist für diese poetische Prämisse ein Beispiel par excellence. In der wissenschaftlichen Welt wurde zwar bisher schon nach allen möglichen Bezügen gefahndet. Immer noch zu wenig beachtet blieb dabei die körperliche Verfassung während des dichterischen Prozesses. Nur langjähriger Forschung kann sich endlich auch der versteckteste Anlaß von literarischer Produktion erschließen. Darum erlaube ich mir, durchdrungen vom Bewußtsein, bei solch besonderer Gelegenheit durchaus mit einer kleinen, jedoch spektakulär zu nennenden Entdeckung aufwarten zu können, den Vortrag dieser Miszelle über


//28//

Heines bekanntes und von Mendelssohn so schön vertontes Gedicht Leise zieht durch mein Gemüt aus dem Zyklus Neuer Frühling in den Neuen Gedichten. Ich hoffe, damit ein für allemal Licht in das Dunkel der leib-seelischen Voraussetzung beim Dichten gebracht zu haben.

    Am Ende seines Reisebildes Ideen. Das Buch Le Grand stellt Heine fest: »Ich aber hatte Zahnweh im Herzen.« Diese offen komische Metapher für eine depressive Stimmung, wobei Zahnschmerzen die Herzbeschwerden in ihrem übertragenen Sinne gewissermaßen aus dem oralen Gesichtspunkt verdeutlichen und die ganze jugendliche Existenz des Erzählers in luzider Eigendiagnose auf den stechendsten Punkt gebracht wird, findet ihr hermetisch-lyrisches, kryptisch-komisches Gegenstück eben im besagten zweistrophigen Gedicht aus dem Neuen Frühling. Der Dichter wird hier, wie sich beim wiederholten Lesen und aufmerksamen Zuhören auch dem weniger Eingeweihten ergibt, wenn er nur dem kundigen Hinweis folgen mag, von seiner eigenen Metapher eingeholt, befreit sich unter einem physisch durchlittenen Anfall von Zahnweh, indem er den Schmerz therapeutisch dem Wohlklang von Versen anvertraut, die über noch so grausam sich im Mund abspielende nervliche Turbulenzen obsiegen.

    Auf subtile Weise ist die schmerzhafte Qualität des Ziehens angedeutet, das offenbar den lyrischen Schaffensprozeß auslöst. »Leise zieht durch mein Gemüt/Liebliches Geläute« - es ist ein sich ankündigender Zahnschmerz, der seinerseits mit der allgemeinen Befindlichkeit (»Gemüt«) parallelisiert wird - wir habe also die gegenläufige Verknüpfung zur zitierten Prosastelle vor uns. Obendrein wird das Zahnweh höchst euphemistisch beschworen (»Liebliches Geläute«, vielleicht ausgelöst durch den Klang der Vorform unserer Aspirintablette im Wasserglas). Gleichzeitig allerdings gibt der Sprecher jenem den ganzen Poeten quälenden Ziehen, das ihn offenbar in einem mit besonderer Sehnsucht erwarteten Frühjahr überfällt, den höflichsten Abschied. Heine läßt nämlich im vollen Bewußtsein der Macht seiner Worte das lyrische Ich optimistisch fortfahren: »Klinge, kleines Frühlingslied/ Kling' hinaus ins Weite.«


Emblem des Marburger Literaturforums (von Eugen Egner)

Dieser sanfte, von Allitteration geprägte Wunsch ist natürlich die Umschreibung für einen Fluch a la »Au Backe«, der aber seinerseits nicht einer friedlichen Verweigerung gegenüber dem sich nahenden Zahnschmerz entspräche und auch dem Vokalklang nach nicht zur Helligkeit der ersten Strophe paßte.

    Ja, die beschwörende Abschiedsformel, die dem auf den Weg geschickten »Frühlingslied« gilt, das nach unserem Verständnis als unterdrückter Klagelaut zu interpretieren ist, wird in der abschließenden zweiten Strophe erweitert und vollendet. Ohne Zweifel muß der leidende Poet sich mit dem Gedanken vertraut machen, die Praxis seines Zahnarztes aufzusuchen, und wird dabei zweifellos bitter an bereits hinter sich gebrachte Wurzelbehandlungen erinnert. Möglicherweise meldete sich damals gerade auch einer der Weisheitszähne. Darum lauten die ersten beiden Zeilen der zweiten Strophe im wiederholenden Anklang an die erste Strophe, was für die Unaufhaltsamkeit der sich kräftig meldenden Zahnschmerzen spricht, in ebenfalls zur Jahreszeit passenden euphemistischen Weise: »Kling' hinaus, bis an das Haus, / Wo die Blumen sprießen.« Dann folgt der Schluß mit explizit medizinischer Anspielung auf eine mögliche Entzündung, die sich der Dichter nun wirklich nicht an den Hals wünscht und deshalb durch den freundlichen Gestus eines sozusagen mittelalterlichen Besprechens in seine Schranken weist: »Wenn du eine Rose schaust, /Sag' ich lass' sie grüßen.« Mit anderen Worten: Zahnweh und schließlich sich ergebende Zahnfleisch- wie Kieferentzündung, ihr könnt mir gestohlen bleiben! Die viel friedvoller ausgedrückte Schlußwendung und Grußformel mag der Beleg dafür sein, daß der Schmerz wirklich nachließ. Es scheint also in der Tat festzustehen, daß in verschlüsselte, freundliche Verse gebrachte Reaktionen auf körperliche Attacken ein probates Hausmittel bei Zahnschmerz und vielleicht auch bei anderen Erkrankungen darstellen, jedenfalls bei einem Dichter vom Range eines Heinrich Heine. Uns, die wir von den großen Geistern lernen können, zeigt dieses Exempel: Freundliche Geduld wirkt Wunder, im Umgang mit uns selbst und mit anderen. Insofern ist dieses kleine Zahnweh-Gedicht ein Beispiel für unsere besten humanistischen Traditionen.

Joseph A. Kruse


Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Mitteilungen der ALG

Titelseite ALG

Impressum Datenschutz