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Werkstattgespräch statt Gottesdienst

Neue Konzepte für Schullesungen - aus der Arbeit des Marburger Literaturforums



Schüler zu Lesern zu erziehen, zu interessierten und kompetenten Lesern, ist wohl die vornehmste Aufgabe des gegenwärtigen Deutschunterrichts. Es ist zugleich die schwierigste, denn längst haben die Bücher in den Kinderzimmern den Wettlauf mit Playmobil, Käptn Blaubär und Gameboy verloren. Commander Keen ist der Robinson unserer Tage.

    Noch vor gut hundert Jahren galt das Lesen von Romanen weithin als verwerflich, weil es dem in die Banalitäten des alltäglichen Lebens eingezwängten Individuum erlaubte, den engen Kreis der bürgerlichen Ordnung zu verlassen, das Ich auf Reisen zu schicken in fremde, verlockende Welten, dem Herzen und dem Körper zu gestatten, was dem Bürger in der Wirklichkeit versagt blieb. »Lesen Sie, um zu leben!« rief Flaubert seiner Freundin zu, und der in ihrer Welt unstillbare Lebenshunger Emma Bovarys entspringt nicht zuletzt der erregenden Lektüre phantastischer Romane.

    Ein Leben, das diesen Namen auch verdiente, fand damals also recht eigentlich nur im Reiche der Einbildungskraft statt. Heute hat sich das Verhältnis längst umgekehrt: Die Wirklichkeit bietet mehr, als die Phantasie sich vorzustellen wagt: Grenzenloser fun in der Disco auf Ibiza oder Todeskitzel am Bungee-Seil - alles wird ausprobiert, anything goes. Und durchs Kinderzimmer flimmert dazu ohne Unterbrechung alles, was die Wirklichkeit an Erstaunlichem und Schrecklichem hervorbringt. Was ist schon eine Marquise von O... gegen die Massenvergewaltigungen in Bosnien? Wie harmlos ist doch die poetische Phantasie gegen die Monströsitäten unserer Zeit! Kein Wunder, daß die Schüler heute das Leben dort suchen, wo es sich auch tatsächlich abspielt - in der Wirklichkeit. Sie leben im Indikativ, und statt zu lesen, greifen sie zum Sachbuch: »Abiturwissen Literatur«.

    Der Deutschunterricht ist gut beraten, sich diesen veränderten Bedingungen zu stellen. Nicht Einfühlung, Ideologiekritik oder Strukturanalyse sind »angesagt«, sondern Methoden der Literaturvermittlung, die die Schüler zu einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Text und zur kreativen Rezeption auffordern, so daß das Lesen zu einer Lebenstätigkeit, zu aktivem Handeln wird und damit die Literatur ihren Sitz im Leben wiedergewinnt, wenngleich mit neuen Aufgaben. Diese Art der literarischen Aneignung in der Schule versteht sich als Pendant dessen, was die Wissenschaft mit dem Begriff des Dekonstruktivismus bezeichnet.

    Schullesungen könnten für einen solchen Literaturunterricht einen wichtigen Beitrag leisten. Man müßte sich allerdings von der Vorstellung verabschieden, daß das Erscheinen eines Autors für Schüler per se ein herausragendes Bildungserlebnis ist, daß schon allein die Aura des Authentischen die Zuhörer in ihren Bann zieht und daß es genügt, den Dichter seinen Text wie eine Hostie darbringen zu lassen. Wird eine Lesung wie eine Messe zeebriert, erreicht sie Andacht und Glauben, nicht Neugier und aktives Verstehen. Grundlage scheinen mir dann eher Irrationalität und Passivität zu sein. Schullesungen können den Unterricht aber nur dann wirkungsvoll unterstützen, wenn sie die Schüler am literarischen Ereignis aktiv handelnd beteiligen.

    Daß dies leichter gesagt ist als getan, verdeutlicht ein Blick auf die institutionellen Rahmenbedingungen. »Lebende« Autoren, besonders diejenigen, die sich dem Pennälermief auszusetzen bereit sind, sind den Deutschlehrern meist völlig unbekannt; die Informationsmöglichkeiten sind sehr beschränkt, das KLG [Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - Anm. d. Red.] ist nicht greifbar oder nicht auf dem neusten Stand. Und welcher Deutschlehrer hat schon den Mut, offen zu bekennen, daß er diesen ach so bedeutenden Dichter nicht kennt? Eine weitere Schwierigkeit liegt in der kurzen Frist, in der die Lesungen den Schulen von den literarischen Gesellschaften offeriert werden: »Am Donnerstag kommt der Lyriker X und liest von 11.00 bis 12.00 Uhr.« Selbst wenn der Lehrer guten Willens wäre und seinen Schülern nichts lieber präsentierte als einen leibhaftigen Strophenschmied, so gelänge es ihm nicht, einen sinnvollen Unterrichtszusammenhang herzustellen, die Gruppe ein wenig vorzubereiten und zwischen alle Klassenarbeits- und Verwaltungstermine auch diesen noch zu zwängen. Schließlich will der Lyriker X ein wenig hofiert, gar vom Bahnhof in die Schule chauffiert und vorher und nachher noch ein wenig unterhalten werden. Auch der Lehrer möchte sich die Gelegenheit einer solchen interessanten Bekanntschaft nicht entgehen lassen.

    Aus der Perspektive des Lyrikers X sieht die Sache nicht viel besser aus: Die Schullesung ist nur ein Beiprogramm einer anderen Veranstaltung oder eine kleine Station auf einer Lesereise, schlecht bezahlt und ohne Hoffnung auf den Verkauf von Büchern oder einen werbewirksamen Bildbericht in der Tagespresse,


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und das vor einem Publikum, dem der Lyriker X gewöhnlich mit Mißtrauen begegnet, im schlimmsten Fall sogar mit Verachtung, denn es lauscht seiner Rezitation nicht freiwillig und verursacht bisweilen ungebührliche Geräusche: In den hinteren Reihen raschelt es, vorne rechts kichert und flüstert es, schnippt mit Papierkügelchen und stellt hinterher die unbotmäßige Frage, wieviel der Lyriker verdient. Und spätestens wenn ihm dann noch der Schulleiter jovial auf die Schulter klopft, um den Zöglingen zu demonstrieren, daß er mit der ganzen Künsterwelt die intimsten Kontakte pflegt, sehnt sich der Dichter zurück in die kalten Hörsäle, behaglichen Cafés oder überfüllten Buchhandlungen, in denen er sonst seine Verse präsentiert.

    Unter diesen Bedingungen Schullesungen abzuhalten scheint dem Unterricht wenig nützlich. Die Schulen benötigen ein neues Konzept, das einem modernen Deutschunterricht angemessen ist. Sie selbst sind damit überfordert, da sie keinen Zugang zu dem Autor und keinen Einfluß auf die Rahmenbedingungen haben. So ist es die Pflicht der literarischen Gesellschaften, die in den meisten Fällen als Vermittler auftreten, neue Formen zu entwickeln und den Autor zur Kooperation zu bewegen.

    Aus der Sicht der Schule ergeben sich daraus folgende Forderungen, die das Marburger Literaturforum den Gesellschaften zu beachten empfiehlt:

    1. Die Lesung muß möglichst vier (Unterrichts-) Wochen vorher angekündigt und mit den betreffenden Lehrern vereinbart werden.

    2. Nicht jeder Autor, nicht jeder Text ist für die Schule »geeignet«. Die Auswahl muß unter didaktischen und pädagogischen Gesichtspunkten getroffen werden. Deshalb muß

    3. der Lehrer vorher informiert werden. Empfehlenswert sind eine kurze Biographie und einige Textproben auf ein bis zwei Seiten, mit denen die literarische Gesellschaft den Autor vorstellen sollte und die gleichzeitig im Unterricht als Grundlage für die Vorbereitung der Schüler verwendet werden können.

    4. Je sorgfältiger sich eine Klasse au eine Lesung vorbereitet, desto höher der Ertrag. Ohne Vorverständnis und ohne Vorerfahrung sind nur die wenigsten modernen Texte mit Gewinn zu lesen bzw. zu hören. Zur Vorbereitung sollte auch zählen, daß der Lehrer

    5. mit dem Dichter vorher Kontakt aufnimmt und ihm mitteilt, welche seiner Texte die Schüler kennengelernt haben und welche Texte sie vorgetragen haben möchten. Die literarische Gesellschaft sollte diese Rückkopplungsmöglichkeit mit dem Autor gleich bei der Termin- und Honorarverhandlung vereinbaren.

    6. Im günstigsten Falle würde der Autor dann nur den Schülern bekannte Texte vortragen, möglichst zwei- oder dreimal; Gedichte sollten den Schülern allemal gedruckt vorliegen, so daß sich ihr Zuhören und Verstehen an einzelnen Stellen festklammern kann.

    7. Fast wichtiger als die Lesung ist das anschließende Gespräch. Sind bei der Vorbereitung die genannten Forderungen beachtet worden, entsteht zwischen Schülern und Autor ganz ungezwungen und ohne Hilfe des Lehrers ein hermeneutischer Diskurs, ein Arbeitsgespräch, weil das Gefälle zwischen Autor und Publikum verringert ist und die Schüler sich bereits heimisch fühlen in der poetischen Welt dieses Autors: Sie können jetzt wirklich »mitreden«.

»Nach diesen Grundsätzen hat das Marburger Literaturforum zum ersten Mal vor fast zehn Jahren eine Schullesung durchgeführt, und zwar mit Werner Söllner, dem Frankfurter Lyriker rumäniendeutscher Herkunft. Eine Klasse 11 hatte sich analysierend und selbst schreibend, montierend und collagierend mit sechs seiner Gedichte auseinandergesetzt, schließlich eines davon ausgewählt, sich dieses von Söllner mehrfach vortragen lassen, um danach zwei Schulstunden lang mit ihm über dieses Gedicht zu sprechen. Ein tieferes Verständnis für Metaphorik und Komposition können Schüler in einem ganzen Semester kaum gewinnen. Viele weitere Veranstaltungen haben diese positive Erfahrung bestätigt.

    Diese Form der Schullesung könnte selbstverständlich noch erweitert oder variiert werden, allerdings mit ungleich größerem Aufwand seitens der Lehrer und der Vermittler. Eine der Möglichkeiten liegt im Konzept der Schreibwerkstatt, beginnend mit ganz einfachen Eingriffen in die Texte des Autors (z.B. blinde Stellen: alle Adjektiven aus einem Gedicht entfernen und zusammen mit dem Autor die eigenen Ergänzungsvorschläge diskutieren), bis hin zum Fortsetzen von Erzählanfängen, zum Umschreiben in eine andere Textsorte, zur Persiflage und zur Vertonung. Mit zwei Unterrichtsstunden wird man in solchen Fällen nicht auskommen, aber die Ergebnisse sind eindrucksvoll und legen manchmal sogar eine Veröffentlichung nahe.

    Als zweite Möglichkeit bietet sich ein Werkstattgespräch über eigene Produktionen der Schüler an, die dem Autor vorher zugeschickt wurden und dann zusammen mit dem »Profi« überarbeitet werden.

    Da beides eine enge Kooperation mit dem Autor verlangt und seine Bereitschaft voraussetzt, seine eigenen Texte verfremden, zerstören und entweihen zu lassen, empfiehlt es sich, für ein solches Vorhaben eine Schulpartnerschaft zwischen Autor und Schule zu gründen. In festen Abständen könnte der Autor zu Workshops eingeladen werden, die als Projektarbeit einen festen Platz im Bildungsangebot der Schule erhalten. Finanziell von dem Elternverein, dem Schulträger und der literarischen Gesellschaft unterstützt, könnte damit ein institutioneller Rahmen geschaffen werden, der beiden Seiten die nötige Sicherheit gibt, daß Aufwand und Gewinn in einem vernünftigen Verhältnis stehen.

    Attraktiv könnte eine solche Partner-


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schaft auch zwischen einer literarischen Gesellschaft und einer Schule sein, insbesondere wenn das Angebot am jeweiligen Standort gering ist und die Schulen auf die Zuarbeit von Vereinen angewiesen sind. Die Schulverwaltungen der Bundesländer stehen heute derartigen Kooperationen als eine Form der Öffnung der Schule sehr positiv gegenüber. Schulpartnerschaften könnten auch für sog. Naensgesellschaften eine besondere Chance darstellen, einen neuen, jungen Leserkreis für ihr Anliegen zu gewinnen, wenn dieser institutionelle Rahmen für Workshops, Ausstellungen, literarische Spaziergänge oder Schreibwettbewerbe genutzt würde, die sich in kreativer und produktiver Weise mit dem Werk eines Autors früherer Zeiten auseinandersetzen.

Tobias Meinel

Der Autor ist Studiendirektor am Gymnasium Philippinum in Marburg und Mitglied des Marburger Literaturforums. Der Artikel ist die leicht geänderte Fassung eines Referates, das Herr Meinel anläßlich der Jahrestagung der ALG in Berlin hielt.


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