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Literatur und Literaten im Sechsstädtebund

Literarisches Symposium in Lauban



Der Sechsstädtebund beging in diesem Jahr die 650. Wiederkehr des Gründungsdatums. Aus diesem Anlaß wurde in den Mitgliedsstädten Bautzen, Görlitz, Kamenz, Lauban, Löbau und Zittau eine Reihe von Festveranstaltungen durchgeführt.

   In Lauban begann man am 8. August mit einem Konzert des »Dresdener Ensemble(s) für alte Musik«, das sakrale Musik aus dem 17. und 18. Jahrhundert spielte. Vom 13. bis 15. August 1996 war Lauban dann ein zweites Mal Ausrichter einer Veranstaltung. Diesmal stand ein Symposium auf dem Programm, das Literatur und Literaten im Sechsstädtebund zum Thema hatte. Die Tagung stand unter dem Motto: »Aufklärungsdenken als (Über)Lebenschance«, und jede der sechs Städte leistete hierzu einen Beitrag über einen Dicher aus ihren Mauern.

   Erster Programmpunkt war noch am Anreisetag eine Stadtführung vorbei an historischen Bauwerken Laubans wie etwa dem Salzhaus und der Stadtmauer sowie an Gebäuden, die mit dem Werk des Schriftstellers Arno Schmidt im Zusammenhang stehen. Dazu gehörten u. a. das Haus Dr. Fraenkels* und das Rathaus. Nach dem viel zu kurzen Rundgang begab man sich zum städtischen Campingplatz, auf dem über einem Feuer ein ganzes Schwein am Spieß gedreht wurde. Brot, Salate und vielerlei Getränke waren passende Beigaben zum exzellent gewürzten Braten. In dieser lockeren Atmosphäre hatten die Teilnehmer Gelegenheit, sich einander vorzustellen und erste Gespräche zu führen. Als sich die Stimmung dem Höhepunkt näherte, brach ein Wolkenbruch los, der Veranstalter und Teilnehmer zum schnellen Rückzug in ihre Fahrzeuge zwang.

   Der Mittwoch war dann der Tag der Vorträge und Diskussionen. Tagungsstätte war das nahe der Hohwaldchaussee gelegene Steinberghaus. Vor dem Krieg Hotel und Restaurant, ist es jetzt die Musikschule des Kreises Luban. Der Konzertsaal der Schule erwies sich als idealer Tagungsraum, und ein Simultandolmetscher mit seiner hochmodernen Mehrkanal-Kopfhöreranlage ließ keine sprachlichen Schwierigkeiten aufkommen. So war ein optimaler Rahmen für eine erfolgversprechende Veranstaltung gegeben.

   Nach den offiziellen Begrüßungen durch den Bürgermeister von Luban, Herrn Jerzy Zielinsky, und den sächsischen Regierungspräsidenten Dr. Weidelener eröffnete der polnische Autor Feliks Netz die Reihe der Vorträge. Feliks Netz kam 1946 im Alter von 10 Jahren als Heimatvertriebener aus dem ehemaligen Ostpolen nach Lauban. Er verließ die Stadt erst zehn Jahre später wieder. In seinem Vortrag »Die unreale Stadt - Luban« berichtete er vom Wiederaufbau der Stadt durch eine sich hier heimatlos fühlende Bevölkerung sowie von den wachsenden Spannungen zwischen der Kirche und den staatlichen Organen bei deren Bemühungen, eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu etablieren. Vertriebenenschicksal in einem anderen Land unter anderen Bedingungen und aus einer anderen Sicht. Da sich Feliks Netz' Vortrag nur auf das Leben innerhalb der Stadt bezog, wurde er in der anschließenden Diskussion dahingehend befragt, welche Erinnerungen er denn an die Landschaft um Lauban hätte. Feliks Netz antwortete, wenn er für seine Dichtungen Bilder einer Flußlandschaft oder aus Wäldern benötige, so stellten sich bei ihm wie automatisch Erinnerungen an die Landschaft um Lauban ein.

   Im 2. Referat sprach Dr. Dietrich Scholze von der Universität Leipzig für Bautzen über »Die sorbische Literatur in der zweisprachigen Lausitz. Das subversive Potential einer Minderheitskultur«. Dr. Scholze erläuterte das Bemühen der sorbischen Volksgruppe um den Erhalt ihres nationalen Eigenlebens sowohl im Kaiserreich und unter dem Nationalsozialismus als auch während des real-existierenden Sozialismus. Das Auditorium wurde hier mit der Denkart und Lebensweise einer deutschen Volksgruppe sowie deren eigenständiger Sprache konfrontiert, mit deren Problematik sich bisher nur wenige beschäftigen müssen. Die jahrhundertelangen Erfahrungen der Sorben und der deutschstämmigen Lausitzer Bevölkerung in bezug auf das friedliche Miteinander könnten für die sich in Deutschland entwickelnde mulitkulturelle Gesellschaft mit Sicherheit nutzbar gemacht werden. Man sollte diese Chance nutzen.

   Der dritte Referent war Dieter Fratzke vom Lessing-Museum in Kamenz. Sein Thema: »Das Gute tun, weil es das Gute ist. - Mit Gotthold Ephraim Lessing auf dem Wege zur Vernunft und Toleranz«. Mit Lessing als etabliertem Klassiker wurde hier ein Literat und Denker vorgestellt, dessen Ideen aus der landschaftlichen Quelle herrühren, in der »der sorbische Pflüger den deutschen versteht«.** Für die Arno Schmidt-Leser, die nach Arno Schmidts Frage aus »Wu Hi?« noch immer auf der Suche nach einer Beziehung zwischen Lauban und Lessing sind, brachte der Vortrag natürlich nicht die Antwort, aber es ergab sich das viel-


* Arno Schmidt schreibt »Dr. Fränkel«, s.:Aus dem Leben eines Fauns. B.A. I/1, S. 309

** Arno Schmidt: Leopold Schefer. In: Essays und Aufsätze. B.A.III/4, S. 179-184. Hier S. 180


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leicht interessante Faktum, dß Lessings Lehrer in Kamenz aus Lauban stammte*.

   Für Görlitz referierte Dr. Wolfgang Wessig zum Thema: »Vom Heimatspiel zum Exildrama - Johannes Wüsten als Dramatiker«. Mit Johannes Wüsten wurde über einen Künstler gesprochen, der sich als Maler und Dichter in der Zeit der Weimarer Republik, ja man sollte es ruhig so plakativ sagen, für eine bessere und gerechtere Welt einsetzte. Er benutzte historische Stoffe, um u. a. die sozialen Konflikte seiner Zeit darzustellen. Sein Lohn dafür: Er starb 1943 im Gefängnis Brandenburg-Görden an den Folgen der »humanen Behandlung« durch arische Herrenmenschen.

   Nachdem sich die Tagungsteilnehmer in der Mittagspause entspannt und an einem reichhaltigen kalten Büfett gestärkt hatten, kam im fünften Vortrag eine ganz anderer Stimmung auf. Anneliese Zenker aus Zittau entwickelte ein anrührendes Bild von »Lisa Tetzner - die Märchenerzählerin und Jugendbuchautorin als Vermittlerin von Toleranz und Menschlichkeit«. Lisa Tetzner litt seit früher Jugend an den Folgen einer Tuberkulose-Erkrankung. Doch statt zu resignieren, widmete sie ihr Leben der Einflußnahme auf Kinder und Jugendliche mit dem Bemühen, unter ihnen die Gedanken von Toleranz und Menschlichkeit zu verbreiten. Als Kinderbuchautorin ist sie etwa in der Nähe von Astrid Lindgren anzusiedeln. Lisa Tetzner ist zudem die Begründerin der Kinderstunde im deutschen Rundfunk.

   Der von vielen erwartete Höhepunkt der Tagung war der Vortrag von Rudi Schweikert aus Mannheim, der für Lauban, das Thema »Sedativ - Aufklärungsgedanken und Lebenswunde' im Werk Arno Schmidts« gewählt hatte. Ausgehend von dem Satz »Mein Herz gehört dem Kopf!« entwickelte Schweikert ein Erklärungsmodell zu Arno Schmidts Aufklärungsdenken, dessen Wurzeln sich bis in die Laubaner Zeit zurückverfolgen lassen. Die in diesen Tagen immer wieder gestellte Frage war: »Wann wird Arno Schmidts Werk endlich ins Polnische übersetzt?« Leider konnten wir darauf keine Antwort geben und nur auf die bekannten Schwierigkeiten beim Übersetzen von Schmidt-Texten verweisen. Die Frage sei aber hiermit an die Arno-Schmidt-Stiftung in Bargfeld weitergegeben.

Arno Schmidt

   Diesen zweiten Symposiumstag beendete das Referat von Frau Dr. Marwinski aus Weimar, die für Löbau über »Karl Benjamin Preusker als Publizist und Volksaufklärer« sprach. Mit Preusker (1786-1871) wurde ein engagierter Lausitzer Buchhändler, Altertumsforscher und Volksbildungsfreund eindrucksvoll vorgestellt. Preuskers unbeirrbares Bemühen bei staatlichen Stellen, die Gründung von öffentlichen Bibliotheken durchzusetzen, war ebenso von Erfolg gekrönt wie sein Engagement bei Handwerkern, von denen er viele motivieren konnte, sich weiterzubilden und sich somit den Herausforderungen des jungen technischen Zeitalters gewachsen zu zeigen.

   Beim Abendessen in einem Laubaner Restaurant traf man die Teilnehmerinnen am Damenprogramm wieder, die einen Ausflug zur Schneekoppe trotz einiger Regenschauer gut gelaunt überstanden hatten**. Hier hatten die Gäste erneut ausreichend Gelegenheit, persönliche Kontakte zu vertiefen, über Fragen zu diskutieren, die beim Symposium zu kurz behandelt worden waren, und Pläne für zukünftige ähnliche Veranstaltungen zu schmieden.

   Die Laubaner waren eingeladen, sich an diesem Gedankenaustausch zu Beteiligen. Für sie lagen Kurzfassungen der Vorträge bereit. Erfreulicherweise wurde dieses Angebot auch angenommen, und die doch erhebliche Zahl der Bilinguisten unter den Teilnehmern half, mögliche deutsch-polnische Verständigungsschwierigkeiten zu überbrücken.

   Der Mittwoch brachte mit dem Referat des polnischen Literaturwissenschaftlers und Journalisten Robert Gawlowski aus Wroclaw einen weiteren Höhepunkt der Tagung. In seinem Vortrag: »Gemeinsame Heimat - Deutsche Spuren in der Lyrik und Prosa der Autoren in Niederschlesien der 80er und 90er Jahre« setzte er sich mit den Fragen auseinander: »... warum viele polnische Autoren in die Vergangenheit ihrer Städte und Städtchn, in die Vergangenheit Niederschlesiens, in die Vergangenheit, die sie nicht direkt erlebt haben, wiederkehren? Sie haben doch den Exodus der Millionen von Deutschen und Polen weder gesehen noch miterlebt, sie kennen den Krieg sowie die Vorkriegszeit nur aus Lehrbü-


* »Wu Hi?« Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg. Hg. Jan Philipp Reemtsma und Bernd Rauschenbach. Zürich, Haffmanns-Verlag, 1986. S. 72. Ähnlich auch in AmG, B.A. IV/3, S. 151. Troz emsiger Bemühungen konnte bisher auch in den Archiven des Lessing-Museums keine Verbindung zwischen Lessing und Lauban gefunden werden. Die Suche geht weiter.

** Auch dieser Ausflug war selbstredend mit Arno Schmidt zu verbinden: »Ich war in mei'm Lebm 1 Mal auf der >SchneeKoppe<«, AmG, B.A. IV/3, S.15.


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chern, Literatur, Filmen oder aus Berichten ihrer Eltern und Großeltern. Warum interessieren sie sich für die Schicksale der Menschen, die einer anderen Zeit angehören, einer anderen Nation, einer anderen Kultur? Warum entdecken sie eben in diesem Bereich ihren lyrischen bzw. erzählerischen Raum? Warum sind unter den real existierenden sowie den imaginären literarischen Helden die Gestalten der Deutschen, Schlesier, Polen aus Breslau und nahegelegenen Stätten zu finden?« Robert Gawlowski schloß seinen Vortrag mit einem Zitat aus einem Gedicht von Wojciech Isaak Strugala:


Geht der Wanderer auf dem Blau des Himmels und unten
sieht man die Erde:
Jedlina Zdrój, Dresden, Wojnowice, Polanica Zdrój. Wroclaw.
Der Wanderer trägt das Haus, den Wald, das Wasser, die
Sonne und den Wind.
Er trägt ein Portrait der Vergangenheit; der Vergangenheit,
die schon begonnen hat.


Diese Worte schlossen den Kreis zum Eingangsreferat von Feliks Netz und um die Weite des literarischen Feldes der Lausitzer Landschaft. Die Literatur einer kleinen Volksgruppe hat darin ebenso Platz wie der Klassiker Lessing, die Märchenerzählerin Lisa Tetzner, wie der Zeitkritiker Johannes Wüsten und der Wortmetz Arno Schmidt. Und letztlich schuf das Bemühen Karl Benjamin Preuskers hier die Voraussetzungen für die Zugänglichkeit von Literatur für jedermann. Ich meine, daß sich die Vielfalt von Literatur und ihren Randgebieten kaum geschlossener darstellen ließ. Ein mehr als befriedigendes Ergebnis für dieses 1. Laubaner Literarische Symposium.

   Vermerkt werden muß die auffallende Ignoranz, die die Presse der Sechsstädte dieser Veranstaltung gegenüber aufbrachte. Als Ausgleich dafür wurden mehrere Tagungsteilnehmer von Wolfram Nagel aus Dresden als Vertreter von Deutschlandradio Berlin interviewt. Eine Kurzfassung dieser Sendung lief gleich anschließend an das Symposium über die Deutsche Welle in alle Welt.

   Dem Kulturattaché am Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Wroclaw, Herrn Rainer Sachs, und der Stadt Luban sei Dank für die großzügige inanzielle Unterstützung dieser Veranstaltung gesagt. Last but not least ist dies aber auch eine Stelle, um den Organisatorinnen des Symposiums, Frau Anna Przytuska von der Stadtverwaltung Luban und Frau Mahon Kutter vom Lessing-Museum Kamenz Dank und Anerkennung für die von ihnen geleistete Arbeit zu sagen. Es war eine gute Tagung mit anregenden Vorträgen, die die Gedanken an eine Neuauflage wachhalten werden. Das Lessing-Museum Kamenz wird die Vorträge nebst einigen Ergänzungen im Rahmen seiner Schriftenreihe »Erbepflege in Kamenz« veröffentlichen.

Wolf-Dieter Krüger

(Das Sonderheft erscheint voraussichtlich 1998; Bestellungen über: Lessing-Museum Kamenz, Lessingplatz 3, 01917 Kamenz, T: (03578) 38 05-0 F: (03578) 38 05-25, Anm. d. Red.)

Notwendiges Postskript

Die Idee zu diesem Laubaner Literatur-Symposium wurde geboren, als wir uns bei Feierlichkeiten anläßlich des 775-Jahr-Jubiläums in Luban trafen (28.-30.5.1995). Wolf-Dieter Krüger verfolgte energisch den Plan, um Lauban und Arno Schmidt, der dort zehn Jahre seines Lebens verbracht hatte, ein literarisches Symposium zu realisieren. Dank seiner Zielstrebigkeit und Initiative kam die Sache in Schwung, und das schöne Ergebnis darf er als nicht zuletzt seinen Verdienst betrachten.

Rudi Schweikert

(Die Redaktion dankt für die Abdruck-genehmigung dieses Beitrags, der in Schauerfeld. Mitteilungen der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser, 10. Jhrg. 1997, Heft 1 erstmals erschien.)


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