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Des Kindes Ruf.

Eine Geschichte aus dem Erzgebirge von Karl May.

I.

Die Nachmittagsschule war aus, und die kleinen sechs- bis siebenjährigen A-B-C-Schützen rutschten fröhlich von ihren Bänken, um die unliebsame Gefangenschaft mit der goldenen Freiheit zu vertauschen.

Der Lehrer hatte sich an die Thür postirt, um sich die schüchternen Händchen zum Abschiede darreichen zu lassen.

„Fährmann’s Paul, Deine Hand mag ich nicht!“ wies er einen strammen, schwarzäugigen Lockenkopf zurück, welcher ihm mit offenem Lächeln die Finger der ausgespreizten Rechten entgegenstreckte.

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Der Kleine zog die Hand zurück und sah ihn fragend an.

„Hast Du Dich gewaschen?“

„Nein.“

„Heut’ nicht?“

„Nein.“

„Gestern auch nicht?“

„Nein.“

„Wann denn?“

„Gar nicht.“

„Und gekämmt auch nicht?“

„Nein.“

Er schüttelte dabei langsam den Kopf und machte eine Miene, welche deutlich besagte, daß er sich gar nicht recht erklären könne, warum irgend Jemand gewaschen und gekämmt sein müsse.

„Sieh’ einmal Deine Finger an, Paul; die kleben ja vor Schmutz; an Deine Füße ist der Schlamm gebacken, und in den Haaren hängt das Heu und Stroh. Schläfst Du denn auch so?“

„Ja.“

„Im Bette?“

„Nein.“

„Wo denn?“

„Im Kuhstalle und — und auf dem Heuboden.“

„Was?! Der Fährmann’s Paul schläft im Kuhstalle?“ Der gute Mann konnte nicht begreifen, warum der reichste Junge im Dorfe kein anderes und besseres Lager habe. „Und schau, wie Deine Hosen zerrissen sind, und die Jacke auch! So darfst Du mir nicht wiederkommen, sonst bist Du ja der echte Struwelpeter! Sag’s Deiner Mutter, sie soll Dich reinlicher in die Schule schicken!“

Die rothen Wangen des Getadelten färbten sich jetzt noch tiefer, und seine hellen Augen wurden feucht. Mit gesenktem Kopfe schlich er sich auf die Straße, wo die Anderen sich mit theilnehmender Miene um ihn schaarten. Nur Einer schien sich über den Verweis zu freuen.

„Der Fährmann’s Paul ist der Struwelpeter,“ rief er; „er darf nimmer so in die Schule!“

Im nächsten Augenblicke hatte der Beleidigte seine Schiefertafel auf die Erde gelegt, packte den Spötter, warf ihn zu Boden und gab ihm ein paar Ohrfeigen, daß es schallte.

„Da hast den Lohn, Du Galgendieb!“ meinte er dann ruhig, indem er seine Habseligkeiten wieder an sich nahm. „Du bist ein Schimpfmaul und darfst nimmer mit uns spielen!“

Der kleine Goliath erhielt weder Abwehr, noch Gegenrede, und das hatte seine Gründe. Der Fährmann’s Paul war gar hoch angesehen bei Seinesgleichen; er fürchtete sich vor keiner Gans und vor keinem Hunde; er riß sogar vor keinem Pferde aus, und was das Beste war, er konnte so unbeschreiblich schön spielen und sann sich immer neue Dinge aus, an die selbst der Herr Lehrer gar nie gedacht hätte. Darum war er der Hauptmann von der Löffelgarde, und es gab kein größeres Unglück, als wenn er Einem das Mitthun verbot.

Heute ging es gar nicht so lustig, wie sonst, auf dem Nachhausewege her. Der Paul war ganz tiefsinnig und gab fast gar keine Antwort auf die Reden, die ihm angeboten wurden. Erst am Thore seiner elterlichen Wohnung schien er sich auf das Versäumte zu besinnen.

„Geht heim und holt Euch Euer Vesperbrod,“ befahl er. „Nachher kommt Ihr nach dem Sandloche und bringt die Gewehre mit; wir machen Räubers!“

Langsam, als sei der Weg ein schwerer für ihn, ging er nach der Stube. Das Gesinde saß beim Nachmittagskaffee; am Fenster arbeitete eine Nähterin emsig an einem buntseidenen Rocke, und in Mitten des Zimmes standen zwei riesige Backtröge auf vier Stühlen. Die Bäuerin hatte übermorgen Hochzeit; d’rum gab es jetzt zu backen und so viel zu schanzen und zu schaffen, daß man den Schweiß, der ihr auf der Stirn stand, recht wohl begreiflich finden mußte.

Sie war ein schönes Weib. Die dichten, pechschwarzen Flechten hatten sich gelockert und hingen ihr lang über den Nacken hinab; das Gesicht war voll und frisch, wie das eines jungen Mädchens; die dunkeln Augen blitzten mit lebhaftem Feuer unter den beredten Wimpern hervor; die kirschrothen Lippen ließen beim Sprechen

zwei Reihen kleiner, glänzend weißer Zähne erblicken, und wie sie, hoch aufgeschürzt und mit emporgestreiften Aermeln, so vor dem Teige stand und gewandt und kräftig mit den schweren Gefäßen spielte, hätte selbst der schmuckeste Jungbursche nicht so leicht das Auge von ihr wenden können.

„Mutter, ich habe Hunger!“ bat schüchtern der Kleine.

„Hab’ keine Zeit für Dich, Du Strolch!“ antwortete sie in einem Tone, als habe ein fremdes Bettelkind sie angesprochen. „Wart’ bis zum Abende und geh’ jetzt gleich hinaus; hier findest keinen Raum!“

Der Knabe warf einen langen Blick auf die großen Schüsseln voll Rosinen, Butter und sonstigen Backerfordernissen, welche so appetitlich vor ihm standen, und sah dann sehnsüchtig nach dem Tische hinüber.

„Komm her, Paul,“ meinte leise eine der Mägde; „hier hast ein Stückle Brod!“

Er nahm die trockene Schnitte mit dankbarem Lächeln in Empfang und schickte sich an, die Stube zu verlassen, kehrte aber noch einmal zögernd um.

„Mutter, der Herr Lehrer sagt, ich muß gewaschen werden und gekämmt. Auch das Kleid ist zerrissen. Ich darf so nicht wiederkommen!“

„Was sagt der Lehrer?“ fragte sie, zornig aufblickend. „Willst gleich hinaus und Dich von ihm selber balsamiren lassen! Mir fehlt grad’ noch, daß ich mich mit dem Schmutzvolk abzugeben hab’!“

„Ich bin der Struwelpeter geschimpft worden auf der Gasse!“ wagte er hinzuzufügen.

„Das bist auch richtig, Du widerwärtiger Fink! Geh’ fort; ich schäme mich, wenn ich Dich nur seh’!“

Er blickte verlegen vor sich nieder und schlich sich dann nach dem Ofen, hinter welchem der Kamm zu finden war.

„Was willst da hinten? Willst wohl noch auch den Kamm verschimpfiren und zerbrechen? Mach’ Dich nur schnell hinweg, sonst sorg’ ich für flinke Beine!“

Mit drohend erhobener Hand trat sie auf ihn zu. Er floh bis an die Thür, wo er im Gefühle des Unrechtes, welches ihm geschah, die muthige Bemerkung machte:

„So geh’ ich zur Großmutter. Die Lindenbäurin wird mich waschen!“

Er kam nicht zur Thür hinaus. Sie war rasch auf ihn zu getreten und schlug ihm die vom Teige beklebte Hand in das Gesicht, daß er kopfüber zu Boden stürzte.

„Was willst thun? Zum Lindenhof willst geh’n, zur alten Fährmann’sher’, und Dich von der schönen Minna streicheln lassen? Hier hast Eins; das ist genug für Dich! Nun leck’ den Teig ab; weiter bekommst doch nichts zur Hochzeit! Und wenn ich hör’, daß Du wirklich dort gewesen bist, so nehm’ ich Dich noch anders vor!“

Sie öffnete die Thür und stieß ihn hinaus, daß er an die gegenüberliegende Wand taumelte und auf die harte Steinplatte niederstürzte. Er raffte sich lautlos wieder empor und hinkte nach dem Stalle, in dessen hinterster Ecke sich ein Lager von Strohgewirr befand, unter welches er seine Schulrequisiten verbarg. Nachdem er sein Stückchen Brod mit sichtlichem Appetite verzehrt hatte, zog er aus dem Stroh einen hölzernen Säbel, welchen er umgürtete, und eine Flinte hervor, schwang sie mit selbstbewußter, trotziger Miene auf die Schulter und marschirte dem Orte zu, nach welchem er die Spielkameraden bestellt hatte.

Sie waren schon in voller Thätigkeit und hatten sich in Räuber und Soldaten getheilt, welche Ersteren von den Letzteren gefangen genommen werden mußten. Die Verbrecher waren bisher im Nachtheile gewesen, so daß sich die Mehrzahl von ihnen schon in Gefangenschaft befand. Als sie den Kommenden erblickten, jubelten sie ihm freudig entgegen.

„Jetzt ist der Hauptmann da,“ rief Einer; „der bringt die große Flint’ und wird uns frei machen! Schieß’, Paul; dann reißen wir aus!“

„Bleibt nur immer ruhig steh’n, bis ich sie All’ zu Tode getroffen hab’; ausgerissen aber wird nicht vor dem Soldatenvolk. Das wär’ die größte Schand’ für uns. Wer ist der oberste Corporal?“

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„Ich!“ antwortete der Betreffende mit wichtigem Gesichte.

„So kommst Du grad’ zuerst daran. Paß auf; wenn ich losdrück’, so mußt Du hinfallen und liegen bleiben, bis wir gewonnen haben!“

Hier gab es keine Widerrede. Das war schon hundert Male so gewesen, und der Fährmann’s Paul litt keinen Ungehorsam. Er schoß die Soldaten alle todt und ließ sie erst wieder lebendig werden, als ein neues Spiel begann.

„Ich thu’ auch mit!“ meinte da ein neu Herbeigetretener. Es war Derjenige, welcher nach der Schule eine so schnelle Bestrafung gefunden hatte.

„Nein, Du bleibst davon!“ wies ihn Paul zurück. „Mit Dir ist’s aus für immer. Wer schimpft, der taugt zu keinem Soldaten und zu einem Räuber vollends gar nicht. Ich mag Dich auch gar nicht frei machen, wenn sie Dich eingesteckt haben!“

„Da wärst Du auch der Richtige!“ klang die geringschätzige Antwort. „Du kannst ja nicht einmal Deinen Vater frei machen! Er ist auch ein Räuber. Er hat die Truhe ausgeleert und sitzt nun im Zuchthaus. Schieß’ ihn doch heraus, wenn Du’s vermagst, Fährmann’s Paul!“

Er hatte kaum ausgesprochen, so fuhr ihm die Flinte des kleinen Anführers an den Kopf.

„Da hast noch Eins, Du böser Bub’, der Du bist! Mein Vater ist der Best’ im ganzen Dorf; er ist viel besser noch, als Deiner. Er hat das Geld nicht genommen; er ist unschuldig eingesteckt; die Großmutter sagt’s und die Minna auch. Und wenn ich will, da bring’ ich ihn schon frei. Ich will Dir’s gleich einmal zeigen!“

Er rief die Knaben alle herbei.

„Hört, wir spielen jetzt das Zuchthaus! Das ist noch nicht dagewesen und wird Euch gern gefallen. Ich bin einmal mit der Großmutter dort gewesen und hab’ Alles gesehen, wie es ist. Dort ist das Haus, hier kommt die Mauer, und da geht es hinein in den Graben, wo das Kraut und der Salat gewachsen ist. Da haben wir den Vater d’rin gesehen, als wir vorüber gegangen sind. Sie schnitten Pflanzen heraus, und die Soldaten haben mit dem Gewehre dabei gestanden, damit Keiner davonspringen konnt’. Nun sollt Ihr seh’n, wie’s geht! Macht Euch auseinander. So! Ihr seid die Soldaten, und Ihr müßt die Gefangenen machen; Du bist der Vater, und nun kann die Sach’ beginnen. Ich werd’ gleich laden und Alles niederschießen. Und wenn ich keine Kugel mehr hab’, so schlag’ ich mit dem Kolben d’rein, wie’s der Vater gemacht hat, als er im Krieg gewesen ist. Der wartet auch gar nicht, bis ich gesiegt hab’; er ist stärker als alle Soldaten und macht sich los, sobald er mich nur sieht. So mußt Du’s auch thun! Nun geht; der Anfang kann beginnen!“

Mit offenem Munde hatten sie der Erklärung des schönen, neuen Spieles gelauscht, und Jeder eilte jetzt auf seinen Posten. Die Flinte, welche der Paul von seinem Vater zum Geburtstage erhalten hatte, stand bei Allen in großem Respect. Man konnte wirklich mit ihr schießen, und so war ihr bei allen Unterhaltungen die erste Rolle zugetheilt. Die Befreiung des armen Gefangenen gefiel den Knaben so gut, daß sie immer von Neuem wiederholt wurde, bis die Zeit der Heimkehr herangekommen war. Da stellten sie sich in Reih’ und Glied und marschirten nach dem Dorfe zurück.

Vor einem Gute stand eine alte, mächtige Linde. Unter ihr saßen zwei Frauen und schauten lächelnd auf den gravitätischen Zug.

„Ob der Paul nicht immer der Oberst’ ist!“ meinte die Jüngere, indem sie ihr gutes, blaues Auge auf die Aeltere richtete, die einen grünen Schirm über dem oberen Theile des Gesichtes trug und sich vorsichtig von den Strahlen der untergehenden Sonne gewendet hatte.

„Ich kann ihn auf so weit nicht genau erkennen. Ruf’ ihn doch herbei, Minna!“

„Das ist gar nicht nöthig; er kommt schon ganz von selbst!“

Wirklich verabschiedete der Knabe die Genossen und stolzirte dann mit wichtiger Miene herbei.

„Großmutter, da bin ich! Ich hab’ den Vater frei gemacht.“

„Wenn Du das könntest,“ seufzte die Angeredete, „so wärst Du größer, als der Advocat, der uns nichts genützt hat, und als die Männer, die ihn festhalten!“

„Ich kann’s, Großmutter. Ich hab’s im Sandloch probirt und geh’ bald nach der Stadt, um ihn heim zu bringen! Deshalb bekomm’ ich auch ein Butterbrod, nicht wahr, Lindenbäurin?“

„Hast wohl Hunger?“ fragte die Genannte.

„Großen; so groß wie noch nimmer!“

„Was hast denn heut’ gegessen?“

„Heut’ früh nichts, zu Mittag nichts und nach der Schul’ ein Stückle Brod von der Magd. Die Mutter giebt mir nichts als Schläg’ und Prügel. Sie kann mich nicht erseh’n, hat sie zum Reitercurt gesagt, weil ich grad’ ausschau wie der Vater. Ich stand dabei und hab’s vernommen. Nun mag ich sie auch nicht mehr leiden und geh’ doch zu Dir, Minna, obgleich ich Straf’ dafür bekomm’. Du bist mir lieber, als sie!“

Sie zog ihn liebkosend an sich.

„Du armer, armer Schelm! Du bist im reichen Fährmannshof das Aschenbrödel, das sich verkriechen muß und doch nicht fortgegeben wird. Aber ich thu’ doch noch, was ich mir vorgenommen hab’: ich geh’ zum Richter, damit er Dich von der Rabenmutter wegnimmt und zu mir giebt. Uebermorgen bekommst gar den Stiefvater; wer weiß, wie Dir’s von ihm ergeht!“

„Ich mag keinen Stiefvater! Ich leid’ es nicht; ich werd’ ihn mit der Flint’ fortjagen!“

„Das mußt schon leiden, Paul; dagegen giebt’s nun keine Hilf’. Aber ich laß Dich nicht daheim; ich hol’ Dich her zu mir. Willst?“

„Ja; ich mag die Mutter nicht und auch den Reitercurt nicht, welcher sie beim Kopf faßt, wie der Vater. Er schaut mich so zornig an und schickt mich aus der Stub’ und fort vom Tisch. D’rum bin ich ausgezogen und in den Stall gewichen. Gieb mir Brod, Minna, sonst muß ich weinen!“

„Komm herein, Kind; Du sollst vollauf haben, was Du begehrst!“

„Und waschen und kämmen mußt mich auch, sonst darf ich morgen nicht in die Schul’! Die Mutter wirft mich zur Thür hinaus, wenn ich sie darum bitt’.“

Die Großmutter erhob sich und trat in das Haus. Sie wollte die Thränen verbergen, welche ihr in den schmerzenden Augen standen. Die beiden Anderen folgten ihr nach.

Als der Knabe nach einiger Zeit wieder auf die Straße trat, hatte sich sein Aeußeres vortheilhaft verändert. Die Liebe, welcher er im Lindenhofe begegnete, glänzte in dem Sonnenscheine wieder, der auf seinem frohen, jetzt so sauberen Antlitze lag, und erwartungsvoll blickte er in die Fenster des Schulhauses, ob vielleicht an einem derselben der Lehrer stehe und die Besserung bemerke, die mit dem Struwelpeter vorgegangen war.

Zu Hause angekommen, trug er die Flinte in den Stall und nahm die Schiefertafel zur Hand. Draußen im Garten gab es hinter dem Hollunderbaume ein schönes Plätzchen, wo ihn beim Schreiben und Malen, was er so gern that, Niemand störte, und es war noch hell genug, um das Zuchthaus zu zeichnen mit den Soldaten und dem Vater, den er frei machen wollte. Dann konnte er auch wieder in der Kammer schlafen und mit den Anderen am Tische mit essen, brauchte keinen Hunger zu leiden, der so weh that, und bekam auch ganz gewiß keine Schläge mehr.

Er ging hinaus, kroch in sein Versteck, wo er oft schon halbe Tage lang gesessen hatte, ohne daß er bemerkt worden war, und arbeitete emsig an dem Bilde, welches es geben mußte, wenn er in den Graben stieg, um zum Vater zu kommen. Er war so vertieft in seinen kindlichen Plan, daß er die Zwei, welche nach ihm in den Garten getreten waren, nicht eher bemerkte, als bis er ihre Stimmen hörte.

Es war die Mutter mit dem Bräutigam. Sie hatte sich Zeit genommen, um einige Augenblicke mit ihm allein zu sein.

„Ich hab’ von früh bis jetzt nach Dir ausgeschaut, ob Du kommen werdest,“ meinte sie mit Vorwurf. „Wo bist denn nur herumgelaufen?“

„Ich war beim Bruder, der im Zuchthaus auf Commando steht. Ich muß ihn doch zur Hochzeit laden. Er hatte frei am

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Vormittage und ließ mich gar nicht fort. Wir sind spaziren gewesen und auch um die Gefangenschaft ’rumgegangen. Weißt, wen ich da gesehen hab’?“

„Kann mir’s schon denken!“ antwortete sie kalt und wegwerfend.

„Er darf noch immer im Freien arbeiten und hat gar jämmerlich ausgeschaut. Wer gut gehorsam ist oder krank wird, der bekommt gar oft vom Director die Erlaubniß, mit an die frische Luft zu geh’n. Er hat lange in der Arzneistub’ gelegen, sagt mein Bruder, und ist so herabgekommen, daß er das Dorf wohl gar nicht wieder zu sehen bekommt.“

„Das wär’ das Best’ für ihn und uns. Ich müßt’ mich ja zu Tod schämen, wenn er wiederkäm’. Er war ein armer Schlucker, der nichts besaß, als was er auf dem Leib hatte; durch mich ist er reich geworden und so angesehen, daß er sogar mit in die große Actiengesellschaft kam und das Geld verwalten durfte. Das ist ihm in den Kopf gestiegen und hat ihn stolz und schlecht gemacht. Er hat mich nicht mehr auf den Tanz gelassen, weil es sich für eine ordentliche Frau nicht schickt, mit Jedem auf dem Saale herumzuschwenken, sagte er, und als ich ihn deshalb nicht mehr leiden konnt’ und Dir gut geworden bin, da ist’s vollends ganz aus gewesen. Nun hat er das Buch falsch gemacht und die Gesellschaft bestohlen und sitzt im Zuchthaus. Es ist ihm ganz recht; er mag nur immer sterben!“

Bei diesen harten Worten ließ sich ein unterdrücktes Schluchzen hinter dem Hollunder vernehmen. Es that dem Knaben weh, daß der Vater sterben sollte; er konnte seinen Schmerz nicht zurückhalten. Die Bauerin blickte durch die Zweige, faßte ihn bei den Haaren und zog ihn hervor.

„Was hast hier zu lauschen, Du heimtückischer Bub’! Willst wohl grad’ so ein Wicht werden, wie Dein schöner Vater, der auch nichts lieber gethan hat, als mir nachzuschleichen und auf Schritt und Tritt mich auszuhorchen? Komm heraus und zeig’, was Du thust!“

Sie riß ihm die Schiefertafel aus der Hand und betrachtete die seltsamen Hieroglyphen, welche er gezeichnet hatte.

„Was soll denn das vorstellen? Solch’ dummes Zeug bekommt Ihr wohl in der Schul’ gelehrt?“

„Das ist das Bild von dem Vater, wie ich ihn holen werd’!“

„Ach so,“ lachte sie, „Du willst ihn herausbringen! Wie soll denn das gescheh’n, Du Dummhut, der Du bist?“

„Das ist nicht dumm!“ vertheidigte er sich muthig. „Er darf nicht sterben; er muß heraus, und ich geh’ und helfe ihm mit meiner Flint’! Ich hab’s vorhin im Sandloch schon probirt; es geht ganz gut!“

„Im Sandloch hast Dich herumgewälzt, so wirst wohl wieder ausseh’n wie ein —.“ Sie unterbrach sich; denn erst jetzt bemerkte sie, wie sauber er vor ihr stand. „Du bist gewaschen und apart gemacht! Wer hat das gethan?“

„Die Großmutter hat’s gethan und die Lindenbäurin. Ich hab’ sie d’rum gebeten, weil’s der Herr Lehrer will, und auch mit dort gegessen.“

„So, also bist doch noch bei der schönen Minna gewesen! Hab’ ich Dir’s nicht verboten, Du widerwilliger Schlingel Du? — Curt, nimm ihn einmal vor; Du wirst der Vater und kannst gleich heut’ beginnen!“

Der Bräutigam nickte zustimmend und langte nach dem Knaben. Die Husarenuniform, welche er trug, gab ihm ein gar stattliches Aussehen, und wer ihn nur nach seinem Aeußeren beurtheilte, brauchte sich nicht zu wundern, daß er der schönen Fährmannbäuerin lieber war, als ihr erster Mann, von dem sie sich hatte scheiden lassen, weil das Gericht eine mehrjährige Freiheitsentziehung über ihn verhängt hatte.

Paul wich um einige Schritte zurück.

„Mutter, schlag’ Du mich lieber! Der Kurt ist nicht mein Vater; ich mag ihn nicht leiden!“

„Ach so, mein Junge, Du bist mir nicht gut?“ meinte der Verschmähte. „Mir geht es mit Dir auch nicht anders; das

hast wohl schon gemerkt, und ich will es Dir noch obendrein beweisen!“

Er faßte ihn, legte ihn über das Knie und machte von der ihm zugesprochenen väterlichen Gewalt einen so kräftigen Gebrauch, daß ihm die Bäuerin Einhalt that.

„Kurt, hör’ auf; es ist genug für jetzt! Nun geh’, Du Schlingel, und laß Dich heut’ nicht wieder seh’n, sonst nehm’ ich Dich noch selber vor!“

Der Knabe hatte keinen Laut von sich gegeben.

So wehe ihm die Schläge thaten, er wollte den Verhaßten keine Thräne sehen lassen und ging nach seinem Zufluchtsorte im Stalle.

Als die Leute beim Abendbrode saßen, so daß er ungesehen fortkommen konnte, nahm er seine Flinte und schlich sich über den Hof und hinaus auf die Gasse.

Es war mittlerweile dunkel geworden; er konnte unbeobachtet seinen Weg verfolgen, trabte das Dorf hinab und schlug den wohlbekannten Weg nach der Stadt ein, wo er früher öfters mit dem Vater gewesen war. Daheim war die Liebe für ihn erstorben; er wollte den holen, in dessen Herzen sie sicher mit ungeschwächter Stärke fortlebte, und seine kindliche Phantasie wußte nichts von einer Unmöglichkeit, seinen Plan auch auszuführen.

So wanderte er vorwärts, ruhte zuweilen aus und dachte mit seliger Freude an den Augenblick, der ihm den Vater wiedergeben werde. Sein Muth blieb trotz des weiten Weges sich immer gleich, bis er die einige Stunden von dem Dorfe entfernte Stadt erreichte.

Es war sehr spät, und nur hier und da schimmerte ihm ein einsames Licht entgegen. Er kannte die Gegend, in der das Schloß lag, welches jetzt als Landesstrafanstalt eingerichtet war; die Großmutter hatte es ihm gezeigt und war mit ihm um den Graben herumgegangen, der einst zur Befestigung des Platzes angelegt, jetzt aber mit allerlei Küchenpflanzen bebaut worden war. Hier hatte er den Vater gesehen, hier mußte er ihn auch wieder finden, so glaubte er und bog, als er die dunkle Masse des Schlosses sich seitwärts erheben sah, von der Straße ab.

Als er den Graben erreicht hatte, blieb er horchend stehen. Das unheimliche Gebäude da drüben machte doch einen beengenden Eindruck auf ihn.

Langsame abgemessene Schritte ließen sich hören; sie rührten von den Außenposten her, welche zur Nachtzeit rings um das Schloß gelegt waren, um alle Communication zwischen hüben und drüben zu verhüten und dem etwaigen Ausbruche eines der Gefangenen mit der scharfgeladenen Waffe zu begegnen.

Wer lief da unten? War es der Vater oder ein Anderer? Er durfte nicht rufen, sondern mußte den Mann erst sehen. Leise schlich er sich an dem Rande des Grabens vorwärts, bis er an eine Stelle kam, wo die Mauer, welche senkrecht hinunter ging, sich zu einer Böschung verflachte, die den Graben für die zuweilen nothwendigen Fuhrwerke zugänglich machte.

Hier schlich er sich hinab.

Das Gefühl, welches jetzt über ihn kam, machte seine Schritte vollständig unhörbar, und er kam eine ziemliche Strecke in dem Graben weiter, ehe er bemerkt wurde. Da stieß er an einen Stein.

„Wer da!“ rief eine laute, barsche Stimme.

Er fürchtete sich und suchte auszuweichen.

Jetzt sah der Posten trotz der Dunkelheit die Gestalt, welche sich in einiger Entfernung von ihm bewegte.

„Halt, steh’!“ gebot er.

Der Angerufene begann nun grad’ vor Angst zu laufen.

„Halt, steh’, oder ich schieße!“ ertönte es.

Das Gewehr klirrte. Der Knabe suchte, von Furcht getrieben, den Ort, an welchem er herabgekommen war; da krachte der Schuß.

„Vater!“ ertönte es laut durch die Nacht; dann brach der Getroffene zusammen. (Fortsetzung folgt.)

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Des Kindes Ruf.

Eine Geschichte aus dem Erzgebirge von Karl May.

(Fortsetzung.)

II.

Es war am Sonnabend früh. Die Anstaltsglocke gab das Zeichen, daß die Gefangenen sich vom Lager zu erheben hatten. Die Aufseher waren aus ihren in der Stadt gelegenen Privatwohnungen eingetroffen und traten in ihre Visitationen, welche während der Nacht von den Posten bewacht worden waren.

„Ist etwas vorgefallen?“ fragte einer von ihnen den Soldaten, welcher ihn an der Thür zur Ablösung erwartete.

„Es war große Unruhe unter den Leuten, weil in der Nacht ein Schuß gefallen ist,“ lautete die Antwort. „Nummer Hundertneunzig steht im Meldebuche; er ist in seiner Zelle auf und ab gegangen, obgleich ihm wiederholt geboten worden ist, sich niederzulegen.“

„War er krank?“

„Nein, sonst hätte er sich auf der Krankenstation gemeldet. — Wer macht die Anzeige? Sie, Herr Aufseher?“

„Nein, sie ist Sache Ihres diensthabenden Unterofficiers, der sie weiter giebt, bis sie um acht Uhr an die Direction kommt. Ich habe den Betreffenden nur zurück zu halten, damit er zur Verfügung steht, wenn er zum Verhöre verlangt wird. Er ist Außenarbeiter.“

Der Sprechende verabschiedete den Posten und ging dann die Zellenreihe hinab, bis er an eine Thür gelangte, über welcher ein Blechschild mit der Nummer Hundertneunzig hing. Er zog den Schlüssel hervor und öffnete.

Als der Gefangene seinen Vorgesetzten erblickte, erhob er sich von dem Schemel, auf welchem er saß. Die häßliche Anstaltsmontur hatte nicht vermocht, seine vortheilhafte Gestalt zu verbergen; aber seine Wangen waren bleich und eingefallen, seine Schläfe eingesunken, und die Augen blickten trübe und verschleiert aus ihren Höhlen hervor.

„Hundertneunzig, Du bist angezeigt!“

„Ich? Warum, Herr Aufseher?“

„Weil Du während der Nacht nicht Ruhe gehalten hast! Was machst Du denn für Dummheiten? Du hast Dich doch bisher immer gut geführt!“

„Herr Aufseher, es wurde draußen im Graben geschossen, grad’ unter meinem Fenster, und —“

„Das geht doch Dich nichts an! Du hast Dich Abends nieder zu legen und ruhig bis früh liegen zu bleiben, außer wenn Du Dich unwohl fühlst. Du darfst heute nicht mit zur Arbeit; denn punkt Neun mußt Du zum Herrn Direktor, um Deine Strafe zu bekommen!“

„Aber ich habe doch keinen Lärm verursacht! Es war mir unmöglich, zu schlafen; denn gleich nach dem Schusse hörte ich eine —“

„Schon gut; ich habe jetzt keine Zeit, auch geht mich die Sache gar nichts an! ‚Wer nicht hört, der muß fühlen!‘ — das ist eine alte Regel und hier in der Anstalt noch mehr Gesetz, als draußen!“

Er verschloß die Thür und entfernte sich.

Der Sträfling sank auf seinen Schemel zurück, bog sich auf die Kniee hernieder und verbarg das Gesicht in die beiden Hände. Am Himmel stand die helle, goldene Morgensonne; er konnte sie nicht sehen; ihr Licht fiel nur matt durch das hoch angebrachte, schmale und vergitterte Fenster in den engen, traurigen Raum. Wer hat das Recht, dem Menschen ihren Strahl, ohne den er nicht leben kann, zu entziehen? Wer hat die fürchterliche Strafe erfunden, die ihn den Seinen entreißt einer That wegen, an der sie keinen Antheil haben? Wer wagt es, zu behaupten, daß der richterliche Schiedsspruch, welcher in die tiefsten Tiefen eines menschlichen Seins hinunterlangt, untrüglich sei? — Wie oft hatten diese Gedanken in seinem Hirne gewühlt, seinen Kerker zur unausstehlichen Hölle gemacht und jeder einzelnen der jammervoll hinschleichenden Stunden die Länge einer Ewigkeit gegeben! Er nahm die magere Morgensuppe in Empfang, ohne sie anzurühren, hörte nicht das entsetzliche Klirren der Riegel und Schlösser, diese fürchterliche Musik der „dunkeln Häuser“, und saß vollständig bewegungslos, bis ihn die Stimme des öffnenden Aufsehers aus seinem dumpfen Brüten weckte.

„Hundertneunzig, hier ist die Bürste! Schmier’ die Schuhe und putz’ Deine Jacke; es geht zum Herrn Director!“

Nachdem diese einfache Toilette vollendet war, wurde er in das Vorzimmer des Hochgebietenden transportirt, wo eine Menge Schicksalsgenossen von allen Visitationen versammelt waren, um ein jeder für irgend eine größere oder geringere Sünde gegen die

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Hausordnung die Strafe dictirt zu erhalten. Sie wurden nach der Nummerfolge in Reih’ und Glied gestellt und in derselben Ordnung expedirt. Als er aufgerufen und eingetreten war, fand er den Dirigenten in Unheil verkündender Stimmung. Das Verhalten seines Vordermannes trug die Schuld an ihr.

„Du bist Nummer Hundertneunzig?“

„Leider, Herr Director.“

„Leider! Was soll das heißen?“

„Das soll die Klag’ bedeuten, daß ich mich in diesem Haus befind’ und meinen ehrlichen Namen so ganz verloren hab’, daß ich nur noch eine Ziffer bin!“

„Daran ist Niemand schuld, als Du allein! Wer seine Freiheit mißbraucht und seine Menschenwürde mit Füßen tritt, der wird eingesperrt und gilt als Strafvollzugsobject, das man zur besseren Uebersicht mit einer Zahl bezeichne. Hast Du das verstanden?“

„Ich bin nicht gelehrt genug, das zu begreifen, Herr Director; mein Kopf reicht nur so weit aus, zu wissen, daß ich unschuldig bin an Dem, was man mir thut. Ich habe —“

„Nichts hast Du, gar nichts, als zu schweigen! Ich möchte nur einmal wissen, wie viel Unschuldige ich hier im Hause habe! Hältst Du denn Deine Vorgesetzten wirklich für so albern, einer solchen Versicherung Glauben zu schenken? Wer sein Vergehen bekennt und bereut, erweckt Vertrauen und kann noch einmal ein ehrlicher Mensch werden. Wer aber fortgesetzt leugnet, bleibt verloren und verdient die strengste Behandlung. Sie soll Dir werden! Du bist angezeigt, dem Posten ungehorsam gewesen zu sein. Warum hast Du nicht geschlafen?“

„Es fiel ein Schuß —“

„Der Dich aufgeweckt hat, und weil es Euch immer zu wohl ist, bist Du trotzt des mehrmaligen Verbotes die ganze Nacht spaziren gegangen. Ich werde Dir acht Tage Kostentziehung notiren!“

„Ich werd’ diese Strafe ruhig tragen, wie ich auch das Andere auf mich genommen hab’. Aber verdient ist sie nicht!“

„Was?!“ brauste der Director auf. „Willst Du etwa behaupten, daß ich Dich ungerecht behandle? Dann werde ich aus der Acht eine Vierzehn machen!“

„So hab’ ich’s nicht gemeint! Ich denk’ nur, wenn der Herr Direktor wüßt’, warum ich nicht hab’ ruhen können, so hätt’ ich die Kostentziehung nicht bekommen, eben grad’, weil ich ihn für gerecht und billig halt’! Als der Schuß gefallen ist, hat eine Kinderstimme gejammert und laut ‚Vater!‘ gerufen. Das ist grad’ wie der Ton von meinem Paul gewesen; es hat mich aufgeschreckt und in der Zell’ herumgetrieben, als ob er todtgeschossen wär’. Ich weiß, er ist’s nicht gewesen; denn wie sollt’ er von daheim her in den Graben kommen? Aber ich hab’ mir nicht helfen können und die Stimm’ vor dem Ohr gehabt bis jetzt zu diesem Augenblick.“

„Paul heißt Dein Sohn?“ Er nahm erst jetzt das vorliegende Actenheft zur Hand, um nach dem Namen der Nummer Hundertneunzig zu sehen. „Du heißt Fährmann und bist aus Oberdorf? So! Bestraft bist Du wohl noch nicht wegen eines Vergehens gegen die Hausordnung?“

„Nein, Herr Director. Ich will mir meine Lag’ nicht selber schwerer machen!“

„Daran thust Du klug!“ Seine Stimme hatte einen milderen, fast theilnehmenden Klang angenommen. „Und ebenso klug würde es sein, Dich nicht von einer Täuschung übermannen zu lassen. Ich will die Kostentziehung für diesmal wieder streichen; sieh’ aber zu, daß Du nicht wieder angezeigt wirst, und geh’ jetzt an Deine Arbeit!“

Er wurde abgeführt und durch eine Nebenpforte in den Graben gebracht, wo mehrere Genossen mit Arbeit an den Küchenpflanzen beschäftigt waren. Sie wurden von einem Militairpiquet bewacht, da die Zahl der Aufseher nicht zur Beaufsichtigung so kleiner Abtheilungen ausreichte.

Er trat mit ein und nahm die Hacke zur Hand. Aber bei allem Fleiße vermochte er nicht den Ruf loszuwerden, der ihm in die Ohren gellte, als sei der Schuß jetzt eben erst geschehen. Er befand sich wie im Fieber und hätte am liebsten fliehen und nach Hause gehen mögen, um sich zu überzeugen, daß seinem Kinde nichts geschehen sei.

Da wurde das Hauptthor geöffnet, und ein leichter Federwagen fuhr aus demselben hervor. Oben am Graben gingen Leute vorüber, die beim Anblicke des Wagens stehen blieben. Man konnte deutlich jedes Wort vernehmen, welches gesprochen wurde.

„Jetzt bringen sie das arme Kind,“ meinte Einer. „Es muß den Vater drin in der Anstalt haben!“

„Konnte denn der Posten nicht merken, daß es nur ein Knabe war?“

„Es ist finster gewesen; da kann man nicht genau unterscheiden. Er hat natürlich keinen geringen Schreck gehabt, kann aber nichts dafür, da er schießen mußte. Die Kunde von dem Unglücke war schon am frühen Morgen in der ganzen Stadt herum.“

Fährmann horchte auf. Also hatte er sich doch nicht getäuscht: ein Knabe war’s gewesen! Doch wem gehörte er?

Der Wagen schlug die Richtung nach der Straße ein, die nach Oberdorf führte. Es war Niemand zu sehen als der Kutscher und ein Aufseher, welcher auf dem Hintersitze Platz genommen hatte. Vor ihm lag ein Bett, und an der Seitenwand ragte der Lauf eines Gewehres empor. War es Wirklichkeit, oder täuschte ihn bloß seine aufgeregte Phantasie? Er glaubte, keine militairische Waffe, sondern die Flinte zu erkennen, welche er seinem Knaben geschenkt hatte. Es wurde ihm wirbelig vor den Augen, und er mußte das Piquet bitten, sich einen Augenblick niedersetzen zu dürfen.

Wie gern hätte er eine Frage ausgesprochen; doch es war bei Strafe verboten, über andere als Dienst- und Arbeitsangelegenheiten mit dem Soldaten zu reden. Diesem war der Gefangene nur ein Verbrecher, der die Strenge des Gesetzes zu empfinden hat; er fühlte sich daher nicht zur Theilnahme aufgelegt und forderte ihn baldigst auf, wieder an seine Arbeit zu gehen.

Als die Glocke das Zeichen zur Mittagsmahlzeit gab, wurde die Pforte geöffnet, und das Piquet lieferte die ihm Anvertrauten im Innern der Anstalt ab.

„Was hast Du für Strafe erhalten?“ begrüßte der Aufseher seinen Gefangenen. Er erhielt die dienstliche Benachrichtigung gewöhnlich erst am Nachmittage zugeschickt.

„Keine.“

„Wirklich keine? Da hast Du von einem Glücke zu reden!“

„Ich sollte Kostentziehung bekommen; aber der Herr Director hat sie wieder gestrichen, weil ich bisher noch keine Straf’ erhalten hab’ und weil — Herr Aufseher, wer ist heut’ Nacht geschossen worden?“

„Da fragst Du mich zu viel; ich kann Dir keine Antwort geben.“

„Nicht? Aber wenn ich Sie nun recht sehr dringlich bitt’?“

„Auch dann nicht!“

„Dürfen Sie bloß mir nicht antworten?“

„Nicht Dir allein, sondern jedem Gefangenen. Der Sicherheitsdienst ist ein verschwiegener, das mußt Du auch wissen, und darum wundere ich mich, daß Du überhaupt fragst.“

„So sagen Sie mir wenigstens, ob mich der Schuß wohl auch betroffen hat!“

„Dich? Wie kann er das? Er ist doch nicht auf Dich gerichtet worden. Geh’ jetzt in Deine Zelle und iß, das wird Dir nöthig sein; Du siehst ganz armselig aus!“

„Essen? Ich kann nicht; ich hab’ an eine andere Sach’ zu denken!“

Als sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, zog er den Strohsack herbei und warf sich auf das Lager, ohne den Napf, in welchem sich sein Mahl befand, nur anzusehen. Er war müde, so müde und zerschlagen, wie er sich in seinem ganzen Leben noch nicht gefühlt hatte, und doch zuckten seine Glieder unter einer Aufregung, die ihn wieder emporriß und in dem engen Raume umhertrieb.

„Herr Gott im Himmel, laß mich’s doch erfahren, wer’s gewesen ist! Todt ist er geschossen, denn wenn er verwundet wär’, so könnten sie ihn nicht forttransportiren. Es war seine Stimm’ und auch ganz genau die Kinderflint, die ich ihm damals gegeben hab’. Wer weiß wie’s ihm daheim ergeht, und da ist er weggegangen, um mich aufzufinden; er hat mich ja im Graben

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gesehen, als er an jenem Tag mit der Mutter vorüberging. Wenn er’s gewesen ist, so weiß ich wahrhaftig nicht, was ich thu’. Hier halt’ ich’s dann nimmer aus; ich muß ihn sehen, ehe sie ihn begraben, und nehme die Flucht, wo mich keine Mauer hält, kein Gitter, kein Graben und kein Piquet.“

Als er in den Hof kam, wo sich die Genossen versammelten, um wieder an den Ort ihrer Beschäftigung geführt zu werden, erkundigte er sich bei ihnen, ob sie vielleicht etwas Genaues über das nächtliche Vorkommniß erfahren hätten. Die Frage mußte heimlich ausgesprochen werden; sie erhielt keine befriedigende Antwort, denn die Direction hatte sich befleißigt, die Kunde von dem Sachverhalte nicht unter die Detinirten dringen zu lassen.

Der Mann, welchem als Piquet die Beaufsichtigung der Arbeiter für den Nachmittag anvertraut war, nahm sie von dem Aufseher in Empfang, ließ sie zu Paaren antreten, öffnete die Pforte und commandirte:

„Marsch, vorwärts!“

Er selbst ging mit geladenem Gewehre hinter ihnen her und gebot, als sie zur Stelle waren, ein gebieterisches „Halt!“

Er hatte sie vorgezählt erhalten, mußte sie zu gleicher Zahl wieder abliefern und beobachtete darum die Bewegung eines jeden Einzelnen mit aufmerksamem Blicke. Am öftersten ruhte sein Auge auf Nummer Hundertneunzig, wobei seine Miene einen Ausdruck deutlicher Verachtung und Gehässigkeit zeigte. Dem gewöhnlichen Manne mangelt die Bildung, welche sich zu der humanen Anschauung erhebt, daß das Vergehen die äußere Folge einer inneren, moralischen Krankheit sei, an welcher der Verbrecher selbst zuweilen die geringere Schuld trägt, die ihn aber auch im schlimmsten Falle nicht aus der Reihe der menschlichen Wesen scheidet und eher Mitleid als Verachtung erwecken sollte.

Der Gefangene hatte, als er ihn vorhin erblickte, das Auge bestürzt zu Boden geschlagen, und seine bleichen Wangen waren unter dem Gefühle der Scham bis an die Schläfe roth geworden. Er vermied es geflissentlich, ihn anzusehen, und hielt den Kopf so tief wie möglich zur Erde gebeugt. Sein geschwächter Zustand erlaubte ihm nicht, mit den Anderen gleichen Schritt zu halten. Der Soldat mußte ihm den guten Willen, das Gleiche zu leisten, anmerken, freute sich aber der Gelegenheit, seine Autorität geltend machen zu können.

„Ist das eine Faulheit bei dem Fährmann!“ raisonnirte er. „Mach’ vorwärts und bleib’ nicht so weit zurück, sonst schreib’ ich Dich ins Anzeigebuch!“

Der Getadelte antwortete nicht, gab sich aber Mühe, einem zweiten Verweise zu entgehen.

Es gelang ihm nicht.

„Nun, soll ich Dich eintragen oder willst Du nun endlich einmal arbeiten?“

Jetzt hob der Angeredete den Kopf und sah den Sprecher mit einem Blicke an, in welchem Vorwurf und Bitte zugleich lag.

„Ich bin krank gewesen, Hilbertfranz, und hab’ noch nicht die Kräfte wieder!“

„Was, Du nennst mich beim Namen? Ist Dir’s nicht gesagt worden, daß Du mich nur ‚Piquet‘ zu rufen hast? Das muß bestraft werden!“

Bei dieser Drohung wurde die Gestalt des Anderen um einige Zoll höher, und sein mattes Auge begann zu leuchten.

„Ich mach’s grad’ so wie Du! Du hast mich beim Namen gerufen und darfst nur die Nummer sagen. Zeig’ mich doch an, wenn Du denkst, daß Du Recht behältst, aber zum Fürchten bringst mich wohl nicht sogleich!“

„Das wird immer besser! Wer so unverschämt ist, das Piquet ‚Du‘ zu nennen, der wird arretirt. Ich werde das Signal geben, daß Du abgeholt wirst und in die Straflöcher kommst!“

„Mach’ Dich nicht groß, Hilbertfranz! Wenn Du den Rock weg thust, den wir respectiren müssen, weil er vom König ist, so bleibt nichts übrig, als ein Schustergesell’, der als der größte Lüdrian von Oberdorf bekannt ist. Und den soll ich ‚Sie‘ nennen, wie’s in der Hausordnung steht? Da mag der Herr Director uns doch einen Mann herstellen, den man ehren kann!“

„Gut, Du willst’s nicht anders haben!“

Ohne den zu Beaufsichtigenden den Rücken zuzukehren,

näherte er sich der Pforte, hinter welcher einer seiner Kameraden postirt war.

„Posten an der Pforte!“

„Hier!“

„Zwei Mann mit Unterofficier zur Arretur heraus!“

Während das Verlangen von Posten zu Posten weitergegeben wurde, um auf diese Weise in die Wachtstube zu gelangen, trat der Soldat wieder näher.

„Nun arbeite fort, bis sie kommen, sonst wird die Strafe doppelt!“

„Fällt mir jetzt gar nicht ein! Ich bin Corporal gewesen und kenn’ den Dienst so gut und noch besser, als so ein Schusterbub’, der noch in die Schul’ gegangen ist, als ich längst die goldne Litz’ am Kragen trug. Wirst wohl ganz nach Deinem Bruder, dem schönen Reiterkurt, gerathen!“

Das lange und widerstandslose Dulden hatte einen Grimm in ihm aufgehäuft, der jetzt zum vollen Ausbruche kam. Er sollte arretirt werden, und nun war es ihm gleich, ob die Strafe um Einiges größer wurde oder nicht.

Die Anderen freuten sich über seinen Muth, wagten aber nicht, ihre Theilnahme zu erkennen zu geben, sondern arbeiteten emsig weiter. Auch der Soldat hatte seinen Gleichmuth verloren.

„Schimpf’ immer auf ihn, Du Cassenfälscher Du; er hat Dir doch die Frau hinweg genommen. Morgen ist Hochzeit, und ich bin auch geladen! Willst nicht mit hinaus?“

Fährmann trat einen Schritt zurück. Er hatte die Frau, die ihm schon nach kurzer Ehe untreu wurde, längst aufgegeben; er mußte sie hassen und war ihrem Verlangen nach Scheidung mit keinem Worte entgegengetreten. Und doch machte die Nachricht, die darauf berechnet war, ihn tief zu kränken, einen nicht geringen Eindruck auf ihn. Er dachte an sein Kind, welches von so einem zweiten Vater sicherlich nichts Gutes zu erwarten hatte.

„Den Reiterkurt nimmt sie? Da greift sie selber nach der besten Straf’, die sie verdient! Doch aber mein Paul, mein armer, lieber Junge, wie wird’s dem nun ergehen!“

„Brauchst um ihn keine Angst zu haben, denn ihm kann Keiner mehr ’was thun. Er ist heut’ Nacht im Graben hier erschossen worden!“

Es war eine niederträchtige Lüge, welche der Mann hier aussprach. Er hatte Pflicht und Instruction vollständig vergessen und nur dem Privathasse Raum gegeben. Seine Absicht, den Gefangenen aufs Tiefste zu verletzen, brachte eine Wirkung hervor, die ihm selbst zum größten Schaden gereichte.

„Erschossen! Also doch?“ rang es sich stockend zwischen den bebenden Lippen hervor. „O, Du mein lieber Gott, was hab’ ich denn verbrochen, daß Du mich immer härter schlägst?“

Da ertönten aus dem Innern des Gefängnißhofes laute, tactmäßige Schritte über die Mauer herüber; der zur Arretur gerufene Unterofficier nahte mit seinen Leuten.

Der Schreck wich aus Fährmann’s Gesicht; das Geräusch des klirrenden Schlüssels schien ihn elektrisch zu durchzucken; er war mit einem Schlage ein vollständig Anderer.

„Grüß’ mir das Strafloch, Schusterbursch’, wenn Du an meiner Stell’ hineinkommst!“ klang es mit plötzlicher Entschlossenheit. Ein rascher Griff, und er hatte dem Soldaten das Gewehr aus der Hand gerissen; im nächsten Augenblicke war er schon weit entfernt und sprang mit weiten Sätzen bereits die Böschung hinan, als die drei Leute durch die geöffnete Pforte traten.

„Ein Mann auf der Flucht!“ rief ihnen das entwaffnete Piquet entgegen und zeigte mit der Hand nach dem Fliehenden.

Der Unterofficier überblickte schnell die Situation.

„Halt, — Gewehr an, — gebt Feuer!“ commandirte er.

Er zog die eigene Waffe in die Höhe.

Drei Schüsse krachten; keiner traf.

„Posten an der Pforte!“

„Hier!“

„Ein Gefangener entflohen, — Mannschaft zur Verfolgung. Drei Mann zur Arretur des Piquets!“

Schon hatten seine beiden Begleiter ihm die hinderlichen Gewehre übergeben, um der flüchtigen Nummer Hundertneunzig nach zu springen; wenige Augenblicke später quoll aus der Pforte die sämmtliche reserve Wachtmannschaft, durcheilte auf einen gegebenen

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Wink den queren Graben, kletterte, ohne den Umweg nach der Böschung zu machen, an der Mauer empor und schlug im schnellsten Laufe die Richtung nach Oberdorf ein, in welcher, schon weit entfernt, die Gestalt Fährmann’s noch zu erkennen war.

Nun krachte auch der übliche Böllerschuß, um die Bewohner der Umgegend auf das Geschehene aufmerksam zu machen, und zu gleicher Zeit langten die drei Arrestaten an. Einer von

ihnen wurde zur Ablösung des Piquetmannes verwendet; die anderen Beiden nahmen den Letzteren zwischen sich und verschwanden, von dem Unterofficier gefolgt, hinter der Pforte.

Das Kind hatte den Vater befreien wollen und trotz des nächtlichen Schusses seinen Zweck erreicht; der Ersehnte hatte seine Banden gesprengt und war dem jammernden Rufe gefolgt.

(Schluß folgt.)

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Des Kindes Ruf.

Eine Geschichte aus dem Erzgebirge von Karl May.

(Schluß.)

III.

Im Fährmannshofe, der von morgen an das Hilbertgut genannt werden sollte, ging es schon während der Dämmerung gar lustig her. Er war ja heute Polterabend, an welchem sich die Nachbarn und Bekannten das Vergnügen zu machen pflegen, all’ ihren Vorrath an altem, unbrauchbarem Topfgeschirr an der Thür des Hochzeitshauses zu zerbrechen.

Die Knechte hielten sich zur lustigen Abwehr bereit und trieben dabei mit den Mägden und dem sonstigen Besuche allerlei neckische Kurzweil. In der guten Stube aber saß das Brautpaar und hielt ein ernstes Zwiegespräch. Die Bäuerin hatte jetzt Zeit dazu; die meiste Arbeit war gethan, und was noch übrig blieb, das konnte sie dem Gesinde überlassen.

Sie befand sich in einer nicht sehr rosigen Laune, und das hatte seinen triftigen Grund! Die Abneigung, welche sie gegen ihren ersten Mann empfand, war auch auf dessen Kind übergegangen, ein Fall, der, so unnatürlich er erscheint, leider kein vereinzelter genannt werden kann, und hatte eine Vernachlässigung des armen Knaben zur Folge, die von jedem achtbaren Dorfbewohner mit dem größten Mißfallen bemerkt und auch besprochen wurde. Niemand aber hatte sich zur Einmischung berufen gefühlt, und selbst die brave Lindenbäuerin, welche wegen einer heimlichen Zuneigung für Fährmann unverheirathet geblieben war, hatte sich nur unter der Hand des Knaben angenommen und die Ausführung ihres Entschlusses, ihn durch das Vormundschaftsgericht sich zusprechen zu lassen, aus weiblicher Verzagtheit von einer Zeit zur anderen hinausgeschoben. Der heutige Tag aber hatte dieser Unentschlossenheit ein schnelles Ende bereitet.

Die Abwesenheit Paul’s war, da er unter keiner besonderen Aufsicht stand und sich Niemand groß um ihn zu bekümmern pflegte, nicht eher bemerkt worden, als bis der Wagen, der ihn von seiner Befreiungsfahrt zurückbrachte, vor dem Thore hielt. Die Kugel hatte ihn nur leicht am Kopfe gestreift, so daß für

sein Leben nicht das Geringste zu befürchten war; aber der begleitende Aufseher hatte sich seines Auftrages, der nachlässigen Mutter streng zu begegnen, so gut entledigt, daß ihr die selige Hochzeitsstimmung vollständig verloren gegangen war.

Die Kunde von dem Abenteuer des unternehmenden Kindes hatte sich schnell im Dorfe verbreitet, und vor noch nicht langer Zeit war die Lindenbäuerin in Begleitung des Richters gekommen, um es provisorisch zu sich zu nehmen, da zur eigentlichen Entscheidung erst noch weiter berichtet werden mußte.

Das war ein harter Schlag für die Frau vom Fährmannshofe gewesen. Ihr Mutterherz allerdings fühlte sich nicht im Geringsten verletzt, aber ihr Stolz war gedemüthigt und ihre vermeintliche Ehre gekränkt, — darum saß sie jetzt kalt und zornig an der Seite des liebeglühenden Bräutigams und wollte sich über den ihr widerfahrenen Schimpf nicht trösten lassen.

„Wer ist denn schuld, daß er fortgelaufen ist? Nicht ich, sondern Du!“ warf sie ihm vor. „Du hast ihn geschlagen, daß mir himmelangst geworden ist! So ein Kind ist doch kein Pferd, mit dem Ihr Reiter umspringen könnt, wie’s Euch beliebt!“

„Du hast mir ja befohlen, daß ich ihn hauen soll, und ich hab’ noch nie vernommen, daß die Schläg’ mit der Goldwag’ abgemessen werden müssen! Und bin ich etwa nicht gleich fertig gewesen, als Du mir Einhalt thatest? Laß doch den Buben sein! Es ist ganz schön, daß wir ihn losgeworden sind.“

„Das mein’ ich auch, wenn’s nur auf eine andere Art geschehen wär’, und grad’ zum Poltertag! Nun hab’ ich das Gered’ im Dorf und möcht’ mich vor gar Niemand blicken lassen.“

„Das macht mir keine Sorg’. Wir bleiben dennoch, wer wir sind! Hast Dich nicht gescheut, vom Mann hinwegzukommen, so brauchst Dich auch nun jetzt bei seinem Buben nicht zu ärgern!“

Er hätte wohl seinen Versuch, sie zu besänftigen, weiter fortgesetzt, aber im Hofe ertönte Pferdegetrappel, und gleich darauf kam die Magd und meldete bestürzt:

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„Bäurin, Ihr sollt schnell herunterkommen; es ist ein — Gendarm da!“

„Ein Gendarm?“

„Ja, und noch dazu ein reitender!“

„Was mag der wollen? Ist’s auch richtig, daß er den Fährmannshof sucht?“

„Ja.“

„So sag’, ich komm’ gleich! Gehst doch mit, Kurt?“

„Ich? Was soll denn ich dabei? Er hat doch nach Dir und nicht nach mir gefragt!“

„Aber ich fürcht’ mich allein! Du wirst der Bauer und mußt mit!“

Nur mit Widerstreben folgte er ihr. Er trug, obgleich er um den Abschied eingekommen war und denselben alle Stunden erwartete, die dralle Uniform mit großer Ostentation zur Schau. Auch fehlte es ihm nicht an persönlichem Muthe, das hatte er auf manchem Tanzsaale bewiesen; jetzt aber sah er nichts weniger als nach großen Heldenthaten aus und blieb beinahe verlegen an der Thür stehen, als sie unten eingetreten waren. Der Sicherheitsbeamte erwartete sie mitten in der Stube. Die Anwesenden saßen kleinlaut auf ihren Plätzen und harrten ängstlich der Dinge, die da kommen würden.

„Sie sind die Frau vom Hause hier?“ war seine erste Frage.

„Ja.“

„Ihr Mann ist abwesend?“

„Mein Mann? Ich bin geschieden!“

„Ach so! Wer ist der Herr in Uniform?“

„Das — das ist mein Bräutigam.“

„Ich gratulire!“ Er sah sich in der Stube um und bemerkte die festlichen Vorbereitungen. „So haben Sie wohl gar Hochzeit?“

„Morgen.“

„Das dürfte allerdings die Sache ändern! Wann haben Sie Ihren ersten Mann zum letzten Male gesehen?“

„Als er — fortgeführt wurde!“

„Seitdem nicht wieder?“

„Nein.“

„Auch heut’ nicht?“

„Nein,“ antwortete sie erstaunt.

„Sie haben einen Knaben?“

„Ja.“

„Wo befindet er sich?“

„Auf dem Lindenhofe.“

„Warum?“

„Weil ihn die Bäurin als Kind annehmen will.“

Er nickte leise, als erkenne er die Wahrheit eines Gedankens, der ihm gekommen war.

„Ihr Mann ist heut’ aus der Gefangenschaft entsprungen; es ist sehr leicht möglich, daß er Sie aufsuchen will, und ich werde daher Ihr Gut besetzen lassen. Wer sich gegenwärtig in demselben befindet, darf es nicht eher wieder verlassen, als bis ich die ausdrückliche Erlaubniß dazu ertheile. Sie haben wohl für mein Pferd einen Platz im Stalle? Lassen Sie es vom Knechte besorgen!“

Ohne sich um den gewaltigen Eindruck, welchen seine Worte machten, zu bekümmern, schritt er nach der Thür. Sein Blick fiel schärfer in das Gesicht des Husaren; er blieb vor ihm stehen.

„Mir ist, als hätten wir uns schon einmal gesprochen?“

„Ja, Herr Obergendarm.“

„Wo und wann ist das gewesen?“

„Vor einem Jahre in der Stadt. Ich hab’ — die Anzeige — über den — Fährmannbauer gemacht!“

Der Beamte schien sich zu besinnen.

„Richtig! Ich war damals noch Brigadier. Wurden Sie nicht in derselben Angelegenheit auch als Zeuge vernommen? Es handelte sich, glaube ich, um Cassenscheine, deren Nummer eingetragen war?“

„Ja,“ antwortete er immer verlegener.

„Der Fall war interessant, ist mir aber nicht mehr so genau gegenwärtig. Wie waren Sie denn eigentlich in den Besitz des Geldes gekommen?“

Diese Frage, ganz unverfänglich ausgesprochen, trieb in das

Gesicht des Husaren eine dunkle Blutwoge, um es dann desto blässer erscheinen zu lassen. Der Gendarm mußte diesen Eindruck, welchen seine Worte machten, bemerken.

„Wie — soll ich denn dazugekommen sein? Er hat mir’s — geborgt!“

„Ja, ja, jetzt fällt es mir ein! Und jetzt sind Sie der Bräutigam seiner Frau? So, so; ich gratulire nochmals!“

Er übergab draußen sein Pferd dem Knechte und verließ dann den Hof. Die ebenso ungewöhnliche, wie scheinbar unbegründete Verlegenheit des Soldaten war seinem geübten Blicke aufgefallen; doch konnte er den Gedanken, welche sich sofort zu einem Bilde compliciren wollten, nicht Raum geben, — er war anderweit zu sehr in Anspruch genommen. Auf der Straße warteten mehrere Untergebene auf ihn; er instruirte sie und ließ sich dann von einem ihm begegnenden Dorfbewohner nach dem Lindenhofe führen.

Er traf die Bäuerin nicht zu Hause. Sie war noch spät zum Nachbardorfe gegangen, wo eine Bekannte von ihr eine heilsame Wundsalbe besaß, die gar trefflich war für alle Verletzungen und äußere Schäden. Von dieser wollte sie holen und Paul auflegen, damit sie ihm den Schmerz lindere.

Obgleich sie sich gesputet hatte, brach doch bereits die Nacht herein, als sie den Rückweg antrat. Ein großer Theil desselben führte durch den Wald; doch fürchtete sie sich nicht, da sie ein gutes Mittel wußte, die Angst zu vertreiben: sie sang nach dem Tacte ihrer Schritte halblaut vor sich hin, — das fesselt die Phantasie und läßt sie auf nächtliche Täuschungen weniger achten. Ihre Stimme war als eine der besten im Orte bekannt, und sie hatte mit dem Vater Paul’s in früherer Zeit gar manche schöne Kirchenarie vom Chore herab gesungen. Jetzt fiel ihr sein Lieblingslied ein; sie summte es und dachte dabei, wie schön es sein würde, wenn die alten Tage wiederkehren könnten, in denen er die Frau noch nicht lieb hatte, die ihn nur wegen seiner blanken Knöpfe nahm und dann, als er den Militairrock auszog, nicht mehr leiden konnte.

Plötzlich blieb sie stehen. Es war ihr, als hätte Jemand ihren Namen ausgesprochen, gerade so, wie Der, an den sie dachte, der sich oft hinter den Zaun oder in den Busch gesteckt und sie mit heller Stimme gerufen hatte, um sie zu überraschen.

„Minna!“

Jetzt hörte sie das Wort deutlich. Es befand sich also wirklich Jemand hinter den Sträuchern, und es wurde ihr plötzlich so bange, daß sie fliehen wollte.

„Bleib’ steh’n, Minna, und sag’, bist’s, oder bist’s nicht!“

„Guter Heiland, das klingt ja grad’ wie — ja, ich bin’s! Wer ist denn da?“

„Erschrick nicht, Minna, der Eduard ist’s!“ antwortete es, indem der Sprecher näher trat.

„Bleib’ steh’n, — ich glaub’ es nicht, — es ist nicht möglich!“

„Und doch ist’s möglich, — hör’ mich nur an! Ich bin aus der Gefangenschaft entsprungen! Wißt Ihr’s noch nicht im Dorf?“

Sie faltete vor Schreck ihre Hände ineinander und antwortete mit vorsichtig gedämpfter Stimme:

„Kein Sterbenswort hab’ ich gewußt. Ach Gott, Eduard, was hast da gethan!“

„Ich hab’ nicht anders gekonnt! Sie haben mir den Paul erschossen, und da bin ich fort, um ihn noch einmal zu seh’n.“

„Erschossen? Das ist ja gar nicht wahr! Die Kugel hat ihm nur die Haut berührt und ein paar Haare mitgenommen.“

„Ist’s wahr, Minna? Ist’s gewiß auch wahr, was Du mir sagst?“ fragte er mit vor Freude lauter Stimme.

„Freilich ist’s wahr; ich werd’ doch Dir keine Lüg’ sagen! Schau hier die Salb’; die würd’ ich doch nicht für ihn holen, wenn er zu Tod’ getroffen wär’!“

„Für ihn bist fort gewesen, Minna, — für mein Kind? Sag’, wo ist er zu finden? Ich muß ihn seh’n!“

„Bei mir im Lindenhof. Die Mutter sitzt bei ihm und sorgt für seine Pfleg’, bis ich zurückgekehrt bin.“

„Was meinst für eine Mutter? Du hast ja keine mehr!“

„Die Deinige. Deine Frau hat sie aus dem Haus gejagt, drum wohnt sie nun bei mir.“

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Er ergriff ihre Hände und drückte sie an seine Brust.

„Du gute, liebe Seel’, wie soll ich Dir es danken! Und den Paul hast auch zu Dir genommen?“

„Seit heut’ nur erst; aber ich geb’ ihn nimmer wieder her, bist Du selber ihn verlangst.“

„So weiß ich ihn in guten Händen! Lindenbäurin, ich hab’ Dich gar zu gern gehabt, aber ich wollt’ mich nicht an Dich getrauen, weil ich zu arm gewesen bin. Da ist die Andere gekommen und hat sich mit Fleiß mir an den Hals geworfen; sie ist schön, und ich hab’ geglaubt, daß ich sie lieben kann. O, wärst doch Du an ihrer Stell’ gewesen!“

„So hast sie nicht mehr lieb, Eduard?“

„Schon längst nicht mehr; sie ist auch schuld, daß ich im Zuchthaus bin; denn ohne ihr hätt’ ich dem Reiterkurt nicht das Geld geborgt, worauf man meine Schuld begründet. Minna, Du bist so gut, so seelensgut, — thu’ mir nun auch die Lieb’ und glaub’, daß ich unschuldig bin!“

„Ich glaub’s!“ antwortete sie einfach. „Aber wie ist’s nur zugegangen, daß Du verurtheilt bist?“

„Das weiß ich auch nicht! Ich hab’ dem Kurt fünfzig Thaler geliehen von meinem eigenen Geld, und einige Tage darauf ist der Brigadier gekommen mit dem Director von der Gesellschaft, um die Cass’ zu untersuchen. Da haben achthundert Thaler gefehlt, die im Buch zu wenig eingetragen sind, und das Geld, welches der Kurt bekommen hat, ist grad’ von dem gewesen, welches fehlt. Wie das zugegangen ist, das kann ich nicht begreifen! Ich darf mich auch gar nicht hineindenken, sonst geht mir der Verstand verloren! Ach, Minna, ich wollt’, ich wär’ gleich todt!“

„Sprich nicht so, Eduard. Der liebe Gott wird’s schon noch an den Tag ziehen! Aber sag’, was jetzt nun werden soll?“

„Jetzt will ich ins Dorf zum Paul, und dann kehr’ ich freiwillig ins Zuchthaus zurück!“

Er nahm sie bei der Hand und zog sie vorwärts. Sie hatten sich so viel zu fragen und zu sagen, daß sie wenig oder gar nicht an die gegenwärtige Gefahr dachten und den Schritt erst anhielten, als sie den Rand des Waldes erreichten.

„Hier muß geschieden sein, Minna. Das Dorf ist ganz gewiß mit Soldaten und Polizei umstellt. Am besten ist der Fährmannshof besetzt und auch der Deinige, weil sie meinen, daß mich der Paul hinziehen werd’. Ich würd’ mich freiwillig gleich gefangen geben, wenn ich wüßt’, daß sie mich ihn erst sehen lassen. Aber das thun sie nicht, und so werd’ ich mich in den Lindenhof schleichen.“

„Eduard, thu’s lieber nicht. Sie werden Dich er schießen!“

„Mich treffen sie nicht! Und wenn auch; um den Zuchthausfährmann wird kein Aug’ mehr roth!“

„Glaub’s nicht, glaub’s nicht. Du thust sonst eine Sünd’! Deine Mutter hat so um Dich geweint, daß sie bald nichts mehr sehen kann, und ich — ich — ich —“

„Nun, Du? Sag’s, Minna!“

„Ich könnt’ mich gar nie trösten!“

„Ist’s wahr?“

„Ja. Trag’ Deine Straf’, Eduard, wenn Du auch unschuldig bist! Und nachher kommst Du zu mir. Wenn Alle Dich verlassen, — in meinem Haus bist stets willkommen!“

Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. Es wurde kein Wort gesprochen; der Augenblick war zu selig und zu heilig für die gewöhnliche Rede. Endlich schob er langsam ihr Köpfchen von sich ab.

„Geh’ jetzt, Minna, geh’; ich komm’ bald nach.“

„Sie schießen!“ erwiderte sie angstvoll.

„Nein, denn sie werden mich gar nicht seh’n. Ich kenn’ den Hof und weiß die Schlich’, die ich zu brauchen hab’. Wo liegt der Paul?“

„In der Stub’ bei meiner Kammer. Du wirst’s am Licht erkennen.“

„So mach’ den Vorhang herab, sobald im Haus der Weg frei ist. Das Uebrige ist meine Sach’. Nun geh’!“

Sie ließ ihn mit schwerem Herzen allein; aber sie mußte ihm gehorchen. Er wartete, bis er ihre Schritte nicht mehr hörte, und näherte sich dann mit der angestrengtesten Vorsicht dem Dorfe.

Die Wege waren besetzt, das merkte er schon nach kurzer Zeit; er wendete sich daher querfeldein und erreichte auch wirklich unbemerkt den zum Lindenhofe gehörigen Garten. Jenseits des Zaunes stand ein kleines Häuschen; die Eltern des Reiterkurt hatten es vor ungefähr Jahresfrist gekauft, ohne daß man so recht gewußt hätte, woher ihnen das Geld gekommen war. Sie befanden sich heute mit auf dem Fährmannshofe, und darum war kein Licht zu bemerken, obgleich die nach hinten gehenden kleinen Fenster keine Läden hatten.

Der Flüchtling mußte diesseits des Zaunes an ihm vorüber. Er legte sich zur Erde und kroch langsam vorwärts. Da vernahm er von der Straße her eilige, aber leise Schritte; ein Schlüssel wurde in die Hausthür gesteckt, und nach kaum einer Minute war die enge Wohnstube von einer Lampe nothdürftig erhellt, so daß man sie vom Garten aus genügend überblicken konnte.

Der Reiterkurt war eingetreten. Er hatte, um sich unkenntlich zu machen, die Uniform mit Civilkleidern vertauscht und schien große Eile zu haben. Ohne das unverhüllte Fenster zu beachten, trat er zu der alten Wanduhr, hob eines ihrer riesigen Gewichte aus und kehrte mit demselben zum Tische zurück. Es bestand aus einem hohlen Blechcylinder und war mit Blei- und Eisenstücken angefüllt. Er schüttete es vor der Lampe aus; ein kleines Päckchen, welches sich ganz unten befunden hatte, kam zum Vorscheine; er wand den Faden ab und wickelte es auf.

Der Zaun war von dem Häuschen kaum vier Fuß entfernt; der Zwischenraum wurde nur zur Anhäufung des für den Winter eingesammelten Brennholzes benutzt. Fährmann mußte wissen, welche Heimlichkeit den Bräutigam seiner ehemaligen Frau so allein und eilig aus dem Hochzeitshause fortgetrieben hatte, und stand schon im Begriffe, sich über den Zaun hinüber zu beugen, obgleich er sich dadurch dem verrätherischen Lichtscheine preisgeben mußte, als er überrascht wieder zurückwich. Er hatte gesehen, daß sich hinter dem Reiterkurt die Thür bewegte. Sie wurde langsam aufgezogen, und in der Oeffnung erschien eine glänzende Uniform.

Der Obergendarm war’s. Vom Lindenhofe zurückkehrend, hatte er einige Minuten recognoscirend in der Nähe gestanden und den Mann bemerkt, der so behend und vorsichtig hinter dem Dorfe heraufgekommen war. Verdacht schöpfend, folgte er ihm, trat in das jetzt offene Haus und stand nun hart hinter ihm, mit neugierigem Blicke jeder seiner Bewegungen folgend.

Das Packet war geöffnet; es enthielt eine Anzahl Cassenscheine und einen Schlüssel mit alterthümlich geformtem Handtheile. Bei diesem Anblicke traten die Gedanken von vorhin wieder vor die Seele des Beamten, und mit einem raschen Griffe hielt er die Gegenstände in seiner Hand.

„Der Herr Bräutigam hat es ja mit recht sonderbaren Uhrgewichten zu thun! Wie kommen Sie in diese Kleidung und hierher, da ich doch befohlen habe, daß Niemand Ihren Hof verlassen soll?“

Fährmann hörte diese Worte und hatte ebenso deutlich den Schlüssel erkannt. Seine gefahrvolle Lage war vergessen; er schwang sich über den Zaun, eilte um die Ecke des Hauses und trat ein. Er kam gerade zur rechten Zeit. Der Husar hatte sich auf den Gendarm geworfen und diesen, dem der Degen im Wege war und dessen Sporen sich in der alten Stubendecke verwickelten, zur Erde gerissen. Er kniete auf ihm, hielt ihn mit der Linken bei der Kehle gefaßt und langte mit der Rechten nach dem nahestehenden Ofen, an welchem ein Beil lehnte. Das war so schnell gegangen, daß keiner von Beiden einen Laut von sich gegeben hatte.

Auch der Flüchtling sprach kein Wort; er hätte in diesem Augenblicke die Stärke eines Simson entwickeln können, faßte den Verführer seines Weibes beim Nacken, riß ihn hintenüber und hielt ihn fest, bis der Beamte sich erhoben hatte. Als dieser die Anstaltskleidung erkannte, schien er einen Moment lang vollständig verblüfft, begriff die Scene dann aber desto schneller, zog eine Schnur aus der Tasche und fesselte mit Hilfe seines Retters den übermannten Gegner. Dann schob er rasch den Riegel vor die Thür und fragte:

„Sie sind Nummer Hundertneunzig, oder vielmehr der Oekonom Fährmann von hier?“

„Ja.“

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„Sie sind mein Gefangener!“

„Ich hab’ nichts mehr dagegen, weil ich bald ganz frei sein werd’; denn jetzt kann ich beweisen, daß ich unschuldig verurtheilt bin!“

„Wieso?“

„Das ist mein Geldschrankschlüssel, der hier in der Stub’ liegt; ich dacht’, ich hätt’ ihn verloren, aber nun seh’ ich, daß der Reiterkurt ihn mir gestohlen hat und das Papiergeld dazu. Darf ich die Nummern seh’n?“

Der Beamte nahm die ihm während des Kampfes entfallenen Cassenscheine von der Diele auf, warf einen eigenthümlich forschenden Blick auf ihn und las dann die Nummern vor.

„Sie sind’s! Sie folgen nach der Reihe und sind mir bei der Verhandlung vorgelesen worden. Nun weiß ich Alles, wie’s gegangen ist! Der Kurt ist in meinen Schrank gegangen, hat im Buch meine Ziffern umgewandelt und die Summ’, die ich ihm geliehen hab’, in dem gestohlenen Geld vorgezeigt. So hat er mich aufs Zuchthaus und von der Frau gebracht und wär’ beinah’ noch der reichste Bauer im Dorf geworden! Sag’s, Spitzbub’, ist es so? Hier kann kein Leugnen retten!“

Der Gefragte antwortete nicht; er war von dem plötzlichen Wechsel seines Schicksales vollständig betäubt. Der Gendarm öffnete das Fenster und stieß einen lauten schrillen Pfiff aus, dann fragte er:

„Sie sind entsprungen, um Ihr Kind zu sehen?“

„Nur allein deswegen!“

„Ich habe nicht über Sie zu entscheiden und muß Sie nach dem Kleide behandeln, welches Sie tragen. Aber Sie haben mir einen großen Dienst geleistet, den ich Ihnen nicht vergessen werde. Ich bringe Sie nach der Anstalt zurück, gebe Ihnen aber die Erlaubniß, bei Ihrem Knaben sein zu können, bis ich hier meine Pflicht gethan habe. — Ja, meine Herren,“ wendete er sich zu den eintretenden Untergebenen, „zwei Fliegen mit einem Schlage. Die eine halten wir fest, die andere aber werden wir in Kurzem vielleicht wieder freigeben müssen!“

Nachdem er ihnen eine flüsternde Erklärung gegeben hatte, wendete er sich wieder zu Fährmann.

„Gehen Sie jetzt mit diesem Herrn! Ich bin überzeugt daß wir Sie nicht zu fesseln brauchen. Sie können mit den Bewohnern des Lindenhofes ungenirt verkehren, doch wird Ihr Begleiter nicht von Ihrer Seite weichen!“

Als die Beiden bei der Lindenbäuerin eintraten, erschrak sie

auf das Heftigste; doch gab ihr das Verhalten Fährmann’s bald die volle Ruhe wieder.

„Minna, hör’, der Reiterkurt ist’s gewesen, der mein Geld gestohlen hat! Ich hab’ ihn jetzt mit gefangen genommen und werd’ in kurzer Zeit frei sein! Grüß Gott, Mutter!“

Er drückte sie Beide an sein froh bewegtes Herz und eilte dann zu seinem Knaben. Dieser saß wach im Bette und hatte seine große Flinte vor sich liegen.

„Vater,“ rief er jubelnd, als er ihn erblickte, und streckte ihm die beiden Aermchen entgegen, „Vater, mein lieber Vater, bist wieder da?“

„Ja, da bin ich und geh’ nur einmal noch ein ganz klein wenig fort!“

„Hast’s wohl gehört, daß ich Dich gerufen hab’?“

„Freilich hab’ ich’s vernommen! Thut Dir Dein Kopf sehr weh’?“

„Nein, jetzt nicht mehr. Die Minna hat mir Salb’ aufgelegt. Sie ist so gut, viel besser als die Mutter. Sie soll meine Mutter sein; sie hat mich schon gefragt, ob ich sie will!“

Die glücklichen Leute hatten vollständig Zeit, sich auszusprechen; denn es vergingen mehrere Stunden, ehe der Obergendarm erschien. Er betrachtete die Gruppe mit teilnehmendem Blicke.

„Fährmann,“ meinte er, „jetzt bin ich überzeugt, daß Sie unschuldig sind. Der Husar hat Alles eingestanden. Er hat Sie auf das Zuchthaus bringen wollen, damit Ihre Frau einen Scheidegrund habe. Er hat ohne Ihr Wissen auf dem Hofe Zutritt gehabt, den Schlüssel weggenommen, später die achthundert Thaler gestohlen und während Ihrer Abwesenheit im Buche aus einer Fünf eine Drei, und aus einer Sieben eine Eins gemacht, so daß die Acht herausgekommen ist. Ich war mit ihm im Fährmannshofe und auch beim jetzigen Cassirer. Das Buch ist noch vorhanden; er hat die Radirung als sein Werk anerkannt und befindet sich schon nach dem Gefängnisse unterwegs. Auch Sie werden jetzt aufbrechen; doch will ich dafür sorgen, daß es nicht auf lange ist!“ —

Die Anstaltsglocke gab das Zeichen, daß die Gefangenen sich zu erheben hatten, als in früher Morgenstunde der Flüchtling wieder eingeliefert wurde. Und wer heute nach Oberdorf kommt und den reichen Lindenbauer fragt, der kann erfahren, daß er schon am Abende wieder daheim gewesen ist bei seinem Knaben, dem er die Freiheit zu verdanken hat.