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Wanda

Novelle von Karl May.

Linie-1
H. G. Münchmeyer, Dresden-Niedersedlitz.
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Zierstück-2a

Uebersetzungsrecht vorbehalten.— Nachdruck verboten.

Zierstück-2b

Druck von H. G. Münchmeyer, Dresden-Niedersedlitz.

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I. Die Auktion.

Unter allen Gesellschaften der Stadt war ‚die Erheiterung‘ die beliebteste. Zwar gehörten ihre Mitglieder ohne Ausnahme dem gewöhnlichen Handwerkerstande an; aber bei all ihren Zusammenkünften und Vergnügungen herrschten anständiger Ton und löbliche Sitte, und da die dem einfachen Bürgersmanne mehr als dem Höhergestellten eigentümliche Gemütlichkeit ihre Anziehungskraft auch nach oben äußert, so ließen sich sogar die Honoratioren der Stadt gern und öfters herbei, in dem Kreise der jungen, munteren Leute zu erscheinen und sich von ihnen unterhalten zu lassen.

Hochgespannte, in lederne Etiquette gekleidete Ansprüche durfte man freilich nicht mitbringen und noch weniger zu irgend einem kernlustigen Einfalle mit schulmeisterlicher Pedanterie den Kopf schütteln. Wer kam, der mußte mitmachen, und wer nicht einstimmte, der erhielt ohne weiteres sein Entree zurück und durfte gehen. Und gerade dieses energische Ausscheiden aller störenden Elemente hatte dem Verein seine Beliebtheit erworben, sicherte ihm die Teilnahme der Verständigen und machte sein Lokal zum Versammlungsorte all derer, welche den Staub der Arbeit oder den Zwang belästigender Formen einmal abschütteln und fröhliche Menschen sein wollten.

Heute nun feierte ‚die Erheiterung‘ ihr Stiftungsfest, und zahlreiche Einladungen waren ausgeschrieben und auch angenommen worden. Sogar der Herr Polizeirat hatte zugesagt und um die Erlaubnis gebeten, seinen hohen Gast, den Herrn Baron von Säumen, mitbringen zu dürfen. Dieser letztere hatte einen langjährigen Aufenthalt in Italien gehabt und war nach dem kürzlich erfolgten Tode seines Vaters in die Heimat zurückgekehrt, um sein Erbe anzutreten. Der letzte Wille des Verstorbenen hatte ihn einem Fräulein von Chlowicki verlobt, welche mit seiner Mutter eine der in der Nähe der Stadt gelegenen Villen bewohnte; er war deshalb nach erfolgter Erbschaftsregulierung gekommen, um die junge Dame, die er vorher noch nie gesehen, kennen zu lernen, und hatte bei dem Polizeirat, einem alten pensionierten Sicherheitsbeamten, der in einer Art von Verwandtschaft zu ihm stand, gastliche Aufnahme gefunden.

Frau von Chlowicki war nach der Aussage der wenigen Personen, denen die seltene Gunst ihres Anblickes zuteil geworden, eine alte, kränkliche, unausstehlich hochmütige Dame, deren einzige Beschäftigung in dem Studium der Vorrechte ihres Standes bestand. Zur Abwechslung peinigte sie die Dienstboten, beklagte den immer mehr an den Tag tretenden Verfall des Adels und räsonnierte über ihre Stieftochter, deren Erziehung sie, obgleich sie dieselbe in höchst eigener Person geleitet hatte, eine durchaus verkehrte und verfehlte nannte. Sie verließ nur äußerst selten ihre Wohnung, und deshalb -

deshalb gab es in der Stadt nur wenige Personen, welche sich rühmen konnten, sie gesehen zu haben.

Eine desto öfter gesehene Erscheinung war die Tochter, Fräulein Wanda, oder, wie sie allgemein genannt wurde, die wilde Polin.

Als sie vor mehreren Jahren die Residenz mit ihrem jetzigen Aufenthaltsorte vertauscht hatte, war eine rasch um sich greifende Epidemie unter der jungen Männerwelt der Stadt ausgebrochen, welche der alte bißfertige Doktor Kühne mit dem Namen Wandamanie bezeichnet hatte. Da aber das schöne Mädchen auch nicht die geringste Notiz von dieser höchst interessanten Krankheitsform nahm und selbst die hoffnungslos Darniederliegenden vollständig und konsequent ignorierte, so verwandelte sich der Paroxismus nach und nach in ein Toggenburgisches Schmachten in die Ferne, und Wanda war Königin, ohne daß es einer ihrer Unterthanen gewagt hätte, ihr eine offizielle Huldigung darzubringen.

Von der Natur mit den herrlichsten Gaben ausgestattet, glänzte sie als leuchtendes aber unberechenbares Phänomen am gesellschaftlichen Himmel. Während andere ruhig ihre Bahnen wandelten, flimmerte sie in den verschiedensten Lichtern, zuckte blitzähnlich von einem Punkte zum anderen, warf oft die ganze Planetenstellung über den Haufen und hätte auch den kaltblütigsten Astronomen zur Verzweiflung bringen können. Für sie gab es keine dehorsielle Unmöglichkeit. Sie ritt wie ein Husarenleutnant, schoß mit den Jägerburschen um die Wette, betrat ganz unerwartet den Fechtboden und

trieb mit dem Schläger in dem kleinen, weißen Fäustchen jedmänniglich in die Enge. Sie fuhr mit Vieren im sausenden Galopp über Heide und Stoppel, durch dick und dünn, erschien bei Tagesgrauen, wenn die ehrbaren Spießbürger sich noch in den Federn streckten, hochgeschürzt auf dem Turnplatze der Feuerwehr, um an Reck, Barren, Bock und Kletterstange ihre Meisterschaft zu bewähren, tanzte, sang und deklamierte prächtig, spielte das Piano mit ungewöhnlicher Fertigkeit, schien in jeder Sprache, in jeder Kunst und Wissenschaft zu Hause und wußte auch in die steifsten Zirkel Leben und Bewegung zu bringen.

Trotz dieser scheinbar unweiblichen Vielseitigkeit und Selbstständigkeit war jedem ihrer Worte, jeder ihrer Thaten, ihrem ganzen Wesen und Leben eine so bezaubernde Anmut, eine so mädchenhafte Reinheit, ein so imponierender Adel aufgeprägt, daß es außer der Stiefmutter niemanden gab, der auch nur die leiseste Spur eines Anstoßes zu entdecken gewußt hätte. Und wie sie von der Männerwelt vergöttert wurde, so stand sie bei den Frauen in der unbeschränktesten Achtung. Wo die Armut ihre düsteren Schatten über ein Familienleben warf, wo die Krankheit drohend an die Thüren klopfte, wo irgend ein Leid den fröhlichen Schlag eines Menschenherzens hemmte, da erschien sie gewiß, um Rat, Trost und Hilfe zu bringen, und es war deshalb kein Wunder, wenn sie nicht bloß von ihren Schutz- und Pflegebefohlenen, sondern auch von anderen, die von ihrem stillen, liebevollen

Walten Kenntnis nahmen, wie ein Engel verehrt wurde.

Sie war natürlich zu dem heutigen Feste auch geladen, und da man ihren Verlobten erwartete, so glaubte man auch auf ihr Erscheinen rechnen zu dürfen. Aber fast wäre das erwartete Vergnügen gestört worden. Kurz vor Beginn der Festrede brach nämlich in einem Dorfe der Nachbarschaft Feuer aus, und auf den ersten Schreckensruf schien es, als wolle die ganze, zahlreiche Versammlung auseinanderstürmen. Bald jedoch überzeugte man sich, daß der Ort fast eine Meile entfernt und also keine Ursache zu einer so gewaltsamen und unwillkommenen Störung vorhanden sei. Nur zwei Mitglieder des Vereins, der Schmiedemeister Anton Gräßler und der Schornsteinfeger Emil Winter, mußten als Mitglieder der Feuerwehrsektion für auswärts, dem Rufe des Signalhornes folgen; die anderen aber kehrten in den Saal zurück und gaben ihre Teilnahme nur durch ein zeitweiliges Ausschauen nach dem fernen Brande kund. —

So verging die Zeit. Längst schon war die städtische Löschmannschaft an der Unglücksstätte angekommen und sah ihre Bemühungen von allmählich immer größerem Erfolge gekrönt. Blutigrot glänzte der Himmel, und die über der Brandstelle sich sammelnden Wolken tauchten ihre Säume in die aufsteigenden Gluten. Lange hatte das Gemäuer dem Feuer widerstanden; jetzt aber stürzte es mit lautem Getöse zusammen. Dichter, schwarzer Rauch wirbelte aus dem zischenden Herde auf, und wie

die Strahlen einer riesigen Fontäne zuckten und sprühten die Flammen mit weithin leuchtender Helle zum letzten Male empor. Dann sanken sie in sich zusammen; der Himmel färbte sich dunkler, und nur hier und da leckte eine gefräßige Zunge an einem noch unverkohlten Balken.

„Gott sei Dank, itzt is’ endlich vorbei!“ sagte tief aufatmend der Schmied, welcher als Spritzenmeister das Mundstück des Wasserschlauches geführt hatte. „Das war mei’ Seel’ keen Zuckerlecken; ich bin wie gerädert.“

„Na, Du Riesenkind wirst das bissel Anstrengung nicht gar sehr merken, aber wie es unserem Winter dort zu Mute is, das möchte ich wissen. Der hat fast Uebermenschliches gethan, und ohne ihn hätten die armen Leute elendiglich umkommen müssen.“

„Hast recht, alter Kumpan. Das Herz hat mer mein’ Seel’ im Leibe gezittert, als ich den braven Jungen so hoch da droben mitten durch Rauch und Flammen über die Firste hinbalancieren sah. So eenen verwegenen Gesellen giebt’s hundert Meilen in der Runde nich wieder, und er hat sich heut wenigstens ein halbes Dutzend Orden und Medallgen verdient. Na, wenn ich Fürst wäre, oder gar König, so wüßte ich, was ich zu machen hätte; da ich aber leider nur een simpler Hufnagler bin, so kann ich ihm weiter nischt, als nur eenen ehrlichen, gutgemeinten Händedruck applizieren. Und den soll er ooch gleich haben !“

Er kletterte über die herumliegenden Trümmer

und schritt auf den Schornsteinfeger zu, welcher abgesondert von der Menge an einem Baume lehnte.

„Emil, alter Schwede, wie schaut’s denn aus bei Dir? Du mußt doch mein’ Seel’ verbrannt sein wie ’ne Weihnachtsstolle, die von Pfingsten bis zu Ostern im Backofen gestanden hat!“

„Danke, Anton. Es ist nicht so schlimm, wie Du denkst. Meine schwarze Staatsmontur hat freilich einige Schandflecke davongetragen; die Haut aber ist so ziemlich unverletzt geblieben. Du hast mich ja erst gehörig eingeweicht, bevor ich das Kunststück unternahm.“

„Na, schönes Kunststück! Wenn es gilt, ’nen Tanzsaal auszuräumen, oder ein Dutzend Baldrians zusammenzuhauen, oder meinswegen ooch mit eenem zweespännigen Fuder Erdäpfeln auszureißen, da bin ich derbei. Aber wie ’ne Katze off brennenden Dächern ’rumklettern und drei Menschen, eenen nach dem andern, dem Bruder Vesuvius aus dem Rachen reißen, dazu bin ich nich gemacht, das kann nur so een verteufelter Kerl wie Du zustande bringen. Ich hab’s ja immer gesagt, Du bist ein tüchtiger Kerl in allen Stücken, und wir sind alle froh, daß Du wieder bei uns bist.“

„Laß es gut sein. Ich habe nur gethan, was jeder andere brave Essenkehrer auch thun würde. Freilich wollte es mir erst nicht so recht passen, daß ich unseren schönen Ball im Stiche lassen mußte; es ist ja der erste, dem ich wieder beiwohne; jetzt aber bin ich ausgesöhnt mit der Störung. Du glaubst nicht, Anton, wie wohl es einem thut,

wenn man sich sagen kann: ‚Hast heut’ rechtschaffen deine Pflicht gethan!“

„Bist alleweil ein guter Junge, Emil! Und was den Ball betrifft, so is er uns ja noch gar nich davongeloofen. Wenn wir itzt gleich anspannen, so kommen wir ganz schön zurechte. Es giebt so wie so nischt mehr für uns zu thun. Du, guck ’mal da ’nüber. Ich gloobe, die suchen Dich. Es is der Pastor und der Schulze.“

„Du hast recht. Aber ich bin kein Freund von Komplimenten. Spanne rasch an und komme nach; ich werde vorangehen. Ich habe nicht allein gearbeitet; Ihr habt alle Dank verdient.“

„Na, so loof nur zu. In zehn Minuten haben wir Dich eingeholt.“

Der Schornsteinfeger schlich sich durch die Gärten und suchte die Straße zu gewinnen, welche nach der Stadt führte. Als er sie erreicht hatte, schritt er leichten Fußes vorwärts. Er mochte die Seligkeit, welche er

über die Rettung dreier Menschen empfand, nicht durch störende Dankesworte entweihen lassen und gab sich den wohlthuenden Gefühlen seines Innern hin, bis er das laute Rollen der herannahenden Spritze hinter sich vernahm.

„Halloh, Emil, bist Du’s? Da sind wir. Komm, steig’ uff. In eener halben Stunde sind wir in der Stadt; unsre Eglipasche fährt rasch. Da sehen wir zuerst, wie’s im Saale ausschaut, und dann rennen wir heeme, stecken die Arme in den Frack und holen das Versäumte doppelt nach. Vorwärts, Christian, und een bißchen laut!“

Das Sechsgespann donnerte im scharfen Trabe weiter, und kaum war die halbe Stunde vorüber, so hielt die Spritze mit der darauf hockenden Mannschaft vor dem Gasthause.

Die beiden Männer sprangen ab und traten in den Hausflur. Hier kam ihnen der Wirt entgegen.

„Seid Ihr wieder da? Ist’s nieder?“

„Ja. Wie sieht’s denn droben aus, Gevatter?“

„Possierlich genug! Der Thomas hat wieder ’was Schönes ausgeheckt; er verauktioniert die Weibsen. Macht, daß Ihr ’naufkommt, wenn Ihr noch eene haben wollt. Umziehen könnt Ihr Euch nachher ooch noch. – Höre Emil, der Buchhändler hat das Geld für Dich geschickt; ich hab’s drin liegen, wenn Du’s haben willst.“

„Nachher; halte nur reinen Mund. Es braucht hier niemand zu wissen, was ich in meinen Feierstunden treibe!“

Aus den geöffneten Flügelthüren tönte ihnen lustiges Lachen entgegen, welches eine laute, um Ruhe bittende Stimme zu durchdringen strebte.

„Silentium, meine Herrschaften. Si- Si- Silentium, was so viel heeßt als: Wer fertig is mit Lachen, der mag sich den Bauch wieder zurecht schieben; denn es wird gleich wieder losgehen. Also drei Thaler zum zweeten Male; drei Thaler zum dritten Male, zum dritten und letzten Male, Pumps! Der Herr Corpus juris Heinemann aus Dresden, welcher heut’ auf Grund eenes Gevatterbriefes in unsrer guten Stadt verweilt, zahlt für die Frau

Schmiedemeisterin Anton Gräßler, welche bisher ohne Gevatterbrief anwesend gewesen ist, drei Thaler. Kassierer, hier ist das Geld!“

„Meine Frau verkooft?“ rief der Schmied mit seiner tiefen Baßstimme in die von neuem lachende Versammlung hinein. „Und für drei Thaler? Ihr seid nicht recht gescheit; so viel habe ich doch selber nich für sie gegeben.“

„Schadet nischt, Anton. Nimmst den Profit und erstehst Dir eene Bessere. Erlooben die verehrtesten Herrschaften, daß ich meiner Pflicht als Auktionater genüge, indem ich von dem Notwendigen in Kenntnis setze. Er hat wegen des Feuers fortgemußt und weeß also nich, was hier eegentlich losgeht. Wie steht es denn mit dem Brande?“

„’s is aus; kannst’s nachher ausführlicher hören. Erkläre mir nur erst die Rebellion, die Du angerichtet hast, alter Schabernack.“

„Keine Beleidigung nich, Anton; ich bin nich schuld, daß Dir Deine Gustel abhanden gekommen is; denn ich habe Dich wahrhaftig nich verleitet, in die Feuerwehr zu treten und jedem glimmenden Cigarrenstummel nachzuspringen. Also, off meinen Vorschlag hat der Verein den Beschluß gefaßt, alle anwesenden Damen zu verauktionieren. Jede dieser Damen gehört dem, welcher sie ersteht, für die Dauer des heutigen Abends an, muß ihm beim Dankeswalzer eenen Kuß geben, darf ohne seine Erloobnis mit keenem andern tanzen, geht mit ihm zur Tafel und muß ihm ooch gestatten, sie nach Hause zu begleiten. Diejenige, für welche das

meiste bezahlt wird, ist Ballkönigin; ihr Herr wird König, und dann errichten die Majestäten eenen Hofstaat, mit dessen Hilfe das Programm entworfen wird. So, und nun mach nur, daß Du heem kommst und eenen andern Gottfried anziehst. Du siehst ja aus, als wenn Du een halbes Jahr im Teiche gelegen hättest und nachher noch eenige Monate lang als Froschreuse in Gebrauch gewesen wärest.“

„Wie viel haste denn noch?“

„Grad noch een Dutzend.“

„Na, da kann ich doch nicht erst heeme gehn; denn wenn ich eenmal ins Parfümieren komme, so werde ich vor dem ersten Advent nich fertig, und dann habe ich das Nachsehen. Ich möchte alleweile gern Schadenersatz für meine Alte haben und werde warten, bis eene darankommt, die nach meinem Geschmacke is. Wer mich in meiner jetzigen Schönheet nich haben will, der kriegt mich mein’ Seel’ ooch nich, wenn ich nachher noch schöner bin. Also, fang an.“

Der Essenkehrer war unbeachtet von den anderen hinter einen der Thürpfosten getreten und überflog mit musterndem Blicke die noch zu versteigernden Damen. Sie waren ihm alle bekannt außer — Mit einer Bewegung ungewöhnlicher Überraschung trat er aus dem Verstecke hervor und heftete das Auge auf ein Mädchen, welches zwischen dem Polizeirat und einem unbekannten Herrn saß.

„Welche Aehnlichkeit! So schön, so herrlich müßte sie geworden sein!“

Und sich zu dem eben eintretenden Wirte wendend fragte er:

„Wer ist die junge, weißgekleidete Dame dort unter dem Orchester?“

„Das is Fräulein von Chlowicki. Kennst Du sie denn noch nich?“

„Die wilde Polin? Ich habe wohl von ihr gehört, sie aber noch nicht gesehen. Und der Herr zu ihrer Linken?“

„Das is der Baron von Säumen, een reicher Erbe und ihr Verlobter.“

„Kennst Du ihren Vornamen?“

„Se heeßt Wanda.“

„Bitte, hole mir mein Geld.“

„Emil, biste toll? Ich gloobe gar. Du willst das Mädchen erstehen.“

„Geh nur und laß mich nicht lange warten.“

Er trat, in Rücksicht auf seinen nichts weniger als ballmäßigen Anzug, wieder hinter den Pfeiler zurück und beobachtete von da aus den Gegenstand seiner vorhin gezeigten Ueberraschung. In ziemlich reservierter Haltung saß Wanda neben dem Verlobten, dessen rednerische Anstrengungen, nach dem leisen Unmute, welcher wie ein Schatten auf ihrem schönen Angesichte lag, zu urteilen, von keinem glücklichen Erfolge gekrönt zu sein schienen.

„Also Du wirst mit aufbrechen, Wanda?“

„Nein!“

„Du wirst mitgehen, und ich bitte Dich um die Erlaubnis zu der Ueberzeugung, daß eine Dame

von Deiner Distinktion an einem so plebejischen Spaße unmöglich Wohlgefallen finden könne.“

„Ich erteile Dir meine Erlaubnis höchstens zu der Ueberzeugung, daß Du nicht das rechte Maß für dergleichen Dinge besitzest. Ich werde bleiben.“

„Wirklich?“

„Wirklich!“

„Dann zwingst Du mich, von dem Rechte, welches meine Stellung als Dein Verlobter mir erteilt, Gebrauch zu machen, indem ich Dich diesen Schustern, Schneidern, Schmieden und Perückenmachern entziehe.“

„Ah!“

In diesem einen Laute lag eine unverhohlene Geringschätzung, und ihr großes, dunkles Auge blitzte mit spöttischem Blicke über die hagere Gestalt ihres Verlobten hin, als sie, die reichen, blonden Locken mit einer unnachahmlichen Bewegung nach hinten werfend, hinzufügte:

„Und wenn ich mir nun wirklich einen dieser Schneider und Perückenmacher zum Ballherrn wünsche? Deine so rücksichtsvoll bei den Haaren herbeigezogene Stellung als mein Verlobter giebt Dir keine andere Berechtigung, als einzig und allein diejenige, Dich in meine Wünsche fügen zu dürfen.“

„Herr Baron,“ fiel hier der Polizeirat in der Absicht, einem möglichen Eclat vorzubeugen, ein, „das Vergnügen ist ein durchaus unschuldiges. Man beliebt zuweilen einmal, auf wohlberechtigte Ansprüche zu verzichten, um den gewöhnlichen Mann in seinem Habitus kennen zu lernen und sich dabei ein kleines, erlaubtes Amüsement zu bereiten. Die

Versammlung besteht aus durchaus ehrenwerten Personen und ich selbst habe mich bewogen gefühlt, eine kleine, nette Schnittwarenhändlerin zu engagieren. Und hegt Fräulein Wanda wirklich die interessante Absicht, einem auf ihre verehrte Person gerichteten Gebote keine Schwierigkeiten entgegenzusetzen, so bleibt Ihnen ja die vollständige Freiheit, dieses Gebot selbst zu thun.“

„Einem so beredten und in dem Besitze meiner ungeteiltesten Hochachtung befindlichen Verteidiger muß ich mich allerdings fügen,“ antwortete Säumen; aber es war kein guter Blick, welchen er bei dem Worte „ungeteilt“ auf das Mädchen warf. „Doch werde ich der erwähnten Stellung wenigstens dadurch Rechnung tragen, daß ich ein Gebot sprechen werde, welches jede Konkurrenz ausschließt.“

Da erschallte die Stimme des Auktionators von neuem:

„Offgepaßt, meine Herrschaften! Ich habe aus Höflichkeit gegen die anwesenden Herren mein Gebot offgeschoben bis jetzt und erwarte deshalb, daß bei der nächsten Dame meine rücksichtsvolle Politik keene Gegner finden werde. Jede feindselige Intervention werde ich bis zum letzten Groschen meines Geldbeutels zurückweisen. Also jetzt, Fräulein von Chlowicki. Ich biete fünf Thaler.“

„Zehn Thaler!“ rief der Baron von Säumen mit einer Stimme, in deren Klange sich sehr hörbar die Ueberzeugung aussprach, daß mit dieser Summe das Bürgertum vollständig geschlagen sei. Thomas

maß den Sprecher mit scharfem, stechendem Auge und antwortete dann:

„Der reiche Herr Baron von Säumen bietet für seine Verlobte zehn Thaler. Ich bin nur een armer Buchbinder, doch für eene solche Dame is mir das Doppelte nicht zu viel. Zwanzig Thaler zum ersten Male.“

„Fünfundzwanzig Thaler!“ rief der Baron.

„Ich gebe dreißig Thaler und esse zwee Monate lang trockenes Brod. Also dreißig Thaler zum ersten!“

„Fünf und dreißig!“

„Zehne mehr!“

Die Anwesenden folgten diesem ungewöhnlichen Wettstreite mit der größten Spannung. Wollte Thomas die so hoch über ihm stehende Aristokratin wirklich für sich erstehen, oder beabsichtigte er nur, den Baron in die Höhe zu treiben? Und warum lag ganz gegen seine bisherige Freundlichkeit, jetzt eine so ätzende und beleidigende Schärfe in seinen Worten? Man sah es jedem seiner Blicke an, daß er unter einem dem Baron höchst unfreundlichen Gefühle handele.

„Das Gebot,“ fuhr er fort, „is jetzt so hoch gestiegen, daß ich mich genötigt sehe, noch eenmal daroff offmerksam zu machen, daß der Betrag desselben sofort und bar bezahlt werden muß.“

„Fünfzig Thaler!“ rief Säumen, ergrimmt über diese neue Malice.

„Hundert Thaler!“ scholl es plötzlich mit lauter Stimme von der Thüre her. Alle wandten sich überrascht dieser Richtung zu, und auch Wanda bemühte -

bemühte sich, den Mann zu entdecken, welcher ihr eine für die bescheidenen Verhältnisse der anwesenden Arbeiter so bedeutende Summe opfern wollte. Aber da er im äußersten Winkel des Saales stand, so gelang es ihr nicht, ihn zu sehen.

„Emil, Du bist’s?“ rief Thomas. „Da trete ich gern zurück; denn niemandem gönne ich dieses Glück so gern wie Dir!“

Und wie um dem Baron jedes weitere Gebot abzuschneiden, rief er schnell hintereinander:

„Also hundert Thaler zum ersten, zum zweeten und zum dritten Male, Pumps! Unser neuer Herr Vorsteher, der leider durch das Feuer abgehalten worden is, eher zu erscheinen, giebt für Fräulein von Chlowicki hundert Thaler. Und da diese Summe die höchste is, die heut geboten wurde, so is die genannte Dame die Königin des heutigen Festes. Es wird, sobald sich unser Feuermann in een anderes Habit geworfen hat, sofort zur Krönung geschritten werden. Jetzt aber erlobe ich mir vor allen Dingen die Majestäten eenander vorzustellen.“

Wanda erhob sich, als Thomas von der Tafel stieg, auf welcher er bisher gestanden hatte, um ihr den König zuzuführen. Sie liebte das Ungewöhnliche und fühlte ihr aristokratisches Gewissen nicht im mindesten beschwert durch den Vorwurf, die Königin eines bürgerlichen Balles zu sein. Zudem war Winter ja als Vorsteher der Gesellschaft bezeichnet worden, ein Umstand, welcher ihm als Empfehlung dienen mußte. In der einfachen Natürlichkeit dieser Leute, deren harmlose Munterkeit,

verbunden mit einem offenen, gutmütigen Wesen, und unterstützt von dem treuherzigen Charakter ihres Dialektes auch eine stolzere Natur als die ihrige anmuten und anheimeln mußte, lag wenigstens für sie nichts Verletzendes. Die Sonne des Lebens hatte für sie nur kaltes, winterliches Licht gehabt und ihr nur selten einen freundlichen, erwärmenden Strahl zugesandt. Die Quelle ihres tiefen, reinen Gemütes war von einer falschen, auf wankenden Grundsätzen fußenden Erziehung zurückgedrängt und mit steinernem Riegelwerk verschlossen, der Reichtum ihres Geistes brach gelegt und ihr Wollen und Handeln von den rechten Bahnen seitwärts gelenkt worden. Der Anschluß an ein ihr innerlich verwandtes Wesen war ihr versagt geblieben, und so hatte sie sich stets einsam und verlassen gefühlt und in dieser Einsamkeit keine Gelegenheit gefunden, nach der echten Freiheit und Selbstständigkeit zu streben und diese hohen Güter auch in der rechten Weise anzuwenden. So war sie das geworden, als was man sie bezeichnete, die wilde Polin.

Ihre Verlobung war das Werk kalter Berechnung, der sie sich nur gezwungen gefügt hatte. Der Baron war ihr verhaßt und widerwärtig, und da er ihr mit verletzender Offenheit zeigte, daß er nur von geschäftlichen Rücksichten in ihre Nähe geführt worden sei, so machte auch sie keine Anstrengung, ihm ihre Gesinnung zu verhehlen und ersah sich aus der Verbindung mit ihm weder Glück noch Segen. Sein herrisches und hofmeisterliches Gebaren empörte sie, und mit Befriedigung ergriff sie deshalb jede Gelegenheit, -

Gelegenheit, sich unabhängig von ihm zu zeigen. Daher kam auch ihre gegenwärtige Bereitwilligkeit, sich von der Auktion nicht auszuschließen, deren Ergebnis ganz ihren Wünschen entsprechend war. Hätte der Baron sie erstanden, so hätte sie sofort den Saal verlassen, nun er aber geschlagen worden war, beschloß sie, dem Sieger durch freundliches Entgegenkommen zu danken und heute einmal so recht fröhlich unter den Fröhlichen zu sein.

„Ach was da,“ hörte sie vorn an der Thür den Auktionator rufen. „Erst heeme loofen und Toilette machen! Dazu is es nachher ooch noch Zeit, Emil. Es würde doch die reene Unhöflichkeet sein, wenn Du Deine Dame so lange off die Geduldsprobe stellen wolltest. Du mußt ihr vor allen Dingen jetzt das schuldige Kompliment machen und nachher um den notwendigen Urlaub bitten. Komm!“

„Ja, Emil,“ unterstützte ihn der Schmied mit nachdrucksvollem Basse. „Ich sehe accurat so unappetitlich aus, wie Du, und doch bin ich meiner Gouvernante, die ich erstanden habe, willkommen gewesen. Deine Dame is jedenfalls nich weniger verständig als die meinige. Wir kommen eben von der Arbeit, und die hat noch niemand geschändet. Geh’ nur, geh’!“

Sie sah die Versammlung sich teilen und Thomas auf sich zukommen. Hinter ihm ging ein anderer.

War es möglich? Deutlich fühlte sie das zornige Klopfen ihres Herzens; das Auge öffnete sich weit bei dem Anblicke des rußgeschwärzten Mannes, und über ihre weichen Züge legte sich

jene strenge Kälte, hinter deren Schild die gekränkte Weiblichkeit sich so gern und erfolgreich flüchtet. Ein rascher Blick in das Angesicht des Barons zeigte ihr ein schadenfrohes, höhnisches Lächeln, welches ihr die in diesem Augenblicke so notwendige Fassung zu rauben drohte und ihr es schwer, ja fast unmöglich machte, das Richtige zu treffen.

„Gnädiges Fräulein, leider habe ich nich off Zeremonienmeester studiert und bin also ooch nich imstande, so hohe Herrschaften mit hofmäßigem Aplomb eenander vorzustellen. Beglücken Sie deshalb Ihren unterthänigsten Diener mit königlicher Nachsicht. Herr Schornsteinfeger Emil Winter — Fräulein Wanda von Chlowicki.“

„Herr König aus dem Mohrenlande, kehren Sie nach Dahomey zurück!“

Mit einer zurückweisenden, stolzen Handbewegung trat sie zurseite und wehrte den penetranten Brandgeruch, welcher der versengten Kleidung des Essenkehrers entströmte, mit dem duftgetränkten Taschentuche von sich ab.

Ein leises Lächeln in dem von Schweiß und Schmutz entstellten Angesichte, wollte Winter ihr antworten; da aber trat ihm der Baron hastig und mit gebieterischer Handbewegung entgegen.

„Sie sehen, daß die Dame nichts von Ihnen wissen will, gehen Sie. Ein Mensch Ihresgleichen sollte notwendiger Weise hier gar nicht Zutrittfinden dürfen.“

„Wer sind Sie, mein Lieber?“

„Ich will die Lächerlichkeit begehen und Ihnen

meinen Namen nennen. Ich bin der Baron Eginhardt von Säumen.“

Winters Auge, dessen Weiße von der Schwärze seines Antlitzes hervorgehoben wurde, maß den Baron langsam und forschend vom Kopfe bis zur Fußspitze herab, und dann klang es mit eigentümlichen Ausdrucke:

„Ich kenne Sie nicht!“

„Ist mir eine Ehre. Gehen Sie.“

„Nur keine lächerliche Anmaßung, mein Herr Baron!“ Und auf dem Worte Baron lag wieder jener eigentümliche, zweifelhafte Ausdruck. „In Ihrem Tone spricht selbst ein Eskimo nur mit seinen Hunden.“

Und sich zu Wanda wendend, fuhr er fort:

„Ich ließ mich in Ihre Nähe zwingen, Fräulein, um unter zwei Fehlern den kleineren zu begehen. Verzeihen Sie einem Manne, dem die Aufmerksamkeit gegen eine Dame in der ersten, die Seife aber erst in der zweiten Reihe stand, weil er gewohnt ist, den Menschen nicht nach dem äußeren Scheine, sondern nach dem inneren Gehalte zu taxieren. Adieu!“

Mit einer gewandten Verbeugung entfernte er sich und verließ nach einer kurzen Unterredung mit Thomas den Saal.

„Hat man je so etwas erlebt!“ rief der Baron. „Diese Schmach hast Du Dir selbst zuzuschreiben, und ich hoffe, daß Du jetzt nicht zögerst, mir zu folgen.“

Sie schien seine Worte gar nicht gehört zu haben. Ihr Auge hing noch an der Thür, welche

sich hinter dem Essenkehrer geschlossen hatte. Die Härte in ihren Zügen war gewichen und hatte einem sinnenden Ausdrucke Platz gemacht. Wie kam dieser Mann zu der noblen Tournüre und behenden Sprachfertigkeit, die er während des ganzen für sie so beleidigenden Vorganges gezeigt hatte? Woher kam ihm die Geschicklichkeit, diese Beleidigung zu parieren und auf die Gegner zurückzuwerfen? War diese sonore, metallreiche Stimme nicht schon einmal an ihr Ohr geklungen und warum hatte dieselbe bei den Worten:

„ich kenne Sie nicht“ einen so merkwürdigen Klang gehabt?

Es wurde ihr klar, daß der faux pas, den sie begangen, größer war als der seinige, wenn bei ihm überhaupt von einem solchen die Rede war. Sie war nicht nur unhöflich, sondern sogar undankbar und rücksichtslos gewesen. Während die anderen sich in ihrem Vergnügen nicht hatten stören lassen, war er dem Rufe der Pflicht gefolgt und derselben gewiß im vollsten Maße nachgekommen. Sein Habit war verbrannt und zerrissen, und gerade der unausstehliche Geruch desselben führte den deutlichsten Beweis, daß er sich sogar mitten in die Flammen hineingewagt habe. Und diesem braven, vielleicht sogar kühnen Manne, der obendrein ihretwegen eine so bedeutende Ausgabe gemacht hatte, war für alles das nur bittere Kränkung geworden. O, wie haßte sie den Baron, dessen Blick sie getrieben hatte, Worte zu sprechen, die sie jetzt bereuen mußte!

Und was nun? Die Freude war gestört, und

wenn auch viele der Anwesenden ihr Verhalten gerechtfertigt fanden, so war doch bei den anderen die Unzufriedenheit mit demselben desto deutlicher zu erkennen, und sie selbst konnte sich bei dem Nachdenken über ihre Lage einer kleinen Verlegenheit nicht erwehren.

Da trat in Begleitung einiger Vereinsmitglieder der Buchbinder Thomas wieder zu ihr und bat sie, für den heutigen Abend das Scepter allein zu führen, da Winter sich infolge der bei dem Brande gehabten Anstrengung außer stande fühle, den Anforderungen der ihm übertragenen Würde gerecht zu werden.

„Ist diese Anstrengung so groß gewesen?“ fragte sie.

„Gewiß; er hat drei Menschenleben gerettet.“

„Drei Menschenleben,“ wiederholte sie, und ihr schönes Auge füllte sich mit leuchtendem Glanze. „War Gefahr dabei?“

„Sehr. Der Zutritt von unten war unmöglich, so mußte er von dem Nachbarhause auf das Dach hinabspringen, mitten durch Rauch und Flammen über die Firste hinklettern und sich durch die Feueresse einen Weg in die Kammer bahnen, in der die Leute staken. Dann hat er das Dach zerschlagen, und eenen nach dem andern in die mitgenommenen Decken gewickelt und über die Firste zurückgetragen.“

„Das ist eine Heldenthat, welche den größten Dank verdient.“

„Der mag keenen Dank. Er is sogar fortgegangen, als er gemerkt hat, daß sie nach ihm

suchten; ’s is een Kerl, der mehr wert is als zehn Barone!“

Diese Worte waren laut genug gesprochen, daß Säumen sie vernehmen konnte, und auch Wanda mußte den Vorwurf, welcher in ihnen lag, umsomehr als einen gerechten anerkennen, als sie überzeugt war, daß sie nur Wintern die Schonung zu verdanken habe, mit welcher diese guten Menschen ihr feindliches Benehmen ignorierten.

„Wird er wiederkommen?“

„Ja; er is Vorsteher und kann nicht gut entbehrt werden.“

„Ich bin bereit, den Thron, welchen Sie mir bieten, zu besteigen und werde mich sehr bestreben, meine Unterthanen während der Dauer meiner Regierung froh und glücklich zu sehen. Bitte, Herr Thomas, rufen Sie die Herren zu einer Beratung zusammen.“

Sie trat in die Mitte des Saales, und bald herrschte in der Versammlung die heiterste Regsamkeit, von welcher nur der Baron, als der einzige, welcher keine Dame hatte, ausgeschlossen war. In vornehmer Nonchalance lag er auf dem Stuhle und würdigte das fröhlich um ihn herwogende Treiben keines Blickes. Aber trotz seiner anscheinenden Teilnahmlosigkeit zuckte ein gewaltsam zurückgehaltener Aerger um seine Lippen und unter den halbgeschlossenen Lidern flog zuweilen ein zorniger Blick hinüber zu der Verlobten, die seine Anwesenheit gänzlich vergessen zu haben schien.

Als jeder seine Anstellung erhalten hatte, wurde

das Programm entworfen. Krönung, Huldigung, Paraden, Manöver, Kammer- und Reichstagsversammlungen fanden auf demselben ihren Platz, und nur kurze Zeit war vergangen, so erkannten die entzückten Unterthanen, daß es unmöglich sei, eine schönere und liebenswürdigere Königin zu wünschen. Wanda selbst fühlte sich amüsiert wie noch nie, und hätte die Gegenwart des Barons und der Gedanke an den zurückgewiesenen König nicht einen Schatten über ihr vor Freude gerötetes Angesicht geworfen, so wäre der heutige Abend der froheste und ungetrübteste ihres bisherigen Lebens gewesen.

Da bemerkte sie einen jungen Mann, welcher in nachlässiger Haltung an dem Buffet lehnte und mit halbem Lächeln die heiter beschäftigte Versammlung beobachtete. Wieder und immer wieder mußte sie den Blick zu ihm hinlenken, und ebenso bemerkte sie, daß auch sein Auge immer von neuem zu ihr zurückkehrte.

Wer war dieser Fremde, den sie nicht kannte, und den sie gleichwohl schon irgendwo gesehen zu haben glaubte? Sie mußte sich gestehen, daß das Aeußere dieses Mannes ein ungewöhnliches sei und ihr ein ebenso ungewöhnliches Interesse abnötigte. Ein wehmütiger Ernst schien nicht bloß für den gegenwärtigen Augenblick, sondern für immer seinen Sitz in den blaßfeinen, geistreichen Zügen aufgeschlagen zu haben. Die hohe, freie Stirn gab dem männlich schönen Angesichte etwas ungemein Dominierendes; das Auge blickte so selbstbewußt und sicher

in die buntbewegte, kleine Welt hinein, als hinge jede dieser Bewegungen nur von seinem Blicke ab; seine Haltung trug das Gepräge strengster Eigentümlichkeit, und als er jetzt quer über den Saal schritt, um sich dem isoliert sitzenden Baron zu nähern, zeigte jede seiner Bewegungen eine Eleganz, welche selbst in dem feinsten Zirkel Lob gefunden hätte.

Er nahm neben dem Baron Platz, und es war augenscheinlich, daß dieser der angeknüpften Unterhaltung das wärmste Interesse widmete. Sie wußte, daß ein wirklich nicht unbedeutendes Talent erforderlich sei, dem blasierten und dünkelhaften Säumen Achtung für eine Persönlichkeit einzuflößen und ihn zur Teilnahme an einer so lebhaften Konversation zu bewegen, und doch waren die Erfolge hier in so kurzer Zeit erreicht, daß Wanda den Wunsch fühlte, diesen Mann nicht bloß von weitem beobachten zu dürfen.

Als habe er diesen Wunsch in ihren Augen gelesen, erhob er sich und schien dem Baron eine Bitte vorzutragen. Dieser nickte zustimmend, nahm seinen Arm und führte ihn vor den reich mit Blumen und Guirlanden geschmückten Thron, auf welchem die Königin saß. Das augenfälligste Wunder hätte sie nicht mehr überraschen können, als die Bereitwilligkeit ihres Verlobten, ihr nach allem, was vorgefallen war, hier mitten in einer ihm doch so sehr verhaßten Umgebung nahe zu treten, und mit Spannung sah sie seinen Worten entgegen, die ihr wenigstens einige Aufklärung über den Fremden bringen mußten.

„Ich bitte um die huldvolle Genehmigung, Ew. Majestät einen Ritter mit geschlossenem Visier vorstellen zu dürfen.“

Sie neigte zustimmend den Kopf, und Säumen kehrte nach seinem Platze zurück, während der Unbekannte, eine Anrede erwartend, vor ihr stehen blieb.

„Wir wollen Unsre Wißbegierde beherrschen und nicht mit Fragen das Visier zu öffnen versuchen. Noch haben wir einige Vakanzen zur Verfügung und werden Eure Bitte gern vernehmen und erfüllen. Sprecht!“

Bei dem Klange dieser Stimme, an welcher sie sofort den Essenkehrer erkannte, zog tiefe Röte über das Antlitz Wandas, aber sie faßte sich schnell und erwiderte:

„Der Sänger ist uns hoch willkommen! Weilt bei uns, lieber Troubadour, und nehmt hier diese Rose als Zeichen unserer königlichen Gunst.“

Das Knie beugend, nahm er die Rose in Empfang, drückte sie an seine Lippen und steckte sie an die Brust. Hernach erhob er sich.

„Doch ist die Rose einer Königin nicht ohne schwere Mühe zu erlangen. Es soll Uns Eure Kunst den Dank erstatten.“

„Ich harre des Befehls. Sprecht, Königin.“

„Die Flamme hat in unserer Nachbarschaft gewütet, und kühne Heldenthat ist bei dem Brand

Illustration 1
„Dir meine Huldigung zu bringen, Nah ich, ein armer Troubadour.“ (S. 28.)

geschehen. Uns war es nicht vergönnt, dabei zu sein; doch möchten gern wir sichere Kunde hören. Dort ist die Bühne; zieht den Vorhang auf und laßt sofort uns den Bericht vernehmen.“

Er verneigte sich und schritt nach dem Hintergrunde des Saales, wo die Bühne errichtet war, auf welcher der Verein zuweilen ein kleines dramatisches Stück zur Aufführung brachte. In seinen Mienen lag es wie süße Genugthuung, und als er jetzt die Stufen hinter der Scene betrat, fühlte er sich stark genug, auch ungewöhnliche Ansprüche befriedigen zu können.

Wanda hatte, wie gesagt, den Schornsteinfeger wieder erkannt; sie sah sich tief beschämt durch das Zartgefühl, welches er durch das Verschweigen seines Namen und die Verzichtleistung auf seine Ansprüche zeigte, und zugleich mußte sie die Feinheit bewundern, mit welcher er sich von dem Baron Satisfaktion verschafft hatte, dadurch, daß er sich von keinem andern vorstellen ließ, als von ihm, der ihn erst vor kurzem auf eine so unmanierliche Weise fortgewiesen hatte. Die Aufgabe, welche sie ihm erteilt, war sicher keine leichte; aber es war ihr gewesen, als müsse und werde sie ihn mit etwas Leichterem beleidigen. Er hatte sich einen Troubadour genannt, hatte in Reimen zu ihr gesprochen, und sein ganzes Wesen sprach dafür, daß er der Aufgabe gewachsen sei. Mit Spannung harrte sie deshalb der Lösung derselben.

Da ertönte die Klingel, der Vorhang stieg in die Höhe und zu gleicher Zeit trat Winter zwischen

den Coulissen hervor, um nach einer respektvollen Verbeugung zu beginnen.

Er sprach in gebundener und gereimter Rede. Ohne das leiseste Stocken flossen die Worte von seinen Lippen. Laut und jede Modulation beherrschend, schallte seine klangvolle Stimme über die aufmerksam lauschende Zuhörerschaft hin, und reich an ergreifenden Bildern und frappanten Wendungen hob die meisterhafte Schilderung sich auf glanzvollen Versen aus dem verborgenen Winkel, wo die Flammen sich entwickelten, empor in die glühenden Wolken, um dann mit dem besiegten Elemente wieder zur Erde niederzusteigen.

Aller Augen hafteten mit Bewunderung an dem so reichbegabten Improvisator, ihre Ohren verschlangen jede seiner Silben; ihr Atem stockte unter der packenden Gewalt seiner Sprache, und als er geendet, wagte niemand, den tiefen Eindruck seines Vortrages durch das übliche Händeklatschen zu entweihen. Als er aber nach einer Pause, in welcher die Herzen in tiefen Atemzügen sich von der Beklemmung befreit hatten, den Vorschlag machte, die durch die Auktion gewonnene Summe zur Unterstützung der Abgebrannten zu verwenden, da ertönte ein schallendes Bravo und fast jede Hand fuhr in die Tasche, um freiwillig noch ein weiteres hinzuzufügen.

Als er durch die Portiere wieder in den Saal trat, stand Wanda vor ihm und streckte ihm beide Hände entgegen. An ihren Wimpern hingen helle Tropfen und die tiefste Rührung bebte um den kleinen, zitternden Mund.

„Können Sie mir verzeihen?“

„Gern, o so gern.“

„Und wollen Sie mein König sein?“

„Ich wage es nicht.“

„Aber wenn ich Sie bitte?“

„Dann gehorche ich; denn eine Bitte von Ihnen ist mir Befehl.“

„Kommen Sie schnell. Noch haben wir Blumen zu einer zweiten Krone, und ich werde bestrebt sein, alles gut zu machen.“

Jetzt erkannte auch der Baron. wen er vorhin der Königin empfohlen habe, und der Grimm über diese Niederlage trieb ihn fort.

„Wanda, ich gehe, Deine Garderobe zu holen!“

„Das ist nicht nötig, ich bleibe noch.“

„Du wirst diesen Ort sofort mit mir verlassen!“ Da trat Winter zwischen die Beiden.

„Herr Baron, ich bin Vorsteher unserer Gesellschaft und habe als solcher innerhalb dieser Räume jede Störung des allgemeinen Wohlbefindens zu verhüten. Erlauben Sie mir eine Frage.“

„Welche?“

„Sie wollen sich entfernen?“

„Ja.“

„Und Sie wollen bleiben, mein Fräulein?“

„Ja.“

„Dann gehen Sie ohne Sorge, Herr Baron; denn Ihre Entfernung wird uns keine Störung bereiten, und Fräulein von Chlowicki befindet sich in unserem Schutze vielleicht wohler als in jedem anderen. Wer sie nur mit einem Blicke zu beleidigen wagt, den

lasse ich durch den Hausknecht auf die Straße bringen, gleichviel ob er Fürst oder Schusterjunge ist. Dies zu Ihrer Beruhigung, Herr Baron!“

Wieder lag auf dem Worte Baron jener auffallende Accent, und jeden weiteren Einspruch seines Gegners abschneidend, gab er Wanda seinen Arm und schritt, nach einer unendlich geringschätzigen Bewegung seiner Achsel, von dannen.

Als er später in eins der Nebenzimmer trat, fand er Gräßler und Thomas in demselben.

„Heut is es doch prächtig!“ sprach der erstere; „und Dein Einfall, Heinrich, is tausend Thaler unter Brüdern werth. Meine Alte bin ich Gott sei Dank ’mal los und habe an ihrer Stelle een Gouvernantchen gekriegt, wie ich sie mir nich hübscher und draller denken kann. Ich mache alle Tage mit!“

„Der Einfall stammt nicht von mir; ich habe ihn von meiner Wanderschaft aus der Rheingegend mitgebracht. Aber weeßte, wer von uns am allerbesten weggekommen is?“

„Nu?“

„Unser Emil da! Potz Blitz, ist das een Mädel, die Polin! Mein Lebtage habe ich noch keene solche Schönheet gesehen, und wenn unser Vorsteher statt seiner Rußkapuze eene Grafenkrone offzusetzen hätte, so wüßte ich, was ich ihm für eenen Vorschlag zu machen hätte.“

„Einverstanden, altes Haus! Ich gäb’ mein’ Seel’ zehn Gouvernantchens hin für die eene Polin; aber wie gesagt, ich bleibe dabei, Du bist een tüchtiger

Kerl, Emil. Warum, das brauche ich Dir nicht erst zu erklären.“

„Und herzlich gefreut hat es mich alleweil,“ fuhr der Schmied fort, „daß der Säumling, oder wie er heeßt, ohne Musik hat abziehen müssen. Der Mann gefällt mir nich.“

„Warum?“

„Kann es nich sagen. Hat so een Ohrfeigengesicht.“

„Wieso?“ lachte Winter.

„Weeßte das noch nich? Es giebt Gesichter, bei deren bloßem Anblick es eenem in den Händen juckt. Ich bin keen Physiogniff, oder wie es heeßt, und nenne diese Visagen also kurzweg Ohrfeigengesichter.“

„Haste vielleicht seine Uhrkette und seine blaue Nasenquetsche angesehen, Emil?“ fragte Thomas.

„Ja; ich habe mir den Mann überhaupt sehr genau betrachtet. Beides war von einer Arbeit, wie man sie nicht oft zu sehen bekommt. Warum ?“

„Hm! Ich habe so meine Gedanken derbei gehabt!“

„Welche Gedanken?“

„Das sage ich Dir vielleicht später ’mal.“

„Freundlich sind diese Gedanken wohl nicht. Du hast den Mann ja mit einer Aversion behandelt, die ganz gegen Deinen Charakter ist.“

„Hab’ vielleicht ooch Ursache dazu. Sollst’s schon noch erfahren, was für eene. Da, jetzt geht die Polka los; das is so meine Art. Komm, Anton.“

„Meinetwegen Polka oder Rutscher, wenn’s nur rund ’rum geht. Aber wie steht es denn eigentlich

mit unserm Dankeswalzer, Emil? Der steht ja gar nich mit off der Liste. Du, altes Haus, den hat mein’ Seel’ Deine Polin vorhin nur deshalb weggelassen, weil ihr der König dazu fehlte. Bringe es ihr ’mal off eene feine Art und Weise mit bei, daß ich ’nen Appetit off Gouvernantenlippen habe! Sapperlot noch ’mal, da steht sie ja gleich, unsre Königin, und hat den ganzen Kram mit angehört. Na, Majestät, sein Sie nur nicht bös deshalb. Unsereener redet alleweile grad’ so, wie ihm der Schnabel gewachsen is.“

Er ging mit Thomas in den Saal zurück und ließ die beiden Majestäten allein.

„Meine Königin hat den Wunsch des treuherzigsten Ihrer Unterthanen vernommen.“ Sie errötete und erwiderte mit schalkhaftem Lächeln:

„Es ist Uns die Kenntnis über die Wünsche der Unsrigen sehr angelegen.“

„Und diese Kenntnis verfolgt den Zweck der Erfüllung dieser Wünsche?“

„Ohne Zweifel, sobald dieselben billig sind.“

„Dürfen wir Uns zu der verheißungsvollen Ansicht neigen, daß der vorhin vernommene Wunsch zu dieser glücklichen Kategorie gehöre?“

„Vielleicht. Nur dürfte die Ressortfrage eine unentschiedene bleiben.“

„Untersuchen Wir diesen Kasus. Der Kuß als Dankeszahlung gehört in das Ressort des Finanzministers, der Kuß als Opfer in dasjenige des Kultusministers, der Kuß als Aeußerung einer

innerlichen Gesinnung in dasjenige des Ministers des Innern, der Kuß als Friedenszeichen in dasjenige des Kriegsministers und der Kuß als Buß- und Sühnezeichen in dasjenige des Justizministers.“

„Dann müßten Wir Uns in Erwägung des Geschehenen für den letzteren Fall entscheiden und mit Ergebung in die Strenge des Gesetzes die über Uns verhängte Strafe tragen.“

„Das klingt so widerstrebend, daß Wir Uns bewogen fühlen, diese Strenge durch ein nachsichtsvolles Arrangement zu mildern und auf dem Gnadenwege dem finsteren Verhängnisse zu begegnen.“

„Wir sagen Dank und fügen Uns in Euren hohen, gnadenreichen Willen.“

Sie gingen in den Saal und traten zu Thomas, welcher soeben seine Tänzerin verlassen hatte, um den König aufzusuchen.

„Geruhen Majestät, eene unterthänigste Frage des Hofkapellmeesters vorzutragen?“

„Nee, Wir geruhen nich, geruhe Du, Anton!“ lachte Winter.

„Ach so, hab’ ich wieder ’mal ’nen Bock geschossen? Ihr habt mich ooch zu meinem Unglück zum Oberhofkourier gemacht; denn wo ich nur das Maul offthue, da werde ich allemal ausgelacht.“

„Mach’s besser. Also Deine Frage?“

„Das Konzert soll beginnen. Werden Eure Königliche Gnaden unterthänigst belieben, eene gehorsamste Solopartie vorzutragen?“

„Nein. Bei Unsrer hohen Stellung ziemt es sich nicht für Uns, mit Gimpeln und Zeisigen gehorsamst -

gehorsamst und unterthänigst um die Wette zu zwitschern; aber sobald wir die Krone von Unserm Haupte gethan, wird der Bariton Emil Winter ein Liedchen vortragen, welches äußerst wertvoll durch den Umstand ist, daß er es selbst gedichtet und in Musik gesetzt hat. Jetzt aber, Herr Oberhofkourier, thut Eure Ohren auf und vernehmt den gnädigen Entschluß, daß Wir noch vor dem Konzerte den Thron besteigen werden, um an der Seite Unsrer hohen Herrin Uns an dem Dank zu weiden, den Eure Damen Euch noch schuldig sind. Der Kußwalzer mag beginnen!“

„Kußwalzer? Mein’ Seel’, Majestät, Du bist een ganzer Kerl! Warum, das brauche ich Dir ooch jetzt nich erst zu sagen. Na, Gouvernantchen, freue Dich alleweile off deinen Schmied!“

Mit raschen Schritten eilte er davon, um die frohe Botschaft weiter zu tragen.

Als nach einiger Zeit Winter sich mit Wanda zurückzog, um einen Augenblick der Erholung zu finden, fragte die Polin:

„Sie singen auch?“

„Zuweilen ein Liedchen.“

„Welches Sie natürlich selbst dichten und komponieren?’

„Nicht immer. Bei unserm Reichtume an wertvollen, tonkünstlerischen Werken hat ein Autodidakt, wie ich, keine Veranlassung, sich auf die anspruchslosen Kinder seiner Mußestunden zu beschränken.“

„Bei diesem fremden Worte fühle ich immer ein verwandtschaftliches Mitgefühl für jene reichbegabten-

reichbegabten Naturen, welche, an kleinliche Verhältnisse gebannt, in ihnen keine Befriedigung finden können, oder gar zu Grunde gehen müssen, weil sie für Größeres angelegt sind.“

Er blickte sie überrascht an. Kannte sie sich wirklich so genau, daß die Selbsterkenntnis ihr diese Worte diktierte? Er entgegnete mit leisem Kopfschütteln:

„Zu Grunde gehen? Sollte eine großangelegte Natur nicht die Kraft besitzen, auch das Kleine zu überwinden?“

„Das Kleine, ja, aber nicht das Kleinliche. Ich kenne leider diesen Unterschied.“

„Das Kleine ist zu achten; denn es ist ein Teil des Großen und Ganzen, und man darf es deshalb, wenn es einem feindlich entgegentritt, ohne Schädigung des Selbstgefühles immerhin bekämpfen, das Kleinliche aber ist einfach verächtlich und kann weder die Seelenstimmung noch die Entschließungen eines ausgebildeten Charakters beeinflussen!“

„Eines ausgebildeten Charakters, — ja, das ist es,“ setzte sie hinzu. „Das Kleinliche besitzt im Leben ja nur deshalb so viel Macht, weil es an wirklich ausgeprägten Charakteren mangelt. Und wer trägt die Schuld an diesem Mangel? Wie viel wird hier gefehlt und gesündigt, wie manches Lebensglück zertrümmert, weil der Grundstein zu demselben auf sandige, oder verwitterte Unterlage zu liegen kam!“

„Und doch liegt es meist in unserer eigenen

Hand, den wankenden Bau mit starkem, vorurteilsfreiem Willen niederzureißen, um ihn dann auf festerem Boden schöner und haltbarer wieder aufzurichten.“

Jetzt war an ihr die Reihe, ihn mit einem forschenden Blicke anzusehen. Traute er ihr diesen Willen nicht zu? —

„Wer doch die freie, ungebundene Kraft dazu besäße!“ hauchte sie.

„Wenn nicht, so leiht man sich die nötige Kraft. Auch ich habe niedergerissen und arbeite noch heute an dem Wiederaufbau des Zertrümmerten.“

„Allein?“

„Allein.“

„Dann beneide ich Sie um Ihren Mut.“

„O, ich habe noch davon übrig, Kraft und auch Mut,“ erwiderte er, während sein Auge in heller Genugthuung aufleuchtete.

Sie fühlte, daß weder Stolz noch Selbstüberhebung aus diesen Worten sprach, und legte unwillkürlich die Hand auf das Herz, in welchem noch nie empfundene Regungen sich geltend machen wollten.

„Dieses edle, freudige Selbstbewußtsein habe ich bisher nur bei einem Einzigen bemerkt, und dieser Eine war fast noch ein Knabe.“

„Ein Knabe?“

„Sie wollen zweifelnd fragen: ein selbstbewußter Knabe? Ich weiß, wie wenig diese beiden Worte oder Begriffe zusammenpassen, und doch ist es so.“

„Darf ich diesen Knaben kennen lernen?“

„Ich begleitete als junges, zwölfjähriges Mädchen den damals noch lebenden Vater auf einer Erholungsreise durch Thüringen. Wir hatten bei einem seiner früheren Studiengenossen Absteigequartier genommen, und da die Herren es liebten, sich den ganzen Tag bei Gott weiß welchem philosophischen Thema zu langweilen, so zog ich es vor, allein und ohne Begleitung, wie es auch jetzt noch meine Art und Weise ist, in Busch und Wald herumzustreichen und der Freundin Natur so recht tief und aufmerksam in das herzige Auge zu blicken. Während einem dieser Streifzüge traf ich auf einen jungen, siebzehnjährigen Menschen, welcher in der nahen Stadt einen Verwandten aufsuchen wollte. Er kam aus Leipzig und war der jüngste Sohn eines Ihrer Berufsgenossen. Dieser war kürzlich gestorben und hatte, da sein hinterlassenes Soll das Haben bedeutend überstieg, die Seinen in den betrübendsten Verhältnissen zurückgelassen. Da es an den nötigen Mitteln mangelte, mußte der ältere Sohn die Universität verlassen und sich mit einer kargbesoldeten, subalternen Stelle bei der Polizei der Residenz begnügen. Der Jüngere, welcher noch im Gymnasium gesessen hatte, war gezwungen, der Heimat den Rücken zu kehren, um bei einem Paten, welcher dem ehrsamen Schneiderhandwerke oblag, dessen Profession zu erlernen, und die Mutter blieb mit den Schwestern zurück, um ihr Leben mit dem spärlichen Ertrage der Nadelarbeit zu fristen.

„Der junge Mensch brauchte erst am Abende bei dem Paten einzutreffen, und da wir, wie es bei Kindern oft zu geschehen pflegt, schnell Wohlgefallen aneinander fanden, so beschlossen wir, uns für den heutigen Nachmittag einander anzuschließen und diese letzten seiner freien Stunden gehörig auszunützen.

Er war eine jener großartig angelegten Naturen. Das fühlte und erkannte ich freilich erst später; aber als wir endlich von einander schieden, bat ich ihn, mir ein Andenken zurück zu lassen. Er fragte mich, welches, und da ich bemerkt hatte, daß er eine wundervolle Stimme besaß und auch gewandt im Versenmachen war, so gab ich ihm die Aufgabe, ein Gedicht auf mich zu machen und es mir zum Abschiede vorzusingen. Da lehnte er sich mit verschlungenen Armen an den Stamm eines nahen Baumes, blickte mir eine Zeit lang sinnend in das Angesicht und begann dann zu singen. Zwar habe ich nur die vier letzten Verse des Liedes behalten, aber sie sind mir ein liebes und gern gehegtes Andenken geblieben bis auf den heutigen Tag.“

„Darf ich fragen, was er gesungen hat?“

„Ich hatte ein Heckenröschen in das Haar gesteckt, und da er zwischen dieser Blume und meinem damaligen Wesen Ähnlichkeiten zu entdecken schien, so hatte ich die zweifelhafte Ehre, von ihm als ‚wilde Rose‘ besungen zu werden.“

„Und der Dank für sein Lied?“

„Bestand in jenem Röschen, welches er sich beim Scheiden von mir erbat.“

„Um es vielleicht wegzuwerfen, als er später der Erinnerung müde geworden ist.“

„Nein, nein,“ antwortete sie mit leisem, nachdenklichem Tone. „Er war ein aufrichtiges und treues Gemüt und hat jedenfalls die Erinnerung an jene Stunden ebenso fest gehalten wie ich. Seine Züge hat mein Gedächtnis nicht behalten können; aber seine Stimme klingt noch heute in mir fort, und ich glaube, daß ich ihn an derselben wiedererkennen würde.“

„Nicht auch an seinem Namen?“

„Den kenne ich nicht. Wir waren ja Kinder und fragten uns nicht nach der üblichen Legitimation. Meinen Namen habe ich ihm vielleicht genannt; der seinige aber ist nicht in Erwähnung gekommen. Doch wir entziehen uns der Gesellschaft. Lassen Sie uns zu ihr zurückkehren.“

Es wirbelte in dem Kopfe Winters, und er mußte alle Selbstbeherrschung aufbieten, um ruhig zu bleiben. Warum erzählte sie gerade ihm dieses kleine, kindliche Abenteuer, von welchem sie sicher gegen niemanden weiter gesprochen hatte? Warum verglich sie gerade ihn mit diesem Knaben, dessen Verse ihr bis heute ein teures Andenken gewesen waren? Er lächelte still und glücklich vor sich hin und mußte sich mit Gewalt von den Gedanken losreißen, welche ihn bestürmten. Aber als er später die Attribute seiner königlichen Würde abgelegt hatte und nun von allen Seiten um das versprochene Liedchen gebeten wurde, trat er mit dem Vorsatze an das Piano, den Beweis zu führen, daß jener

Knabe den Tag im Walde auch im treuen Gedächtnis bewahrt habe.

Mit gewandter Technik flogen seine Finger präludierend über die Tasten, und als die nötige Stille eingetreten war, begann er den Gesang.

Sein Auge war auf Wanda gerichtet. Er wollte sich den Genuß nicht versagen, sie während seines Vortrages zu beobachten.

Bei den ersten Worten senkte sie, dem Wohlklange seiner Stimme lauschend, das Köpfchen; aber nicht lange währte es, so hob sie es mit einer raschen Bewegung in die Höhe. Forschend suchte ihr Auge in seinen Zügen; doch schien es, als wolle ihr das Gedächtnis nicht zu Hilfe kommen. Sie hatte ja vorhin gesagt, daß sie nur die vier letzten Verse behalten habe.

Da erhob er sich, verließ, ohne Begleitung weiter singend, das Instrument und lehnte sich, den Blick noch immer auf sie gerichtet, mitt verschränkten Armen an den nahen Pfeiler.

Jetzt machte mit einem Male der sinnende Ernst auf ihrem Angesichte einem hellen, sonnigen Lächeln Platz; dann strich sie mit einer Bewegung des freudigen Erkennens das reiche, volle Haar von den Schläfen zurück und schloß das Auge, um sich seinen Tönen mit vermehrter Aufmerksamkeit hingeben zu können. Kaum aber waren die Strophen

verklungen, so schnellte sie von ihrem Sitze in die Höhe und eilte mit einem Ausrufe des Entzückens auf den Sänger zu.

Schon wollte dieser ihre ausgestreckten Hände erfassen; da aber hielt sie plötzlich inne und floh, während die Glut der Scham ihr Antlitz bedeckte, dem Nebenzimmer zu.

Hier öffnete sie das Fenster und bot die heiße Stirn dem kühlenden Hauche der Abendluft dar.

Warum hatte sie ihn nicht eher erkannt! Dann wäre sie von der Überraschung nicht so plötzlich übermannt worden, und er hätte nie, nie erfahren, daß sie sein Bild aus den Jahren der Kindheit mit herübergenommen habe auch in die reifere und ernstere Zeit des Lebens. Eine plötzliche Erkenntnis stieg jäh und leuchtend in ihr empor, und alles, alles, was sie bisher gedacht, gefühlt, gehofft und gewollt hatte, stürzte haltlos zusammen und ließ nichts zurück als eine langsam aufdämmernde Ahnung gänzlicher Hilflosigkeit, gänzlichen Verlassenseins.

Und mitten in diese Dämmerung hinein tönten jene mahnenden Worte, welche er ihr am heutigen Abend gesagt:

„Es liegt in unserer Hand, das Niedergerissene mit starkem, vorurteilsfreiem Willen schöner und haltbarer wieder aufzurichten.“

Konnte das geschehen? Konnte sie dem Banne, den Geburt, Gewohnheit und Erziehung um sie gezogen, sich entreißen, um dem Rufe eines Gefühles zu folgen, welches Jahre unentdeckt in ihrem

Innern geschlummert hatte und jetzt mit einem Male seine leuchtenden Flammen über sie zusammenschlug?

Lange, lange stand sie so am Fenster und vermochte trotz aller Anstrengung nicht ihr heftig klopfendes Herz zur Ruhe zu bringen. Da ertönte es leise neben ihr:

„Wanda!“

Sie verharrte regungslos in ihrer Stellung.

„Habe ich Sie beleidigt? Verzeihen Sie mir!“ Es erfolgte keine Antwort.

„Bitte, sagen Sie mir ein Wort, nur ein einziges Wort!“

Es war ihr unmöglich, ihr glühendes Angesicht dem Sprecher zuzuwenden, und eine jede Silbe hätte ihre innere Aufregung verraten. Sie schwieg.

„Gute Nacht, Fränlein von Chlowicki!“ klang es da fest und energisch an ihr Ohr, und zu gleicher Zeit vernahm sie seinen sich entfernenden Schritt.

„Herr Winter!“

Er drehte sich langsam um. Kalt blickte sein Auge auf sie hin, und kein Zug seines Gesichtes verriet auch nur die leiseste Störung seines inneren Gleichgewichtes.

„Sie dürfen mich nicht verlassen, Herr Winter! Oder soll ich ohne Schutz und Begleitung dem Dunkel der Nacht mich anvertrauen?“

„Befehlen Sie Ihre Garderobe?“

„Ich bitte um sie!“

Nach wenigen Augenblicken kehrte er mit dem

Gewünschten zurück und verließ mit ihr das Haus. Auf der Straße angekommen, bot er ihr seinen Arm. Sie legte die Hand leise auf denselben, und so schritten sie in tiefen Gedanken, aber wortlos, weiter.

„Hier ist meine Wohnung. Die Mutter hat noch Licht und erwartet mich.“ Er zog die Glocke, und sofort erschien eine Dienerin um zu öffnen.

„Im Namen meines Vereins danke ich Ihnen für die gnädige Herablassung, welche uns einen so unerwartet schönen Abend bereitet hat!“

„Wollen Sie nicht für einen Augenblick Zutritt nehmen, damit auch Mutter Ihnen für Ihre Begleitung Dank sage?“

„Ich bitte, mich zu dispensieren. Die späte Stunde wird mich genügend entschuldigen.“

„Dann gute Nacht!“

„Gute Nacht!“

II. Im Felsenbruch.

Hingerissen von der begeisternden Gewalt der herrlichen Dichtung hatte Wanda vorgelesen. Jetzt schlug sie das Buch zu und blickte hinüber zur Mutter, um zu erforschen, welchen Eindruck die Vorlesung auf dieselbe gemacht habe.

Auf den kalten, starren, empfindungslosen Zügen der Frau von Chlowicki lag eine leise, kaum bemerkbare -

bemerkbare Röte als einziges Zeichen ihres Ergriffenseins; doch war bei der streng abweisenden Unempfindlichkeit der alten Dame diese Röte ein größeres Zugeständnis für den Dichter, als es der Applaus eines der Bewunderung des wahrhaft edlen und schönen zugänglicheren Publikums hätte sein können.

„Ich habe nie einem Menschenkinde gestattet,“ sprach sie mit heiserer, vom Husten oft unterbrochener Stimme, „sich irgend welchen Einflusses auf die Gefühle meines Herzens zu rühmen. Wer die hohe Aufgabe zu lösen hat, für die von so vielen Seiten angefochtenen Traditionen eines bevorzugten Standes einzustehen, der muß auch die kleinste Anlage zu idealistischer Schwärmerei ersticken und vernichten; denn die nackte Realität des Lebens tritt an die Angehörigen dieses Standes mit Anforderungen, denen nur ein in Drachenblut getauchter und so gegen alle Anfeindung gefeiter Charakter gerecht werden kann.

„So bin ich aller schwärmerischen Empfindelei fremd geblieben und kann nur aus diesem Grunde mich rühmen, stets und in allen Lagen Herr meiner selbst und auch meiner Verhältnisse gewesen zu sein. Dieser unbekannte Autor, dessen gewandte und aristokratisch feine Schreibweise ihn hoch über den Schwarm unserer heutigen Dichterlinge stellt, ist der erste, dem ich meine Aufmerksamkeit und geistige Hingebung widme, und ich kann das in der beruhigenden Ueberzeugung thun, daß er sich in einer seiner nächsten Nummern als der Träger eines den höheren Sphären angehörigen Namens demaskieren wird.“

„Aristokratisch fein und gewandt, Mama? Dieser eine Vorzug scheint mir, da er sich doch nur auf die Form bezieht, bei seinen vielen anderen vortrefflichen Eigenschaften der kleinste und unbedeutendste zu sein. Ich beurteile den Mann nicht nach dieser Außenseite und hege infolgedessen eine der Deinigen vollständig entgegengesetzte Meinung über die Sphäre, welche ihm als Heimat dient. Seine urwüchsige

Natürlichkeit, die so kraft- und effektvoll unter säuselnden Blättern und duftigen Blüten zum Himmel strebt, kann unmöglich in der künstlich gemischten Blumenerde des Salons ihre Wurzel geschlagen haben. Sein gegen den Druck niederbeugender Verhältnisse kämpfender, in die Zügel knirschender und mutig sich aufbäumender Geist durchbricht, himmelanstrebend, die von socialer Anmaßung gezogenen Schranken und steigt, Asche und Schlacken von sich schleudernd, in stolze Höhe wie der Lichtstrom, welcher dem Krater entflutet, um zu verkünden, daß der Boden unterhöhlt und den ewigen Gesetzen der Natur kein dauernder und siegreicher Widerstand zu leisten sei. Ich könnte alles, alles was ich bin und habe, von mir werfen, um zu seinen Füßen sitzen und dem Fluge seines Genius folgen zu dürfen.

„Ich frage nicht nach seinem Namen, nicht nach seinen Ahnen; ich empfinde nur den Wohllaut und die unwiderstehliche Macht seiner Rede und fühle, daß meine Seele ihm bei jedem seiner Worte zurufen möchte: ‚Du bist so groß, und ich bin so klein, klein, klein!“

„Einem so excentrischen und dabei unlenkbaren

Wesen wie Du muß man selbst eine Ueberspanntheit, wie die gegenwärtige, verzeihen!“

„In mancher Beziehung mag ich vielleicht etwas ungewöhnlich und schwer zu lenken sein, Mama; doch ist das wohl nicht meine eigene Schuld. Den Ausdruck ‚Ueberspanntheit‘ aber darf ich selbst Dir nicht gestatten.“

„Ach so?“ fragte die alte Dame mit scharfer Betonung. „Du beabsichtigst, mich zu hofmeistern. Liegt hierin nicht etwas der Ueberspannung Aehnliches?“

„Es kann nicht meine Absicht sein, Dich zu korrigieren; aber ebensowenig dulde ich ein Urteil, welches ich aus dem Munde der Mutter am allerwenigsten zu hören erwarte.“

„Und doch hast Du keine Berechtigung, Dich in Deiner Würde verletzt zu fühlen, denn Du selbst beleidigst ja diese Würde durch Unziemlichkeiten, welche haarsträubend wirken möchten. Denke nur an gestern. Ich nehme natürlich daraus Veranlassung, Dich so bald wie möglich unter die strenge Vormundschaft eines Mannes zu stellen, dessen ernste Festigkeit Dir mehr imponieren wird als meine leider allzu schwache und schonende Nachsicht.“

„Bitte, Mama, laß das! Du hast diesen Verweis heute schon so oft wiederholt, daß er notwendig seine Schärfe verlieren muß. Wie man das Bäumchen zieht, so wird es wachsen, und mit Vorwürfen sind die Fehler der Erziehung nicht wieder gut zu machen.“

„Mädchen! Das wagst Du?“

„Bei dieser Art von erzwungener Verteidigung kann von einem Wagnis keine Rede sein.“

„Verteidigung? Sprich weiter! Die zweite Frau Deines Vaters hat wohl das Recht, diesen Befehl auszusprechen!“

„Wiederhole Dir meine Worte, und Du wirst alles haben, was Dir zu wissen nötig ist. Das Opfer der vornehmen Tradition verschmäht es, ein weiteres Wort zu verlieren. Adieu!“

„Halt; bleib’! Du bist kurz; ich will es auch sein. Bist Du vielleicht gewillt, dieses sogenannte Opfer rückgängig zu machen.?

„Nein; ich gab mein Wort und werde es halten.“

„So wirst Du Deinen faux pas durch verdoppelte Aufmerksamkeit gegen den Baron gut zu machen wissen. Er wird in kurzer Zeit hier sein, um Dich auf Deinem gewöhnlichen Spaziergange zu begleiten.“

„Die größte Aufmerksamkeit, welche ich ihm erzeigen kann, besteht in der vollständigen Verzichtleistung auf seine Gesellschaft. Ich bin ihm unbehaglich.“

Sie wandte sich zur Thür und verließ kurze Zeit darauf das Haus. —

Winter saß in seiner Stube und blätterte in den Kehrlisten; aber seine Gedanken schienen nicht bei den Namen und Hausnummern zu sein, welche auf dem Papiere standen. Sie verweilten vielmehr bei jenem Tage, an welchem der ‚selbstbewußte Knabe‘ mit dem wilden, reizenden Mädchen durch

den Wald gestrichen und in ihrer Nähe so glücklich gewesen war.

Er gedachte der Enttäuschung, die ihn dann am Abend erwartet hatte, als er den Paten krank und sterbend fand und also hilflos und verlassen zurückkehren mußte in die große Stadt, in welcher niemand sich seiner annehmen wollte.

Sein Vater war ein wohlangesehener Schornsteinfegermeister gewesen. Emil hatte als Knabe öfter die Gesellen begleitet und war mit ihnen in den Essen und auf den Dächern herumgestiegen. Er besaß einen gewandten, kräftigen Körper, ein schwindelfreies Auge und genug Energie, um ihn jetzt zu einem raschen Entschlusse zu gelangen.

Weder von der Mutter und den Schwestern noch von dem Bruder, welcher auf Jahre hinaus mit der eigenen Not und Sorge zu kämpfen hatte, durfte er Unterstützung erwarten, und so ging er zu einem Kollegen des verstorbenen Vaters, um bei ihm als Geselle einzutreten.

Aber damit hatte er nicht dem Ziele entsagt, nach welchem zu streben seine Aufgabe gewesen war. Er gehörte vielmehr zu jenen zähen, konsequenten Naturen, welche durch momentanes Nachgeben selbst das feindlichste Schicksal zu besiegen wissen und die Ausführung eines einmal gefaßten Gedankens wohl für einige Zeit aufschieben, niemals aber aufgeben.

Zwar gab er sich dem neuerwählten Berufe mit dem nachhaltigsten Pflichteifer hin: aber dieser Beruf sollte ihm die Mittel bringen zum selbstständigen Vorwärtsschreiten auf dem Wege, welchen

zu verlassen er gezwungen gewesen war. Und so kam es auch.

Schon nach einigen Jahren hatte er Leipzig, wo er Selbstständigkeit nie gefunden hätte, mit seinem jetzigen Aufenthaltsorte vertauscht, nach dem Tode seines Meisters dessen Geschäft übernommen und nun auch die Mutter mit den Schwestern zu sich gerufen, um sich einer geschlossenen Häuslichkeit erfreuen zu können.

Jetzt nun, da er sich in einer gesicherten Stellung sah, griff er wieder zu den alten Plänen und warf sich in seinen Mußestunden mit Eifer auf die Fortsetzung der unterbrochenen Studien.

Seine freie Lebensanschauung fand in dem schmutzigen Berufe eines Essenkehrers nichts Ehrwidriges, und so schritt er rastlos auf dem wiederbetretenen Wege vorwärts, ohne sich nach rechts oder links umzusehen und sich aus irgend einem Umstande Störung bereiten zu lassen.

Seiner einzigen Erholung waren diejenigen Stunden gewidmet, welche er in der ‚Erheiterung‘ zubrachte, deren Vorsteher er vermöge seines organisatorischen Talentes geworden war. Er war es eigentlich gewesen, der den Verein zu jener Beliebtheit gebracht hatte, welche seine Konzerte und Bälle so besucht machte, und als infolge einer mehrmonatlichen Abwesenheit sein Amt in die Hände eines anderen übergegangen war, hatte man es ihm nach seiner Rückkehr sofort wieder übertragen, und im gestrigen Stiftungsfeste hatte er das erste neue Lebenszeichen von sich gegeben.

Das dabei gehabte Zusammentreffen mit Wanda war ihm heute morgen Veranlassung geworden, sich an jenen Tag zurückzuversetzen, an welchem er sie zum ersten Male gesehen hatte.

Jene taufrische, kindlich reine Mädchenerscheinung hatte sich seinem poesievollen Sinne tief eingeprägt und war von dem Gedächtnis auch in dem kleinsten und einzelsten ihrer Züge mit inniger Treue festgehalten worden. Mitten in der Ausübung seines unromantischen Berufes tauchte diese Erscheinung auf; die Bilder seiner früchtereichen Phantasie gruppierten sich um ihre feenhafte, anmutige Gestalt und kehrten, so oft sie hinaus in die Weite schweiften, doch immer zurück zu dieser einen, an die er immer denken mußte und die er nimmer, nimmer vergessen konnte.

Der Gedanke an sie hatte ihn begleitet in seine bescheidenen und anspruchslosen Verhältnisse hinein, hatte ihm Kraft gegeben zu fortgesetztem, unermüdlichem Ringen, ihn begeistert und gestählt im Kampfe mit dem widrigen Geschicke und war auf diese Weise zu einer Macht geworden, der er sich beugte in all seinem Denken, Fühlen und Wollen.

Wie das so gekommen war, wie es möglich war, daß das Bild eines den Kinderschuhen noch nicht entwachsenen Mädchens sich seines Herzens, seiner ganzen Seele hatte bemächtigen können, sodaß es ihm für die Ruhe und den Frieden seines Innern geradezu unentbehrlich geworden war, das konnte er nicht begreifen. Er hatte sich der lieben, freundlichen Erinnerung widerstandslos hingegeben und sich des anregenden und läuternden Einflusses dieser

Erinnerung herzlich gefreut. Jetzt aber handelte es sich nicht mehr um ein bloßes Bild; jetzt hatte sie vor ihm gestanden voller Leben und sprudelnder Jugendlust, gerade so wie damals, aber unendlich schöner noch, unendlich bezaubern­der. —

Mitten aus diesem Sinnen wurde er aufgeschreckt durch den Eintritt der beiden Freunde Thomas und Gräßler.

„Grüß Gott, Majestät! Haste ausgeschlafen?“ fragte der Schmied.

„Dank schön, Herr Oberhofkourier. Unsere königliche Gnaden haben schon geruht, in einem halben Mandel Essen herumzuscharren. Wie hat sich das Gouvernantchen angestellt?“

„Prächtig, altes Haus ! Der Herr corpus juris Heinemann hat meine Alte an die richtige Adresse gebracht, und so durfte se nich böse sein, daß ich meiner Dame den schuldigen Respekt ooch erwiesen habe. Ich bin mein’ Seel’ erst halb viere heeme gekommen.“

„Und Du, Heinrich?“

„Ich bin solid gewesen. Du weeßt doch, daß ich gar keene Dame gehabt habe, und da habe ich mich recht schön vernünftig in meiner eegenen Begleitung nach Bethlehem getrollt.“

„Na, alter Papierkleister, eene solche Solidität is mir bei Dir ooch nich ganz begreiflich. Ihr Buchbinder steckt Eure Nasen doch in so viel Liebes- und Mondscheinscharteken, daß ihr gewöhnlich von eener wahren Wut besessen seid, Eure theoretischen

Studien ins Praktische hinüber zu modulieren. Oder hat’s an der Anna gefehlt?“

„An welcher Anna?“ fiel Winter ein.

„Weeste das noch nich?“ rief Gräßler mit einer Geberde komischen Erstaunens. „Darfst nur ’s Fenster offmachen und ’naus horchen. Jeder Sperling pfeift davon, daß er in eenem aristotelischen Verhältnis zu der Kammerzofe der Wanda steht, und das is eben der Grund, daß er heut’ nacht so ohne Sang und Klang seinen Hausschlüssel heeme getragen hat.“

„Ach so! Ich glaubte, Du hättest deshalb verzichten müssen, weil ich Dich überboten habe.“

„I bewahre, Emil! Ich habe off das Fräulein geboten, nich um es zu kriegen; denn diese Art Trauben hängen mir zu hoch, sondern aus reener Malice gegen den Baron, der mir im höchsten Grade zuwider is.“

„Ich habe an dem Kerl meinen Narren ooch gefressen, eben wegen des Ohrfeigengesichtes. Bei Dir aber muß es noch eenen anderen Grund haben.“

„Den hat es ooch.“

„Welcher wäre das?“ fragte Winter. „Du wolltest gestern nicht davon sprechen?“

„Weil een Saal nich der passende Ort is, über Dinge zu reden, die das Zuchthaus in Aussicht stellen.“

„Alle Wetter, Junge, biste toll! Wer soll denn so ’ne unbegreifliche Inklination zum Wolle zupfen haben, Du oder der Säumling?“

„Ich natürlich nich.“

„So rede doch,“ bat der Essenkehrer. „Du weißt nicht, wie wichtig mir Deine Mitteilung werden kann.“

„Na meinetwegen. Ihr sollt’s hören, obgleich ich mich ooch irren kann. Als ich vor ungefähr anderthalb Jahren in Paris arbeitete, trat eenes schönen Tages een Herr in den Laden und suchte für die Dame, die er bei sich hatte, so etliches von unseren Galanteriewaren aus. Er bezahlte in Banknoten, die sich später als falsch erwiesen. Trotz allen Suchens is der Mann von der Polizei nich offzufinden gewesen, obgleich es gelang, seine Helfershelfer zu entdecken.“

„Und Du denkst, daß es der Baron gewesen is?“

„Ich kann mich, wie gesagt irren, aber die Stimme is dieselbe, und obgleich er damals ’nen mächtigen, schwarzen Vollbart trug, scheint mir sein ganzes Wesen und Gebaren dasjenige zu sein, welches ich an dem Banknotenfälscher beobachtete.“

„Du machtest mich gestern auf sein Lorgnon und seine Kette aufmerksam.“

„Ja, das is’ eben, was mich in meinem Verdachte bestärkt. Dieselbe Nasenquetsche und dieselben Berlocken sind mir in Paris an ihm offgefallen. Der Mensch trug sich so in die Oogen fallend und benahm sich so widerwärtig vornehm, daß mir jede Eenzelheet an ihm im Gedächtnisse geblieben is.“

„Beabsichtigst Du, Anzeige zu machen?“

„Nee. Wenigstens werde ich so vorsichtig sein, den sogenannten Baron erst noch ’ne Weile zu beobachten, um vielleicht noch mehreres zu finden, was mir Gewißheit giebt, daß er der wirklich is, für den ich ihn halte.“

„Du? Welche Gründe haste denn zu dieser Ueberzeugung?“

„Der wirkliche Baron von Säumen hat in Leipzig studiert und wohnte in dem Hause meiner Eltern bei einer alten Dame, welche sich von der Vermietung möblierter Zimmer an die Wohlsituierten unter den Herren Studenten ernährte. Ich habe ihn täglich gesehen und finde es trotz einer höchst ungewöhnlichen Aehnlichkeit zwischen beiden nicht schwer, ihn von dem Schwindler zu unterscheiden, welcher jetzt seinen Namen trägt.“

„Also sehr ähnlich is er ihm?“

„Sehr.“

„Dann sind se vielleicht Brüder, und unser Verdacht is voreilig!“

„Dieser Fall ist möglich. Ich werde genaue Erkundigungen einziehen, und nach dem Ergebnisse derselben muß sich die Art und Weise unseres Handelns richten. Bis dahin aber müssen wir schweigen. Du hast doch noch zu niemandem über diese Angelegenheit gesprochen?“

„Is mir nich eingefallen.“

„Na, Brüder sind se mal nich,“ nahm jetzt auch der Schmied, welcher dem Gespräche mit Spannung gefolgt war, das Wort. „Es is mir zwar sehr egal, ob im norddeutschen Gesetzbuch een Paragraph darüber steht; aber een Baron darf keen Ohrfeigengesicht haben; das versteht sich ganz von selber. Wer soll denn einem so hochgestellten Herrn die besagten Ohrfeigen haben, und wenn er meinetwegen zehn Gesichter hätte, die derzu passen und berechtigen?

Ich nich, so gern ich es sonst thäte, denn mit großen Leuten is nich gut Kirschen essen.“

„Du willst also sagen, daß —“

„Sagen?“ fiel ihm Gräßler in das Wort. „Ich will mehr als sagen; ich will eenen logisch richtigen Beweis führen.“

„Du, Anton?“ fragte Thomas. „Woher beziehst Du denn das Ding, welches Du Logik schimpfst?“

„Maltraitiere mich nich, Heinrich! Ich sollte ’mal Schulmeester werden und habe es wirklich wegen Ueberflusses an Dummheit sogar bis zu einer vierteljährigen Tortur im Proseminar gebracht. Und von dieser selbigen Zeit her schreibt sich meine unübertreffliche Virtuosität im Schlüsseziehen.“

„Na, so ziehe ’mal!“

„Gut. Der Obersatz heeßt: Een Baron darf keen Ohrfeigengesicht haben.“

„Weiter.“

„Der Baron hat aber een Ohrfeigengesicht.“

„Folglich, Anton?“

„Folglich, folglich — ja zum Teufel, folglich darf een Baron doch keen Ohrfeigengesicht haben.“

„Seid doch so gut,“ fuhr er, als die beiden anderen über diesen sonderbaren Beweis lachten, fort; „seid doch so gut und macht Euch nich über mich lustig. Du hast mich mit Deinem ‚weiter‘ und ‚folglich‘ ganz aus dem Konzepte gebracht. Mach’s besser, wenn Du’s kannst. Beim Schlüsseziehen wird man ganz konfus, wenn andere d’rein reden!“

„Du wolltest sagen,“ begütigte ihn Winter, „wer

ein Ohrfeigengesicht hat, der ist kein Baron; der Säumen hat aber ein solches, folg­lich —“

„Ja, folglich is er keen Baron. So wollte ich sagen. Du bist een tüchtiger Kerl, Emil; ich habs ja immer gewußt! Horch! Was war das?“

Ein entsetzlicher Krach hatte in diesem Augenblicke die Luft erschüttert, sodaß die Fenster zitterten und der Boden unter ihren Füßen zu wanken schien. Winter riß die Thür auf und eilte auf die Straße. Die anderen folgten.

Sie waren es nicht allein, welche die Wißbegierde über den Ort und Grund der Explosion auf die Straße gelockt hatte. Aus allen Thüren stürzten die Bewohner der Häuser und forschten nach der Richtung, in welche sie sich zu wenden hatten, um Näheres zu erfahren. Der Eine mutmaßte das, der andere jenes; aber keiner wußte etwas Gewisses.

„Ich möchte nur in aller Welt wissen,“ meinte Thomas, „was das für een Schuß gewesen is!“

„Wenn Du an eenen Schuß globst, so kannst Du Dir off Dein Gehör gerade so viel einbilden, wie ich mir off meine Logik. Een Schuß hat keen solches Geprassel und Gepolter im Gefolge. Ich denke vielmehr, daß da draußen in den Felsenbrüchen ’ne Wand eingestürzt sein wird.“

„I, warum nich gar! So ’ner Wand wird das im ganzen Leben nich einfallen. Die hält ja ganz für zehn ganze Ewigkeeten.“

„Na, alter Junge, mache nur een paar weniger! Wo alle Wochen drei, viermal gesprengt wird,

da is’ es wirklich keen Wunder, wenn’s endlich mal kopfüber und kopfunter geht. Es darf ja nur een Bohrloch falsch getrieben oder die Ladung zu stark abgemessen werden, so purzelt alles zusammen.“

„Ich glaube auch, daß es eher in den Felsenbrüchen als sonst wo anders gewesen ist,“ nahm jetzt auch Winter das Wort. „Zwar weiß ich nicht, ob heute Arbeiter draußen beschäftigt sind, aber es muß doch so sein, und bei der ungewöhnlichen Stärke des Sprengschusses ist der Gedanke an ein mögliches Unglück jedenfalls nicht unbegründet. Ich eile hinaus. Geht ihr mit?“

„Meinswegen! Gearbeitet wird heut’ so wie so nich, und da ist es mir alleweile ganz und gar egal, off welchem Grund und Boden ich mir die Langeweile vertreibe. Loof also nur zu, Emil. Komm mit, Heinrich!“

Mit langen, raschen Schritten voranschreitend, blickte er nach einer Weile zurück, um zu sehen, ob die beiden anderen ihm auch folgten. Und als er bemerkte, daß sie sich dicht hinter ihm hielten, fuhr er fort:

„Bin zwar schon ’mal haußen gewesen, heut’ morgen; thut aber nichts.“

„Was hast Du denn so bei Zeiten im Freien gewollt, wenn Du so spät erst heeme gekommen bist?“

„Ich bin eenmal een verkehrter Kerl. Geh’ ich bald zu Bette, so wache ich späte off, und gehe ich spät zu Bette, so wache ich balde off. Und wenn ich eenmal off bin, so leidet mich’s ooch nich unter der Decke; ich muß ’raus. Giebts ooch keene Arbeit

im Hause, so giebt’s doch draußen immer ’was zu thun, und wenn‘s nur wäre, daß mer ’mal nachsieht, wie sich heuer die Erdäpfel anlassen werden.“

„Ach so, Du hast ja Dein Feld da droben über den Brüchen.“

„Ja. Uebrigens bin ich nich der Eenzige gewesen, der oben ’rumgekrochen is. Unser Baron scheint ooch een Freund von Morgenkühle zu sein. Er kam aus dem untersten Bruche, als ich den Seitensteg noffging.“

„Was muß denn der da drinn zu thun haben?“

„Weeß es nich. Erst dachte ich, er hätte een Bohreisen in der Hand; aber es wird wohl der Spazierstock gewesen sein. Und off dem Heemwege begegnete mir Deine Königin, Emil. Se machte mir eenen freundlichen Knicks und fragte mich, ob der Altan schon besetzt sei.“

„Der Altan droben über dem obersten Bruche?“ fragte Winter erschrocken.

„Ja. Du weeßt wohl noch nich, daß se da droben der schönen Aussicht wegen ihren Stammplatz hat?“

„Lauft schnell, um Gottes Willen, lauft schnell!“ rief der Essenkehrer jetzt und stürmte mit fliegender Hast den anderen voran.

„Na, na, na, na, alter Junge. Derwegen braucht Dir die schöne Aussicht nich so in die Beene zu fahren. Wenn se noch droben ist, so treffen wir se jedenfalls, ooch wenn wir uns nich so ganz und gar außer Atem loofen.“

„Kommt nur, kommt! Es handelt sich ja gar

nicht um das Antreffen, sondern um das Unglück, welches hier geschehen sein kann.“

„Ach so. Alle Wetter, Du hast recht. Wenn der Knall in den Brüchen losgegangen is, so kann — na, wenn Ihr meine Weisheet alleweile nich anhören wollt, so looft meinswegen immer zu!“

Der Weg hob sich vor der Stadt steil an und führte durch eine Reihe von Steinbrüchen, deren oberster seit langer Zeit nicht mehr bearbeitet wurde und den Zielpunkt vieler Spaziergänger bildete.

Seine senkrecht und turmhoch emporstarrenden Wände waren von zahlreichen Sprüngen zerrissen und zerklüftet. Die hölzerne Schutzwehr, welche seinen steil abfallenden Rand umgab, war verfault und vermodert und existierte fast nur dem Namen nach; trotzdem aber gab es Leute, welche den gefährlichen Ort gern besuchten, weil man von ihm aus einen weiten Fernblick in das rundum und weit hinaus liegende Land thun konnte.

Am häufigsten war die wilde Polin hier zu sehen. Ihrem ungewöhnlichen Charakter behagte der Ortgerade der Gefahr wegen, und aus ebendemselben Grunde faßte sie gewöhnlich an derjenigen Stelle Posto, welche von den anderen am sorgfältigsten vermieden wurde.

Es war das der sogenannte ‚Altan‘, ein weit hinausgehender Felsenvorsprung, welcher fast jeden Haltes entbehrte und zu der Verwunderung darüber berechtigte, daß er nicht längst schon in die gähnende Tiefe hinabgestürzt sei. Zwar war der Zugang zu dem Orte streng verboten; aber Wanda kannte

keinen Grund, dieses Verbot zu respektieren, und freute sich, ein Plätzchen gefunden zu haben, auf dessen Alleinbesitz die Kühnheit ihr ein unbestrittenes Monopol gab.

Als die drei Freunde in den untersten der Brüche einbogen, bemerkten sie eine Schar Städter, welche die gleiche Vermutung aus der Stadt getrieben hatte. Aber ohne das Herannahen dieser Leute abzuwarten, eilten sie vorwärts, zumal sie aus dem ungewöhnlichen Staubgehalte der Luft die Ueberzeugung nahmen, daß Gräßler sich nicht getäuscht habe.

„Seht Ihr’s ?“ rief Winter, als er um die letzte Ecke gesprungen war und das Chaos von Felsenstücken überblickte, welches vor ihm lag. „Der Altan ist heruntergestürzt und hat alles zerschmettert was in seinem Wege lag. Wenn die Polin sich wirklich auf ihm befunden hat, so ist sie tot!“

„Droben is se ganz sicher gewesen. Und nur für kurze Zeit hat se gewiß nich noff gewollt; denn sie hatte ihre Zeechenmappe unter dem Arme. Wir müssen suchen!“

Sofort und mit Eifer gingen sie an das Werk, und besonders war es Emil, welcher von Felsen zu Felsen flog und mit Riesenkraft die Steine auseinander riß, um eine Spur der Gesuchten zu entdecken. Er war von einer Seelenangst erfüllt, wie er sie im Leben noch nie empfunden hatte. Er bemerkte nicht, daß ihm die Hände bluteten und die Kleidung von dem scharfkantigen Gesteine zerrissen und zerfetzt wurde; finden, nur finden wollte

er, einen anderen Gedanken gab es für ihn nicht. Und selbst als die übrigen ankamen und noch andere nachströmten, hatte er für sie weder Blicke noch Worte und ruhte nicht, bis auch das letzte Trümmerstück davongewälzt und damit die Ueberzeugung gefunden worden war, daß Wanda hier nicht zu finden sei.“

„Laß es itzt gut sein, Emil,“ mahnte Thomas. „Se kann nich droben gewesen sein, sonst hätten wir wenigstens etwas von ihr bemerkt.“

„Aber se is ooch nich derheeme,“ antwortete der hinzutretende Schmied. „Ihr Wirt is da; der weeß es ganz gewiß, daß se off dem Altan hat zeechnen wollen.“

„Se kann doch ooch wo anders hingegangen sein.“

„Wir müssen Klarheit haben. Laßt uns einmal nach oben steigen.“

Er warf einen forschenden Blick in die Höhe und schien plötzlich zu erbleichen.

„Seht einmal da hinauf. Liegt nicht etwas Weißes auf dem Brombeergesträuch, welches aus der Ritze wächst?“

„Das is entweder een weißes Taschentuch oder een zerknitterter Zeechenbogen. Se muß also doch dagewesen sein!“

„Laßt die anderen noch einmal alles genau durchsuchen und kommt dann nach. Ich muß hinauf.“

Er eilte zurück durch die vorderen Brüche und stieg dann den Seitenpfad empor, von welchem Gräßler vorhin gesprochen hatte.

Nicht lange dauerte es, so hatten ihn trotz der

Eile, mit welcher er sich fortbewegte, die beiden Freunde eingeholt, und so schritten sie, mit scharfem Auge die gegenüberliegenden Wände musternd, längs des Felsenrandes vorwärts.

„Hier hat der Altan gehangen, und hier sehe ich die Spuren eines kleinen, weiblichen Fußes im Sande. Sie gehen nicht wieder zurück, also muß sie mit hinabgestürzt sein.“

„Guck ’mal, Emil, hier sind ooch noch größere Fußtapfen. Die rühren ganz sicher von eenem Männerstiefel her. Sie gehen ooch wieder retour. Wer muß denn das gewesen sein?“

„Warte einmal, Heinrich. Wir müssen vorsichtig sein und die Spuren ja nicht verwischen. Man kann nicht wissen, was hier geschehen ist.“

Er bückte sich nieder, um die Fußtapfen einer genauen Prüfung zu unterwerfen.

„Der Mann hat einen kleinen, zierlichen Fuß und trägt Sporenkasten an den Absätzen. Er ist eher dagewesen als die Polin; denn seht, die Kanten ihrer Spur sind noch scharf, während die seinigen schon eingebröckelt sind. Laßt uns sehen, ob er auf dem Altane gewesen ist.“

„Nee, er is hierher gegangen. Alle Wetter, das sieht ja grad’ so aus, als ob er immer über den Rand hinweg grad’ aus in die Luft hineingeloofen wäre.“

„Wohl nicht. Hier am Rande häufen sich die Spuren. Er hat also hier stand genommen.“

„Das gloobe ich nich. Drei Zoll vom Rande

stellt sich niemand her. Ooch das schwindelfreieste Auge kann das nicht vertragen.“

„Du hast recht. Halt! Hier sind zwei runde Eindrücke, wie von Knieen, und hier ist der Rand abgerieben. Er ist also über denselben hinunter gestiegen.“

„Das wäre mein’ Seel’ een Wagestück, zu dem ich ihm meinen sterblichen Leichnam off keene halbe Minute geborgt hätte.“

„Und doch ist es so; eine Verwegenheit, wie sie wohl selten zu finden ist, gehört freilich dazu. Jedenfalls hat er eine Strickleiter gehabt. Suchen wir nach dem Orte, wo dieselbe befestigt gewesen ist. Er muß in dieser Richtung hier zu finden sein.“

„Hier; schau ’mal her. Er hat den eisernen Keil nich wieder ’raus gebracht und ihn also vollends hineingetrieben, damit er nich bemerkt werden soll.“

„Wart ’mal, Heinrich! Der Keil ist noch neu, wie’s scheint; er is aus zwee Stücken zusammengeschweißt; das sehe ich schon, ehe wir ihn ’rausgezogen haben. Das Ding kommt mir außerordentlich bekannt vor.“

„Wieso?“ fragte Winter erwartungsvoll.

„Ich habe für Polizeirats eenen machen müssen; und der wird’s wohl sein. Der alte Herr hat die löbliche Angewohnheet, sich aus Gesundheitsrücksichten sein Holz höchst eegenhändig klar zu machen.“

„Der Baron wohnt jetzt bei dem Rate. Du hast heute morgen geglaubt, ein Bohreisen in seiner Hand zu sehen?“

„Ja, aber behaupten kann ich nich, daß es ooch eens gewesen is.“

„Schon gut. Ihr beide bleibt hier und bewacht die Spuren, damit sie nicht verwischt werden. Ich habe den Stadtrichter unten bemerkt; er mag die Sache näher untersuchen. Es liegt ein Verdacht nahe, und es kann nicht gar zu schwer sein, die Stiefel zu finden, von denen diese Eindrücke hier herrühren.“

„Du denkst doch nicht etwa, daß der Baron seine eegene Braut —“

„Ich denke jetzt an nichts weiter als an die Verpflichtung, unsere Entdeckung der Polizei mitzuteilen. Diese mag dann aus dem Gefundenen beliebig weiter schließen.“

Er entfernte sich und eilte zu der anderen Seite des Bruches nach unten.

Wie vorhin, so musterte er auch jetzt mit suchenden Augen die gegenüberliegende Wand und blieb plötzlich überrascht und erschrocken stehen. Etwas von der Höhenmitte der Seitenwand war früher ein von Rissen umgebenes Felsenstück durch irgend einen Umstand abgelöst und in die Tiefe gestürzt. So hatte sich eine Höhle gebildet, welcher der Same allerlei Unkrautes, welches den Eingang fast verdeckte, vom Winde zugetragen worden war. Und dieses Gestrüpp, welches seine Zweige nach außen an das Tageslicht drängte, war jetzt nach innen gebogen und bildete das Lager einer Frauengestalt, welche regungslos in der Weise auf demselben niedergestreckt war, daß ein Teil des unteren

Körpers über den Grund der Höhle herausragte und nur in den wenigen Dornenzweigen eine zweifelhafte Stütze fand.

Es war die Polin.

Die Macht der Explosion hatte sie seitwärts geschleudert, und nur Gottes Hand war es gewesen, die den Sturz so geleitet hatte, daß er nicht in die Tiefe gegangen war.

Ob sie tot, ob sie noch lebend sei, Winter fragte nicht darnach.

Seine Haare wollten sich emporsträuben bei dem Gedanken an die Gefährlichkeit ihrer jetzigen Lage; denn bei der geringsten Bewegung mußte sie den Halt verlieren und unten auf den Felsentrümmern zerschmettert werden.

Von oben war die Höhle selbst mit einer Strickleiter nicht zugänglich, da der Rand des Bruches weit hervorragte, und von unten konnte sie wegen ihrer außerordentlichen Höhe auch durch zusammengebundene Leitern nicht erreicht werden. Es gab nur einen Weg zu ihr, und dieser eine Weg mußte sofort und ohne die mindeste Versäumnis betreten werden, wenn Hilfe überhaupt noch gebracht werden sollte und konnte.

Ohne zu beobachten, daß die Nähe des Abgrundes ihm selbst Gefahr drohe, rannte er in mächtigen Sätzen den steilen und glatten Pfad hinab.

Die Umstehenden sahen ihn kommen, schlossen aus der Eile, mit welcher er seinen Weg zurücklegte, daß er eine Entdeckung gemacht habe und drängten sich ihm entgegen.

„Wo ist der Herr Stadtrichter?“ rief er atemlos.

„Hier bin ich, Herr Winter. Was giebt es?“

„Verfügen Sie sich so schleunig wie möglich, aber ohne Begleitung dieser Leute hier, hinauf an die Stelle, an welcher der Altan sich befunden hat. Es erwarten Sie wichtige Mitteilungen oben.“

Und sich zu den anderen wendend, fragte er:

„Haben Sie bei Ihrem Suchen vielleicht ein Seil oder so etwas Aehnliches bemerkt?’

„Wir haben ein Seil unten in unserer Hütte,“ antwortete einer der Steinbrecher, welche mit herbeigetreten waren.

„Langt es bis hinauf an die Höhle dort?“

„Ja, es ist das große Windeseil.“

„Holen Sie es sofort, und hier, Junge, hast Du Geld und hole von Deinem Meister zwei Päcke vom stärksten Bindfaden. Aber laufe um Gottes willen schnell: es gilt ein Menschenleben. In fünf Minuten mußt Du wieder hier sein!“

Wie aus einer Pistole geschossen, flog der Seilerlehrling von dannen, und Winter erklärte nun den Umstehenden die Notwendigkeit, Seile und Bindfaden zu haben.

„Fränlein von Chlowicki ist von dem Sturze dort oben in die Höhle geschleudert worden. Der Zugang zu dieser Höhle ist nur dadurch möglich, daß man die Risse im Felsen zum Emporsteigen benutzt, das schwere Seil dann mittelst des Bindfadens emporzieht und erst die Verunglückte und dann sich selbst daran herunterläßt.“

Die Aufregung der Leute war groß. Rufe des

Erstaunens und der Verwunderung über die glückliche Richtung des Falles mischten sich mit mißbilligenden Ausdrücken über die von Winter gehegte Ansicht von der Art und Weise, wie das Mädchen zu retten sei.

Hunderterlei Meinungen wurden ausgesprochen; der Essenkehrer aber hörte gar nicht auf die Worte. Er verfolgte den Lauf der verschiedenen Risse und Klüftungen und schien endlich über den Weg, den er einzuschlagen hatte, mit sich einig zu sein.

Jetzt brachten auch mehrere Arbeiter das Seil, und gleich hinter ihnen kam der schnellfüßige Lehrling gesprungen und übergab Winter den verlangten Bindfaden.

„Nun paßt auf, ihr Leute. Ich steige hinauf, und wenn ich Euch den Faden herablasse, so befestigt Ihr das Seil daran. Das ist alles, was Ihr zu thun habt!“

Er steckte Hammer und Meißel, welche er schon vorhin aus der Werkzeughütte geholt hatte, zu sich, kletterte über die Steintrümmer hinüber zur Felsenwand und begann den gefahrvollen Aufstieg.

Der Felsen stieg senkrecht in die Höhe und zeigte sogar Stellen, wo er sich nach außen wölbte.

Hier galt es nicht nur ein sichres Auge und ein mutiges Herz, sondern vor allen Dingen war ein mit ungewöhnlicher Muskelkraft ausgerüsteter Körper notwendig. Denn bei dem geringsten Nachlassen der angespannten Muskeln war der verderbliche Sturz die augenblicklichste Folge.

Mit dem Rücken nach außen, stemmte er Arme

und Beine in die Kluft und arbeitete sich langsam und ruhig nach Schornsteinfegermanier empor.

Die Augen der Umstehenden hingen mit Spannung an ihm; ununterbrochene Zurufe, die ihn anfeuern oder auf eine schlimme Stelle aufmerksam machen sollten, ertönten, und wenn er bloß mit einer Hand oder nur mit einem einzigen Fuße Halt nehmen durfte, um den Übergang aus einem Risse in den andern zu erzwingen, so konnte man die Herzen fast klopfen hören.

Und je weiter hinauf er kam, desto größer wurde auch die Gefahr.

Aber nicht ein einziges Mal stieg oder griff er fehl. Es war, als hätte er den Weg schon hundert Male zurückgelegt und sei mit jedem Fußbreit des Felsens genau und innig vertraut.

Die Nachricht von dem Unglücke, welches die schöne Polin betroffen hatte, war mittlerweile durch die ganze Stadt gelaufen, und wer nur einigermaßen von zu Hause fort konnte, der eilte hinaus, um Augenzeuge sein zu können.

Der Baron war sofort in die Wohnung der Baronin geeilt, hatte schleunigst anspannen lassen und fuhr mit der alten Dame so weit heran, als es das Terrain erlaubte. Dann half er ihr aus dem Wagen und führte sie vollends hinauf bis in den obersten Bruch.

Kein Zug in dem Angesichte der kalten, strengen Aristokratin verriet eine Spur von innerer Aufregung; aber ein sorgfältiger Beobachter hätte hinter dem feuchten Glanze ihres Auges die tiefe Angst

bemerken können, welche ihr bei gewöhnlicher Gelegenheit starres, durch die Unglückskunde jetzt aber zum Bewußtsein gekommenes Herz erfüllte.

Auf dem ganzen Wege hatte der Baron kein Wort gesprochen, aber als er jetzt den unerschrockenen Kletterer bemerkte, stieß er einen lauten Ruf der Verwunderung aus.

„Wer ist der Mann?“ fragte er einen der Leute.

„Der Essenkehrer Winter.“

„Ach dieser,“ dehnte er mit einem eigentümlichen Tone der Befriedigung. „Ich kann nichts dagegen haben, wenn er den Hals brechen will. Die Sache konnte anders und besser angegriffen werden!“

Thomas und Gräßler waren jetzt wieder nach unten gekommen, und da sie eben vor dem Sprecher vorübergingen, vernahmen beide die Worte.

Rasch drehte sich der Schmied um und schlug dem Baron die große, schwielige Hand derart auf die Schulter, daß er tief zusammenzuckte.

„Maul halten, Bruderherz! Wie so vieles andere, scheint der da droben ooch diese Sache besser zu verstehen, als Sie. Eegentlich wäre es Ihre Pflicht, sich da noff zu würgen und ich kann mich nich genug wundern, daß Sie so ruhig hier stehen bleiben können. Also, Schatz, nehmen Se sich mit Redensarten in acht; wir sind heut’ nich mehr im Tanzsaale!“

Säumen schien erst jetzt zu erkennen, was sein Verhältnis zu Wanda von ihm fordere. Rasch warf er den Oberrock ab und trat einige Schritte vor.

„Bringt das Seil nach oben. Ich werde mich daran herablassen!“

„Das wird nich gehen,“ entgegnete ihm Thomas.

„Warum nicht?“

„Winter hat’s für sich holen lassen.“

„Aber es gehört dahin, wo es am notwendigsten gebraucht wird!“

„Und das wird gerade hier bei uns sein.“

„Wissen Sie, mit wem Sie sprechen?“

„Noch nich so ganz genau; vielleicht aber erfahre ich’s noch!“

Jetzt erscholl ein lauter, einstimmiger Ruf der Freude. Winter hatte die Höhle erreicht und war in ihrer Vertiefung verschwunden.

Die Spannung war eine so aufreibende und bedeutende gewesen, daß selbst die Zuschauer einer Erholung bedurften, und diese fanden sie dadurch, daß sie ihrer Beklemmung in lauten Ausbrüchen Luft machten.

„Nehmt doch Verstand an, Ihr Leute!“ rief der Schmied in die schreiende und gestikulierende Ver- sammlung hinein. „Wenn der Winter uns ‚was zurufen will, so hören wir mein’ Seel keen’ Wort dervon!“

Augenblicklich trat die gewünschte Stille ein; aber der erwartete Zuruf blieb aus.

Aller Augen hingen an der Mündung der Höhle. Da endlich bewegte sich oben das Gebüsch und ein Kopf kam zum Vorschein.

„Er hat se neingezogen, und nun is er wieder haußen und wird die Schnure runterlassen.“

„Nee, das is der Winter nich, das is alleweile de Polin selber. Potz Himmel und Wolken, is das

een Mädel. Se will sich de Passage erst selber ansehen. Die hat keene Spur von Schwindel im Blute. Aber se is doch nich so ganz und gar billig weggekommen; seht Ihrs, daß se sich den Kopp verbunden hat?“

Jetzt zog sie sich wieder zurück, und kurze Zeit darauf vernahm man laute Hammerschläge. Eine Weile, nachdem dieselben verklungen waren, rief Thomas:

„Guckt ’mal! Is das nich der Faden, der da ’runter kommt? Ja wirklich. Er hat eenen Steen daran gebunden, daß er nich fliegen soll. So, da haben wir ihn. Er is doppelt, und das is gescheidt; er könnte sonst an den Steenen gescheuert werden. Gebt das Seil her; wir wollen es anschlingen!“

Es geschah, und bald darauf wurde es in die Höhe gezogen.

Dann wurde das Gestrüpp ausgerissen und heruntergeworfen, und nun konnte man die beiden oben stehen sehen.

Das Mädchen hatte das Oberkleid hosenartig zusammengeschlagen und ließ sich furchtlos an dem Rande des Abgrundes nieder.

Sie hatte sich das Seil um den Leib befestigt und stand mit den Füßen in einer Schlinge, welche ihr sicheren Halt gewährte. Die Hände hatte sie sich zur notwendigen Abwehr gegen den Felsen frei gehalten.

Jetzt drehte sie sich gegen die Wand und hing im nächsten Augenblicke frei in der Luft.

Winter stand mit vorgestemmtem Beine und zurückgebogenem Oberkörper am Eingange der Höhle und hielt mit kräftiger Hand das Seil, an welchem sie niederschwebte.

Langsam und vorsichtig griff sie, jede Umdrehung vermeidend, sich abwärts, und wenn sich auch ihren zarten Händen die Spuren der ungewohnten Berührung mit dem harten und scharfen Gestein einprägten, so kam sie doch nach kurzer Zeit sicher und wohlbehalten unten an, wo sie mit schallendem Jubelrufe empfangen wurde.

Sie aber wehrte die stürmischen Freudenbezeugungen von sich ab und wies, nachdem sie sich von den Schlingen befreit hatte, empor zur Höhe, in welcher Winter sich eben anschickte, nachzufolgen.

Das Niederturnen war bei weitem nicht so gefahrvoll wie das Emporklimmen. und so langte auch er unverletzt auf dem Boden an. Fast, freilich, hätte er ihn nicht erreicht; denn kaum war er ihm nahe, so streckten sich auch ein Dutzend Arme aus, ihn zu empfangen, und die stürmisch erregte Menge machte alle Anstalt, ihn auf die Schultern zu heben und im Triumph nach Hause zu tragen. Er aber machte sich mit einer energischen Bewegung frei und brach sich durch die Umstehenden Bahn, um zu Wanda zu gelangen.

„Sind Sie beschädigt, Fräulein?“

„Ich danke, nein.“

„So gestatten Sie mir den herzlichsten Glückwunsch. Für eine Dame war die Fahrt nicht ganz unbedenklich.“

„Das schwache Geschlecht ist zuweilen weniger zaghaft als das sogenannte starke. Man entledigt sich einfach des Rockes und hat damit seine Pflicht natürlich in ihrem vollsten Umfange erfüllt. Nicht wahr, Mama?“

Die alte Dame war mit dem Baron herzugetreten, und letzterer hatte die ihm geltenden Worte vernommen.

„Du darfst nicht ungerecht sein, Wanda! Der Herr Baron kam, als die befriedigendsten Anstalten zu Deiner Rettung bereits getroffen waren. Zur unmittelbaren Teilnahme an dem Wagnisse war es für ihn also zu spät.“

„Herzlichen Dank für die freundliche Verteidigung, gnädige Frau. Ich wünsche nichts mehr, als daß es mir an Stelle eines Fremden vergönnt gewesen sein möchte, meiner Braut den Beweis zu liefern, daß ich in ihrem Dienste weder Gefahr noch Tod scheue.“

„Ich hege die vollständige Ueberzeugung,“ entgegnete Wanda, und ihre Stimme hatte eine fast schneidende Schärfe, „daß Du in Bezug auf meine Person eine kleine Gefahr nicht scheuest. Und hätte ich bisher diese Absicht auch nicht gehegt, so würde dieser unerwartete Fund mich eines Besseren belehren.“

Sie hielt ihm ein weißes Taschentuch entgegen, an dessen Stickerei er es sofort als das seinige erkannte. Bis hinter die Schläfe erbleichend, streckte er die Hand darnach aus; sie aber zog es rasch zurück.

„Du erlaubst mir wohl, dieses freundliche Souvenir in meine eigene Verwahrung zu nehmen?“

„Ein so wertloser Gegenstand kann unmöglich Bedeutung für Dich haben.“

„Unter gewöhnlichen Umständen allerdings nicht. Der heutige Tag aber zeigt uns eine so eclatante Romantik, daß für mich selbst das sonst Wertloseste große Bedeutung enthält.“

„Höchst wahrscheinlich habe ich das Tuch bei meinem Morgenspaziergange verloren.“

„Möglich. Doch willst Du nicht Mama sekundieren? Es ist jedenfalls Deine Pflicht, meinem Retter ein Wort der Anerkennung zu sagen!“

Die Baronin hatte sich mit ungewöhnlicher Herzlichkeit zu Winter gewandt. Aber obgleich er ihren überraschend wohlwollenden Äußerungen mit Aufmerksamkeit folgte und mit Gewandtheit auf ihre Redewendungen einging, so war er doch der einzige, dem keine Silbe des Gespräches zwischen den beiden Verlobten entgangen war. Diese traten jetzt näher, und der Baron versuchte, seinen Worten die größtmöglichste Freundlichkeit zu geben.

„Herr Winter, ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit, mich Ihnen zu nahen, um —“

„Herr Baron, ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit, mich von Ihnen zu entfernen!“

Es lag eine unendliche Verachtung in dem Zucken seiner Augenwinkel und der nachlässigen Art und Weise, in welcher er die Spitzen seines Bärtchens drehte. Sofort aber nahmen, der Baronin gegenüber, seine Züge den Ausdruck tiefsten Respektes an, als er, von ihr sich verabschiedend, sprach:

„Gnädige Frau, ich kenne kein härteres Los,

als nach einem Leben voller Entsagung und Enttäuschung weder Liebe noch Verständnis zu finden. Verzeihen Sie meiner Indiskretion, welche aus dem Bestreben entspringt, Ihnen meine Hochachtung zu beweisen.“

Trotz der Zudringlichkeit, welche zu jeder andern Stunde in diesen Worten gelegen hätte, ging es wie eine tiefe, ungewohnte Rührung über ihr sonst so starres und hartes Angesicht, und man sah es ihr an, daß sie ihm gern eine wohlwollende Antwort gegeben hätte.

Aber er hatte sich schon entfernt und schritt auf Gräßler und Thomas zu, welche ihn erwarteten. Jedoch mitten im Laufe hielt er inne und bückte sich zu dem noch am Boden liegenden Überzieher, um ihn aufzuheben und einer näheren Betrachtung zu unterwerfen.

Mit sichtbarer Spannung richtete er das Auge auf die innere Seite des Kragens, wo gerade unter dem Henkel in weißer Seidestickerei die Worte „Jules Ragellef, marchand tailleur, Paris“ angebracht waren.

Kaum hatte er die Schrift überflogen, so legte er das Kleidungsstück mit gleichgültiger Miene wieder nieder, und einem scharfen Auge wäre die Bemerkung nicht entgangen, daß diese Gleichgültigkeit nur eine scheinbare sei.

Schon wollte er sich mit den beiden Freunden entfernen, da trat Wanda auf ihn zu.

„Herr Winter, Sie haben mir das Leben gerettet; ich darf Ihnen also nicht grollen.“

„Eine von der Höflichkeit gebotene oder durch

die Dankbarkeit erzwungene Verzeihung kann nur den Oberflächlichen befriedigen. Sie haben das Recht, mir zu zürnen, und ich bitte Sie, auf dieses Recht nicht Verzicht zu leisten. Ich bin nicht schwach genug, um vor einer bloßen Gesinnung zu zittern.“

„Gut, so werde ich zürnen, bis Sie selbst mich um Verzeihung bitten.“

„Das werde ich thun, sobald ich die Gewißheit habe, daß der Sünder nicht aus bloßer Dankbarkeit begnadigt wird.“

„Wenn die Verzeihung Ihnen überhaupt einmal wünschenswert sein könnte, so würden Sie jetzt nicht ein so großes Verlangen nach meinem Zorne geäußert haben.“

„Der Zorn kann nicht größer sein als seine Begründung, und diese ist wohl nicht von sehr erschreckenden Dimensionen.“

„Und doch; oder soll ich gleichgültig dazu sein, daß Sie meine Schuld ohne meine Erlaubnis quitt gemacht haben dadurch, daß Sie sich nach Belieben Ihren Lohn wählten und ihn in Empfang nahmen ohne meinen Willen und noch ehe Ihr Werk beendet war?“

„Ist’s möglich, Fräulein, Sie zürnen mir nicht meiner Schwachheit wegen, sondern deshalb, weil wir nun quitt sind?“

„Ich zürne!“ erwiderte sie errötend, indem sie eine verabschiedende Handbewegung machte. „Ueber den wahren Grund dürfen Sie nachdenken.“

Sie schritt in Begleitung ihrer Mutter und des

Barons dem Wagen zu, während Winter zu Gräßler und Thomas zurücktrat.

„Was wird denn nun mit dem Seile, Emil?“

„Die Leute mögen es losreißen; der Keil wird mehr als die Schwere einiger Menschen nicht tragen.“

„Na, das können se ooch ohne uns machen, Emil. Da kommt der Stadtrichter und wirklich schon zwee Polizisten hinter ihm.“

Der Genannte trat zu den dreien und richtete seine Fragen besonders an Winter, welcher ein einfaches Referat des Sachbefundes gab, ohne sich auf Schlüsse oder Verdachtserklärungen einzulassen.

Am Schlusse der Unterredung bat der Vater der Stadt um Verschwiegenheit und gab die Erklärung, die Sache sofort der Staatsanwaltschaft zu übergeben. Dann verabschiedete er sich von ihnen.

„Da wird unser Special in eene schöne Patsche geraten. Ich werde mein möglichstes thun, ihn in Trab zu bringen.“

„Man muß vorsichtig sein, Anton. So klar ich mir in dieser Beziehung auf meine Ansicht bin, so hüte ich mich doch vor einem lauten, voreiligen Urteile. Wir haben unsere Pflicht gethan; das übrige ist nicht unsere Sache.“

„Warum gucktest Du denn seinen Rock off so ’ne eigentümliche Weise an?“

„Der Name, welcher inwendig am Kragen sich befand, fiel mir auf.“

„Ach so! Das is itzt neue Mode. Wenn een Schneider nur halbege vierteljährlich drei alte Röcke zu wenden hat, so steppt er seinen Geburtsschein,

sein Taufzeugnis und wo möglich ooch noch seine Impflegitimation unter den Henkel, damit der Lumpensammler später sieht, wem er den Profit zu verdanken hat. — Aber, Emil, was ich Dir sagen wollt: Du bist wirklich een tüchtiger Kerl!“

„Warum?“

„Warum? Das brauche ich Dir wieder nich erst zu sagen. Hier is de Thüre. Mach, daß Du ’nein kommst, und ruhe Dich gehörig aus. Es is mein’ Seel’ keen Spaß, nur immer so den Lebensretter zu spielen. Gestern off der Dachfirste und heute gar im Felsenbruche. Ich bin nur neugierig, wo’s morgen werden wird; vielleicht droben im Monde. Das halte der Deixel aus, ich nich! Leb’ wohl, Emil! Komm’, Heinrich; Du gehst doch mit heeme?“

„Jawohl; ’s wird endlich ’mal Zeit. Leb’ wohl, Emil!“

„Adieu!“

Er trat in seine Stube, die er verlassen hatte, ohne zu ahnen, welche Bedeutung die nächsten Viertelstunden für ihn haben würden.

Aber er gönnte sich die nach der gehabten Aufregung und Anstrengung so notwendige Ruhe nicht, sondern kaum hatte er die schadhaft gewordene Kleidung mit einer anderen vertauscht, so öffnete er ein Fach seines Schreibpultes und zog einen Pack Briefe hervor, aus denen er einen herausnahm und öffnete, um ihn zu lesen.

Den ersten Teil des Schreibens überblickte er

mit flüchtigem Auge; den letzten Zeilen aber schenkte er doppelte Aufmerksamkeit.

Sie lauteten:

„Selbst ein nur leidlicher Polizist hätte das Material ein hinreichendes nennen müssen. Der Stubennachbar war jedenfalls der Thäter; denn er hatte bei seiner Entfernung das sämtliche Gepäck des Ermordeten bei sich gehabt, worauf der Hausknecht sich leider zu spät besann. Sein Signalement war ein vollständiges, und wenn ich auch annehme, daß der dichte, schwarze Vollbart ein falscher gewesen sei, so kann doch dieser Umstand ein gutes Auge nicht irre leiten. Als vorsichtiger Mann hat er die eingeschlagene Route jedenfalls bei der nächsten Station schon verändert; aber man hatte ja Erkennungszeichen, und das sicherste, wenn auch nicht auf den ersten Blick zu ermittelnde, war eine Namenstickerei, welche der Hausknecht beim Reinigen des Oberrockes an der inneren Seite des Kragens bemerkt hatte. Sie lautete: „Jules Ragellef, marchand tailleur, Paris“. Hiermit war der Nachforschung das Terrain geöffnet. Aber man gefiel sich wie gewöhnlich in dem ignoranten Belächeln meiner Gründe und Folgerungen und lief ins Blaue hinein, bis man Weg und Steg verloren hatte und endlich froh war, zu Hause bei Muttern von der erfolglosen Hetzjagd ausruhen zu können. Meine akademischen Kenntnisse geben mir das Uebergewicht über die Mehrzahl meiner Kameraden. Das erweckt Neid und Mißgunst und stellt mich

in die traurige Lage, immer nur zu meinem Schaden gegen die Feindschaft meiner Vorgesetzten ankämpfen zu müssen. Man scheut keine Anstrengung, mich müde zu machen, und erreicht man diesen Zweck nicht, so wird man über kurz oder lang eine Gelegenheit, mich zu blamieren, bei den Haaren herbeiziehen, welche die Veranlassung zu meiner Entfernung sein wird.

„Kommissar Hagen, ein Neffe Eures Polizeirates ist der unversöhnlichste meiner Gegner; doch fürchte ich weder ihn noch die anderen. Ich thue einfach meine Pflicht und werde ja sehen, wessen Geduld die ausdauerndste ist.

Dein Bruder.“

Als er die Zeilen wiederholt gelesen, blickte er lange mit sinnendem Ausdrucke über das Papier hinweg durch das Fenster hinaus.

Er mochte an die Schwierigkeiten denken, welche sich dem entgegenstellten, welchem die Hebel fehlen, die der Bevorzugte zum Zwecke eines raschen Avancements anzusetzen pflegt. Gerade so wie er, war auch sein Bruder lediglich nur auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit angewiesen gewesen und hatte unausgesetzt mit widerlichen Schicksalen zu ringen gehabt.

Die Liebe hatte ihn mit der Tochter eines seiner höchsten Vorgesetzten zusammengeführt; aber obgleich seine Neigung mit aller Treue und Herzlichkeit erwidert wurde, durfte er sich doch nicht eher Hoffnung auf die Erfüllung seiner Wünsche machen, als bis es ihm geglückt war, aus seiner untergeordneten

Stellung in eine höhere emporzurücken. Aber bei der feindseligen Beharrlichkeit, mit welcher man ihm jede Gelegenheit, sich auszuzeichnen, entzog und seine Befähigung in Zweifel zu ziehen strebte, war dieser Zeitpunkt in die größte Ferne hinausgeschoben.

Die Lage des Bruders drückte Emil mehr, als es früher seine eigene Hilfsbedürftigkeit gethan hatte.

Längst schon hatte er den sehnlichen Wunsch gehegt, ihm dienen, ihn unterstützen zu können; aber bei der Ungleichheit ihrer Stellungen und der weiten Entfernung ihrer gegenseitigen Wohnorte war ihm das eine Unmöglichkeit gewesen. Jetzt nun schien sich eine treffliche Gelegenheit dazu zu bieten, und er beschloß, sie zu benutzen.

Langsam griff er zur Feder, legte in Gedanken die vorliegenden Verhältnisse noch einmal zurecht und begann dann, einen ausführlichen Bericht nebst der klaren Darstellung seiner Vermutungen aufzuzeichnen.

Als er geendet hatte. überlas er das Geschriebene noch einmal und meinte dann mit einem Lächeln, in welchem sich das wohlthuende Gefühl der Hoffnung aussprach:

„So, das wäre der Anfang. Gott gebe, daß es ein Gelingen hat und ihm Erfüllung seiner Wünsche bringt.“

III. Auf der Fährte.

Es läutete zum dritten Male, und die drei Schläge der Perronglocke gaben das Zeichen zum Schließen des Waggons. Eine schrillpfeifende Anfrage des Maschinisten, ob alles zur Abfahrt fertig sei, wurde in bejahender Weise durch das Signal des Zugführers beantwortet, und nach einigen tiefen Atemzügen der Lokomotive setzte sich die lange Wagenreihe in Bewegung.

„Halt!“ rief ein jetzt herbeistürzender Passagier, welcher sein Coupé zweiter Klasse auf einige Zeit verlassen hatte und nun nicht mehr erreichen konnte. „Nok will auk ich mit!“

„Springen Sie schnell hier herein!“ rief ihm der nächste Schaffner zu, indem er eine Thür öffnete.

Mit einem Sprunge stand der Verspätete im Coupé und befand sich einem jungen Manne gegenüber, welcher als alleiniger Besitzer des Raumes die Größe desselben benutzt und sich lang auf die Bank hingestreckt hatte.

„Fi donc! Hier ist nicht su sein agréable. Mak Sie su der Fenster. Ich bin gesprung’, daß Schweiß marschier über meine ganze Leib.“

Der Daliegende war bei dem ersten Anblicke des Fremden in halber Ueberraschung in die Höhe gefahren, hatte sich aber sofort mit einem Lächeln ironischer Befriedigung wieder niedergelegt und die Worte scheinbar überhört.

„Nun, was lieg’ Sie da und geb nicht Folge? Hab’ Sie nicht verstanden meinen Befehl?“

„Hélas! Wo’er hab’ Sie die Rekt, su geb’ mir einen Befehl?“

„Ah! Sie sind auk ein Franzos?“

„Bitte, bitte, Herr Professor,“ rief der Banklagernde lachend. „Geben Sie sich doch nicht die, wenigstens bei mir, vergebliche Mühe, für einen Franzosen zu gelten. Sie radebrechen ja Ihre Gallicismen mit wahrhaft halsbrecherischer Schülerhaftigkeit.“

„Wie — wieso? Oder vielmehr, wie meinen Sie das?“ stotterte der, Professor Genannte verdutzt.

„Ich will,“ antwortete der jetzt nur noch lauter Lachende, „Ihnen das Unangenehme des jetzigen Augenblickes durch das Geständnis kürzen, daß wir alte Bekannte sind, welche sich voreinander nicht zu maskieren brauchen.“

„Alte Bekannte? Woher denn?“ fragte der andere sich setzend, während der junge Mann sich nun erhob, um das Fenster zu schließen.

„Wir hatten vor einiger Zeit beide das Unglück, zwischen den Mauern des Bicêtre eingeschlossen zu sein. Was mich betrifft, so war ich allerdings nicht nach Paris gekommen, meinen Wechselstudien eine in der Gefängniszelle endende Richtung zu geben. Und auch Sie werden sich ungern jener unangenehmen Zeiten erinnern. Doch mußte ich diese Bemerkung machen, um Sie durch den Beweis unserer Bekanntschaft vor neuen grammatikalischen Schnitzern sicher zu stellen.“

„Im Bicêtre waren Sie? Ich erinnere mich nicht, Sie gesehen zu haben.“

„Bei der großen Zahl der Gefangenen, ist es dort sehr leicht möglich, ein Gesicht zu übersehen. Desto vertrauter freilich bin ich mit Ihren Verhältnissen.“

„Ich zweifle.“

„Ohne Grund. Ich hatte in der Schreibstube Beschäftigung, und Ihre Akten, welche mir dabei in die Hände kamen, haben mir ein sehr lebhaftes Interesse für Ihre Person eingeflößt, und als Sie dann so plötz­lich —“

„Halten Sie ein. Es ist nicht notwendig, von Dingen zu sprechen, welche mich ganz und gar nichts angehen. Sie verkennen mich!“

„Wohl nicht, Herr Professor. Wen ich einmal gesehen, den kenne ich noch nach Jahren sicher wieder, und überdies sprechen Sie jetzt plötzlich ein sehr reines Deutsch. Beweis genug, daß Sie der nicht sind, für den Sie gelten wollen. Also erlauben Sie mir, meinen unterbrochenen Satz zu Ende zu führen.“

„Ich wünsche es nicht.“

„Warum nicht? Wir sind hier vollständig unter uns, und ich sehe nicht ein, warum zwei Männer, welche gleiches Los getragen haben, sich scheuen sollten, von diesem Lose zu sprechen. Also — und als Sie dann so plötzlich über die Mauern hinweg verschwunden waren, bedauerte ich es sehr, nicht in nähere Verbindung mit Ihnen getreten zu sein. Aber ich konnte allerdings nicht wissen, daß wir die gleiche Absicht gehegt hatten, unsere Gefangenschaft auf eigene Faust abzukürzen. Glücklicherweise

ist mir das ebenso gut gelungen wie Ihnen, und ich wundere mich nur, daß Sie die Unvorsichtigkeit begehen, sich für einen Angehörigen der berühmten Nation auszugeben.“

„Das geschieht aus mehreren Rücksichten.“

„Darf ich neugierig sein?“ fragte der junge Mann, und in seinen Augen blitzte es auf wie Siegesbewußtsein bei den ein volles Zugeständnis enthaltenden Worten des Professors.

„Erstens bin ich jetzt Aeronaut und hege die Ansicht, daß ich als Professor und Mitglied der Académie française mehr Effekt erziele, als unter einem weniger aplomben deutschen Namen.“

„Und zweitens?“

„Und zweitens ist sehr zu vermuten, daß man unter einem französischen Professor keinen deutschen Flüchtling suchen wird. Der Deutsche würde in der Heimat nicht französisch sprechen.“

„Sie sind scharfsinnig. Nur sollten Sie besser vertraut mit den Eigentümlichkeiten eines von einem echten Franzosen gesprochenen Deutsch sein.“

„Ich habe diesen Mangel oft gefühlt; aber es hat sich keine passende Gelegenheit gefunden, ihm abzuhelfen. Sprechen Sie rein französisch?“

„Ja.“

„Und kennen Sie jene Eigentümlichkeiten genau?“

„Sehr.“

„Es ist gewiß, daß Sie auch entsprungen sind?“

„Würde ich Ihnen im Verneinungsfalle eine so gefährliche Mitteilung gemacht haben?“

„Wohl wahr. Sie kennen meinen Namen?

Sie nannten mich gleich bei meinem Eintritte Professor.“

„Ich sah Sie und las von Ihnen in der Hauptstadt.“

„Und Ihr Name?“

„Erlauben Sie mir, vorsichtig zu sein!“

„Ganz, wie Sie wollen; aber Sie sehen doch ein, daß Sie mir gegenüber keinen Grund zum Mißtrauen haben.“

„Ich stimme Ihnen vollständig bei, doch hat bei uns der Name ja nicht die Bedeutung, welche er bei anderen besitzt. Wir wechseln ihn wie einen Rock.“

„Zugestanden. Aber nach Ihrer Eigenschaft darf ich fragen?“

„Ich habe leider keine feststehende.“

„Sie bedürfen doch aber der Mittel, Ihre Existenz zu fristen!“

„Ah, pah. Ich bin ein guter Billardspieler.“

„Dann ist Ihre Existenz eine sehr problematische. Ich würde zu einer besseren greifen.“

„Wäre auch schon längst geschehen, wenn sie sich mir geboten hätte. Ich habe leider nie dem Glücke im Schoße gesessen.“

„Hm!“ machte der Professor, indem er sein Gegenüber mit einem nachdenklichen und vorsichtigen Blicke musterte. „Hm; ich hätte etwas für Sie, wenn ich nur wüß­te —“

„Was?“

„Ich wollte sagen: wenn ich nur wüßte, ob ich Ihnen trauen darf?“

„Sehr aufrichtig,“ lachte sein Gegenüber. „Aber

ich kann Ihnen nicht zürnen und noch weniger Sie tadeln.“

„Ich weiß so wenig von Ihnen, und dieses wenige beschränkt sich nur auf das, was Sie selbst mir gesagt haben.“

„Habe ich für meine Lage Ihnen nicht genug oder gar schon zu viel gesagt? Zu näheren Details könnte ich mich nur entschließen, wenn mir, sowohl in Beziehung auf Ihre Person, als auch durch das, was Sie mir bieten, eine sichere Garantie geboten wird.“

„Hm. Wenn Sie von der Residenz kommen, werden Sie wohl auch erfahren haben, daß mein Gehilfe bei unserer letzten Ballonfahrt verunglückt ist.“

„Ich weiß es.“

„Ich kann nicht allein stehen und bedarf eines Ersatzmannes. Doch müßte es ein etwas wissenschaftlich gebildeter Mensch sein.“

„Ich habe studiert.“

„Ah, wirklich?“

„Ein solcher Platz wäre mir angenehm, zumal ich die feste Überzeugung hege, Ihre Ansprüche befriedigen zu können.“

„So, das wäre wünschenswert, besonders da ich mehr Praktiker als Theoretiker bin. Mein Bruder nämlich war Aeronaut. Zu ihm flüchtete ich mich, und er weihte mich in die Kunst der Luftschif[f]ahrt ein. In England starb er und hinterließ mir seinen Ballon, seinen Namen und seine Papiere. Er galt für einen Franzosen, und ich habe diese Geltung auf mich übertragen.“

„Das Glück ist Ihnen günstiger gewesen als mir.“

„Vielleicht erklärt es sich endlich doch auch noch für Sie. Wollen Sie bei mir bleiben?“

„Unter welchen Bedingungen?“

„Ueber diese werden wir uns schnell einigen, wenn wir uns nur erst näher kennen gelernt haben. Jetzt fragt es sich in erster Linie, ob Sie Lust zu einer Stellung wie die gebotene haben.“

„Ich sage ja.“

„Topp; schlagen Sie ein!“

„Hier meine Hand. Ich bin frei von Furchtsamkeit und Schwindel.“

„Aufsteigen werden Sie, wenigstens in der ersten Zeit, nicht mit. Meine Einnahme erstreckt sich außer auf das Ergebnis der unter den Zuschauern stattfindenden Sammlung, welche Sie zu besorgen hätten, auch auf die Gratifikationen der Passagiere, und so muß ich mit den Gondelplätzen geizen.“

„Hoffen Sie, auch in dem einfachen Provinzialstädtchen, nach welchem Sie gehen, solche Passagiere zu finden?“

„Sie wissen, wohin ich gehe?“

„Die Zeitungen plaudern davon.“

„Ich bin von dem dortigen Gewerbeverein eingeladen und werde Unterstützung finden. Es scheint ein sehr wißbegieriges Völkchen dort zu wohnen.“

Der Professor hatte es sich längst bequem gemacht und blieb auch dann noch in dem Coupé, als der Schaffner ihn zur Uebersiedelung bewegen wollte.

Das Gespräch wurde lebhaft fortgesetzt, und es wäre für einen ungesehenen Beobachter von Interesse

gewesen, die Herzensgesinnung der beiden Männer zu erforschen.

Trotz der Schnelligkeit, mit welcher der Luftschiffer seinen Vorschlag gemacht hatte, schien es doch kein freiwilliger zu sein; denn es lag, sobald er sich unbemerkt wähnte, in seinen Blicken etwas Lauerndes und Feindseliges.

Der neu engagierte Gehilfe aber schien alle Vorsicht vergessen zu haben und machte die offenherzigsten Enthüllungen aus seiner Vergangenheit.

So war der letzte Anhaltepunkt erreicht und nach kurzer Zeit gab die Maschine das Zeichen, daß für die beiden durch den Zufall Vereinigten die Fahrt bald zu Ende sei.

„Parbleu, welch ein Mädchen!“ rief da plötzlich der Professor und zeigte zum Fenster hinaus. „Sehen Sie dort die Dame auf dem Rappen? Es ist ein Andalusier vom reinsten Geblüt; ich kenne von meinen früheren Wanderungen durch die Halbinsel diese Rasse von Tieren und behaupte geradezu, daß er seine vollen zweitausend Thaler gekostet hat. Dem Besitzer muß ein großes Vermögen zur Verfügung stehen.“

Der Zug befand sich schon in der Nähe des Stationsgebäudes und verminderte aus diesem Grunde seine bisherige Schnelligkeit.

Die von beiden Seiten mit Kastanien berandete Allee, welche von der Stadt zum Bahnhofe führte, ging eine Strecke mit dem Bahnkörper fast parallel, und so konnten die beiden Reisenden während der sich verlangsamenden Fahrt zwei Personen beobachten, welche sich zu Pferde dem Haltepunkte näherten.

Es war eine Dame, welche einen spanischen Rapphengst ritt, dessen dunkle Farbe und feurige Bewegungen effektvoll von dem lichten Kleide und der nachlässig sicheren Haltung der Reiterin abstachen. Der sie begleitende Herr saß auf einem braunen Trakehner. Er hing mit dem Anstande eines Mannes auf dem Pferde, den der Vorwurf, auf Studium und Ausübung der edlen Reitkunst zu viel Sorgfalt und Anstrengung verwendet zu haben, nicht gut treffen kann. Deshalb war, trotzdem seine Aufmerksamkeit schon aus Kavaliersrücksichten, der Begleiterin zugewandt sein sollte, dieselbe doch mit einer leicht ersichtlichen Aengstlichkeit auf sich selbst gerichtet, und es ließ sich unschwer erkennen, daß in den Blicken, welche die junge Dame ihm zuweilen zuwarf, sich eine Art von verächtlicher Besorgnis aussprach.

„Wer muß denn die Dame sein?“ fragte der Professor.

„Zufällig kenne ich sie von der Residenz her. Es ist Fräulein von Chlowicki, welche mit ihrer Pflegemutter aus Gesundheitsrücksichten hierher gezogen ist.“

„Und der Herr an ihrer Seite?“

„Habe ihn noch nicht gesehen,“ erwiderte der andere; aber sein Auge war mit einer durchdringenden Schärfe auf den Gegenstand ihres Gespräches gerichtet und schien denselben durchbohren zu wollen. Da aber stieß der Aeronaut einen Ruf der Ueberraschung aus und sprang erregt in die Höhe.

„Ventre-saint-gris! Das ist ja der Morelly, welcher — Wie kommt denn der an die Seite einer Dame von solcher Distinktion!“

Er rüttelte mit beiden Händen an der Thür des Waggons, als könne er das Oeffnen desselben nicht erwarten, und als einen Augenblick später der Zug hielt, verließ er hastig das Coupé und schritt eiligen Laufes über den Perron nach der Straße zu, wo die Reitenden vor der geschlossenen Barriere hielten.

Über das Gesicht seines Gefährten war es bei dem Namen Morelly wie ein plötzlich aufleuchtender Strahl geflogen.

Er ergriff das beiderseitige Gepäck und folgte dem Vorangeeilten mit raschen Schritten, um bei dem Zusammentreffen der beiden Männer gegenwärtig zu sein. Leider war es ihm nicht möglich, die ersten Worte zu vernehmen; aber er bemerkte, die Leichenblässe auf dem Angesichte des Reiters und das vergeblich unterdrückte Vibrieren seiner Stimme, als er jetzt zum zweiten Male antwortete:

„Ich danke, Herr Professor, für die Nennung Ihres Namens; aber ich kenne keinen Grund, welcher Sie veranlassen könnte, sich mir auf offener Straße und in so derangierter Weise vorzustellen. Ich habe von Ihrem Kommen gehört und interessire mich allerdings sehr für das Schauspiel, welches Sie den Bewohnern dieser guten Stadt bereiten wollen. Wenn Sie aber auf meine Unterstützung rechnen, so müssen Sie vor allen Dingen den Forderungen der Höflichkeit Rechnung tragen. Ich bin der Baron Eginhardt von Säumen.“

„Entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit, Herr Baron! Eine kleine Aehnlichkeit, die aber in der Nähe vollständig verschwunden ist, ließ mich in Ihnen

einen Freund vermuten, dessen Bekanntschaft ich vor längerer Zeit in Paris machte. Ich bin von der Grundlosigkeit dieser Vermutung überführt und bitte um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen.“

„Sie haben diese Erlaubnis. Bedürfen Sie während Ihres Aufenthaltes hier meiner Hilfe, so können Sie sich bei mir anmelden. Adieu!“

„Ich empfehle mich, gnädiger Herr!“

Er machte dem Baron eine respektvolle Reverenz; trotz dieser Ehrenbezeugung aber fuhr ein dämonisches Glühen seines Auges über die beiden Reiter hin, und eben wollte er mit einem höchst zweideutigen Lächeln zurücktreten, als seine Aufmerksamkeit auf den Andalusier gerichtet wurde.

Der Maschinist des eben angekommenen Zuges hatte mehrere Güterwagen einzurangieren und dirigierte die schnaubende und sprühende Lokomotive an der Barriere vorüber. Das feurige Pferd kam in Aufregung, und die Reiterin mußte alle Geschicklichkeit und Anstrengung aufbieten, es zu beherrschen und festzuhalten.

Als aber die Wagen eingehängt waren, und der Führer durch einen gellenden Pfiff das Zeichen zum Umstellen der Weiche gab, stieg es kerzengerade in die Höhe und hätte mit einem raschen Satze die Barriere übersprungen, wenn nicht unerwartet eine kräftige Hand in die Zügel gegriffen und das Tier zurückgerissen hätte.

Die Polin wäre verloren gewesen; denn kaum war der rettende Griff geschehen, so pustete die Maschine

Illustration 2
Wands Pferd stieg kerzengerade in die Höhe und wäre über die Barriere gesprungen, hätte nicht der Essenkehrer die Zügel ergriffen. (S. 94.)

herbei und hätte ohne allen Zweifel Pferd und Reiterin ergriffen und zermalmt.

„Herr Baron, wer den Kavalier spielen will, der muß auch thun, was seines Amtes ist!“ mahnte der unerwartete Retter, indem er den in die Zügel knirschenden Andalusier zurückführte.

Es war Winter, der Essenkehrer, welcher im Bahnhofsgebäude gearbeitet hatte und auf seinem Heimwege gerade in dem kritischen Augenblicke herbeigekommen war.

„Beherrschen Sie Ihren Mund!“ rief Säumen, wütend darüber, daß es wieder dieser verhaßte Mensch war, der seiner Verlobten den Ritterdienst geleistet hatte. „Sehen Sie denn nicht, daß sich das Pferd vor Ihrer schwarzen Farbe und dem unausstehlichen Gestanke scheut?“

„Seien Sie vorsichtiger, Herr Baron! Sie verraten sonst denselben Geschmack, den das Thier besitzt, und ich habe noch nicht gehört, daß diese Stallambition zur Empfehlung dienen könne. Hier, Fräulein, sind die Zügel. Der Zug ist vorüber, und Sie können Ihren Spazierritt ohne Gefahr fortsetzen.“

„Ich danke Ihnen, Herr Winter!“

Es waren nur diese wenigen Worte, welche sie sprach; aber er sah an dem tiefen, feuchten Glanze ihres Auges und an der Röte ihrer Wangen, daß sie nicht mehr sprechen könne und erwiderte mit einem Lächeln, welches seine weißen, vollzähligen Zähne zwischen den schwarz gefärbten Lippen erscheinen ließ:

„Nicht danken, gnädiges Fräulein, sondern zürnen! Wir dürfen unser Uebereinkommen nicht verletzen.“

„Aber wenn ich fortfahren soll, Ihnen zu zürnen, so müssen Sie aufhören, die Stelle meines Schutzengels zu vertreten. Dank und Zorn, sie lassen sich nicht gut vereinigen!“

„Vollständig wahr gesprochen, Wanda!“ fiel hier der Baron ein. „Wir befinden uns nicht auf der Bühne, um eines Deus ex machina zu bedürfen, und ich denke, daß wir uns schon zu lange hier verweilt haben.“

Die Pferde setzten sich in Bewegung, und Winter schickte sich an, seinen Weg fortzusetzen, als sein Blick auf den jüngeren der beiden Reisenden fiel, welche noch immer dastanden.

Fast schien es, als wolle er die Hände vorstrecken, um begrüßend auf ihn zuzutreten, aber ein schneller, abwehrender Wink brachte auf seinem Gesicht sofort den Ausdruck der Gleichgültigkeit hervor, und so wollte er, ohne den Fremden einen weiteren Blick zuzuwerfen, vorübergehen, als der Professor ihn anhielt.

„Sie kenn’ Monsieur le baron?“

„Nicht näher, als vom bloßen Sehen.“

„Ist er ein Mann reich?“

„Weiß nicht.“

„Wer hat kewes’ die Dam’?“

„Fräulein von Chlowicki ist seine Braut.“

„Ist mademoiselle Braut sehr reich?“

„Möglich; ich habe noch nicht die Erlaubnis

gehabt, ihre Doublonen zählen zu dürfen, mein Herr.“

„Schön, sehr schön! Wo wohnt mademoiselle?“

„Sie bewohnt mit ihrer Mutter jene Villa, welche dort hinter den Linden hervorblickt.“

„Und wo wohnt Monsieur le baron?“

„Am Markte bei einem alten, pensionierten Polizeirat.“

„Charmant, charmant; Monsieur le baron ist ein Mann sehr klug, sehr klug!“

„Warum?“ fragte Winter mit einem Blicke, in welchem sich Befremdung und Spannung spiegelten.

„Ich nicht mein’ wegen Wohnung,“ verbesserte der Professor, „sondern ich mein’ wegen Braut. Adieu!“

„Adieu!“ grüßte der Essenkehrer und wandte sich zum Gehen.

Wer war der fremde Mann, dessen Auge so stechend blickte und dessen harte, scharfe Stimme so abstoßend wirkte? Warum bemühte er sich, seinen Worten einen französischen Anstrich zu geben, obgleich man jeder Silbe anhören mußte, daß dieser Anstrich nur Maske sei? Warum erkundigte er sich so angelegentlich nach den Vermögensverhältnissen des Barons und seiner Verlobten, und warum — doch das alles mußte er ja bald erfahren, und so setzte er seinen Weg fort, ohne sich weiter mit Fragen zu quälen.

Zu Hause angelangt, traf er Vorkehrungen, welche schließen ließen, daß er es sich da bequem machen und seine Wohnung heute nicht wieder

verlassen wollte. Und wirklich hatte er noch nicht lange in wartender Stellung am Fenster gesessen, so schritt jemand an demselben vorüber und trat nach einem kurzen Klopfen in das Zimmer.

Es war der Reisegefährte des Professors.

„Grüß Dich Gott, Emil!“ rief er und umarmte den Genannten in der herzlichsten Weise. „Ich habe Deinen Brief erhalten und bin Deinem Rufe natürlich so schnell wie möglich gefolgt.“

„Tausendmal willkommen, mein Herzensbruder! Mutter und Schwestern sind ausgegangen; Du mußt Dich mit ihrer Begrüßung also gedulden. Komm, setze Dich und laß mich vor allen Dingen einige Fragen aussprechen.“

„Frage nur zu!“

„Hast Du Dir Urlaub für den vorliegenden Zweck geben lassen?“

„Daß ich nicht klug wäre! Meine Gesundheit ist seit einiger Zeit sehr angegriffen, und ich habe mir die Erlaubnis zu einer kleinen Erholungsreise geben lassen.“

„Wer war der Mensch, in dessen Gesellschaft ich Dich traf, und warum durfte ich Dich nicht kennen?“

„Das ist wirklich eine eigentümliche Geschichte, deren Lösung wohl nicht lange auf sich warten lassen wird.“

„Und deren bisherigen Verlauf mir Deine amtliche Verschwiegenheit verheimlichen muß?“

„Bisher war die Sache mein ausschließliches Geheimnis, und ich kenne wirklich keinen Grund,

welcher mir verbieten könnte, mit Dir von ihr zu sprechen. Also höre:

„Vor einer nicht gar zu beträchtlichen Anzahl von Jahren gab es in Paris eine Falschmünzerbande, deren Schlupfwinkel so verborgen waren und welche die Erzeugnisse ihrer verbrecherischen Thätigkeit mit einer so raffinierten Umsicht zu verbreiten wußte, daß sich die gesamte Polizei lange Zeit vergeblich abmühte, die Thäter zu erfassen und der gerechten Strafe zu überliefern. Besonders waren es zwei, deren Schlauheit und Geschicklichkeit man diesen Mißerfolg zu danken hatte, und beide waren Deutsche. Der eine war ein herabgekommener Sprößling irgend eines alten Geschlechtes, der sich eine problematische Existenz in der Metropole der Civilisation gesucht hatte, und der andere war ein geschickter Lithograph, dem man die Anfertigung der Platten zuschrieb.

„Aber obgleich man die Mitgliedschaft dieser beiden mit Bestimmtheit behauptete, fand man doch nicht das Geringste, was berechtigt hätte, sich ihrer Personen zu bemächtigen. Freilich konnte das nicht lange so fortgehen; einmal mußten sie sich doch, von der Größe ihrer Erfolge kühn gemacht, zu irgend einer Unvorsichtigkeit hinreißen lassen. Und dieser Augenblick kam endlich auch. Alle Glieder der Bande wurden gefangen und verurteilt, selbst der schlaue Lithograph, und nur der Edelmann entging dem Arme, der sich nach ihm ausstreckte, und war trotz der eifrigsten Nachforschungen auch nicht wieder aufzufinden.

„Nach einiger Zeit nun verbreitete sich das Gerücht, der Lithograph sei aus dem Bicêtre, wo er inhaftiert war, entsprungen. Es wurde aller Orten nach ihm gefahndet und sogar ein Preis auf seine Attrapierung gesetzt, doch vergebens. Es war das zu der Zeit, in welcher ich meine Stellung antrat. Wie alle neuen Bürger des heiligen Polizeistaates war ich von dem Willen, alles zu wissen und alles zu können, erfüllt und warf mich mit einem wahren Heißhunger auf in- und ausländische Novitäten der Sünde und des Verbrechens.

„Der angegebene Fall erregte, da er sich auf zwei Deutsche bezog, mein lebhaftes Interesse, und als mir gar auf irgend eine Weise die Photographie des Lithographen zu Gesichte kam, träumte ich fast Tag und Nacht von den Mitteln, welche man anwenden müsse, um seiner habhaft zu werden. Freilich blieb es bei dem bloßen Traume; Du kennst ja meine Stellung. Selbst wenn uns die Sache näher gelegen hätte, wäre ich nicht derjenige gewesen, den man mit der Lösung einer solchen Aufgabe betraut hätte.

„Da kam vor einigen Wochen der Professor in die Residenz, um seine aeronautischen Künste zu produzieren. Natürlich gab es da für uns viel zu thun, und es konnte nicht anders sein, als daß der Mann auch mir einmal zu Gesichte kommen mußte. Bei seinem Anblicke nun war es mir sofort, als habe ich ihn irgendwo schon einmal unter ungünstigen Umständen gesehen. Ich sann nach

und kam endlich zu der Ueberzeugung, daß er kein anderer als der Lithograph sei.

„Diese Meinung teilte ich natürlich meinem Vorgesetzten, dem Cousin Eures Polizeirates mit, wurde aber einfach von ihm ausgelacht. Die Papiere des Mannes befanden sich ja in unserer Hand, und es war nicht das Geringste an ihnen auszusetzen. Seine Aussprache des Deutschen, welche ich zur Begründung meiner Behauptung angeführt hatte, lernte ich erst später kennen, und so fußte mein Verdacht nur auf einer Aehnlichkeit, die noch dazu nur in meinem Gedächtnis vorhanden war; denn die Photographie war nicht mehr zu haben, und eines unmotivierten Verdachtes wegen nach Paris berichten, das hätte uns die schönste Blamage zuziehen können.

„Und doch war ich fest überzeugt, mich nicht geirrt zu haben. Es blieb mir also nichts übrig, als auf eigne Faust zu handeln, und das that ich denn auch. Ich beobachtete ihn unausgesetzt, ohne ihm freilich Gelegenheit zu geben, mich einmal zu erblicken; denn ich konnte ja nicht wissen, ob ich ihm nicht noch als Unbekannter gegenübertreten müsse. Aber alle meine Aufmerksamkeit war umsonst. Schließlich wurde es gar bekannt, daß er bald die Hauptstadt verlasse, um hierher zu gehen, und so war ich schon bereit, meine Hoffnung aufzugeben.

„Da kam Dein Brief und munterte mich wieder auf. Zwar brachte er keine Bemerkung über den Professor; denn der war Euch ja vollständig unbekannt; -

unbekannt; aber er bestimmte mich doch, hierher zu reisen, und es war mir somit Gelegenheit geboten, meine bisherigen Beobachtungen wenigstens noch eine kurze Zeit fortzusetzen; zugleich erregten Deine Mitteilungen, daß der Baron in Paris einst falsche Banknoten ausgegeben habe, in mir den Gedanken an die Möglichkeit, daß dieser Baron jener Edelmann sein könne; denn die Zeitangaben stimmten überraschend zusammen.

„Ich ließ mir also wegen meiner angegriffenen Gesundheit einen Urlaub von einigen Wochen geben und reiste ab. Da wirft der Zufall oder das Glück oder wie ich es nennen soll, den Professor in mein Coupé. Ich beschließe sofort, den Umstand zu benutzen, schlage auf den Busch, gebe mich für einen seiner ehemaligen Mitgefangenen aus, mache sein französisches Deutsch lächerlich und bringe ihn auch glücklich zum Geständnisse.

„Mit allem Rechte nun könnte ich den Mann jetzt festnehmen lassen; aber das Zusammentreffen mit dem Baron veranlaßt mich, noch zu warten. Meine vorhin gemachten Beobachtungen haben mich vollständig überzeugt, daß der letztere kein anderer ist als jener Falschmünzer, und ich habe die Absicht, durch

Ansammlung des nötigen Materials oder durch Ueberraschung ihn zu überführen und so zwei Fliegen mit einem Schlage zu treffen.

„Dem Barone ist die Gegenwart des Professors jedenfalls höchst unwillkommen. Dieser Mensch hat es in der Hand, alle seine Pläne zu durchkreuzen, und Säumen wird sich also durch Zugeständnisse

aus seiner Abhängigkeit befreien müssen. Es gilt deshalb, die beiden Männer unausgesetzt zu beobachten, und dazu hat mir der Professor die schönste Gelegenheit gegeben. Ich bin nämlich von ihm als Gehilfe engagiert.“

„Als Gehilfe! Wie kommt denn der Mensch zu dieser Dummheit?“

„Auf dem allereinfachsten Wege. Er hält mich für einen ehemaligen Mitgefangenen, der entsprungen ist, wie er. Nach seiner Meinung habe ich ihn also ebenso in der Hand, wie er den Baron, und um meiner so viel als möglich sicher zu sein, hat er mich an sich gebunden.“

„Eine gefährliche Sache.“

„Ich unterschätze die Gefahr auch nicht, zumal ich gewisse Blicke bemerkt habe, die mir nichts Gutes weissagen. Doch bin ich wohl gewappnet und kenne meine Leute, während der Professor von mir vollständig irre geleitet ist. Vor allen Dingen ist es notwendig, daß wir und Deine Freunde uns nicht kennen. Trotzdem aber müssen wir immer Fühlung behalten; denn es könnte leicht kommen, daß uns Hilfe nötig wäre.“

„Auf uns kannst Du Dich verlassen. Aber wie kommt es, daß Du so bald zu mir kommen konntest, obgleich der Professor Dich jedenfalls sehr im Auge behalten wird?“

„Er hatte natürlich nichts Notwendigeres zu thun, als den Baron aufzusuchen, um mit diesem ins reine zu kommen, und so habe ich Gelegenheit gehabt, Dir meinen Besuch zu machen.“

„Willst Du Thomas sprechen?“

„Ja. Bestelle ihn heute abend in unseren Gasthof; Du kannst mitkommen und ihm einen Wink geben, wenn ich hinausgehe; denn ich kenne ihn nicht persönlich. Welchen Erfolg hat Deine Anzeige in betreff des Felsenbruches gehabt?“

„Keinen. Man hat es vermeintlich mit einem Baron zu thun, und ein solcher ist bekanntlich nur zu Gutem befähigt. Zudem logiert er, wie Du weißt, bei dem Polizeirate, Grund genug, die Sache tot zu schweigen, obgleich es sich dabei um die Genugthuung für eine Dame handelt, welche, mit mehr Recht, als er, den höheren Ständen angehört.“

„Hast Du mit dem Stadtrichter seit jenem Tage wieder einmal gesprochen?“

„Ja.“

„Was sagte er?“

„Er meinte: ‚Mein lieber Herr Winter, ich erkenne Ihren Eifer dankbar an; aber Sie müssen bedenken, daß Ihr Verdacht von dem Umstande, daß der Herr Baron der Verlobte von Fräulein von Chlowicki ist, vollständig überwogen wird.‘“

„Und was antwortetest Du ihm?“

„Ich hielt es für überflüssige Mühe, ein Wort zu entgegnen, zumal ich Deine Ankunft erwartete. In Deiner Hand ist diese Angelegenheit besser aufgehoben, als in derjenigen der hiesigen Polizei.“

„Du traust mir zu viel zu. Ich bin ein Subalternbeamter und darf nicht selbstständig handeln. Zudem befinde ich mich hier auf einem Terrain,

wo mein Amt aufgehört hat, mir wenigstens einige Macht oder einige Rechte zu verleihen.“

„Ja, was dann? Soll der Baron, wenn er wirklich, wie ich vermute, ein Verbrechen beabsichtigte, straflos ausgehen? Sogar die Polin mißtraut ihm, wie ich aus der Taschentuchscene ersehen habe.“

„Wir werden ja sehen. Ich befinde mich in meiner jetzigen Stellung nicht wohl und werde changieren, wenn nicht endlich die so lang erwartete und zehnmal schon verdiente Beförderung eintritt. Ich riskiere also wenig oder nichts, wenn ich hier va banque spiele. Gewinne ich, so wird die Beförderung da sein; verliere ich, so habe ich weiter nichts aufs Spiel gesetzt als nur das, was ich früher oder später freiwillig weggeworfen hätte.“

„Ich wünsche nicht, daß Du Dir Schaden thust, obgleich ich überzeugt bin, daß der Baron ein Verbrecher ist.“

„Ich werde die Sache vorsichtig untersuchen, ehe ich einen entscheidenden Schritt thue. Vor allen Dingen muß ich den Ueberrock sehen, und für das übrige bin ich gewohnt, nächst meiner Aufmerksamkeit dem Zufall das meiste zu überlassen. Was bedeutete denn Dein sonderbares Gespräch mit der Polin vorhin?“

„Welches?“

„Du wiesest ihren Dank ab und fordertest sie auf, Dir zu zürnen.“

„Eine kleine, halbscherzhafte, halbernste Plänkelei.“

„Die jedenfalls ihren Grund hat.“

„Möglich.“

„Einen Grund, den ich gern wissen möchte.“

„Wird Dir nicht viel nützen, Bruder.“

„Mir nicht, aber vielleicht Dir. Wenn meine Thätigkeit von Erfolg sein soll, so muß ich Dein Verhältnis zu den einzelnen Personen bis ins genauste kennen lernen. Also beichte!“

„Es geht nicht!“

„Warum nicht? Bin ich ein so strenger Beichtvater, daß Du schon bei meiner bloßen Aufforderung die Augen niederschlägst? Oder ist Deine Sünde so groß, daß Du Dir lieber von ihr das Herz abdrücken lässest, als daß Du mir ein aufrichtiges Wort sagst?“

„Ich bin mir über das, was Du wissen willst, selbst noch zu sehr im unklaren, als daß ich Dir Mitteilung davon machen könnte.“

„Aber diese mangelnde Klarheit kommt sehr oft mit dem Sprechen. Ich werde mit dem Schwerte meiner Zunge den Knoten zerschneiden, welcher Deine Aufrichtigkeit gefangen hält.“

„Laß das!“

„Nein! Es ist meine Pflicht als Bruder, Dir die Augen zu öffnen, um Dich vor dem Uebel, welches Dir droht, zu bewahren. Dein Brief hat mir, so leicht und kurz er auch über den Gegenstand Deiner Gefühle hinwegeilt, doch gesagt, daß Du einem Abgrunde entgegengehst.“

„Welchem?“

„Du liebst Wanda, und bei der Innigkeit und Tiefe Deines Wesens wird Dich diese Liebe, die

eine vergebliche und unerwiderte sein muß, zu Grunde richten.“

„Weißt Du das so genau?“

„Ja. Ich bin Psycholog; wenn auch kein Meister, aber doch ein Mann, der seine Augen stets offen gehabt hat.“

„Und wenn ich nun behaupte, daß diese Liebe keine unerwiderte ist?“

„Hast Du Beweise?“

„Mehrere; unter anderem den Zorn, welchen sie empfand, als sie droben in der Höhle gerade in dem Augenblicke zu sich kam, an welchem meine Lippen auf ihrem Munde ruhten.“

„Das kann ebenso gut das Gegenteil beweisen. Ich kenne die Dame so ein wenig von der Residenz aus und habe genug von ihren Extravaganzen gehört, um annehmen zu können, daß sie der Zuneigung eines Mannes von untergeordneter Stellung allerdings des Abenteuerlichen halber einige Aufmerksamkeit zu schenken gestimmt sein kann, daß sie diese Liebe aber auch rücksichtslos in den Staub treten wird, sobald sie sich aus dem Bereiche des Platonischen herauswagt.“

„Hast Du ähnliche Beispiele von ihr gehört?“

„Nein; im Gegenteile ist es allbekannt, daß sie nie einem Manne auch nur den geringsten Anschein einer mehr als gewöhnlicher Aufmerksamkeit gegeben hat. Sie wurde förmlich umschwärmt, selbst von den Angehörigen der Crême unserer Gesellschaft; wie willst Du da Hoffnung hegen dürfen!“

„Deine Psychologie schmeckt nach dem Schema, Bruder. Ich habe allen Respekt vor Deinem Scharfblicke, und wenn unsere Ansichten in betreff Wandas harmonieren, so liegt der einzige Grund in dem Umstande, daß Du dieses reichbegabte und eigenartig gebildete Wesen nur aus der Ferne gesehen und nach dem Hörensagen beurteilt hast.“

„Aber sie ist verlobt!“

„Diese Verlobung gilt am allerwenigsten in Deinen Augen etwas. Ihr Bräutigam ist ja der erklärte Gegenstand Deines polizeilichen Mißtrauens.“

„Aber sie hat ja zu dieser Verbindung gesagt.“

„Das beweist nichts über ihre Gefühle. Im Gegenteil habe ich wiederholt bemerkt, daß sie ihn mit einer sogar verächtlichen Abneigung behandelt. Es müssen stringierende Umstände vorhanden sein, welche ihr die Zustimmung abgenötigt haben.“

„Das sind dunkle Punkte, welche wir aufklären müssen. Für jetzt will ich mein Urteil zurücknehmen; aber meine Ansicht, daß eine intime Beziehung zwischen einem Essenkehrer und einer Baronesse fast unter die Unmöglichkeiten gehört, bleibt dieselbe. Du bist mir doch nicht bös wegen meiner brüderlichen Aufrichtigkeit?“

„Ich halte diese Aufrichtigkeit einfach für Deine Pflicht; aber Du giebst meiner vorhin angedeuteten Meinung, daß dieser Gegenstand ein unerquickliches Gesprächsobjekt sei, doch recht. Ich bin in der Schule des Lebens fest und sicher geworden und gestatte mir keinerlei Illusion. Ein Menschenkind ist nie nach der Stelle, an welcher es geboren wurde,

sondern nach derjenigen, welche es durch eigene Anstrengung und inneren Wert errungen hat, zu schätzen, und das Mädchen, von welchem wir sprechen, hat noch keinen einzigen selbstständigen Schritt gethan, der irgend welchen Wert für meine Beurteilung hätte. Sie steht also keineswegs unerreichbar da.“

„Du sprichst allerdings sehr kalt.“

„Der Verstand darf keine Luftschlösser bauen; die Liebe aber lehrt mich hoffen, daß Wanda ein Charakter sei. Zum Herabsteigen ist mehr moralischer Mut erforderlich, als zum Emporklimmen, und die Zukunft wird zeigen, ob mein Glaube der rechte gewesen ist.“ — —

Während die beiden Brüder in tiefernstem Gespräche miteinander begriffen waren, brauste einer der nächsten Züge heran und brachte einen Reisenden herbei, welcher, ohne sich viel umzusehen, auf eine bereitstehende Equipage zuschritt und in derselben sofort nach der Stadt fuhr.

Vor dem Hause des Polizeirates hielt der Wagen. Der Insasse sprang heraus, eilte mit raschen Schritten die Treppe hinan und trat unangemeldet in das Arbeitskabinett des alten Herrn, welcher am Schreibtische saß und sich bei dem Eintritte des hastigen Gastes unwillig umdrehte. Aber bei dem Anblicke desselben machte der Unwille, welcher in seinen Zügen sich gespiegelt hatte, einem freudigen Lächeln Platz, und mit herzlichem Gruße schob er, aufspringend, den Stuhl zurück.

„Ah, Du bists schon? Sei mir herzlich willkommen! Ich hätte nicht geglaubt, daß ein Wunsch Deines alten Onkels so schleunige Berücksichtigung finden werde. Lege ab und mache es Dir bequem. Die Häuslichkeit eines Hagestolzen bietet freilich der Bequemlichkeit nicht viel.“

„Du bist ungerecht gegen mich, Onkel! Oder habe ich Deinen Wünschen nicht stets die notwendige Aufmerksamkeit entgegengebracht ?“

„Die notwendigste, ja, die notwendigste. Doch davon sprechen wir ja nicht; die Hoffnung, das schönste und reichste Mädchen des Landes zu besitzen, ist ein mächtiger Sporn zur Rücksicht gegen den Onkel, ohne daß dieser darüber böse sein darf.“

„Dein Brief sagt mir so wenig, daß ich wirklich gekommen bin, nur um Dich zu begrüßen.“

„So, na, mag sein. Ich schreibe kurz; aber denken konntest Du Dir doch, in welcher Angelegenheit ich Dich sehen wollte.“

„Das ist allerdings wahr. Wie gefällt Dir Fräulein von Chlowicki?“

„Sehr, sehr. Das Mädchen ist zwar ein Wildfang, aber ein allerliebster, dem man nicht gram sein kann. Ich habe mich über Deinen Geschmack gefreut und noch mehr über das Gelingen meiner Intrigue, welche bezweckte, ihre Mutter aus der Residenz, wo Dir das Gelingen Deiner Werbung durch so viele Nebenbuhler erschwert worden wäre, herzulocken in unser kleines Städtchen, wo ich Gelegenheit fand, eine der wenigen Personen zu sein, welche die Dame empfängt.“

„So bist Du glücklich gewesen?“

„Sei nicht sanguinisch. Ich habe das Glück gehabt, Zutritt zu der Baronin zu finden, und durch meine Verbindungen ist es mir gelungen, zu entdecken, warum das Fränlein den Baron heiraten will, obgleich er ihr im tiefsten Grunde ihres Herzens verhaßt ist. Das ist aber auch alles, und das andere muß ich Deiner eigenen Gewandtheit überlassen“.“

„Ich habe mich noch nie getäuscht, wenn ich dieser Gewandtheit Vertrauen schenkte, Onkel. In der Residenz freilich war es unmöglich, mich bemerkbar zu machen; hier aber wird es anders sein, und ich habe weder den Baron noch die fadenscheinigen Spießbürgerprinzen zu fürchten. Doch, von welchem Grunde sprichst Du?“

„Nachdem ich mich vergeblich bemüht hatte, die alte, verschwiegene Baronin zu vertraulichen Mitteilungen zu bewegen, wandte ich mich mit meinen Erkundigungen auswärts. Es war das allerdings eine schwierige und delikate Angelegenheit, und meine Geduld wurde lange Zeit auf die Probe gestellt. Endlich aber erhielt ich von meinem Freunde, welcher in der Nähe der Stammsitzung der Säumen wohnt, den gewünschten Aufschluß.“

„Und dieser lautete?“

„Die beiderseitigen Großväter des Barons und der Baronesse hatten, ich weiß nicht welchen, Rechtsstreit, den Chlowicki gewann, weil er es nicht verschmähte, zu zweifelhaften Mitteln zu greifen. Nach seinem Tode fanden sich Papiere vor, welche bewiesen, daß Säumen in seinem Rechte gewesen sei,

und der ehrenhafte Sohn des Verstorbenen kam zu dem Rechtsfeinde seines Vaters, um ihm Genugthuung zu geben. Es handelte sich um ein höchst bedeutendes Objekt, und da die Chlowickis schlecht gewirtschaftet hatten, so hätte die Rückerstattung des unrechtmäßig Angeeigneten das ganze Vermögen des Vaters der schönen Polin verschlungen. Säumen, ein wahrer Edelmann, war überrascht und tiefgerührt von dem Verhalten Chlowickis und weigerte sich infolgedessen entschieden, auf die Restitution einzugehen. Nach langem Verhandeln, welches die Zeit von Jahren in Anspruch nahm, kam man endlich zu dem Schlusse, Eginhardt und Wanda, welche beide damals noch Kinder waren, einander zu verloben und durch die spätere Verheiratung derselben die Schwierigkeit der Sache auf eine beide Teile zufriedenstellende Weise zu lösen.“

„Ah! Und die beiden Kinder sind diesem Beschlusse gehorsam gewesen?“

„Wie es scheint, ja. In welcher Zeit ihres Lebens man ihnen die betreffende Mitteilung gemacht und ob sich eins von ihnen gegen die Erfüllung des Uebereinkommens gesträubt hat, das kann ich natürlich nicht sagen. Ich muß froh sein, das soeben Gesagte erfahren zu haben; tiefer in die diskreten Beziehungen der beiden Familien einzudringen, das ist nicht gut möglich. Nur so viel weiß ich, daß die alte Baronesse eine Bürgerliche ist, man sagt, eine Jugendliebe des Barons, welche er nach dem Tode seiner ersten Frau als Erzieherin seiner Tochter zu sich genommen und später geheiratet hat.“

„Woher aber dann ihre aristokratische Exklusivität?“

„Es ist eine sehr oft zu machende Erfahrung, daß Parvenus sich mehr absondern als diejenigen, welche im noch unentdeckten Sternbilde des Wappens geboren wurden.“

„Wanda hat sich jedenfalls nur gezwungen gefügt. Es gilt nun, nachzudenken, auf welche Weise sich die Sache so arrangieren läßt, daß dieser Zwang wegfällt.“

„Das wird nicht leicht sein. Redressiert das Mädchen die Verlobung, so ist sie zur sofortigen Rückerstattung des damaligen Verlustes nebst Zinsen verpflichtet.“

„Und wenn der Baron zurücktritt?“

„So verzichtet er auf diese Wiedererstattung. Und stirbt eins von den beiden vor der Hochzeit, so fällt sein Vermögen auf das andere. Beide sind nämlich die letzten und einzigen Sprossen ihres Geschlechtes.“

„Ist der Baron gesund?“ fragte der Polizist nach einer Pause des Nachdenkens.

„Er ist lang und hager; doch scheint er nichts weniger als krank zu sein. Das wäre allerdings der geradeste Weg aus dem Labyrinthe.“

„Hm, Onkel, ich werde mir die Sache überlegen. Mein Urlaub ist kurz; warten könnte ich also nicht, selbst wenn ich wüßte, daß eine solche Lösung später zu hoffen wäre. Ich werde also in anderer Weise handeln müssen. Für jetzt aber werde ich mich auf einige Zeit zurückziehen; Du weißt, Onkel, daß meine Konstitution unter dem

Eindrucke einer so langweiligen Bahnreise sehr zu leiden hat.“

„Ja, gehe; Du kennst ja Deine Zimmer. Sobald Du Dich ausgeruht hast, stehe ich Dir wieder zur Disposition. Solltest Du Dich bald restauriert haben, so könnten wir den Konzertgarten besuchen, wo heute Nachmittag die Honoratioren unserer Stadt ein musikalisches Amüsement abhalten und Wanda von Chlowicki jedenfalls auch zu sehen und vielleicht zu sprechen ist.“

„Wenn das der Fall ist, lieber Onkel, so werde ich zu meiner Erholung nicht langer Zeit bedürfen. Ich bin natürlich sehr in der Stimmung, Dich zu beglei­ten.“ —

Einige Zeit später ging der alte Herr Polizeirat an der Seite seines Neffen in das Konzert.

Wie der erstere vorhergesagt, war die feine Gesellschaft des Städtchens hier versammelt, um sich zu belustigen, und wirklich erschien auch die Baronin von Chlowicki in Begleitung ihrer Tochter, um als eine seltene Erscheinung an dem Vergnügen Teil zu nehmen. Da die übrigen Tische alle besetzt und nur in der Nähe des Polizeirates noch einige Plätze unbelegt waren, so erhob sich letzterer, um die Damen zu sich einzuladen.

Sie folgten seiner Bitte, und das Gesicht des Kommissars glänzte von dem Widerscheine der Freude, welche er über das noch nie gehabte Glück empfand, an der Seite der still Angebeteten sitzen und die Funken seines Witzes sprühen lassen zu können.

Wirklich war auch Wanda die liebenswürdigste

Gesellschafterin von der Welt, und wenn sie nach den Regeln der einfachsten Höflichkeit den Expektorationen ihres Nachbars eine scheinbar zustimmende Aufmerksamkeit widmete, so nahm seine Selbstgefälligkeit aus dieser rücksichtsvollen Nachsicht immer neue Nahrung.

„Ich stelle die Musik hoch über die Dichtkunst,“ meinte er im Laufe der Unterhaltung. „Letztere zwingt meine Gedanken in eine bestimmte Richtung, während die erstere die Freiheit meiner Gefühle weniger beschränkt.“

„Dürfte nicht zu bedenken sein,“ antwortete das Mädchen, „daß die Töne für den wirklichen Kenner dieselbe Klarheit und Deutlichkeit besitzen, wie das gelesene oder gesprochene Wort?“

„Ich bedaure, mich dieser Ansicht nicht zuneigen zu können.“

„Aus welchem Grunde?“

„Aus dem der Erfahrung. Die Gefühle, welche eine musikalische Dichtung in mir erregt, sind stets unbestimmte gewesen, und gerade diese ihre Eigenschaft ist es, welche uns wohl thut.“

„Ihre Behauptung entbehrt nicht ganz der Wahrheit; doch liebe ich solche Unbestimmtheit zu wenig, um mir nicht Mühe zu geben, durch ein tieferes Eindringen in das Wesen der Tonkunst meinen Gefühlen Ausdruck zu geben.“

„Dieses Eindringen aber ist schwer, wo nicht gar unmöglich.“

„Haben Sie nicht auch Dichter, welche nur durch tiefes und ernstes Studium zu ergründen sind? Nicht jeder schreibt mit einer so hinreißenden Klarheit

und einer so fesselnden Logik wie der Autor des hier vor uns liegenden Aufsatzes.“

Sie griff vor sich hin und nahm ein Journal auf, welches auf dem Tische lag.

„Es giebt auf dem Gebiete der Belletristik jetzt so viel Mittelmäßiges oder gar Wertloses, daß man mit der Auswahl seiner Lekture nicht heikel genug sein kann. Kennen Sie dieses Blatt?“

„Gewiß. Es wird in der Hauptstadt verlegt, und der Herausgeber ist mir sogar einigermaßen befreundet.“

„Dann werden Sie wissen, daß es in seinen bisherigen Jahrgängen zu den erwähnten mittelmäßigen Journalen zu zählen war. Seit aber jener Unbekannte seine Beiträge liefert, ist es in die Reihe unserer ersten periodischen Schriften getreten, und die Zahl seiner Abonnenten hat sich um das doppelte vermehrt. Seine Arbeiten nehmen mein höchstes Interesse in Anspruch.“

„Dieses Interesse würde sich bedeutend abkühlen, wenn Sie Gelegenheit hätten, den Autor zu kennen.“

„Inwiefern?“

„Ja, es ist sogar möglich, daß Sie ihn gesehen haben, freilich ohne einen Schriftsteller von der Bedeutung, wie Ihre Güte sie ihm giebt, in ihm zu vermuten. Ich muß offen gestehen, daß ich seiner Schreibweise nicht huldige.“

„Ihn gesehen haben?“ fragte Wanda mit unverkennbarer Hast, und selbst die Baronin richtete einen raschen Blick auf den Sprecher. „Darf ich bitten, wo?“

„Wo anders als hier; denn ein Essenkehrer kann den Mut, mit dem Machwerke seines Gänsekieles an die Oeffentlichkeit zu treten, nur dann haben, wenn ihm die Abgeschlossenheit eines Landstädtchens nicht erlaubt hat, zu der Erkenntnis zu kommen, daß Feueresse und Buchdruckerpresse zwei sehr verschiedene Dinge sind, trotzdem sich die beiden Worte reimen.“

„Ein Essenkehrer? Und hier? Wir haben nur einen.“

„Der Mann heißt, glaube ich, Winter.“

„Es ist derselbe, welchen ich riet. Aber wie ist das Geheimnis Ihnen offenbar geworden? Die Redaktion darf doch unmöglich indiskret sein.“

„Ich könnte jetzt meiner polizeilichen Allwissenheit eine Lobrede halten; aber die Wahrheit ist, daß ich den Mann vor einigen Wochen im Redaktionsbureau traf, wo ich zufälligerweise eine Erkundigung einzuziehen hatte. Dabei gab mir eine nebenbei gehörte Aeußerung die Wissenschaft, welche ich jetzt Ihnen zur Verfügung stelle.“

„Ist es der Herr, welcher soeben eingetreten ist und sich dort nach einem Platze umsieht?“

„Ja, der ist es; eine Physiognomie wie die seinige ist nicht zu verkennen.“

„Bitte, Herr Winter, treten Sie zu uns; es ist ja wohl sonst kein Raum vorhanden.“ Und die beiden Herren einander vorstellend, fügte sie hinzu: „Es ist mir angenehm, Zeuge der Erneuerung Ihrer Bekanntschaft zu sein!“

Nach einigen durch die letztere Bemerkung veranlaßten -

veranlaßten Fragen entwickelte sich ein Gespräch, dessen Thema zu schwierig war, als daß der Kommissar ihm zu folgen vermocht hätte.

Während er deshalb mit vornehm gelangweilter Miene, als bewege sich die Konversation auf einem ihm zu alltäglichen Felde, dasaß, glänzte auf den Wangen des Mädchens die Freude über den seltenen Genuß, welchen das gesellschaftliche Talent des Schornsteinfegers ihr gewährte, und als der Baron kam und sie ihn begrüßte, geschah es mit einer Kälte, welche seinem Kommen sehr deutlich den Charakter einer unwillkommenen Störung gab.

Es war ein seltsamer Blick, welchen Winter ihm zuwarf, ein Blick, so tief forschend, als gälte es, die innerste Seele dieses Mannes zu ergründen. Und dieser Blick hatte seine volle Berechtigung, denn kurze Zeit vorher hatte Emil Gelegenheit gehabt, den Anfang eines Gespräches zu belauschen, welches ihm von außerordentlicher Bedeutung sein mußte.

Er hatte im Hause des Polizeirates eine Esse zu reinigen, welche in den Kamin des Zimmers mündete, in welchem der Baron seine Besuche zu empfangen pflegte. Kaum in derselben angekommen, hatte er ein sehr lautes Sprechen vernommen und dabei den Namen Wanda von Chlowicki gehört. Leise hatte er sich bis zur Höhe des Rauchfanges herunter gelassen und war dann Zeuge folgender Unterredung geworden:

„Du hast ja damals den Löwenanteil erhalten!“

„Der mir aber von seiten der liebenswürdigen Frau Justiz wieder abgenommen worden ist. Uebrigens -

Uebrigens warst Du nicht weniger bedacht als ich. Ich weiß genau, wieviel Platten ich abgezogen habe und werde mir also nicht weis machen lassen, daß Du den Großmütigen gespielt hast. Und wenn Du bedenkst, daß Du mit dem Deinigen glücklich entkommen bist, so wirst Du mein Verlangen nach einer kleinen Unterstützung nicht ungerecht finden. In welch einer pekuniären Lage Du Dich gegenwärtig befindest, kann ich allerdings nicht wissen, da ich unklar bin, sowohl über die Verhältnisse des Säumen, als auch über die Art und Weise, wie Du zu diesem Namen gekommen bist, aber ein Baron gebietet ganz sicher über die Möglichkeit, mit einigen tausend Thälerchen die fortgesetzte Freundschaft und Verschwiegenheit eines ehemaligen Kameraden zu belohnen.“

„Wo denkst Du hin! Unser damaliges Verhältnis wurde unter allseitiger Zufriedenstellung aufgelöst. Keiner war dem andern etwas schuldig, und wenn ich meinen Anteil mit mehr Glück verwandt habe als Ihr, so liegt doch darin für Dich keine Berechtigung zu Ansprüchen, welche Du wiederholt erheben würdest, wenn ich mich nur ein einziges Mal verleiten ließe, auf ihre Befriedigung einzugehen.“

„Ansprüche? Fällt mir gar nicht ein! Ich beabsichtige nichts, als eine einfache Bitte auszusprechen, welche Du mir erfüllen wirst, wenn Du die Klugheit noch besitzest, welche wir früher an Dir kannten und rühmten.“

„Klugheit? Soll in diesem Worte vielleicht eine Drohung liegen?“

„Wie Du es nimmst. Ich brauche Geld, und Du wirst es schaffen, freiwillig oder gezwungenerweise.“

„Pah! Ich fürchte mich nicht. Du vergißt, daß Du ebenso in meiner Hand bist, wie ich in der Deinigen.“

„Und doch ist das Verhältnis ein anderes. Ich bin ein armer Teufel, der sich von der Schaulust der Menge ernähren läßt, also nichts anderes und besseres als ein gewöhnlicher Guckkastenmann; Du aber bist Baron, gebietest über Millionen und stehst im Begriffe, dieses Vermögen durch eine reiche Heirat noch zu vervielfältigen!“

„Ach so; Du lügst! Oder sagtest Du vorhin nicht, daß meine Beziehungen Dir unbekannt seien?“

„In diesem Sinne ist jede Prüfung eine Lüge. Also mache es kurz, damit wir aus dem Unerquicklichen herauskommen. Giebst Du etwas und wie viel?“

Hier erfolgte eine Pause, während welcher der Lauscher den Baron im Zimmer auf- und abgehen hörte. Nach langem Schweigen nahm dieser endlich das Wort:

„Ich kenne Dich und weiß, daß Du immer wiederkommen wirst, um zu pressen, bis ich selbst nichts mehr habe. Deshalb wirst Du nicht eher etwas von mir bekommen, als bis ich die Gewißheit habe, daß ich Dich für immer los bin.“

„Und wie willst Du Dir diese Gewißheit verschaffen?“

„Dadurch, daß ich Dir einen auf Amerika oder Australien lautenden Wechsel gebe.“

„Einverstanden!“ lachte der andere. „Freilich

hoffe ich dann, daß die Höhe der Summe eine solche ist, daß sich das Auswandern lohnt und ich gegen Eventualitäten geschützt bin.“

„Ich zeichne freiwillig fünftausend Thaler.“

„Einverstanden; denn Du meinst doch jedenfalls als Abschlagszahlung, während ich das übrige in Sidney oder New-Orleans erhalte.“

„Wo denkst Du hin? Fünftausend Thaler sind ein Kapital.“

„Aber höchst unzulänglich, ebenso wie Deine ganze so ängstliche Vorsichtigkeit. Glaubst Du mich wirklich auf diese Weise für immer los zu werden? Kann ich den Wechsel nicht verkaufen oder nach der Einlösung desselben wiederkommen? Die einzige Sicherheit liegt in einer anständigen Abfindungssumme und in dem Vertrauen auf mein Wort. Du weißt, daß ich dasselbe niemals breche.“

„Wieviel verlangst Du?“

„Zahle fünfundzwanzig statt fünf, und Du wirst nie wieder etwas von mir hören oder sehen.“

„Kerl, Du bist verrückt!“

„Und Du bist unklug und knauserig. Ein kleines Wörtchen von mir bringt Dich um Dein Baronat und auf das Schaffot. Wähle!“

Wieder erfolgte eine Pause, und dann klang es in gedämpfterem Tone:

„Wenn ich eine solche Summe zahle, will ich dafür auch etwas Positives sehen!“

„Sprich! Kann ich Dir einen Dienst leisten, der mich nicht in Gefahr bringt, so wird es sicher geschehen!“

„Dann muß ich Dir einige offene Mitteilungen machen, aus deren Charakter Du schließen kannst, in wie weit ich Dir vertraue.“

„Allerdings können wir nur durch gegenseitiges Vertrauen in Frieden und Einigkeit auseinander kommen.“

„Also höre. Wie ich ein Baron Säumen geworden bin, das gehört nicht hierher und wird Dir auch gleichgültig sein. Nach einem alten Familienübereinkommen bin ich nun gezwungen, die Baronesse von Chlowicki zu heiraten, wenn ich in den Besitz ihres Vermögens kommen will. Da mir aber an dieser Verbindung außerordentlich wenig gelegen ist, so habe ich schon längst, aber freilich vergebens, nach einem Mittel gesucht, in den Besitz dieses Vermögens zu kommen, ohne die mir unangenehme Person des Mädchens mit dreinnehmen zu müssen.“

„Du verrätst einen über alle Maßen schlechten Geschmack! Tausende würden sie auch ohne ihr Geld nehmen.“

„Ich habe natürlich sehr triftige Gründe, mich in dieser Angelegenheit nicht von einem schönen Gesichtchen beeinflussen zu lassen. Kurz und gut, mein Nachdenken ist vergebens gewesen, und der einzige, kleine Versuch, den ich in dieser Beziehung unternahm, hatte unglücklicherweise keinen Erfolg.“

„Wenn Du schon einen Versuch gemacht hast, so mußt Du Dir doch über den einzuschlagenden Weg klar sein.“

„Gewiß. Es giebt eine Bestimmung, nach welcher

der Ueberlebende von uns beiden in das vollständige Erbe des Verstorbenen tritt.“

„Ah,“ dehnte der andere. „Und der Versuch, von welchem Du sprachst?“

„Gehört nicht hierher. Du kennst jetzt den Weg, welchen ich einzuschlagen habe. Willst Du mir behilflich sein?“

„Für fünfundzwanzigtausend? Wenig genug im Verhältnisse zu dem, was Du gewinnst. Doch mag es sein; aber unter der Bedingung, daß Du sofort bar zahlst.“

„Und Du dann verschwindest und Dich nicht wieder sehen läßt?“

„Zugestanden! Erkläre Dich nun weiter.“

„Rücke näher; man kann nicht vorsichtig genug sein, wenn es sich um solche Dinge handelt.“

Das Gespräch wurde in einem so leisen Tone fortgesetzt, daß es Winter nicht möglich war, etwas Weiteres zu vernehmen, und nur, als sich die beiden nach beendigter Unterredung erhoben, hörte er die letzten, verabschiedenden Worte:

„Also ich kann mich auf Dich verlassen?“

„Fest und sicher.“

„Gut. Die Polin ist mit ihrer Mutter in den Konzertgarten gegangen. Ich werde sie aufsuchen, um die ersten einleitenden Schritte zu thun. Leb’ wohl für jetzt!“

„Leb’ wohl und mache Deine Sache gut!“

„Habe keine Sorge! Ich kenne sie zu gut, um nicht zu wissen, daß sie sofort anbeißen wird.“

„Wenn Du Deiner Sache so gewiß bist, so wirst

Du es mir wohl nicht verdenken, daß ich der meinigen auch gern sicher sein möchte. Dort hast Du das Schreibgerät; bitte, bringe unser Uebereinkommen zu Papier.“

„Zu Papier? Du bist wohl nicht bei Sinnen?“

„Gerade weil ich sehr bei Sinnen bin, spreche ich diesen Wunsch aus. Es giebt der Fälle, in denen ich meine Dienste für nichts geleistet habe, zu viele, als daß ich nicht gelernt hätte, vorsichtig zu sein. Ein schriftliches Zugeständnis von Deiner Hand, welches in klaren Worten Arbeit und Lohn feststellt, wird uns beiden Sicherheit gewähren; ohne ein solches nehme ich mein Wort zurück.“

„Du bedenkst nicht, daß Dein Verlangen uns in die größte Gefahr bringen kann.“

„Nur in dem Falle, daß Du Dein Wort nicht hältst. Also schreibe.“

„Ich thue es nicht; Du handelst unüberlegt.“

„Und Du unehrlich.“

„Von Dir will ich dieses Wort leiden.“

„Von anderen nicht? Vielleicht kommst Du doch einmal in die Lage, es ruhig anhören zu müssen.“

„Du drohst schon wieder?“

„Nein, aber Du hast mich zu tief in Deine Karten sehen lassen, um jetzt zurücktreten zu können. Doch will ich Dich nicht drängen. Ueberlege Dir meinen Wunsch und gieb mir morgen Antwort.“

Mit diesen Worten entfernte sich der Sprecher, in welchem Winter durch die geöffnete Luke den Professor erkannte. Was Winter gehört, erfüllte ihn mit der ernstesten Besorgnis, und diese Besorgnis

war desto größer, je unklarer er über dasjenige geblieben war, was die beiden Menschen vorhatten.

Es galt jetzt, so schleunig wie möglich das Konzert zu besuchen, um Zeuge der erwähnten, einleitenden Schritte zu sein und aus ihnen auf das Vorhaben zu schließen. Er eilte deshalb nach.Hause und befand sich, wie wir gesehen haben, noch vor dem Barone in dem Garten, wo er glücklicher Weise an die Seite Wandas gerufen wurde und also die beste Gelegenheit hatte, Säumen zu beobachten.

Freilich führte diese Beobachtung zu keinem Resultate. Der Eifer, mit welchem die Polin auf die geführte Unterhaltung einging, erlaubte dem Barone nicht, die beabsichtigte Angelegenheit zur Sprache zu bringen, und als man endlich aufbrach, blieb sie mit ihrer Mutter so beharrlich an der Seite des Essenkehrers, daß Säumen sich gezwungen sah, mit dem Kommissar Hagen hinterher zu gehen und eine andere Gelegenheit abzuwarten.

Der Weg führte durch die außerhalb der Stadt liegenden Promenaden, welche in dieser Stunde von zahlreichen Fußgängern besucht wurden. Noch waren sie nicht lange Zeit in dieselben eingebogen, so begegneten sie zwei Männern, welche mit höflichem Gruße auf den Baron zutraten. Es war der Professor mit seinem neu engagierten Gehilfen, welche Säumen sofort den Damen vorstellte. Er bemerkte den fragenden Blick nicht, den der Kommissar Hagen auf seinen Untergebenen, der ihm hier ganz unerwartet in einer neuen Stellung entgegentrat, warf

und der mit einem bedeutungsvollen Augenzwinkern beantwortet wurde.

Wanda ersuchte den Aeronauten, sich der Gesellschaft anzuschließen, war bald in ein lebhaftes Gespräch mit ihm verwickelt und schlug, als sie erfuhr, daß er bei dem projektierten Aufstieg einige Passagiere mitzunehmen beabsichtige, vor Freuden die kleinen Händchen zusammen.

„Mama, ich werde diese schöne Gelegenheit benutzen und mir unser Städtchen einmal aus der Vogelperspektive betrachten!“

„Kind, wo denkst Du hin! Ein solches Wagnis werde ich nimmermehr gestatten.“

„Wagnis? Ich glaube, daß von einem solchen nicht im mindesten die Rede sein kann. Wie viele Male sind Sie schon aufgestiegen, Herr Professor?“

„Vielleicht vierzig- bis fünfzigmal, Mademoiselle.“

„Und sind nie dabei verunglückt?“

„Nie. Bei gehöriger Vorsicht und genauer Kenntnis dessen, was zu wissen notwendig ist, kann man stets eine glückliche Fahrt garantieren.“

„Hörst Du, Mama? Deine Befürchtungen sind also unbegründet, und Sie werden die Güte haben, Herr Professor, mir den ersten Platz zu reservieren.“

„Wir werden über diese Sache sprechen, Kind. Ein Entschluß, wie Dein gegenwärtiger, darf nur nach reiflicher Ueberlegung gefaßt werden.“

„Auch ich,“ fiel hier Säumen ein, „möchte Dich ersuchen, von Deinem Vorhaben abzusehen. Du weißt nicht recht, was Du wagst, und ich hege die

Ansicht, daß man dergleichen Kühnheiten nur Männern überlassen muß.“

Seine Worte schienen allerdings eine Besorgnis auszusprechen; aber der wegwerfende Ton, mit welchem er den letzten Satz aussprach, schien die Folge einer berechnenden Absicht zu sein; denn als das Mädchen ihn sofort mit einem geringschätzenden und herausfordernden Blicke musterte, zuckte ein Lächeln der Befriedigung um seine schmalen, erwartungsvoll zusammengekniffenen Lippen.

„Ich werde Dir beweisen, daß diese Ansicht eine sehr veraltete und unbegründete ist,“ erwiderte sie mit scharfem Tone. „Leider ist das Vorurteil, welches Ihr starken Leute gegen uns schwachen Geschöpfe hegt, nur durch Thaten, die angeblich unser weibliches Zartgefühl kompromittieren, zu besiegen, und wie ich jetzt eben wieder gehört habe, ist mein öfteres Ignorieren dieses Gefühles bisher in Bezug auf Dich vergeblich gewesen.“

Während dieses kleinen Wortgefechtes war der Gehilfe auf einen Wink Hagens zurückgeblieben, um sich von diesem zur Rede stellen zu lassen.

„Sie reisten ab, Herr Winter, angeblich aus Gesundheitsrücksichten.“

„Allerdings. Wollen Sie mich verantwortlich für den Zufall machen, der mich zu einer halb und halb amtlichen Aufmerksamkeit zwingt?“

„Erklären Sie sich näher über diesen Zufall!“

„Ich kam während der Bahnfahrt mit dem Professor zusammen und glaubte, von ihm über eine That, deren Urheber wir vor Jahren vergebens

zu entdecken suchten, Aufschluß erhalten zu können. Deshalb ließ ich mich von ihm engagieren und werde unser jedenfalls nur kurzes Beisammensein für den angeblichen Zweck auszunutzen suchen.“

„Welche That meinen Sie?“

„Den geheimnisvollen Mord im Hotel zum goldenen Löwen.“

„Ah! Sie sind auch jetzt noch nicht von den phantastischen Anschauungen geheilt, welche Sie damals hegten?“

„Allerdings nein! Im Gegenteil bin ich fest überzeugt, daß diese Anschauungen mich zum Ziele führen werden.“

„Dann gratuliere ich Ihnen im voraus,“ meinte Hagen in einem Tone, in welchem Zweifel und feindselige Gesinnung sich geradezu herausfordernd aussprachen. Und als sein Untergebener ihm nur mit einem gelassenen und überlegenen Lächeln antwortete, fuhr er fort:

„Darf ich fragen, in welcher Beziehung der Professor zu der erwähnten That steht?“

„Allerdings ist diese Frage gestattet, Herr Kommissar, aber die Antwort wird erst in späterer Zeit erfolgen dürfen.“

„Sie vergessen, daß ein Vorgesetzter nur in der Absicht, eine sofortige Antwort zu erhalten, seine Fragen an den Untergebenen richtet.“

„Vergeßlichkeit gehört glücklicherweise nicht zu meinen überhaupt höchst anspruchslosen Eigenschaften. Deshalb sollte es mich wundern, wenn ich übersehen hätte, daß ich mich jetzt auf Ferien befinde und

von einer dienstlichen Auseinandersetzung also keine Rede sein kann.“

„Sie wollen sagen, Herr Winter, daß Sie mir den verlangten Rapport verweigern?“

„Gewiß. Es giebt Rücksichten, welche einen zur Verschwiegenheit selbst gegen den Vorgesetzten zwingen können, und von dergleichen fühle ich mich leider augenblicklich beeinflußt. Uebrigens würde uns keine Zeit zu weiteren Expektorationen bleiben, da der Professor auf mich wartet, wie Sie sehen.“

„Wo wohnen Sie?“

„Bei meinem Chef natürlich; adieu!“

„Ich werde mit Ihnen zu sprechen haben. Steigen Sie mit auf?“

„Ich glaube nicht. Das Emporsteigen ist mir von jeher erschwert worden.“

Die Vorangehenden waren stehen geblieben, um sich von einander zu verabschieden. Als die beiden Zurückgebliebenen hinzutraten, bemerkte der Polizist Winter, daß der Blick seines Bruders auf dem Spazierstöckchen des Barons mit ungewöhnlicher Schärfe haftete. Er folgte dieser Richtung und gewahrte, daß der Stock von Eisen war und an dem unteren Ende eine Form besaß, infolge deren er recht gut als Bohreisen benutzt werden konnte.

Sofort trat er wie aus Versehen auf den Stock, so daß derselbe der Hand des Barons entfiel, hob ihn rasch auf und reichte ihn mit einer Bitte um Entschuldigung dem Besitzer zurück. So kurz der Augenblick war, an dem er das verdächtige Gerät

in der Hand gehabt hatte, er war doch hinlänglich gewesen, um das Bemerkte zu bestätigen.

„Also ich wiederhole meine Bitte, Herr Professor,“ sprach die Baronin; „dem Wunsche meiner Tochter noch keine endgültige Bedeutung zu geben. Wir werden Sie von unserer Entschließung erst noch benachrichtigen. Sie, Herr Winter,“ wandte sie sich an Emil; „werden es sich noch einige Augenblicke bei uns gefallen lassen, ich habe den Wunsch, Sie näher kennen zu lernen. Leben Sie wohl, meine Herren!“

Freudig überrascht von der Aufforderung der alten Dame trat der Eingeladene mit in das Haus, vor welchem sie jetzt gestanden und saß einige Minuten später den beiden Frauen gegenüber.

„Ich sehe mich veranlaßt, mein lieber Herr Winter,“ begann die Baronin; „Ihnen eine recht ernste Strafpredigt zu halten.“

„In welche ich mit Erlaubnis meiner Mama mit einstimme!“

„Ich bin ganz unglücklich über diesen Beginn unserer Unterhaltung und bitte um die Mitteilung derjenigen Sünden, welche Ihren Zorn erregt haben.“

„Es ist eine einzige, aber auch recht große und schwere Unterlassungssünde, unter welcher wir gelitten haben. Ich habe kein Passion für die sogenannten geschäftlichen Vergnügungen und suche meinen größten und fast einzigen Genuß in der Lektüre meiner Bücher. Die Autoren derselben sind die einzigen Freunde, deren Unterhaltung ich mich hingebe, und Freunde dürfen einander nur mit

offenem Angesicht gegenüberstehen. Jetzt werden Sie den Grund meines Zornes kennen.“

„Meine Verteidigung kann mir, da ich als Schriftsteller dem Leser stets Aufrichtigkeit und furchtlose Wahrheitsliebe entgegenbringe, nicht schwer werden. Ich bitte nur, einen Unterschied zwischen Autor und Individuum zu machen.“

„Wer dem Leser seine ganze Seele bietet, darf demselben seine Person nicht entziehen. Besonders wir Frauen wollen nicht bloß lesen, sondern auch sehen, zumal wenn wir von dem Herzen gedrängt werden, unsere Anerkennung auszusprechen. Wir interessieren uns selbst für die kleinsten Beziehungen eines Mannes, dem wir in Hinsicht auf unser Denken und Fühlen nahe stehen, und wenn zu dieser inneren sich auch noch eine äußere Verwandtschaft gesellt, wie es zwischen den Familien der Chlowickis und Winters der Fall ist, so ist ein gegenseitiges Fremdsein um so beklagenswerter.“

„Verwandtschaft?“ fragte Winter ganz erstaunt, und auch Wanda richtete das Köpfchen fragend in die Höhe.

„Freilich, und ich gestatte Euch beiden, Euch als Cousin und Cousine zu begrüßen.“

„Aber gnädige Frau! —“

„Mama!“

„Ich sehe wohl, daß ich deutlicher sein muß. Ihr Vater war Schornsteinfeger in Leipzig?“

„Jawohl.“

„Er hieß Franz Winter?“

„Allerdings.“

„Hatte er nicht eine Stiefschwester, mit welcher er beklagenswerter Weise in so wenig gutem Einvernehmen stand, daß beide sich fast gar nicht um einander kümmerten?“

„So ist es, mein Vater hatte in mancher Beziehung etwas eigenartige Ansichten und konnte zuweilen sogar ein wenig hart sein. Der Großvater hatte sich zum zweiten Male vermählt und zwar ganz und gar gegen den Wunsch seines einzigen Sohnes, der eine persönliche Abneigung gegen die Stiefmutter hegte. Diese besaß aus erster Ehe eine Tochter, welche seit frühester Jugend Aufnahme und Erziehung in einem adeligen Hause gefunden hatte und in die bescheidene Häuslichkeit des Essenkehrers so wenig paßte, daß ihr die Besuche dort bald verleidet waren, zumal mein Vater ihr nichts weniger als brüderliche Gefühle entgegenbrachte. Als sie mit der Familie, in welcher sie lebte, den Aufenthalt gewechselt hatte, hörten wir nur höchst selten etwas von ihr, da ihre Mutter keinen ihrer Briefe zur Kenntnis brachte. Später starb letztere, und ihr Begräbnis hat die Tochter zum letzten Male nach Leipzig geführt. Seit jener Zeit haben uns alle Nachrichten von ihr gefehlt und mein Vater hat auch nie Veranlassung gefunden, Erkundigungen einzuziehen.“

„So befinden Sie sich also jetzt vollständig im unklaren über sie und ihre Verhältnisse?“

„Vollständig.“

„Und doch haben Sie schon seit einiger Zeit ihre persönliche Bekanntschaft gemacht.“

Illustration 3
Wanda legte ihrem Vetter die Arme um den Nacken
und küßte ihn auf die Wange. (S. 133.)

„Gnädige Frau!“

„Wollen Sie nicht lieber ‚Tante‘ sagen, Sie haben ein Recht dazu.“

Fast erschrocken sprang Winter von seinem Sitze empor; aber ehe er noch Zeit fand ein Wort des Erstaunens auszurufen, hatte Wanda schon seine beide Hände ergriffen, und ihm tief und innig in die Augen blickend, rief sie freudig:

„Vetter, sei mir tausendmal willkommen! Zwar befinde ich mich noch nicht ganz im klaren über den Zusammenhang dieser Sache; aber ich weiß doch, daß ich nun nicht mehr allein und schutzlos dastehe.“

Und ihm die Arme um den Nacken legend, küßte sie ihn auf die Wange und eilte dann zur Mutter.

„Mama, ich danke Dir für diese Freude; es ist die größte meines Lebens!“

„Hast Du wirklich so allein und schutzlos dagestanden, Wanda?“ fragte die Baronin mit leisem Vorwurfe.

„Verzeihe mir! Schutzlos bin ich oft gewesen, und so sehr sich meine ganze Seele sträubt, mich zu dem

‚schwachen Geschlechte‘ zählen zu lassen, so habe ich doch schon oft empfunden, daß wir Frauen auf männlichen Beistand angewiesen sind. Und wenn ich mich einsam gefühlt habe, trotzdem ich eine Mutter besitze, so liegt die Schuld an mir allein. Ich bin nicht immer gut und gehorsam gewesen.“

Es war, als hätte seit dem Worte ‚Vetter‘ ihr Wesen eine vollständige Umwandlung erfahren. Die Hand Winters immer noch in der ihrigen haltend, stand sie mit demütig gebeugtem Haupte vor der

Stiefmutter, als erwarte sie aus dem Munde derselben ein strenges, nachsichtsloses Urteil. Aber die Antwort war mild und freundlich, als die alte Dame mit zitternder Stimme und tiefer Rührung in den Zügen erwiderte:

„Ich kenne Dich und konnte Dir also nie zürnen. Du hast mich lieb gehabt zu aller Zeit, wenn das kleine Trotzköpfchen auch zuweilen gegen das Gefühl des Herzens ein wenig rebelliert hat. Aber wie es scheint, hast Du wohl einen Vetter gefunden, ich aber noch nicht einen Neffen!“

Wirklich hatte Winter noch kein Wort der Begrüßung zu ihr gesprochen und wurde erst durch diese Erinnerung aus seinem Schweigen aufgeweckt.

„Ihr beiden Leute laßt mich ja gar nicht zu Worte kommen, und dazu bin ich von dem so unerwarteten Glücke, eine mütterliche Freundin zu finden, so betäubt, daß es wirklich kein Wunder ist, wenn ich vor lauter Freude vergessen habe, höflich zu sein.“

Mit Herzlichkeit wurde das Versäumte nachgeholt, und es zeigte sich bald, daß die Baronin trotz der scheinbaren Härte ihres Charakters ein tiefes und reichbegabtes Gemüt besaß, welches sich jetzt in Freundlichkeiten ergoß, die um so inniger waren, je weniger sie bisher Gelegenheit zu denselben gehabt hatte.

„Du wirst fragen, warum ich in der langen Zeit kein Lebenszeichen gegeben habe?“

„Nein; ich weiß die Gründe, welche Dich uns entfremdeten, zu würdigen. Die Schuld lag nicht

an Dir, und ich bin Dir von ganzem Herzen dankbar für die Verzeihung, welche Du heute übst.“

„Ich trat einige Jahre nach dem Tode meiner Mutter als Erzieherin in die Familie meines späteren Gemahles, der seit kurzer Zeit Witwer geworden war. Alles Uebrige kannst Du entweder erraten, oder werde ich es Dir später erzählen. Es darf kein Mensch hoffen, das Glück in vollen unausgesetzten Zügen genießen zu dürfen, und wenn auch ich keine Ausnahme gemacht habe, so ist mir für so manches Trübe doch reichliche Entschädigung in der Liebe meiner Tochter geworden.“

„Mama, Du beschämst mich!“

„Ich kenne Dich und habe nie an Deiner Zuneigung gezweifelt, obgleich dieselbe sich Deinem eigenartigen Charakter angemessen äußern mußte. Oder hast Du Dich vielleicht nicht allein aus Rücksicht für mich entschlossen, der letzten Bestimmung Deines Vaters gehorsam zu sein?“

„Ich bitte Dich in dieser Stunde, jene Angelegenheit unberührt zu lassen.“

„Und doch muß ich ihrer erwähnen, um Dir zu beweisen, daß ich mich in Dir nie geirrt habe. Aber ist eine Verbindung zwischen Dir und Säumen mein Wunsch gewesen, so war es nur in Rücksicht auf die Ehre unseres Namens. Nachdem, was ich früher über ihn gehört, mußte ich erwarten, daß kein Grund zu einer gegenseitigen Abneigung, wie ich sie seit Eurem persönlichen Zusammentreffen beobachte, vorhanden sei.“

„Ich werde trotz dieser Abneigung mein Wort doch halten.“

„Weil Du es nicht überwinden könntest, Deine Mutter Not leiden zu sehen.“

„Oder weil der letzte Wille meines Vaters mir mehr gilt, als mein Lebensglück.“

„Da ich,“ schaltete sich jetzt Winter ein; „zu diesem letzten Willen in keinerlei Beziehung stehe, so wirst Du mir erlauben, Cousinchen, Dein Glück höher zu achten, als ihn. Die Gründe, welche den Vater zu einer für Dich so harten Verfügung nötigten, sind mir durchaus unbekannt; aber ich sehe eine Zeit kommen, in der sie ihre Macht verloren haben werden.“

„Diese Zeit wird nie kommen.“

„Und doch. Vielleicht ist sie schon sehr nahe; ich wenigstens werde nach Kräften ihren Gang beschleunigen und nimmermehr zugeben, daß meine Cousine ihr Schicksal an dasjenige eines Mannes bindet, welchen sie nicht nur haßt, sondern sogar fürchtet. Ich bin,“ setzte er scherzend hinzu; „Dein einziger männlicher Verwandter, und Fränlein von Chlowicki ist also gezwungen, im Familienrate meinen Willen zu respektieren, trotzdem es der Wille eines Essenkehrers ist.“

„Allerdings räume ich Dir Einfluß auf meine Entschließungen ein; aber Du sagt mit Unrecht, daß ich den Baron fürchte.“

„Den Baron allerdings nicht, aber wohl den Besitzer eines gewissen Taschentuches, welches Du als Souvenir an den Felsenbruche zurückbehalten hast.“

„Emil!“ fuhr sie erschrocken auf.

„Ich sehe, daß Du mir recht giebst, und so will ich dieses häßliche Thema wieder fallen lassen; aber dem Baron wird es nie gelingen, Dich seine Gemahlin zu nennen.“

„Welche Gedanken knüpfst Du an die Geschichte dieses Taschentuches. Ich bitte um Aufrichtigkeit; Du hast eine Abneigung gegen den Baron, welche ihre Gründe haben muß.“ —

„Abneigung? Das ist jedenfalls noch zu wenig. Sie bezieht sich nur auf den gegenwärtigen Baron von Säumen, den früheren und echten habe ich sogar sehr lieb gehabt. Er logierte in unserem Hause, und seine Persönlichkeit hat sich in allen ihren Einzelheiten in meinem Gedächtnisse so tief eingeprägt, daß ich ihn unter Tausenden herausfinden würde und wenn sie alle ihm noch so sehr ähnlich sähen.“

„Mein Gott, was willst Du damit sagen?“ rief sie erschrocken.

„Etwas, was ich vielleicht in kurzer Zeit beweisen kann. Für heute magst Du es als eine Andeutung gelten lassen, welche Dich zur Vorsicht nötigen soll.“

„Erlaube mir, lieber Neffe; mit Andeutungen dürfen wir uns in einem so eminenten Falle nicht begnügen. Ich getraue mir fast nicht, über den Sinn Deiner Worte nachzudenken und halte es für Deine Pflicht, uns strikte Aufklärung zu geben.“

Winter sah sich in einer schlimmen Lage. Allerdings wäre es seine Pflicht gewesen, offen zu sein, aber er konnte es nicht über sich gewinnen, den Frauen einen so empfindlichen Schlag zu versetzen. Das

Bewußtsein, mit einem Menschen, der vielleicht noch etwas Schlimmeres als ein gemeiner Betrüger war, in so innigem Verhältnisse zu stehen, mußte sie tief verwunden. Er hatte gewarnt, mehr konnte er für heute nicht thun, und vielleicht war es möglich, der Sache später eine solche Wendung zu geben, daß ihre Entwickelung ohne Eclat möglich war. Er ließ sich also durch die an ihn gerichtete Bitte nicht zu Mitteilungen verleiten und lenkte das Gespräch in geschickter Weise auf seine Familie, über welche er ausführlich referieren mußte, so daß es schon spät am Abend war, als er aufbrach.

Wanda begleitete ihn bis hinunter vor die Thür. Als er ihr zum Abschiede die Hand reichte, hielt sie dieselbe fest und sprach, ihm tief in die Augen blickend:

„Emil!“

„Wanda?“ entgegnete er fragend.

„Hast Du mir nichts zu sagen?“

„Du meinst, die Bitte um Verzeihung wegen meiner Zudringlichkeit in der Höhle des Felsenbruches? Der heutige Tag hat mich nachgiebiger gestimmt. Willst Du mir verzeihen, mein liebes Herzenscousinchen?“

„Gern. Aber Du mußt auch brav sein und aufrichtig gegen Deine Cousine, gerade so, wie damals, als Du mit mir im Walde herumstrichst. Vorhin hast Du aus Rücksicht gegen Mama geschwiegen; jetzt aber sind wir allein, und Du darfst also sprechen. Sag, welche Gründe Du hast, dem Baron Säumen so ungünstig gesinnt zu sein!“

„Und welcher Lohn erwartet mich für meine Aufrichtigkeit?“

„Für die Erfüllung einer Pflicht darf man nicht Lohn beanspruchen, Emil. Bitte, beantworte meine Frage.“

„Wie Du vorhin hörtest, habe ich Säumen gekannt. Er wohnte in dem Hause meiner Eltern, und ich weiß sehr genau, daß er einen Schlägerhieb als Folge eines kleinen Rencontres auf die Stirn erhielt. Die Narbe eines solchen Schlages ist unverwischbar, und ich habe bei Deinem Verlobten eine solche nicht bemerkt. Daher mein Mißtrauen.“

„Aber ich bitte Dich,“ erwiderte sie; „Du erschreckst mich ja! Ich habe ihn nur für einen Ignoranten gehalten und die Einwilligung zu unserer Verbindung allerdings allein aus Rücksicht auf Mama gegeben. Aber trotzdem wären wir uns für die ganze Zeit unseres Lebens fremd geblieben. Und nun hältst Du ihn gar für einen gemeinen — ich muß sagen; Schwindler, der sich durch den Zufall in die Verhältnisse eines anderen eingedrängt hat! Du mußt Dich irren, Du mußt, es kann nicht möglich sein!“

„Ich gebe zu, daß ich irren kann; aber ich werde nicht eher ruhen, als bis ich Gewißheit habe. Denke an die Explosion, welche Dir beinahe das Leben gekostet hätte.“

„Seine Anwesenheit an dem Orte war vielleicht nur Zufall.“

„Vielleicht. Doch wird sich das aufklären. Es liegt hier allerdings eine außerordentliche Ähnlichkeit vor, die einen leicht irre machen kann.“

„Das ist es nicht allein. Er besitzt so genaue

und eingehende Kenntnis über alles, was die Verhältnisse der Säumens und der Chlowickis betrifft, daß er unmöglich ein Fremder sein kann. Und wo sollte in diesem Falle der wirkliche Eginhardt sich befinden?“

„Hatte derselbe einen Bruder?“

„Nein. Kurz vor seiner Abreise aus Wien hat er uns von seiner Ankunft brieflich benachrichtigt. Allerdings verzögerte sich dieselbe um einige Wochen über die angegebene Zeit hinaus, was der einzige Anhaltepunkt meines Mißtrauens sein könnte; aber er kennt den Wortlaut jenes Briefes, als auch alle vorher geschriebenen so genau, daß er selbst der Schreiber sein muß.“

„Laß es für jetzt gut sein, Wanda. Die nächsten Tage werden uns Sicherheit bringen, und ich werde möglichst dafür sorgen, daß weder Du noch Mama eine Exposition erleidet. Lebe wohl!“

„Adieu, Emil. Du hast mir heute große Freude bereitet, aber auch schwere Sorge; ich weiß nicht, welcher von den beiden ich mich hingeben soll.“

„Der Freude natürlich; die Sorge überläßt Du am besten mir. Ich bin sie gewöhnt und weiß also recht gut mit ihr umzugehen.“

Er ging. Der Umstand, daß der Baron so außerordentlich genau über das Kleinste unterrichtet war, wollte ihn fast irre machen. Der rechte Säumen mußte die Konzepte seiner Briefe alle aufbewahrt und überhaupt ein sehr genaues Tagebuch geführt haben, nur so war es möglich, daß ein anderer sich so specielle Kenntnisse aneignen konnte.

Der ungewöhnliche lange Zeitraum zwischen der Abreise von Wien und seiner Ankunft bei den Damen war jedenfalls zu einer Reise nach den Besitzungen der beiden Familien verwandt worden, um sich hinlänglich zu orientieren, und da kein Verwandter mehr existierte und der Baron seit vielen Jahren in Italien gelebt hatte, so war es bei einiger Aehnlichkeit allerdings leicht möglich, die Dienerschaft zu täuschen und infolgedessen auch in anderen Kreisen anerkannt zu werden.

Vor allen Dingen mußte der Tod des wirklichen Säumen nachgewiesen werden. Wie das aber ermöglicht werden könne, das wollte er dem Bruder überlassen und beschloß deshalb, ihn heute abend noch aufzusuchen. Seit der Anwesenheit des Professors schien sich die Entwickelung zu beschleunigen, und es durfte also keine Zeit verloren wer­den. —

IV. Über den Wolken.

Es war noch früh am Morgen, wenigstens nach der Zeitrechnung derjenigen Leute, welche nach englischem Modus leben und den Tag beginnen, wenn die Sonne schon hoch am Himmel steht. Zu dieser Klasse von Menschenkindern gehörte der Polizeirat nicht. Von Jugend auf an ernstes, aufmerksames Schaffen und anstrengende Thätigkeit gewöhnt, war es ihm zur Gewohnheit geworden,

mit dem Tagesgrauen zu erwachen und diesem Erwachen die Arbeit augenblicklich folgen zu lassen.

So treffen wir ihn auch heute schon bei Zeiten wach und über den Zeitungen sitzend, welche gestern spät noch angekommen sind. Die Aufmerksamkeit für diese Art von Lekture ist Pflicht eines jeden Polizeibeamten und war ihm zu seinem Wohlbefinden unumgänglich notwendig geworden, obgleich er längst schon seine Pension genoß.

Da hörte er rasche Schritte auf der Treppe, und kaum hatte er sich horchend aufgerichtet, so öffnete sich auch schon die Thür und Hagen trat ein.

„Guten Morgen, Onkel! Verzeihe mir die allzu frühe Störung; aber ich bringe wirklich eine Nachricht, welche Deine ganze Teilnahme in Anspruch nehmen wird.“

„Nun? Du bist mir allerdings jederzeit willkommen.“

„Es ist verschiedenes. Zunächst wirst Du erstaunen, daß die Baronin von Chlowicki die Tante des hiesigen Essenkehrers Winter ist.“

„Ich bin gewohnt, über nichts zu erstaunen. Der Polizist darf diesen demütigenden Gefühlsaffekt nicht kennen. Freilich muß ich gestehen daß Deine Neuigkeit sehr unwahrscheinlich klingt.“

„Und doch ist es so. Wenn Du die Art und Weise eines guten Polizisten so genau kennst, so wirst Du ihm auch zuweilen eine kleine Neugierde gestatten, welche andern nicht erlaubt ist.“

„Gewiß. Bist Du vielleicht neugierig gewesen?“

„Meine Absichten auf Wanda von Chlowicki

zwingen mich dazu. Ich habe gestern abend die Runde um ihre Wohnung gemacht und dabei das Gespräch zweier Personen belauscht, deren eine die Kammerzofe der Baronesse war, während ich nach Erkundigungen, welche ich heute sofort eingezogen habe, in der andern den Buchbinder Thomas vermute. Beide haben ein Verhältnis miteinander und gaben sich gestern ein Rendezvous, dessen Zeuge ich glücklicherweise war. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich die Neuigkeit, welche ich Dir mitteilte. Das Kammerkätzchen hat nach Art und Weise dieser wißbegierigen dienstbaren Geister die betreffende Unterredung belauscht und wäre natürlich am Herzdrücken gestorben, wenn sie dem Allerliebsten keine Mitteilung davon gemacht hätte. Was sagst Du dazu?“

„Es giebt keine Unmöglichkeit unter der Sonne. Nur sind hierbei zwei Fälle anzunehmen. Entweder nämlich ist Winter adlig, was ich nicht vermute, trotzdem ich ihn sehr achte, oder die Baronin ist eine Bürgerliche, und es bestätigt sich also die Wahrheit dessen, was ich Dir vor kurzer Zeit zu Gehör brachte.“

„Das letztere ist der Fall. Doch ist diese Sache, wenigstens für den Augenblick von keinem bedeutenden Interesse für mich; vielmehr wird dieses ganz und gar in Anspruch genommen durch einen Brief, welchen der hiesige Postsekretär mir vorhin übergab.“

„Was für Wichtigkeiten enthält er?“

„Ich weiß es selbst noch nicht und muß ihn erst öffnen.“

„Von wem ist er?“

„Von einem meiner Untergebenen, dem Bruder des vorhin erwähnten Schornsteinfegers.“

„Ah! Von dem Manne, welchen wir kürzlich als Gehilfen des Professors antrafen? Die Sache beginnt interessant zu werden. Was hat er Dir zu schreiben?“

„Mir nichts. Sein Brief ist vielmehr an einen unserer routiniertesten Staatsanwälte gerichtet. Die Sache ist nämlich so. Winter ist ein kluger Kopf, vielleicht der klügste, intelligenteste, welcher uns zur Verfügung steht; nur macht er infolge seiner akademischen Laufbahn Ansprüche auf eine gesellschaftliche Gleichberechtigung, welche unsere Anciennitätsverhältnisse vollständig über den Haufen wirft. Er hat Urlaub wegen seiner angeblich bedrohten Gesundheit genommen; aber bei einem Manne von seinem Diensteifer ist eine Reise nur zum Zwecke der Erholung nicht gut anzunehmen. Er ist noch jung, und wenn seine Kräfte auch etwas in Anspruch genommen worden sind, so ist das Uebelbefinden doch nicht von der Art, daß er infolge einer längeren Dispensation mehrere Wochen lang jede Gelegenheit zur Auszeichnung versäumen möchte. Deshalb vermutete ich bei unserem Zusammentreffen hier sofort irgend eine Diplomatik von seiner Seite und scheine mich auch nicht getäuscht zu haben.“

„Er will den Professor aushorchen, wie Du mir sagtest.“

„Bewahre! Zwar habe ich das Märchen geglaubt, aber jetzt bin ich überzeugt, daß er mich

mit dieser Erklärung blos dupieren wollte. Er ist nur des Barons wegen hier und hat das zufällige Zusammentreffen mit dem Aeronauten bloß benutzt, einem Aufenthalte hier einen einigermaßen stichhaltigen Grund zu geben.“

„Des Barones? Du meinst Säumen?“

„Ja. Ich darf natürlich nicht weniger benüitzen, als mein Untergebener und habe mich also über alles, was ihn hierher geführt haben kann, zu orientieren gesucht. Da fiel mir zunächst der Verdacht auf, welchen sein Bruder in der Felsenbruchaffaire geäußert hat, und sodann bemerkte ich bei unserer kürzlichen Begegnung das Interesse, welches beide für den Stock des Barons an den Tag legten. Da ich mir nun zudem denken konnte, daß die geheimnisvolle Thätigkeit Winters sich auch nach außen hin äußern werde, so gab ich bei dem hiesigen Postamte meine Legitimation ab und bat um Aushändigung aller Briefe, welche von den beiden Winter zur Beförderung aufgegeben würden.“

„Du wagst viel und das Postamt nicht weniger.“

„Pah; man wird es zu verantworten wissen, wenn es überhaupt dazu kommen sollte.“

„Und heute ist Dir ein solches Schreiben zugestellt worden?“

„Ich wurde von dem Sekretär im Vorübergehen angerufen. Hier ist es. Ich kann die Unvorsichtigkeit Winters nicht begreifen, seine Einlage mit einem gewöhnlichen Gummicouvert zu umschließen!“

Er befeuchtete bei diesen Worten das Couvert mit der Lippe und öffnete es dann vorsichtig. Der

einliegende Briefbogen war vollständig beschrieben, und während Hagen den Inhalt überflog, legte sich seine Stirn in die Falten höchster Spannung.

„Wahrhaftig; es ist ganz so, wie ich dachte. Mit seiner Stellung zu dem Professor maskiert er seine eigentliche Absicht, und diese ist allerdings eine ganz außerordentliche.“

„Nun?“

„Hier, lies!“

„Ich bin nicht, wie Du, im Amte und habe also kein Recht, ihn zu lesen. Also, welche Absicht hat er?“

„Du erinnerst Dich wohl jenes Mordes, von welchem er zu mir gesprochen hat?“

„Ja.“

„Nun, er beantragt bei der Staatsanwaltschaft das sofortige Ausgraben der Leiche und eine genaue Untersuchung des Stirnbeines. Befindet sich an demselben die Spur einer Vernarbung, welche von einem Schlägerhiebe herrührt, so behauptet er, im stande zu sein, nicht allein die Identität des Ermordeten nachzuweisen, sondern auch sofort den Mörder fassen zu können. Sodann bittet er um vorläufige Diskretion und, seiner eigenen Ueberzeugung wegen, um Zusendung des betreffenden Körperteiles, wenn dieselbe möglich sei.“

„Das ist allerdings staunenerregend. Um diesen Antrag zu stellen, muß er seiner Sache sehr sicher sein.“

„Das ist er auch, wie ich ihn kenne. So gewiß, wie ich seinen Brief in der Hand halte, so zweifellos -

zweifellos hält er auch den Mörder fest, und dieser letztere ist kein anderer als der Baron.“

„Halt, das ist eine reine Unmöglichkeit!“

„Ich würde ebenso sagen, wenn ich diesen Winter nicht kennte. Aber kannst Du mir nicht vielleicht sagen, welche Universität Säumen besucht hat?“

„Mehrere, wie ich aus dem Munde der Baronin hörte; ich glaube auch Leipzig.“

„Dann ist er es. Es wird zwar vorsichtigerweise hier kein Name genannt; aber es heißt, daß der Ermordete den Hieb in Leipzig erhalten habe. Sonach hätte der Mörder die That begangen, um sich in den Personal- und Vermögensstand des Getöteten zu setzen.“

„Eine kühne Annahme, in welche ich mich kaum hinein zu arbeiten vermag. Und wenn der Schreiber dieses Briefes recht hat, so entstehen für Dich Bedenklichkeiten, denen Du Deine ganze Aufmerksamkeit schenken mußt.“

„Allerdings. Zunächst muß es mir unangenehm sein, wenn einer meiner Leute eine Entdeckung macht, welche mir nicht gelungen ist. Und die gegenwärtige ist ja von der größten Wichtigkeit. Die nächste Folge wäre ein Avancement, welches ihn wenigstens neben mich stellte. Unangenehm, sehr unangenehm!“

„Ich kann Dir hier noch keine Ratschläge geben; aber jetzt hältst Du die Chance noch in Deiner eigenen Hand.“

„Und werde sie jedenfalls auch nicht wieder fortgeben; ein allzu großes Zartgefühl ist hier keinesfalls am rechten Platze, und die Sache wird sich

ja bei einiger Vorsicht recht gut arrangieren lassen. Es wäre ja Wahnsinn, eine Karte wegzuwerfen, welche mein Spiel mit den Damen zu einem gewonnenen machen kann“

„Darauf wollte ich Dich hinweisen. Nur gilt es, sehr zu überlegen, wie der Trumpf zu gebrauchen ist. Ist die Annahme Winters die richtige, so entsteht bei der in Aussicht stehenden Kriminaluntersuchung eine höchst demütigende Blamage nicht nur für die Chlowickis, welche in eine nähere Verbindung mit dem Mörder einzugehen beabsichtigten, sondern auch für mich, der ich ihn in meinem Hause aufgenommen und mit meiner nachdrücklichsten Empfehlung gedient habe. Hier kannst Du Dir also vielseitigen Dank erwerben.“

„Habe keine Sorge, Onkel! Selbst wenn ich andere Rücksichten nicht zu nehmen hätte, so würde ich doch nie einen Schritt thun, der Dein Ansehen schädigen könnte. Es ist das ein Opfer, welches ich Dir bringe, und Du wirst mich nun wohl nicht mehr der Unaufmerksamkeit gegen Dich zeihen.“

„Lassen wir das! Es gilt jetzt vor allen Dingen zu überlegen, in welcher Weise Du zu handeln hast. Was wirst Du mit dem Briefe vornehmen?“

„Der wird vernichtet. Er ist nicht persönlich übergeben, sondern in den Briefkasten gesteckt worden; die Postanstalt besitzt also keine Verantwortlichkeit für sein Schicksal. Hier ist mir Winter, der doch sonst höchst vorsichtig handelt, geradezu unbegreiflich.“

„Wenn er nicht vielleicht grade aus Vorsicht so gethan hat. Er konnte annehmen, daß Du ein

großes Interesse haben mußt für alles, was er hier vornimmt, und hat vielleicht angenommen, daß ein gewöhnlich behandelter Brief Deinen Augen entgehen werde.“

„Nicht sehr schmeichelhaft für mich! Wenn es so ist, so soll er sich verrechnet haben. Aber sagtest Du kürzlich nicht, daß der Ueberlebende in den Vermögensbesitz des Verstorbenen trete, wenn der Baron oder Wanda vom Tode betroffen werde?“

„So ist es.“

„Dann wäre die Polin ja jetzt eigentlich die Besitzerin des Chlowickischen Besitzes, und es handelt sich nur darum, den Baron ohne öffentliche Sensation zu entlarven. Man würde sich auf diese Weise die Dankbarkeit der Damen doppelt verdienen.“

„Hier will überlegt, aber auch schnell gehandelt sein, sonst steht zu befürchten, daß die Karte Dir wieder genommen wird. Man kann nicht wissen, welche Schritte Winter noch weiter zu thun beabsichtigt.“

„Es ist klar, daß ich zunächst zu der Baronin zu gehen habe, um sie von dem Bevorstehenden zu benachrichtigen und mir Kenntnis ihrer Wünsche zu erbitten. Das übrige richtet sich nach dem Ergebnisse dieser Unterredung.“

„Halt, laß den Hut noch liegen! Mir scheint dies gerade der verkehrteste Weg zu sein.“

„Warum?“

„Du sagtest vorhin, die Baronin sei die Tante Winters?“

„Allerdings.“

„So wird sie ihn von Deinen Mitteilungen

sofort benachrichtigen, selbst wenn Du sie um die größte Diskretion bätest. Die Schlüsse, welche er dann ziehen würde, brauche ich nicht erst anzudeuten.“

„Du hast recht. Aber ich kann doch unmöglich mit dem Baron verhandeln, ohne vorher mit den Frauen gesprochen zu haben.“

„Warum nicht? Sie würden gewiß alles Deinem Ermessen anheimstellen und Dir Vollmacht zum selbstständigen Handeln geben.“

„Wenigstens läßt sich das annehmen. Also zum Barone jetzt!“

„Sei nur nicht unvorsichtig. Wenn er der ist, für den ihn Winter hält, so hast Du es nicht bloß mit einem gewiegten Gauner, sondern mit einem Menschen zu thun, der zu allem fähig ist.“

„Sei ohne Sorge, Onkel! Es wird der erste nicht sein, den ich von dieser Sorte vor mir habe.“

Mit einem kurzen, selbstbewußten Nicken des Kopfes schritt er hinaus. Es war ein sehr wohlthuendes Gefühl, dem er sich in diesem Augenblicke hingab. Wanda war der Gegenstand seiner Sehnsucht, seit er sie in der Residenz gesehen hatte; aber teils hatte ihm der Dienst nicht gestattet, sich die nötigen Mußestunden zu erlauben, teils auch war er, selbst wenn seine gesellschaftlichen Beziehungen eine Annäherung ermöglicht hätten, nie Herr eines dunklen Gefühles geworden, welches ihm sagte, daß er dem Gegenstande seiner Wünsche geistig nicht ebenbürtig sei. Die selbstbewußte, imponierende Erscheinung der schönen Polin hatte ihm Achtung eingeflößt und ihn in der gehörigen Entfernung gehalten, -

gehalten, als sie fortgegangen war, hatte er sich die lebhaftesten Vorwürfe gemacht, daß er ganz gegen seine sonstige Gewohnheit diesem außerordentlichen Wesen gegenüber mutlos gewesen war.

Jetzt nun bot sich ihm die trefflichste Gelegenheit, sich die Dankbarkeit der Frauen zu erwerben, und der Umstand daß der Verlobte Wandas als ein Verbrecher entlarvt werden sollte, nahm ihr einen guten Teil des Glorienscheines, in welchem er sie zu erblicken gewohnt war. Er konnte ihr heute in polizeilicher Eigenschaft entgegentreten, das gab ihm die früher vermißte Sicherheit wieder und rückte ihm sein Ziel in die erwünschte Nähe.

Freilich galt es vor allen Dingen erst den Baron zu fassen, und zwar so, daß er sich gefangen geben mußte. Das war jedenfalls nicht leicht; aber gerade diese Schwierigkeit mußte ihm zur Empfehlung dienen und in jeder Beziehung zum Vorteile gereichen. Und so begab er sich denn in etwas gehobener Stimmung nach der Wohnung des Barons, wo er denselben anwesend fand und sofort vorgelassen wurde.

„Es ist mir ein Vergnügen, zu sehen, daß Sie unsere kürzlich angeknüpfte Bekanntschaft zu erneuern und zu befestigen wünschen. Nehmen Sie Platz!“ begrüßte ihn Säumen.

„Vielleicht ist der Zweck meines Kommens für Sie ein nicht ganz erfreulicher, und was unsere Bekanntschaft betrifft, so ist sie wenigstens meinerseits eine etwas längere, als Sie meinen.“

„Wieso? Ich erinnere mich wirklich nicht, jemals oder irgendwo Ihre Gegenwart genossen zu haben.“

„Darin treffen Sie das Richtige. Aber ich bin Polizist, und Sie wissen ja, daß diese Art Leute ihre Bekanntschaften oft sehr einseitig pflegen.“

„Ich habe also anzunehmen, daß Sie mich gekannt haben, noch ehe ich die Gelegenheit hatte, Sie zu sehen?“

„Ich glaube wenigstens.“

„Möglich. Ein Mann in höherer Stellung wird mehr bemerkt, als er selbst Zeit hat, aufmerksam zu sein. Wo bin ich Ihnen begegnet?“

„Zunächst auf dem Papiere.“

„Ach! Wie ist das möglich? Hier muß ein Irrtum vorliegen; ich bin nicht Litterat.“

„Man kann von sich schreiben lassen, auch ohne Schriftsteller zu sein. Freilich ist der betreffende selten sehr erbaut, wenn er auf die Beschreibung seines Wesens und Treibens stößt.“

„Was wollen Sie damit sagen?“ fragte der Baron, aufmerksam werdend.

„Ich wollte nur andeuten, in welcher Weise ich Kenntnis von dem Herrn Baron von Säumen bekam.“

„Ich ersuche Sie, deutlicher zu sein.“

„Sie waren in Paris?“

„Früher, vor längeren Jahren. Warum?“

„Haben Sie während Ihres dortigen Aufenthaltes vielleicht einmal in dem Magazin von Jules Ragellet, marchand tailleur vorgesprochen?“

Das an sich schon blasse Gesicht Säumens wurde

bei dieser Frage noch um einen vollen Schatten bleicher. Er erwiderte:

„Persönlich habe ich da nicht verkehrt, obgleich ich bei dem Manne arbeiten ließ. Es befindet sich in meiner gegenwärtigen Garderobe vielleicht sogar noch einiges von ihm.“

„Können Sie mir die betreffenden Stücke bezeichnen?“

„Dieser Aufgabe ist ein Baron wohl schwerlich gewachsen. Wenden Sie sich an meinen Diener. Im übrigen aber kann ich Ihnen versichern, daß Ragellet einer der ersten Schneider ist, wenn Sie vielleicht die Absicht haben, sein Geschäft mit Aufträgen zu betrauen.“

„Das liegt weniger in meiner Absicht; nur wurde mir der Name des Mannes zu einer Zeit bekannt, in welcher sich die gesamte Polizei des Landes bemühte, den Urheber eines höchst entsetzlichen Mordes zu entdecken.“

„Ach so! Hatte man vielleicht Verdacht auf den Pariser Schneider?“ fragte Säumen, während es ihm nur mit Anstrengung gelang, ein ironisches Lächeln hervorzubringen.

„Sie scherzen. Es war bemerkt worden, daß der Thäter Kleidungsstücke von der erwähnten Firma trug. Man wandte sich also nach Paris, und es gelang infolgedessen allerdings, das Gewünschte zu ermitteln, wenn es auch vor der Hand nicht sofort möglich war, der Person habhaft zu werden.“

Hagen sprach hier nicht die Wahrheit; man hatte ja den Vorschlag Winters, sich nach Paris zu

wenden, ignoriert. Aber es kam jetzt darauf an, die möglichste Sicherheit zu zeigen, wobei allerdings jede Blöße zu vermeiden war.

„Und was erfuhr man?“

„Vollständig genug, um anzunehmen, daß der Mörder seinen Mann nur in der Absicht getötet habe, um an seine Stelle zu treten.“

„Diese Ansicht scheint mir auf alle Fälle zu gewagt. Es gehört fast Unmögliches dazu, für einen andern zu gelten, ohne Mißtrauen zu erwecken.“

„Sie haben recht, und der Mörder ist deshalb als ein höchst kühnes und gefährliches Subjekt zu bezeichnen. Das Mißtrauen ist auch nicht ausgeblieben, trotzdem fast alles vorhanden war, seine Absicht zu einer gelungenen zu machen.“

„Was aber kann das bloße Mißtrauen. der Polizei nützen?“

„Sehr viel. Es giebt ihr die nötigen Fingerzeige, und wer diese zu benutzen gelernt hat, der kommt stets zum Ziele.“

„Und warum sind Sie gekommen, eine solche Unterhaltung mit mir zu führen?“

„Weil Sie mir helfen können, die letzte Schlinge um den Thäter, den ich endlich persönlich erlangen kann, zu legen. Ich glaube, von Ihnen nicht abgewiesen zu werden.“

Der Baron atmete sichtlich erleichtert auf. Zwar konnte er sich einer nicht geringen Selbstbeherrschung rühmen; aber das verfängliche Thema war ihm zu unvermutet auf den Hals gekommen, als daß er die notwendige Kälte bewahrt hätte. Die letzten

Worte Hagens nun ließen ihm vermuten, daß er unnötige Befürchtungen gehegt habe, und so antwortete er zustimmend:

„Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, den Urheber einer so verabscheuungswerten That zu entdecken, so dürfen Sie auf meine Hilfe rechnen.“

„Ich danke. Entdeckt ist er schon; es gilt nur noch, ihn zu fassen, und das hat seine Schwierigkeiten.“

„Welche?“

„Der Ermordete gehörte einem altadlichen Geschlechte an, besaß ein sehr bedeutendes Vermögen und war einer jungen Dame verlobt, auf welche ich höchst dringende Rücksichten zu nehmen habe. Der Mörder ist an seine Stelle getreten, hat Zutritt in die feinsten Zirkel, ja selbst zu meinem Onkel, dem Polizeirate gefunden und gilt in jedermanns Auge für einen echten Kavalier.“

„Das ist unmöglich. Die Dame wenigstens muß ihn von dem Toten unterscheiden können selbst dann, wenn, was ich allerdings annehme, eine sehr bedeutende Aehnlichkeit zwischen ihnen herrscht.“

„Sie hat ihn nie gesehen, da er schon als Knabe in Pension gegangen ist und seit jener Zeit nur brieflich mit der Heimat verkehrt hat.“

„Dann ist allerdings eine Täuschung möglich,“ meinte Säumen, und seine Stimme klang etwas gepreßt.

„Sie haben also Rücksicht zu nehmen, wie ich höre, und zwar sowohl auf die betreffende Dame als auch auf ihren Oheim, die beide natürlich der Gegenstand einer unangenehmen Aufmerksamkeit

würden, wenn Sie den gewöhnlichen Weg einschlagen wollten.“

„So ist es.“

„Und inwiefern bedürfen Sie hier meiner Hilfe?“

„Ich habe die Absicht, die heikle Angelegenheit in der Stille beizulegen, und bin deshalb gezwungen, mich mit der betreffenden Person in Verbindung zu setzen. Da mir meine amtliche Stellung eine persönliche Zusammenkunft für diesen Zweck nicht gestattet, so möchte ich Sie bitten die Verständigung zu übernehmen.“

„Das heißt, ich soll einem Mörder die Bedingungen mitteilen, unter denen Sie ihn laufen lassen wollen?“ fragte der Baron; aber der Abscheu, welchen er in den Ton seiner Stimme zu legen sich bemühte, war kein vollkommen gelungener.

„Ganz so. Sie werden sich ganz gewiß nicht darüber wundern, daß ich gerad Ihnen diese Bitte vortra­ge —“

„Wie heißt der Mann?“ unterbrach ihn Säumen.

„Den Namen werde ich etwas später nennen.“

„Welche Bedingungen wollen Sie ihm machen?“

„Sagen Sie erst, ob Sie gewillt sind, ihm dieselben mitzuteilen!“

Säumen wandte sich ab und trat an das Fenster. Er begriff das Verhalten Hagens vollständig und war sich nur in einer Beziehung im Unklaren. Kannte der Kommissar den Mörder wirklich so genau, wie er schließen lassen wollte? Dann hatte er ganz sicher auch dem Polizeirate Mitteilung davon gemacht, und es galt also einen

Kampf nicht blos mit einem einzelnen Gegner, sondern mit zweien. Die Absicht Hagens lag klar am Tage. Er hatte von Rücksichten gegen die Dame, natürlich gegen Wanda gesprochen. Woher solche Rücksichten, wenn er nicht wünschte, die Polin zu besitzen? Jedenfalls war er dann auch von den Erbschaftsbedingungen unterrichtet und konnte sich nur in dem Falle Hoffnungen auf die Hand des Mädchens machen, wenn — doch, das mußte sich ja gleich zeigen. Jedenfalls war für den Augenblick nur in dem Falle etwas von ihm zu befürchten, wenn er abgewiesen wurde. Man mußte vor allen Dingen Zeit zu gewinnen suchen, um die geeigneten Maßregeln treffen zu können. Deshalb wandte er sich in das Zimmer zurück und sprach:

„Ich werde mich zu der Mitteilung entschließen. Also sagen Sie Ihre Bedingungen.“

„Ich habe nur eine: der Mann bekennt sich schriftlich mit seinem Siegel zu der That und darf dafür unangefochten mit dem, was er jetzt an Habe bei sich führt, hingehen, wo er will.“

Ich kann unmöglich glauben, daß dieser Vorschlag das Ergebnis einer reiflichen Ueberlegung ist. Er ist gefährlich für beide Kontrahenten; ich brauche das natürlich nicht weiter auszuführen. Unterwerfen Sie ihn einer nochmaligen eingehenden Prüfung, und ich bin ja auch dann bereit, Ihnen meine Vermittlung zu Diensten zu stellen, hoffe aber, daß Sie auch mir zu einer kleinen Gefälligkeit bereit sind.“

„Welche ist es?“

„Ich will verkaufen.“

„Verkaufen?“ fragte Hagen überrascht. „Was denn?“

„Meine sämtlichen Besitzungen.“

„Ja, dann haben Sie mich vorhin doch unmöglich verstanden!“

„Ich glaube nicht, daß ich langsam und schwer begreife, und ich wünsche sehr, daß dasselbe auch bei Ihnen der Fall sei.“

„Versuchen wir es.“

„Also ich will verkaufen, und zwar ebenfalls unter Bedingungen. Ich werde Ihnen dieselben nennen und ersuche Sie, mich zu rekommandieren, wenn Sie einem Kauflustigen durch Zufall begegnen sollten.“

„Nun?“

„Die Absichten, welche ich verfolge, sind Ihnen gleichgültig; also hören Sie: Ich verkaufe, womöglich lieber heute als morgen. Der Käufer hat mir den vierten Teil des Werthes bar zu zahlen und bekommt dafür Quittung für den vollen Kaufschilling.“

Hagen horchte auf.

„Das wäre ein ganz acceptables Geschäft; nur fürchte ich, daß es unmöglich abzuschließen ist.“

„Warum?“

„Weil Ihre Braut gewisse Rechte auf Ihr Eigentum besitzt.“

„Diese Rechte besitzt sie nur für den Fall, daß ich sterbe.“

„Und gerade deshalb dürfen Sie nicht verkaufen.“

„Doch, doch! Befragen Sie sich gefälligst bei

einem sachkundigen Rechtsgelehrten,“ mahnte Säumen, dem es nur darum zu thun war, Zeit zu gewinnen. Hagen erkannte wohl, daß er eine Flucht des Barons bei den obwaltenden Verhältnissen nicht zu befürchten habe und meinte nach einigen Zögern:

„Gut; ich werde mich erkundigen und Ihnen dann meine Hilfe zur Verfügung stellen.“

Er ging. Die Unterredung hatte einen ganz anderen Verlauf genommen, als er beabsichtigt hatte; aber es war vielleicht so am besten. Hier war bei nur einiger Zeit ein Vermögen zu erwerben, ein Umstand, der Hagen ganz besonders interessieren mußte, da seine Familie nie wohlhabend gewesen war und er trotzdem so wenig sparsam gelebt hatte, daß die Besuche seiner Gläubiger ihn oft mehr als heilsam aufregten. Freilich durfte er wenigstens jetzt gegen den Onkel nicht davon sprechen, sondern war sogar gezwungen, den Baron in seinen Schutz zu nehmen und alles über denselben Gemeinte als irrtümlich hinzustellen. Und das war es jedenfalls, was Säumen berechnet hatte, als er dem Kommissar sein indirektes Anerbieten machte.

Als dieser zum Polizeirate zurückkehrte, trat ihm derselbe erwartungsvoll entgegen.

„Nun, welchen Erfolg hat Deine Taktik gemacht?“

„Einen sehr guten.“

„So hast Du den Baron gefangen?“

„Nichts weniger als das. Er hat mich vielmehr durch die unwiderleglichsten Beweise überzeugt, daß der Verdacht Winters ein höchst alberner ist, und das erfreut mich natürlich mehr, als wenn es

mir gelungen wäre, einen Verbrecher in ihm zu finden.“

„Ich hege dieselbe Meinung und bin froh, mich nicht mehr in der Gefahr einer Demütigung zu befinden. Freilich scheint mir der Winter ein überspannter oder wenigstens romantischer Kopf zu sein, der in seinem Fache wohl keine große Carriere machen wird. Nüchternheit ist des Polizisten erste Pflicht.“

„Wenn ich seinen Brief auch jetzt noch zurückbehalte, so geschieht das natürlich nicht für ihn, sondern, um dem Barone weitere Mißhelligkeiten zu ersparen. Aber ich werde ihn in der Weise beaufsichtigen, daß es ihm nicht wieder einfallen wird, in solcher Weise gegen alle Vernunft zu handeln.“

„Aber eine treffliche Gelegenheit zur Auszeichnung, sowohl in amtlicher Beziehung als auch in Hinsicht auf Deine Intentionen zur Polin, ist Dir doch entgangen, und das ist um so mehr zu beklagen, als nun auch die Verlobung zwischen der letzteren und dem Baron ihre ursprüngliche Gültigkeit behält.“

„Mir ist trotzdem nicht bange. Es herrscht nicht das mindeste gute Einvernehmen zwischen ihnen, und es wird sich schon ein Weg zum Ziele finden lassen. Ueberlaß das nur mir, Onkel!“

„Wollen es hoffen! Meiner Unterstützung bist Du sicher. Apropos, da kommt mir ein glücklicher Gedanke. Kühnheit ist das beste Mittel, sich bei Wanda beliebt zu machen; wie wäre es also, wenn Du an der Luftpartie teilnähmst?“

„Daran hätte ich nicht gedacht; jedoch Du kannst

recht haben!“ meinte Hagen zögernd. „Zwar ist mein Vertrauen zu der Zuverlässigkeit des Professors kein sehr großes; aber ich will sehen, ob ich mich in den Gedanken finden kann.“ —

Auch in der Wohnung des Aeronauten wurde von diesem Gegenstande gesprochen. Nach der Entfernung Hagens hatte Säumen sofort den ersteren aufgesucht und befand sich jetzt in lebhafter Unterhaltung mit ihm.

„Du glaubst also, daß dieser Hagen uns in die Quere kommen werde?“

„Ganz sicher. Zwar hat er keine Andeutung über diesen Punkt fallen lassen; aber er ist wirklich so albern, sein Auge auf die Polin zu werfen, und wird alles thun, um sich ihr in imponierender Weise zu zeigen. Du darfst also wohl seine Meldung erwarten, daß er an der Luftfahrt teilnehmen wird.“

„Dieser Umstand erschwert mir allerdings die Ausführung dessen, was ich Dir versprochen habe; vielleicht sogar wird es mir unmöglich, mein Wort zu halten.“

„Von einer Unmöglichkeit ist wohl keine Rede. Wenn er so unvorsichtig ist, der Begleiter Wandas zu sein, so muß er auch die Folgen tragen.“

„Aber der Polizeirat?“

„Ich bin fest überzeugt, daß mich Hagen bei ihm verteidigt hat, und von Deiner Vergangenheit haben beide nicht die mindeste Ahnung. Wenn Du mit Deinen Passagieren verschwindest, so ist nicht die mindeste Ursache zu weiteren Befürchtungen. Der Polizeirat wird das Unglück seines waghalsigen

Neffen beklagen und im übrigen mir seine freundliche Gesinnung bewahren.“

„Aber Du giebst wohl zu, daß doppelte Arbeit nicht für den zwischen uns vereinbarten einfachen Lohn gethan werden kann.“

„Du bist höchst anspruchsvoll!“

„Und Du befindest Dich in einer Gefahr, aus welcher nur ich Dich befreien kann. Sparsamkeit würde da am unrechten Platze sein.“

„Ich bin bereit, die früher bestimmte Summe zu verdoppeln. Du siehst also, daß ich Deine Dienste zu schätzen weiß.“

„Und wirst wohl auch die verlangte Sicherheit nicht verweigern?“

„Welche?“

„Deine Unterschrift.“

„Du verlangst zu viel! Mein Wort muß Dir genügen.“

„Genügt mein Wort auch Dir?“

„Vollständig!“

„So leiste die Zahlung pränumerando. Wir sind dann fertig und können handeln, ohne in weitere Berührung zu kommen.“

„Das hieße, mein Geld riskieren.“

„Ach so! Und doch sagtest Du, daß Dir mein Wort genüge. So wirst Du mir erlauben, auch auf das Deinige kein bedeutendes Vertrauen zu setzen.“

„Aber ich bin Dir doch sicher.“

„Nicht im geringsten. Ich gebe Dir meine endgültige Entscheidung: Du stellst mir einen Revers

aus, in welchem unser Uebereinkommen in nackten Worten niedergelegt, das heißt, Arbeit und Lohn deutlich bezeichnet ist und erhältst ihn in dem Augenblick wieder zurück, in welchem Du mir Zahlung leistest.“

„Und wenn dieses Schriftstück in fremde Hände gerät?“

„Das geschieht nicht. Es liegt ja in meinem eigenen Interesse, die höchste Vorsicht zu bewahren. Hier ist das Schreibzeug; mach’, daß wir zu Ende kommen!“

„Ich kann nicht!“

„So gehe. Ich stehe Dir nicht weiter zur Verfügung.“

„Ist das Dein letztes Wort?“

„Mein letztes.“

„So gieb her. Aber die Folgen kommen über Dich, wenn Du irgend welchen unrechten Gebrauch von dem Revers machst.“

„Sei ohne Sorge. Wir kämen beide in die Tinte, wenn ich unehrlich sein wollte.“ Er nahm das unterzeichnete Papier an sich und begleitete den Baron bis an die Thür. Dann verfügte er sich in die Expedition des Lokalblattes und gab eine Annonce auf, welche die Bekanntmachung enthielt, daß eines anderwärts getroffenen Engagements wegen, der Aufstieg seines Ballons sich um mehrere Tage beschleunigen werde und Fahrgäste sich womöglich sofort zu melden hätten.

Säumen hatte wirklich richtig vorausgesehen. Nicht nur Wanda schickte den Diener mit der

Aufforderung, ihr den ersten Sitz zu reservieren, sondern auch Hagen stellte sich mit der Erklärung ein, daß er gesonnen sei, die Beschaffenheit der oberen Luftschichten persönlich zu untersuchen, und da sich weiter niemand meldete, so wurde mittelst Plakatanschlag das seltene Schauspiel auf einen der nächsten Tage festge­setzt. —

Am Abende hatte die „Erheiterung“ außergewöhnliche Versammlung. In der einige Meilen entfernten Provinzialhauptstadt war übermorgen Sängerfest. Der Verein hatte seine Teilnahme schon längst zugesagt und heute seine letzte Besprechung abzuhalten.

Auch Winter schlug den Weg zu dem Vereinslokale ein. Er war bei der Tante gewesen, hatte längere Zeit mit Wanda gesprochen und die Befestigung seiner Ueberzeugung, daß seine Liebe keine unerwiderte sei, mit fortgenommen. Zwar hatte er seinen Gefühlen keine Worte gegeben; aber aus allem, was er that und sprach, mußte Wanda erkennen, daß sie das Ziel seines Strebens sei, und während der ganzen, langen Unterhaltung hatte sie keine Silbe gesprochen, welche als eine Zurückweisung seiner Huldigung hätte gelten können.

Langsam schritt er deshalb jetzt die Straße hinab, um sich Zeit zu lassen, die Seligkeit der verflossenen Stunde noch einmal durchzukosten. Da kam eine leicht verhüllte Gestalt an ihm vorüber geschritten und blieb hinter ihm stehen.

„Emil!“

„Ja. Wer ist’s?“

Es war sein Bruder, der ihn hier erwartet hatte.

„Fast hätte ich Dich nicht erkannt,“ sprach dieser. „Dein sonst so rascher Gang hat heute abend ja ein merkwürdig langsames Tempo angenommen. Hast Du so viel Ursache zum Nachdenken?“

„Zum Nachfühlen würde vielleicht richtiger sein. Ich war bei Wanda.“

„Ich beneide Dich, daß Du Zutritt zu ihr nehmen darfst, während ich von den Verhältnissen gezwungen bin, mich zu verleugnen.“

„Du wirst später reichlich Gelegenheit haben, das Versäumte nachzuholen. Was thust Du hier auf der Straße?“

„Ich wollte Dich sprechen und wußte, daß Du hier zu treffen sein werdest. Hast Du mit Wanda über die Luftfahrt gesprochen?“

„Nein.“

„Sie hat sich vorhin ihren Platz definitiv bestellt.“

„Davon weiß weder die Tante noch ich etwas. Sie hat jedenfalls geschwiegen, um jedem Einwande vorzubeugen. Was mich betrifft, so werde ich kein Wort dagegen sprechen.“

„Das ist doch wohl nicht Dein Ernst. Du kennst ja die Geschichte des Professors, den ich jedenfalls recht bald beim Schopfe nehmen werde!“

„Freilich kenne ich sie; aber er wird von bedeutenden Fachmännern als ein tüchtiger Aeronaut anerkannt und hat noch niemals Malheur gehabt. Ich würde ohne Sorge mit ihm fahren, und was

Wanda betrifft, so wünsche ich allerdings, daß sie ihrem Vorhaben entsagen möchte; aber wie ich sie kenne, wird sie durch jeden Widerspruch in ihrem Entschlusse nur bestärkt werden. Sie ist durch das obstinate Wesen Säumens gewöhnt worden, ihm so oft wie möglich die starke Seite zu zeigen.“

„Aber ich bitte Dich wirklich, sie von der Fahrt abzuhalten; es muß sich ja irgend ein Vorwand finden lassen. Ich habe nämlich einige Ursache zu glauben, daß der Professor Böses im Schilde führt.“

„So sprich.“

„Du weißt, daß ich Hagen eine Beaufsichtigung meiner Schritte zutraute, und das ist mit vollem Rechte geschehen. Er hat sich von dem Postsekretär meinen an den Staatsanwalt gerichteten Brief aushändigen lassen und ihn seinem Onkel vorgelesen. Darauf ging er zum Baron, jedenfalls in der Absicht, diesen zu einem vorteilhaften Übereinkommen zu bewegen.“

„Ich weiß nämlich, daß er gewisse Intentionen auf Wanda verfolgt. Und kurze Zeit nachher kam Säumen zu meinem jetzigen Prinzipal, mit welchem er längere Zeit verhandelt hat. Die Unterredung wurde leise geführt, und es waren mir nur die etwas lauter gesprochenen Schlußworte: ‚Sei ohne Sorge; wir kämen beide in die Tinte, wenn ich unehrlich sein wollte‘, verständlich. Aus ihnen aber läßt sich schließen, daß sie irgend ein Uebereinkommen getroffen haben, und es liegt die Sache so: Säumen hat nach Deiner Ansicht jene Sprengung im Felsenbruche -

Felsenbruche hervorgebracht; es ist ihm also leicht etwas Aehnliches zuzutrauen. Er ist ja der Erbe Wandas. Hagen hat ihm dummerweise gesagt daß er ihn kennt; sein Verschwinden muß dem Baron also erwünscht sein. Beide, Hagen und Wanda, fahren mit dem Professor, der ein entsprungener Sträfling ist und früher Helfershelfer Säumens war, mit dem er jetzt geheime Zusammenkünfte pflegt, — folglich?“

„Es will mir schwer werden, so schwarz zu sehen wie Du; denn ich kann auch den schlechtesten Menschen einer That, wie Du sie andeutest, nicht für fähig halten. Sie ist nicht nur fürchterlich, sondern auch über alle Maßen verwegen, da sie in der Oeffentlichkeit vorgenommen werden müßte. Glücklicherweise ist das, was Du denkst, nur eine Folge Deiner Kombination, und ich hoffe sehr, daß Du Dich irrst.“

„Auch ich wünsche es. Aber warnen mußte ich Dich.“

„Ich werde mein möglichstes thun, Wanda von ihrem Vorhaben zurückzubringen. Freilich wird das, wie ich sie kenne, seine Schwierigkeiten haben. Lieber wird sie unerweichbar erscheinen, als sich vor Säumen eine Blöße geben wollen. Ist das der Fall, so werde ich zum äußersten schreiten müssen.“

„Wozu?“

„Ich werde die ganze Luftfahrt unmöglich machen.“

„Das wird schwerlich zu bewerkstelligen sein.“

„Nicht so sehr. Wenn der Professor verhaftet wird, so kann natürlich aus dem ganzen Unternehmen nichts werden.“

„Dieser Schritt würde sehr zu überlegen sein.“

„Die Beweise gegen den Mann sind so klar und unwiderleglich, daß wir die Arretur nicht nur recht gut verantworten könnten, sondern sogar eigentlich schon längst zu ihr verpflichtet gewesen wären.“

„In dieser Beziehung habe ich auch keine Sorge. Aber den Baron haben wir noch nicht fest, und dieser würde sofort nach der Kunde von dem Schicksale des Professors Maßregeln ergreifen, welche ihn unseren Händen entzögen.“

„Dann verhaftet man alle beide zugleich. Der eine wird den andern verraten.“

„Darauf darf ein vorsichtiger Polizist nicht seine Rechnung setzen. Und selbst dann, wenn man es riskieren wollte, müßte doch die nötige Rücksicht auf die Tante und Wanda genommen werden. Denke, in welche Lage sie gebracht würden, wenn die Angelegenheit nicht so diskret wie möglich beigelegt würde!“

„Das ist allerdings ein Punkt, welcher mir im Augenblicke entgangen ist. Doch werde ich sehen, was sich thun läßt, und Dich dann von dem Erfolge meiner Bemühung benachrichtigen.“

Er reichte dem Bruder die Hand und setzte den unterbrochenen Gang weiter fort. Als er in das Lokal trat, in welchem die Mitglieder des Vereins um die Tafel versammelt saßen, erhob sich Gräßler von seinem Stuhle und rief mit komischem Pathos:

„Lupus in fabula! das heeßt nämlich off deutsch, so viel ich von meinen Studentenjahren her noch weeß:

„Da is der Kerl!“ Mach, daß Du herkommst. Ohne unseren Vorsteher können wir doch keenen

gültigen Beschluß fassen. Oder willste etwa nich mitmachen?“

„Mitmachen jedenfalls. Ich darf die Erheiterung doch nicht im Stich lassen. Ob ich aber schon vormittags mit Euch abfahren kann, das ist noch nicht zu bestimmen.“

„Wieso? Warum?“ fragte es im Kreise. „Ohne Dich gehen wir nicht fort!“

Er nahm Platz, wehrte die drängenden Fragen von sich ab und brachte bald die geordnete Verhandlung in Gang. Nach derselben winkte er Gräßler und Thomas zu sich.

„Kann mir’s denken,“ meinte der letztere, „warum Du nich schon früh mitfahren wirst. Wirst Dich zur Tante setzen sollen.“

„Zur Tante?“

„Nu freilich. Oder hat Dir Wanda nichts gesagt?“

„Nein.“

„Guck, da bin ich diesmal gescheiter wie Du. Es is doch gut, wenn mer so een unterrichtetes Kammerkätzchen zur Liebsten hat, mit der die Herrin vertrauter is als mit ihrem Cousin.“

„Laß hören, was Du hast!“

„Wanda fährt mit, da ziehen zehn Pferde keenen Strang. Se will ihrem Verlobten beweisen, daß se Herz hat. Weil se aber weeß, daß ihr alle dergegen seid, hat se euch gar nicht erst um Erloobnis gefragt, sondern eenfach bestimmt, daß ihre Mutter mit dem Barone und dem Kutschgeschirr unten off der festen Erde denselben Weg machen soll, den se im Ballon droben in der Luft einschlägt. -

einschlägt. Du weeßt doch, daß er gerade da wieder niedergehen soll, wo das Sängerfest is. Es is das so ne kleene Geldspekulation von dem Professor. Meine Herzallerliebste is natürlich ganz außer sich vor Freede, daß se mal alleene derheeme sein kann und hat mir gute Worte gegeben, dazubleiben.“

„So! Und was wirst Du thun?“

„Ich weeß es wirklich noch nich. Das Sängerfest möchte ich nicht versäumen; aber dem Mädel kann ich doch die Freede ooch nich verderben.“

„Vielleicht läßt sich die Sache arrangieren, wenn überhaupt etwas aus der Fahrt wird. Ich glaube nicht, daß die Baronin ohne weibliche Bedienung ihre Wohnung verlassen wird. Schließe Dich also nur immer den anderen an, und laß mich für das übrige sorgen. Ich weiß noch nichts Gewisses: aber es ist leicht möglich, daß übermorgen etwas passiert, wobei ich Eure Hilfe brauche. Haltet Euch also zu mir, sobald ich ankomme und gebt bis dahin mit acht auf den Baron, den Professor und meinetwegen auch auf den Polizeikommissar Hagen, der bei seinem Onkel wohnt. Das wollte ich Euch noch sagen, ehe ich nach Hause gehe. Gute Nacht.“

Der Tag des Sängerfestes war gekommen und mit ihm eine ungewöhnliche Aufregung unter der Bevölkerung der Stadt. Wanda hatte die Vorstellungen der Ihrigen mit dem Bemerken von sich gewiesen, daß sie sich nur lächerlich machen würde, wenn sie noch in der letzten Stunde zurückträte.

Am Abend vorher war der Professor in einem öffentlichen Locale mit der Behauptung hervorgetreten, -

hervorgetreten, daß er es bei günstiger Luftströmung mit der Schnelligkeit eines Bahnzuges aufzunehmen gedenke. Trotz des allgemeinen Zweifels war er bei dieser Behauptung geblieben und hatte sogar mehrere Wetten angenommen, welche ihm von den Gegnern seiner Meinung angeboten wurden.

Infolgedessen hatte man einen Extrazug bestellt, welcher bestimmt war, im Augenblick des Aufsteigens abzufahren um zugleich denjenigen Sängern, welche bis dahin zurückbleiben wollten, Gelegenheit zum Fortkommen zu bieten.

Noch andere hatten gemeint, den Ballon mit einem schnellfüßigen Gespann schon ausstechen zu können und versprochen, mit ihrem Geschirr an der Wettfahrt teilzunehmen. Zu ihnen gehörte auch der Baron von Säumen, welcher an der Seite der Baronin von der Equipage derselben Gebrauch machen wollte.

Der Platz, auf welchem der Ballon zum Füllen bereit lag, war von einer Barriere umgeben, und der Gehilfe des Aeronauten hatte alle Mühe, die Menschenmenge, welche sich schon am Vormittage hier versammelt hatte, in der nötigen Entfernung zu halten. Nicht bloß das noch nie gesehene Aufsteigen eines wirklichen Luftschiffes von bedeutender Größe war es, was die Schaulustigen herbeizog, sondern vor allen Dingen der Umstand, daß die wilde Polin ihren Ungewöhnlichkeiten heute die Krone aufsetzen und mitfahren wollte.

Deshalb fiel es auch gar nicht auf, daß ihr Verlobter zugegen war und im lebhaften Gespräche

mit dem Professor innerhalb des freien Platzes auf und ab promenierte. Jedenfalls erwartete er die Prüfungskommission, welche im polizeilichen Auftrage die Sicherheit des Ballons zu untersuchen hatte.

„Also die Hälfte der Summe hast Du und den gefährlichen Revers auch. In welcher Weise wirst Du die Sache nun ausführen?“

„Erst hatte ich die Absicht, den Balast auf einmal fallen zu lassen und so ein plötzliches und rapides Auffliegen des Ballons in jene Regionen zu veranlassen, wo der Tod des Menschen unvermeidlich ist.“

„Und der Deinige mit.“

„Doch nicht. Ich hätte mich natürlich des Fallschirmes bedient.“

„Eine gefährliche Sache!“ sprach Säumen; aber im Herzen wünschte er nichts mehr, als daß diese gefährliche Sache versucht werde. Freilich war der Professor in dem Besitze jenes Papieres, welches nicht in fremde Hände kommen durfte. Es lag also im Interesse des Barons, daß der Luftschiffer ohne Unfall wieder niederkomme. Er fuhr also fort:

„Du hast Dich anders besonnen?“

„Jawohl. Ich werde die beiden Leute einfach fallen lassen.“

„In welcher Weise?“

„Ich habe die letzte Nacht durch an einer Vorrichtung gearbeitet, welche mir das Experiment sehr leicht macht. Ich steige, um nicht an dem Schicksale der anderen teilzunehmen, in das Netzwerk und habe dann nur an einem Seile zu ziehen, um

die Gondel zu einer raschen, seitlichen Senkung zu bringen, auf welche die Darinsitzenden nicht vorbereitet sind, und durch welche sie mithin ausgeschüttet werden.“

„Dann aber fliegst Du in jene Regionen, von denen Du vorhin sprachst; denn der Ballast wird mit ausgeschüttet werden.“

„Daß ich dumm wäre! Der ist in der unteren Abteilung der Gondel so wohl befestigt, daß er mir nicht verloren geht.“

„Und dann? Was wird aus den Wetten?“

„Du begreifst wohl, daß ich dieselben nur eingegangen bin, um allen Verdacht zu vermeiden. Will ich sie gewinnen, so muß ich noch vor den anderen am Rendezvous eintreffen. Werde ich aber durch den Unfall in eine andere Richtung verschlagen, so wird man denselben nicht mir zur Last legen. Auf die dabei statthabenden Vorfälle wird es ankommen, ob auch ich verschwinden muß.“

„Ich muß das Deiner eigenen Klugheit überlassen. Wo wir uns treffen, weißt Du. Die andere Hälfte der Summe wirst Du gegen die Rückgabe des Reverses erhalten. Verwahre ihn gut. Wo hast Du ihn?“

„Natürlich bei mir.“

„Aber wenn Dir ein Unglück begegnet?“

„Habe keine Sorge; ich bin meiner Sache gewiß. Zurücklassen durfte ich ihn nicht, da ich vielleicht in die Notwendigkeit versetzt bin, meine hierbleibenden Effekten aufzugeben. Auf diese Weise werde ich zugleich meinen Gehilfen los, der mir mit seiner

Kenntnis meiner früheren Verhältnisse höchst lästig geworden ist.“

„Kennt er mich?“

„Nein. Er scheint sonst ein sehr beschränkter und gutmütiger Kerl zu sein. Dort kommen die Herren der Kommission. Sie untersuchen den Ballon zweimal, jetzt und kurz vor dem Aufsteigen. Jetzt ist das Tauwerk zu sehr verwickelt, als daß sie etwas bemerken könnten; aber bei der nächsten Besichtigung, während welcher alles an seiner Stelle und stramm angezogen ist, dürfte es möglich sein, daß ihnen meine Vorrichtung nicht ganz unentdeckt bleibt. Ich werde, ehe ich den Anker hebe, Dich durch ein Zeichen benachrichtigen, ob das Werk gelingen wird.“

„Ich traue den Leuten keinen großen Scharfblick zu. Sie sind nur ihre Vier: der Polizeirat, ein alter Seilermeister, der jedenfalls die Festigkeit des Netzwerkes prüfen soll, der Bürgermeister und ein Korbmacher zur Besichtigung der Gondel. Es ist lächerlich und kann nur in einem solchen Krähwinkel passieren! Aber wer kommt da noch?“

„Hagen, mein Passagier, und an seiner Seite ein Fremder, den ich nicht — doch halt, das ist ja ein Jude aus der Residenz, ein reicher Kauz, der gern in dunklen Geschäften macht! Ich habe ihn bei meinem Aufenthalte dort auch besuchen müssen. Was wird der hier wollen?“

„Wir werden ja sehen.“

Die Herren begrüßten einander, und während die vier zuerst Angekommenen mit dem Professor

an die Besichtigung gingen, trat Hagen mit seinem Begleiter zu Säumen.

„Der Herr Banquier Levi Blumenbach aus der Hauptstadt, dessen Besuch ich mir erbeten habe, um bei unserem Kaufunternehmen von seinem Kredite Gebrauch zu machen.“

Die Stirn des Barons zog sich in tiefe Falten. Er hatte das Anerbieten ausgesprochen bloß um Zeit zu gewinnen, und nun kam dieser Kommissar gerade in dem Augenblicke mit einem obscuren Menschen, dessen Mitwisserschaft von den übelsten Folgen sein konnte.

„Ich bin überrascht, zu sehen, daß Sie in dieser noch sehr fraglichen Angelegenheit ganz ohne meine Kenntnis entscheidende Schritte thun, Herr Kommissar! Jedenfalls ist heute nicht der Tag zu geschäftlichen Verhandlungen; morgen aber werde ich Ihnen zur Verfügung stehen.“

Die Vorsicht gebot ihm, diesem Verweise nicht auch noch eine Unhöflichkeit hinzuzufügen. Er blieb deshalb bei den beiden Männern stehen, um zugleich dem Juden zu imponieren und so späteren Eventualitäten vorzubeugen. Da schritt der Bruder des Essenkehres über den Platz und wurde von dem Handelsmanne erblickt.

„Wer soll sein dieser Mann, der da in Verkleidung geht vorüber? Ist mir doch, als kleide ihn besser die Uniform, weil er ist der gefürchteste Polizist in der Residenz und heißt Winter!“

Sofort trafen sich die Blicke der beiden anderen. Das Gesicht des Barons war erdfahl geworden;

denn er brachte die Anwesenheit dieses ‚gefürchteten‘ Mannes sofort in Verbindung mit sich selbst. Jedenfalls mußte es ein wichtiger Grund sein, der ihn bestimmte, sich von dem Professor, dessen Vergangenheit er kannte, als Gehilfen engagieren zu lassen. Dieser Mensch, welchen noch kurz vorher der

Aeronaut einen ‚beschränkten und gutmütigen Kerl‘ genannt hatte, war mehr zu fürchten als die anderen zusammen. Hier galt es rasches und zugleich vorsichtiges Handeln.

Auch Hagen war von der unerwarteten Bemerkung seines Begleiters nicht sehr erbaut. Säumen mußte natürlich ein Einverständnis vermuten, und dadurch konnte leicht der prachtvolle Handel verloren gehen. Er entgegnete also mit der möglichsten Gelassenheit:

„Sie irren sich. Winter ist mein Untergebener; ich weiß also bestimmt, daß hier nur eine kleine Aehnlichkeit vorliegt. Der Mann ist Gehilfe des Luftschiffers.“

Säumen aber ließ sich nicht täuschen. Es fiel ihm sofort die Familienähnlichkeit des betreffenden mit dem verhaßten Schornsteinfeger auf, der damals die Anzeige in Beziehung des Felsenbruches gemacht hatte. Ferner erinnerte er sich der Begegnung am Bahnhofe und des erst jetzt ihm verständlichen Winkes, den der eine Bruder dem andern gegeben hatte. Beide waren der Baronin verwandt — er wagte nicht, weiter zu schließen; aber rasch, sehr rasch mußte jetzt gehandelt werden.

Zunächst war es notwendig, sich zu überzeugen,

wie weit das Einverständnis der beiden Polizisten reiche, und sodann war die nötige Summe zu gewinnen, sich der Gefahr entziehen und an einem unzugänglichen Orte angenehm leben zu können. Jedenfalls hatte der Jude Geld bei sich, und wenn mit vorsichtiger Kühnheit verfahren wurde, so konnte auf die Besitzung zweimal, erst hier und dann am Orte selbst bei irgend einem Bankhause Geld erhoben werden. Er that also, als sei er vollständig beruhigt, und lud, nachdem das günstige Resultat der Besichtigung abgewartet war, die beiden ein, das Frühstück in seiner Wohnung einzunehmen.

Das Erbleichen Säumens war nicht unbemerkt geblieben, sondern der Gegenstand seines Schreckes selbst hatte es scharf beobachtet. Er wußte genau, daß er dem Juden bekannt sei, und ahnte sofort den Inhalt der Mitteilung, die dieser gemacht hatte. Mit gewohnter Ruhe überlegte er die Folgen derselben nach allen Richtungen hin und kam zu dem Ergebnisse, daß für den Augenblick nichts zu fürchten sei. Aber als er unter den Anwesenden des Schmiedes ansichtig wurde, trat er zu ihm.

„Herr Gräßler, wollen Sie meinem Bruder eine dringende Botschaft bringen?“

„Warum denn nich? Her dermit!“

„Der Baron von Säumen ist jetzt mit zwei Herren in seine Wohnung gegangen. Von einem derselben wird er sich eine Summe Geldes leihen und damit die Flucht ergreifen.“

„Halt, da muß ich doch gleich — warten Se, ich will rasch loo­fen —!“

„Nur Geduld, mein Lieber; gar so eilig ist es noch nicht. Es ist das vielmehr nur der eine Fall, welchen ich setze, neben dem noch andere möglich sind. Und selbst, wenn meine Vermutung die richtige ist, wird sich der gnädige Herr vorher noch an der Wettfahrt beteiligen. Mein Bruder wird wahrscheinlich mit ihm im Wagen sitzen. Er soll ihn nicht aus den Augen lassen und sich für den Notfall mit einer Waffe versehen. Kurz vor der Abfahrt werde ich unbemerkt nahe treten und auf dem Kofferbrette Platz nehmen. Sie fahren mit Thomas per Extrazug und halten sich nach dem Aussteigen immer in unserer Nähe. Es ist möglich, daß diese Vorsichtsmaßregeln alle unnötig sind; aber ich kann ihnen nicht entsagen, da ich Rücksicht zu nehmen habe auf die Unzulänglichkeit meiner Beweise und die Distinktion der Baronin. Also gehen Sie.“

„Wird besorgt. Mir wär’s am liebsten, wenn er wirklich ausreißen wollte; das wäre so een Spaß nach meinem Geschma­cke.“ —

Die Stunde des Aufsteigens war gekommen. Vor den Waggons des Extrazuges hielt die Lokomotive und stieß mit schnaubenden Lauten die überflüssigen Dämpfe aus. Sämtliche Fenster der Wagenreihe waren geöffnet, und in jeder Oeffnung hielten mehrere Köpfe erwartungsvollen Ausguck. Nur einer saß in einer Ecke und kümmerte sich nicht im mindesten um die Dinge, welche draußen vor sich gehen sollten.

Es war der Jude Levi Blumenbach, welcher

heute das glänzenste Geschäft seines Leben abgeschlossen hatte. Die Zahlen wirbelten ihm im Kopfe herum, und um sein Hirn nicht von der Schwere der Prozente erdrücken zu lassen, mußte er der überschwenglichen Freude seines Herzens Ausdruck geben.

„Darf ich fragen, ob der Herr ist hier aus dem Städtchen?“ wandte er sich an den Gegenübersitzenden. Es war Gräßler, welcher neben Thomas Platz genommen hatte.

„Freilich bin ich von hier. Warum?“

„Ist der Herr bekannt mit den Persönlichkeiten, welche es giebt an diesem Ort?“

„Een bißchen. Mit wem denn zum Beispiel?“

„Kennen Sie den Baron oder Fürst von Säumen, welcher ist ein prächtiger und charmanter Herr und wiegt viele tausend Pfund in Gold?“

„Na und ob! Der is mir bekannt wie mein Amboß, off dem ich herumhämmern möchte, wenn ich ihn nur sehe. Er is es wert, daß man ihn in Gold faßt.“

„Was werden Sie sagen, wenn Sie hören, daß ich hab’ gekauft vor einer Stunde sein ganzes Fürstentum!“

„Wo — wo — was er hat verkooft? An wen denn? An Sie?“

„Nicht direkt an mich, sondern an den Polizeikommissar Hagen, welcher auch ist ein Herr, der zu machen versteht Geschäfte.“

„So, so! Wollen Sie auf das Sängerfest?“

„Ja. Ich darf mir gönnen heut’ ein Vergnügen -

Vergnügen und habe mir gekauft eine Karte für den Zug, welche ist sehr teuer. Aber ich will sehen, wer ankommt eher, mein Freund der Fürst, oder mein Freund, der Baron von der Polizei, oder ich. Zwar bin ich gewesen zu vorsichtig, um zu machen eine Wette; aber ich werde gewinnen dieselbe und haben viele Plaisir.“

Zwischen dem vor der Stadt liegenden Bahnhofe und dem freien Platze, auf welchem sich eine zahlreiche Menschenmenge um den Ballon drängte, waren die Geschirre, welche teilnehmen wollten, aufgefahren. In dem ersten derselben saß die Baronin mit der Zofe. Säumen und Winter hatten den Vordersitz inne.

Es hatte das Zartgefühl der alten Dame verletzen wollen, in eigener Person an der Fahrt teilzunehmen. Aber da Wanda auch durch die triftigsten Gründe und die dringendsten Vorstellungen nicht zu bewegen gewesen war, so gebot ihr das Mutterherz, in der einzig möglichen Weise an dem gefahrvollen Unternehmen sich zu beteiligen. Winter las in den angsterfüllten Zügen der Tante die Gefühle, welche sie bestürmten; er wußte, welch ein Opfer sie brachte, ihre Person und ihren geachteten Namen einer Art Schaustellung bloß zu geben und fühlte zum ersten Male einen wirklichen und ernstlichen Zorn gegen das Mädchen, dessen Eigentümlichkeit er bisher immer entschuldigt hatte.

Die Auffüllung des Ballons war glücklich beendet. Zwar hatte er sich noch nicht bis zur größtmöglichen Ausdehnung aufgebläht; aber er mußte

diese Ausdehnung bei dem Eintritte in höhere und infolgedessen auch leichtere Luftschichten erreichen und bot dann jedenfalls einen stolzen Anblick. Bei der zweiten Besichtigung war nichts Sicherheitswidriges bemerkt worden, und so konnte das Einsteigen der beiden Passagiere vor sich gehen.

Der Professor hatte die eingesammelten Gelder in Empfang genommen und dem Gehilfen einen kleinen Teil davon mit der Weisung, seine Rückkehr hier abzuwarten, eingehändigt. Jetzt hing er in den Seilen und prüfte die Luftströmung. Diese war eine durchaus günstige und versprach ein rasches Vorwärtskommen.

Jetzt stieg er nieder, trat an den Rand der Gondel und winkte zum Einsteigen. Wanda stieg, seine Hilfe abweisend, die kurze Strickleiter hinauf und nahm Platz, ohne der Umgebung einen Blick der Aufmerksamkeit zu schenken. Langsam dagegen ging es bei Hagen. Er schien seinen Entschluß schon jetzt zu bereuen, seine Blicke waren unsicher, und seine Stimme hatte einen zitternden Klang, als er, sich neben Wanda setzend, sprach:

„Ich konnte eine Dame von Ihren Eigenschaften, Fräulein von Chlowicki, der Unbeständigkeit der Luft nicht ohne Schutz anvertrauen, und hoffe deshalb, daß Sie mir eine freundliche Gesinnung bewahren.“

„Sie erlauben, daß ich gegen Ihre Gesellschaft nichts einzuwenden habe, da die Mitfahrt einem jeden gegen Erlegung des Preises gestattet ist. Was den Schutz betrifft, so wird sich ja wohl zeigen, wer dessen bedarf.“

Jetzt wurde der Anker gelöst und die festhaltenden Seile gelockert. Der Ballon stieg eine Strecke in die Höhe, wiegte sich majestätisch hin und her und zerrte an dem einen Taue, an welchem er, von Menschenhänden gehalten, noch hing. Nochmals prüfte der Professor die Luft, dann wandte er sich der Richtung zu, in welcher der Wagen der Baronin stand und gab mit der Hand ein zustimmendes Zeichen, welches von Säumen erwidert wurde. Darauf winkte er, das Seil loszulassen.

Für die Menge der Umstehenden hatte das gegebene Zeichen die sehr natürliche Bedeutung, daß er die anvertraute Braut und Tochter behüten werde. Anders aber war es bei Emil Winter.

Er traute Säumen das Schlimmste zu, hatte sein Mienenspiel beobachtet und bemerkt, mit welcher Spannung sein Auge auf Wanda geruht und dann befriedigt aufgeblitzt hatte, als sie eingestiegen war. Und als er den Zug diabolischer Freude bemerkte, den der Baron trotz aller Anstrengung nicht unterdrücken konnte, als der Professor das Zeichen gab, da leuchtete in ihm die Ueberzeugung auf, daß die Geliebte seiner Seele in einer schrecklichen Gefahr schwebe.

Er sah nur noch, daß sein Bruder, unbeachtet von den Umstehenden, sich auf das Kofferbrett setzte; dann sprang er mit einem Satze aus dem Wagen, brach sich mit fast übermenschlicher Kraft durch die Menge Bahn und langte gerade in dem Augenblicke bei den Haltenden an, als dieselben das Tau losließen. Es war die höchste Zeit gewesen, und mit beiden Händen griff er zu.

Das Luftschiff stieg, als es nicht mehr an die Erde gebunden war, mit einem einzigen raschen Rucke mehrere hundert Fuß hoch empor, dann schwebte es scheinbar still an einem Punkte, wie um die Richtung zu suchen, die es einzuschlagen habe, und endlich bewegte es sich, von dem herrschenden Luftstrome getrieben, vorwärts.

Schon längst hatte die Musik begonnen; aber so stark das Orchester und so rauschend das Stück auch war, welches gegeben wurde, sie vermochte doch nicht den Schrei des Entsetzens zu übertönen, welchen die Menge ausstieß, als sie einen Menschen so hoch da droben an dem Seile hängen sah. Das letztere war nicht mehr zu erkennen, und es schien, als schwebe der Mann frei in der Luft und werde jeden Augenblick herabstürzen. Vor Bestürzung vergaß der Maschinist den Zug in Bewegung zu setzen, und ebenso hielt auch die Reihe der Wagen noch still.

Die Baronin war in den ihrigen zurückgesunken und bedeckte das Angesicht mit dem Taschentuche. Sie hatte sich die schnelle Bewegung ihres Neffen nicht erklären können, war ihm mit den Augen gefolgt und wußte also, daß er es war, der in so furchtbarer Lage schwebte. Da ertönte neben ihr eine gebieterische Stimme, die sie nicht kannte.

„Kutscher, fahr’ zu, was die Pferde laufen können und halte Dich wo möglich immer unter dem Ballon!“

Sie blickte auf. Vor ihr saß der junge Mann, welcher ihr kürzlich als Gehilfe des Professors vorgestellt worden war. Während die Pferde in Carriere davonflogen, wandte er sich mit einem ruhigen

Lächeln, welches ein Beweis seiner ungewöhnlichen Selbstbeherrschung war, an die Insassen des Wagens.

„Verzeihung, Herr Baron, wenn ich aus Familienverhältnissen das Recht herleite, auch ohne vorherige Aufforderung den Platz für mich in Anspruch zu nehmen, welchen mein mutiger Bruder verlassen hat. Und Verzeihung, meine gnädige Tante, daß ich erst jetzt in einem so kritischen und unpassenden Augenblicke, mich Ihnen in meiner wahren Eigenschaft vorstellen darf. Ich bin der Polizist Winter, der Bruder Emils.“

„Mein Gott, ich bin zu verwirrt, als daß ich mich fassen und das Passende sagen könnte! Warum ist er mit in die Höhe gegangen?“

„Ich weiß es nicht; aber ich vermute den Grund. Jedenfalls werden wir von ihm das Nähere erfahren. Er hat nicht aus Vermessenheit gehandelt und steht unter dem Schutze Gottes, der ihn uns wiedergeben wird. Wir wollen uns fassen und das übrige in einer ruhigeren Stunde besprechen.“

Im ersten Augenblicke wußte der Baron nicht, was er von seiner gegenwärtigen Lage denken solle. Es war ihm, als sei er nun verloren, da er den Gefürchteten neben sich sitzen sah; aber bei der unwillkürlichen Bewegung, welche er mit der Hand nach dem Herzen machte, fühlte er die beiden Revolver, welche er für alle Fälle heute in die Brusttasche seines Rockes gesteckt hatte, und diese Berührung gab ihm sofort die gewohnte Fassung wieder.

Die drei da oben in der Luft waren verloren; das war sicher. Und hier unten gab es außer dem

Juden, der aber nicht sehr zu fürchten war, nur diesen einen Menschen, der ihm Gefahr bringen konnte. Sollte nicht auch er unschädlich gemacht werden können? Säumen hatte sein Gewissen nie um Rat gefragt, wenn es eine That galt, die ihm von der Sorge für seine eigene Person geboten wurde, und so war er auch jetzt nicht zu Skrupeln geneigt. Der Tag war noch lang; man mußte abwarten, was er bringen werde.

Indessen schwebte der Ballon ruhig weiter, ruhiger, als seine Insassen waren. Wanda hatte sich nach unten gewendet, um die Gegend aus der Vogelperspective zu betrachten und dabei den an dem Seile Hängenden zuerst bemerkt.

„Um Gotteswillen, Herr Professor, es hat sich jemand in dem Tau verwickelt und ist mit in die Höhe gezogen worden!“ rief sie erschrocken.

Der Angeredete beugte sich über die Brüstung der Gondel hinaus, und auch Hagen schickte sich an, diese Bewegung zu machen, zog aber den Kopf sofort wieder zurück, weil er sich vom Schwindel erfaßt fühlte.

„Der Mensch ist verloren!“ sagte der Luftschiffer nach einem beobachtenden Blick in die Tiefe. „Zwar scheint es, als ob er sich in die Höhe turnte; aber seine Kraft wird bald zu Ende gehen!“

„Wir müssen helfen, müssen ihn retten, müssen das Seil einziehen!“

„Das wird kaum statthaft sein, denn durch dieses Experiment müßte die Gondel sich auf die

Seite neigen, und wir selbst kämen dabei in die größte Gefahr.’’

„Daran dürfen wir nicht denken. Vorwärts, zugegriffen.“

Der Professor erfaßte ihren Arm. Seine Passagiere sollten den festen Erdboden nicht lebendig wieder berühren; ein dritter mußte ihm also unbequem sein. Es blieb sich ja ganz gleich, ob derselbe jetzt oder mit den beiden anderen den tödlichen Sturz machen werde.

„Lassen Sie, Fränlein. Wir werden nichts weiter erreichen, als daß das Seil in schwingende Bewegung gerät und den Unglücklichen abschleudert. Warten wir ab, wie weit seine Kräfte reichen!“

Sie mußte sich, wenigstens einigermaßen von diesem Grunde überzeugt, fügen und lehnte sich vornüber, um die Anstrengungen des Mannes zu beobachten.

Obgleich das wirbelnde Drehen des Taues seine Bemühungen bedeutend erschwerte, griff er sich doch Hand um Hand stetig und gleichmäßig vorwärts, als habe er auf dem Turnplatze eine Seilübung vorzunehmen. So kam er näher und immer näher, und als er jetzt das Angesicht nach oben kehrte, um die noch zurückzulegende Entfernung abzumessen, erkannte sie ihn.

„Emil, mein Gott, es ist Winter! Wir müssen ihn retten, Professor, sonst ist er verloren!“ Abermals machte sie Miene zuzugreifen, und die gräßlichste Angst prägte sich ihrem Angesichte auf. Aber mit einer gebieterischen Handbewegung hielt der Aeronaut sie zurück.

Illustration 4
„Tretet auf die andere Seite, sonst geht das Gleichgewicht
verloren!“ (S. 187.)

„Sie wissen, Fräulein, daß dem Kapitän eines Schiffes der unbedingteste Gehorsam zu leisten ist, und dieses Gebot findet auch hier bei uns strenge Anwendung. Ich bin es, auf dem alle Verantwortlichkeit ruht, und ich muß am besten wissen, was zu thun ist.“

„Nun gut; dann muß ich gehorchen; aber ich werde Sie zur Rechenschaft ziehen!“

„Die ich sehr leicht ablegen kann. Wir können nichts thun, wenn er nicht selbst sich rettet.“

Winter hatte sich jetzt das Seil um die Beine geschlungen und ruhte, in halb sitzender, halb hängender Stellung aus. Als er bemerkte, daß Wandas Auge auf ihn gerichtet war, ließ er mit der Rechten los, um einen grüßenden Wink zu geben, und das sorglose Lächeln, welches dabei in seinen Zügen lag, überzeugte sie, daß sie seiner Kraft vertrauen könne. Seine bald fortgesetzten Bewegungen waren so frisch, als ob er sie erst jetzt beginne, und in wenigen Augenblicken befand er sich an der Gondel.

„Tretet auf die andere Seite, sonst geht das Gleichgewicht verloren!“ rief er und befand sich einige Sekunden später im Inneren des Geflechtes.

Nie in ihrem Leben hatte Wanda eine Angst, wie die soeben gehabte, ausgestanden. Als sie den Cousin in so entsetzlicher Lage erblickte, war ihr die Liebe zu ihm in ihrer ganzen, bisher noch nicht bekannten Größe ins Bewußtsein getreten, und jede Fiber ihres Inneren hatte gebebt bei dem Gedanken an seinen Verlust, an welchem sie selbst mit ihrem harten, unerweichbaren Sinne die Schuld trug. Aber

als er sich jetzt munter hereinschwang, löste sich die Angst in einen Schrei der Freude auf, und sie konnte nicht anders, sie mußte die Arme um ihn schlingen und ihr Köpfchen fest, fest an seine tiefatmende Brust legen.

„Emil, mein lieber, lieber Emil!“ flüsterte sie leise, mit thränendem Auge zu ihm aufblickend. „Hat Dich das Seil aus dem Wagen gerissen?“

„Nein, Wanda,“ entgegnete er ebenso leise. „Ich komme freiwillig, um in einer Dir wahrscheinlich drohenden Gefahr bei Dir zu sein.“

„Du hast geglaubt, ich werde hier oben doch noch Angst bekommen?“

„Nein, das ist es nicht. Es wird sich zeigen.“ Er ließ sie auf den Sitz nieder und wandte sich dann an die beiden anderen.

„Ihr Diener, meine Herren! Ich hoffe, Herr Professor, Sie werden mich nicht fortweisen, da ich wirklich nicht wüßte, an welcher Stelle ich wieder abspringen könnte.“

„Gratulieren Sie sich ob des ungeheuren Glückes, welches Sie haben. Nächst diesem haben Sie Ihre Rettung dem Umstande zu verdanken, daß ich Sie Ihrer eigenen Anstrengung überließ.“

„Unsere Meinungen stimmen sehr überein; denn ich habe mich gleich anfangs auf nichts anderes verlassen. Doch bitte, lassen Sie sich durch meine unerwartete Anwesenheit in den notwendigen Beobachtungen nicht stören. Sie haben Ihre Wetten zu gewinnen.“

„Allerdings,“ antwortete der Professor und

richtete das Fernrohr nach unten. Noch konnte er jede Einzelheit der Gegend unterscheiden, und also ebenso deutlich mußte man von der Erde aus auch ihn beobachten können. Es war notwendig, zu steigen und dann eine andere Richtung einzuschlagen. Deshalb nahm er aus dem unteren Raume ein Säckchen mit Sand hervor und schickte sich an, dasselbe zu öffnen.

„Sie wollen noch höher steigen?“ fragte Winter.

„Allerdings.“

„Sie erlauben, daß ich dies nicht für notwendig halte. Der Zweck dieser Fahrt ist eine bloße Luftpartie nach einem bestimmten Orte der unter uns liegenden Gegend, nicht aber eine wissenschaftliche Beobachtung in den oberen Regionen.“

„Da haben Sie sehr recht; aber über die Art und Weise, wie dieser Weg am sichersten und schnellsten zu erreichen ist, steht mir als Fachmann wohl das bestimmende Urteil zu. Wir befinden uns jetzt mitten in dem Grenzgebiete zweier entgegengesetzter Luftströmungen und müssen uns bis in die Mitte der günstigeren erheben.“

Er wußte sehr genau, daß Winter aus freiem Antriebe das Seil ergriffen haben müsse; denn hätte ihn dasselbe unvermutet umschlungen und mit fortgerissen, so wäre es ihm jedenfalls nicht gelungen, sich loszumachen. Auch wäre ihm bei einer so unvorgesehenen Lage die Besinnung geschwunden und also die Sicherheit, mit der er sich empor bewegt hatte, eine Unmöglichkeit gewesen. Er hatte es also hier mit einem Gegner zu thun, welcher durch irgend

einen Umstand zu der gehabten Kühnheit veranlaßt worden war. Und bei der Ungeheuerlichkeit des Wagnisses mußte dieser Umstand ein bedeutender sein, sich vielleicht gar auf die Entdeckung des mit dem Baron verabredeten Planes beziehen.

Während er unter diesen Gedanken eine Hand voll der feinen Sandkörner nach der anderen fallen ließ, riß Winter ein Blatt seines Notizbuches in Stücke und ließ sie nacheinander fliegen, um an der Schnelligkeit, mit welcher sie entschwanden, diejenige des Steigens zu erkennen.

„Wollen Sie nicht innehalten, Herr Professor? Ich glaube sicher, daß wir zu hoch kommen. Die Wolken liegen schon tief unter uns, und die Erde ist mit bloßem Auge gar nicht mehr zu erkennen. Von solcher Dimension dürfte unsere Strömung wohl kaum sein!“

„Ja, wir sind zu hoch; gehen wir weiter nieder!“ rief Hagen, dem die Angst aus den Zügen zu lesen war.

„Hier bin ich Herr,“ sprach der Professor ruhig und fuhr in seiner Beschäftigung fort. „Ich verbiete mir jeden Einspruch, zu dem übrigens jemand, der das Passagegeld nicht entrichtet und uns seine Rettung zu verdanken hat, am allerwenigsten berechtigt sein dürfte.“

Winter schwieg und nahm den an seiner Uhrkette hängenden Kompaß zur Hand. Er bemerkte nach einiger Zeit, daß der Ballon eine vollständig andere Richtung eingeschlagen hatte und hielt deshalb auf jede Bewegung des Professors ein scharfes

Auge. Dieser blickte durch das Perspektiv und griff dann von neuem nach dem Sande.

„Sie werden Ihre Wette verlieren!“ meinte Hagen, und auf seiner Stirn standen helle Tropfen. „Der Zug wird in wenigen Minuten sein Ziel erreicht haben.“

„Wir sind auch gleich da. Noch einige tausend Fuß und dann sinken wir. Ich werde unterdessen zur Klappe steigen.“

Er schwang sich auf den Rand der Gondel und kletterte in das Netzwerk hinauf. Der Ton seiner Stimme hatte den eigentümlich heiseren Klang gehabt, welchen die menschliche Sprache oft zeigt, wenn die Seele in ängstlicher Spannung sich befindet oder der Wille etwas bezweckt, was mit dem Rechtsgefühle nicht im Einklange liegt.

Das fiel Wintern sofort auf. Dieses Emporklettern mußte einen besonderen Grund haben; denn das Ventil war ja sehr bequem durch eine Schnur zu öffnen, welche bis in die Gondel herabreichte.

„Sehen Sie sich vor, Herr Kommissar! Der Mann führt etwas im Schilde,“ flüsterte er und blickte gespannt nach oben. Da griff der Professor nach einer Schlinge und zog an derselben, um sie zu öffnen. Dies schien jedoch einige Schwierigkeit zu haben, da bei der Passage durch die Wolken der Strick Feuchtigkeit angezogen hatte, infolgedessen aufgequollen war und die Schleife schwer öffnen ließ.

Durch diesen Umstand erhielt Winter einige Augenblicke Zeit, dem Laufe des Strickes zu folgen und die Bemerkung zu machen, daß die Hälfte der

Gondelhalter an ihm befestigt waren und nachgeben mußten, sobald er gelockert wurde. Sofort erkannte er, worauf es abgesehen war, riß mit beiden Armen Wanda und den Kommissar herüber auf die weniger bedrohte Seite und rief:

„Haltet Euch fest, sonst seid Ihr verloren!“

Instinktmäßig klammerten sie sich an, obgleich sie den Grund dieses angstvollen Zurufes nicht begriffen, und im nämlichen Augenblicke bekam die Gondel einen Ruck, die Halter fielen nieder, und die drei Menschen hingen, den Boden unter den Füßen verlierend, frei in der Luft.

„Einen Augenblick nur halte fest, Wanda!“ mahnte Winter, und die gräßlichste Angst sprach aus dem Tone seiner Stimme. Er schwang das eine Bein über den Gondelrand, und so auf denselben reitend, zog er das Mädchen herauf zu sich und sprach:

„Sei nur jetzt stark, Wanda, und verliere das Bewußtsein nicht, sonst bist Du verloren!“

„Ich halte fest, Emil! Rette nur — Herr Gott, wo ist der Kommissar?“

Er war verschwunden. Im Augenblicke der Gefahr hatte ihn die Besinnung verlassen, oder war die Kraft seiner Arme zu schwach zum Festhalten gewesen, und so war er hinabgestürzt.

Die beiden Zurückbleibenden hatten jetzt nicht Zeit, dieses Unglück zu betrauern; sie mußten an sich selbst denken. Für den Augenblick freilich waren sie gesichert. Wanda saß auf der Stelle, wohin er sie gezogen hatte, und hielt sich mit den Händen

an den beiden Haltern fest, zwischen denen sie sich befand. Obgleich ihr das Herz zitterte, suchte sie doch ein Lächeln hervorzubringen, um den Geliebten zu beruhigen. Es gelang, und nun wagte Emil den ersten Blick in die Höhe.

Die Last war verrückt worden, und so hatte sich der Ballon auf die Seite geneigt. Der Professor war nicht zu sehen. War auch er hinabgestürzt, oder — doch nein, die Neigung des Ballons hatte ihn dem Auge Winters entzogen, und gerade jetzt kam er vorsichtig von der anderen Seite heruntergestiegen, um den Erfolg seines Experimentes in Augenschein zu nehmen. Mit Schrecken aber bemerkte er, daß nur einer von den drei Leuten fehlte und die beiden anderen sich festgehalten hatten.

Auch sie mußten hinunter; denn jetzt war ihr Tod die einzige Rettung für ihn. Er kletterte weiter, bis er über ihnen auf dem Ringe stand, welcher sich um den unteren Teil des Ballons legte. Während er sich mit der Linken festhielt, zog er mit der Rechten ein Messer aus der Tasche, öffnete es mit Hilfe der Zähne und bog sich nieder, um die Seile zu zerschneiden, an denen Winter und das Mädchen sich festhielten.

Letzterer hatte bisher kein Wort gesprochen; jetzt aber griff er in die Tasche und zog ein Terzerol hervor. Er segnete die Mahnung seines Bruders, für den Notfall eine Waffe zu sich zu stecken, und rief drohend:

„Halt, elender Mörder! Sobald Du den ersten Schnitt versuchst, bist Du des Todes!“

Der Angeredete blickte herab. Er sah die Waffe; aber er durfte auf sie keine Rücksicht nehmen. Gehorchte er, so befand er sich in den Händen Winters und war verloren. Ein Schnitt jedoch in das Seil, an welchem dieser sich festhielt, mußte ihm die Sicherheit des Zielens rauben und zugleich ihn in die Tiefe stürzen. Rasch bückte er sich und bewegte die Hand zum Schneiden. Da krachte der Schuß, dessen Schall durch die Dünne der Luft bedeutend abgeschwächt wurde, und der Getroffene zuckte zusammen.

Die Kugel war ihm in den Oberarm gedrungen und hatte den Knochen verletzt. Einen Schmerzenslaut ausstoßend, ließ er das Messer fallen, schien ins Schwanken zu geraten, raffte sich aber zusammen und klammerte sich mit dem anderen Arme wieder fest.

„So, Du bist mir sicher!“ sprach Winter, das Terzerol wieder einsteckend. Dann musterte er, ihm weiter keine Aufmerksamkeit schenkend, das Netzwerk.

„Die Gondel ist nur mit Hilfe mehrerer Menschenkräfte in ihre frühere Lage zu bringen; ich allein vermag es nicht. Ich werde Dich festbinden, damit Du für jetzt wenigstens gesichert bist, und dann versuchen, den Ballon zum Sinken zu bringen.“

Er glitt vorsichtig vorwärts, zog sein Federmesser und schnitt einen der niederhängenden Gondelhalter von dem Ringe los, an welchem er befestigt war. Dann kehrte er ebenso behutsam zurück und bildete mit Hilfe des Strickes um Wanda ein Flechtwerk, -

Flechtwerk, welches sie vor jedem Falle behüten mußte. Darauf schickte er sich an, nach oben zu steigen. Die Klappenschnur war ihm jetzt unzugänglich, und er mußte die Hälfte des Ballons umklettern, um sie zu erreichen.

„Wo willst Du hin, Emil?“ fragte Wanda, für ihn zitternd; denn jede seiner Bewegungen konnte ihn dem Tode in die Arme liefern.

„Ich muß die Klappe öffnen, damit wir sinken.“

„Thue es nicht. Du wirst hinabstürzen.“

„Es muß geschehen, wenn wir wieder zur Erde kommen sollen. Du darfst nicht Angst um mich haben. Seit ich Dich in Sicherheit sehe, bin ich ruhig.“

Während der letzten Worte zuckte ein flammender Wetterschein tief unter ihnen. Es war als stände das ganze unter ihnen flutende Luftmeer in Flammen, und kurze Zeit darauf tönte ein leises, rollendes Gemurmel zu ihnen empor.

„Ein Gewitter. Es war mittags sehr heiß. Aber jetzt dürfen wir nicht sinken, sonst kommen wir mitten in das Wetter hinein und werden von den verschiedenen Strömungen hin und her geschleudert.“

Diese Strömungen äußerten ihren Einfluß auch auf die äußeren Luftschichten. Zwar boten die unter ihnen sich ballenden Wolken, da sie sich selbst in Bewegung befanden, keinen sicheren Augenpunkt, aber es war trotzdem zu bemerken, daß der Ballon eine andere Richtung eingeschlagen hatte und mit vermehrter Geschwindigkeit vorwärts ging. Die Luftbewegung hatte also ihre Richtung geändert und auch ihre Schnelligkeit verstärkt.

In einer gesicherten Lage hätte der großartige Anblick des unter ihnen leuchtenden Wetters einen noch nie von oben gehabten, fesselnden Genuß gewährt. Jetzt aber waren ganz andere Gedanken zu hegen. Winter arbeitete sich etwas empor bis zu dem Professor, zog sein Taschentuch und versuchte den Arm desselben an das Netzwerk zu befestigen. Es gelang nach einigen vergeblichen Versuchen, bei welchen von beiden Seiten nicht ein Laut gesprochen wurde. Der Verwundete hielt die Augen geschlossen, ob aus Schwäche oder Scham, das war jetzt gleichgültig. Es galt nur, sich den Menschen zu sichern, da seine Aussagen notwendig gebraucht werden konnten.

Sodann kletterte Emil um den Ballon herum und gelangte auf diese Weise zur Schnur. Ein Blick in die Tiefe zeigte ihm das Gewitter seitwärts und unter sich die reinste Luft.

Er zog. Das Ventil öffnete sich; mit einem leise pfeifenden Rauschen strömte das Gas heraus, und die Wolken schienen in der Ferne in die Höhe zu steigen. Das war ein Beweis, daß der Ballon fiel. Die erst so glatt angespannte Taffetmasse legte sich nach und nach in Falten, wodurch die Schwierigkeit des Kletterns etwas vermindert wurde; aber durch die Verschiedenheit der hier unten herrschenden Strömungen wurden die Bewegungen des Ballons so Gefahr drohend, daß Winter, um nicht hinabgeschleudert zu werden, sich mit Aufbietung aller Kräfte festklammern mußte.

Vorsichtigerweise ließ er das Gas nur in

einzelnen Zwischenräumen ausströmen, so daß das Sinken langsam vor sich ging, und mit gespannter Aufmerksamkeit richtete er den Blick hinunter, wo sich bald der Anblick der Erde bieten mußte.

Zwischen einzelnen leichten Wolkenstreifen drangen die Reflexe des niederfallenden Sonnenlichtes empor. Die Streifen näherten sich, und als ihre Feuchtigkeit, die sich in Nebelform um die Luftschiffer legte, durchdrungen war, lag die Oberfläche der Erde in von dem Regen erfrischtem Grün unter ihnen.

Winter strengte die ganze Sehkraft seines Auges an, die Gegend zu erkennen, welcher sie sich nahten. Es war ein dichtbewaldetes Gebirgsvorland, welches in der Ferne einige Dörfer und Flecken zeigte: aber unter ihnen lag dichter Forst, in welchem keine Spur einer menschlichen Wohnung zu entdecken war.

Gern wäre er wieder um etwas emporgestiegen; aber es war unmöglich, zu dem Sande zu gelangen, und da hier unten die Luft fast bewegungslos war und der Ballon sich langsam und gleichmäßig fortbewegte, so versuchte er vollends niederzugehen.

An eine Anwendung der hierbei gewöhnlichen Vorrichtungen war allerdings nicht zu denken; aber das Seil, an welchem er vor Beginn der verhängnisvollen Fahrt emporgeklettert war, wurde noch nachgeschleppt und konnte auch jetzt von Nutzen sein.

Ehe er aber das letztere versuchen wollte, stieg er soweit zurück, daß er Wanda zu Gesichte bekam. Noch saß sie an derselben Stelle und blickte mit

angsterfüllten Zügen empor zu dem Punkte, wo sie ihn verschwinden gesehen hatte.

„Bist Du wohl, Wanda?“

„Ja, aber ich bin fast tot vor Sorge um Dich!“

Trotz der bedenklichen Lage, in welcher sie sich befanden, konnte er doch ein Lächeln über diese sich selbst widersprechende Antwort nicht unterdrücken.

„Sei vorsichtig und halte Dich fest. Wir werden gleich den Wald erreichen.“

Er stieg wieder empor und zog das Ventil. Der Ballon sank und strich im Sinken über die Wipfel der Bäume hin. Winter griff fester zu, um bei einem Rucke nicht herabzustürzen und ließ die Klappe sich schließen. Da — ein Ruck, als sollte der Ballon in die Erde hineingezogen werden, ein Rascheln und Brechen in den Ästen unter ihnen, und dann drehte sich die halb zusammen geschrumpfte Taffetmasse um ihre eigene Axe. Das Seil hatte sich in den Bäumen verwickelt, einen festen Halt gefunden, und so wurde der Ballon gehalten. Aber die Axendrehung konnte gefährlich werden. Winter zog leise das Ventil auf und gewährte dem Gase einen langsamen und spärlichen Abzug. Ebenso langsam sank der Ballon vollends nieder, legte sich auf die Seite und ward von den Zweigen, in welchen sich das Netzwerk verfitzte, festgehalten.

Mit einem kräftigen Zuge riß er das Ventil weit auf, so daß der Taffet zusammenfiel und sich wie eine Decke auf die Wipfel legte und so eine Unterlage bildete, auf welcher Emil ohne alle Verletzung zu liegen kam.

„Wanda, Wanda, wo bist Du?“ rief er jetzt, da er seine Sorge nun ausschließlich auf sie richten konnte.

„Hier zwischen den Bäumen hänge ich in voller Sicherheit, und Du?“

„Auch ich habe keinen Schaden genommen. Ich werde gleich bei Dir sein.“

Zwar kostete es einige Anstrengung, von seinem erhabenen Standpunkte herabzukommen, aber es gelang, und als er den festen Boden unter seinen Füßen fühlte, erblickte er auch die Gondel, welche sich zwischen zwei Bäume eingeklemmt hatte, aus deren Zweigwerk ihm das bleiche Gesicht Wandas entgegenglänzte.

„Wie werde ich Dich von da oben herunterbringen?“ fragte er in einiger Verlegenheit.

„Das wird nicht so schwierig sein. Ich verlasse mich auf Deinen Scharfsinn.“

„Ich muß eine Strickleiter aus dem Netzwerk anfertigen und — aber warte, vielleicht geht es so schneller und besser.“

Er suchte den Baum, an welchem das nachgeschleppte Seil hing, kletterte hinauf und schnitt es ab. Zwar hatte er einige Zeit angestrengt zu arbeiten, ehe er es vollständig klar machen konnte, aber es gelang endlich doch. Dann kehrte er zurück und versuchte durch kräftiges Ziehen die Gondel weiter abwärts zu bringen. Auch das gelang. Das in den Ästen hängende Netzwerk hielt das Schiffchen fest, so daß ein Sturz nicht stattfinden konnte; Wanda half durch die Entfernung des hinteren

Zweiges nach, und näherte sich auf diese Weise endlich soweit dem Boden, daß sie denselben durch einen etwas beherzten Sprung erreichen konnte.

„Soll ich Dich losmachen?“

„Danke, nein. Ich bringe es selbst fertig.“

Sie wickelte das Seil von sich ab, schickte sich zum Sprung an und lag in dem nächsten Augenblicke in den Armen Winters, der sie aufgefangen hatte.

„Wanda!“ rief er im überströmenden Gefühle des Glückes.

Sie aber antwortete nicht, und als er fühlte, wie schwer sie an ihm hing und ihr in das Gesicht blickte, erkannte er, daß sie ohnmächtig sei. So lange die Gefahr angehalten hatte, war sie stark gewesen; jetzt aber, wo alles vorüber und keine Anstrengung mehr notwendig war, hatte sich die kräftig verleugnete Weiblichkeit geltend gemacht und sie in eine wohlthuende Bewußtlosigkeit gebettet.

Winter fühlte sich hierdurch nicht im geringsten beängstigt, er wußte, daß dieser Zustand ihr neue Kräfte geben und bald vorübergehen werde. Er legte sie vorsichtig ins weiche Moos nieder und wollte sich entfernen, um nun nach dem Professor zu sehen; aber als er noch einen Blick zurückwarf auf die Daliegende, wurde er von dem Zauber ihrer Schönheit so erfaßt, daß er wieder zurückkehrte und neben ihr niederkniete.

Er nahm ihr schönes, von weichen, blonden Locken umwalltes Köpfchen in seine Arme und drückte Kuß um Kuß auf die jetzt bleichen Lippen, gerade so wie damals, als sie in der Höhle des

Felsenbruches vor ihm lag und dann bei dem Erwachen vor Zorn erglühend aufgesprungen war.

Auch jetzt schlug sie die Augen, diese wunderbaren Augen auf; aber nicht zornig blickte sie, als sie seinen Kuß fühlte, sondern selige Freude leuchtete aus ihnen, und beide Arme schlang sie, ihn fest an sich ziehend, um seinen Nacken.

„Emil, mein Emil, Du lieber, starker Mann, der immer da ist, wenn ich in Gefahr bin und dem mein Leben schon doppelt und dreifach gehört, wie habe ich Dich so lieb, so unendlich lieb!“

„Ist das wahr, Wanda?“

„O, Du hast es schon längst gewußt, viel eher noch als ich!“

„Und nun willst Du mein sein, ganz und immer mein?“

„Ganz und immer.“

„Dann bin ich namenlos glücklich und danke von ganzem Herzen dem lieben Gott, der uns einst im Walde zusammenführte für nur kurze Zeit und nun im Walde vereinigt für die ganze Dauer des Lebens. Wanda, welch eine Stunde ist die jetzige!“

„Eine schöne und eine heilige, Emil. Und in dieser heiligen Stunde will ich Dir etwas versprechen, was Dein Glück verdoppeln wird.“

„Sprich!“

„Ich werde nie, nie wieder so sein, wie ich gewesen bin, sondern fein gehorsam und demütig. Heute, als ich da oben auf dem Rande der Gondel saß und sah, mit welcher Sicherheit und welchem Mute Du handeltest, um mich zu retten, und als

Du dann auf so lange Zeit meinen Augen entschwunden warst und ich mich so allein fühlte in der öden, gefährlichen Höhe, da fühlte ich, welch ein schwaches Wesen ich bin und gelobte, Dir unterthan zu sein für alle Zeit, wenn Gott uns für einander erhalten werde.“

„Wanda!“ Mehr konnte Winter nicht sagen. Er war tief ergriffen von den frommen, selbstverleugnenden Worten des schönen, sonst so stolzen und selbstbewußten Wesens, und mit bebenden Lippen sog er die Thränentropfen von ihren Wimpern.

Da tönte ein schweres, röchelndes Aechzen aus den Zweigen zu ihnen herab.

„Was war das?“ fragte Wanda.

„Das war der Professor, welchen wir über unserem Glück vergessen haben,“ entgegnete Winter. Er sprang auf, ging den Lauten nach und fand nach einigen Suchen den Urheber derselben, noch mit den Armen an das Netzwerk gefesselt, an einem abgebrochenen Aste hängen dessen Stumpf ihm tief in den Leib gedrungen war.

Die Verletzung mußte eine tödliche sein. Das Blut lief ihm aus Mund und Nase; das Stöhnen wurde kürzer und schwächer, und als Winter sich zu ihm hinaufgearbeitet hatte, lief ein konvulsivisches Zittern durch den aufgespießten Körper, der dann schlaff zusammensank.

„Bitte, Wanda, tritt von da unten weg. Er ist tot, und sein Anblick ist nicht für Dich.“

Sie gehorchte seiner Mahnung. Mit einem kräftigen Aufstemmen des Fußes brach er den Ast

los, und der Leichnam stürzte zur Erde hinab. Unten bei ihm angekommen, überzeugte sich Winter, daß keine Spur von Leben mehr in dem Körper sei und untersuchte darauf die Taschen des Unglücklichen.

Da entfuhr ein Ausruf der Ueberraschung seinem Munde und mit heftigen Schritten trat er zu dem Orte, an welchem Wanda auf ihn wartete.

„Erschrick nicht, mein Herz; ich habe Dir eine entsetzliche Mitteilung zu machen!“

„Welche? Nach dem, was mir heute widerfahren ist, wird mir das Erschrecken schwer fallen.“

„Daß Du Säumen nie geliebt hast, weiß ich.“

„Verachtet habe ich ihn.“

„Und daß es wenigstens irgend eine unbestimmte Ahnung im Bezug auf seine Lebensstellung und seine Absichten in Dir gegeben hat, habe ich auch stets angenommen.“

„Du kannst recht haben. Ich litt seine Annäherung wirklich nur aus Rücksicht auf Mama, die ich nicht in Armut sehen mag.“

„Und diese Annäherung hat Dich in mehrfache Gefahr gebracht. Da lies dieses Schriftstück, welches in der Brieftasche des Professors lag.“

Sie nahm das Papier in die Hand, und während ihre Augen dasselbe überflogen, breitete sich tiefe Blässe über ihr Angesicht.

„Das ist schrecklich! Jenes Vorkommnis im Felsenbruche hatte zuerst dunkle Befürchtungen in mir wachgerufen; doch drängten sich dieselben immer wieder zurück, weil sie mir zu ungeheuerlich erschienen. Und jetzt bestätigen sich jene Vermutungen,

die Du jedenfalls auch gehabt hast, auf eine so fürchterliche Weise!“

„Bei mir waren es nicht bloße Vermutungen, sondern ich hatte die vollständige Ueberzeugung, daß Säumen ein Betrüger sei, obgleich ich keinen vollgültigen Beweis gegen ihn in den Händen hatte.“

„Ein Betrüger? Das wohl nicht, sondern vielmehr ein Mörder!“

„Auch das Erstere. Ein wirklicher Säumen ist einer unehrenhaften Handlung nicht fähig.“

„Was Du da andeutest, ist ja vollständig unmöglich!“ rief sie erschrocken. „Und wenn es so wäre, so könnte ich die Schande nicht überleben.“

„Sei ruhig, mein Herz. Es erwarten Dich vielleicht heute noch schlimme Aufklärungen; aber Du darfst überzeugt sein, daß bei allem, was geschieht, die strengste Rücksicht auf die Ehre Deines Namens genommen wird. Jetzt aber müssen wir vor allen Dingen an den gegenwärtigen Augenblick denken. Ich werde den Toten mit Zweigen bedecken, und dann versuchen wir in die Nähe von Menschen zu kommen. Magst Du Dich mir auf dem Gange durch den tiefen, dunklen Forst anvertrauen?“

Mit innigem Aufleuchten senkte sich ihr Blick in seine Augen, als sie erwiderte:

„Ich bin Dein fürs ganze Leben, mein Emil. Gehe mit mir, wohin Du willst; ich folge Dir.“ —

Als nach Aufsteigen des Ballons sich die Wagen in Bewegung gesetzt hatten, waren sie mit der größtmöglichen Geschwindigkeit der vorgezeichneten

Richtung gefolgt und nur kurze Zeit nach dem Zuge eingetroffen. In größter Aufregung erwartete man die Ankunft der Luftfahrer. Das Interesse für die Wetten war zurückgetreten, da man ja nur das Resultat derselben kannte, die allgemeine Teilnahme hatte sich dem vermutlichen Schicksale Winters zugewandt, der nach der Annahme aller bloß von dem Zufalle mit emporgerissen worden war.

Längst schon waren die Sängergäste eingetroffen. Die Bewohner des Ortes hatten die Straßen und offenen Plätze desselben mit Flaggen und Guirlanden geschmückt; aber der Festumzug konnte noch immer nicht beginnen, weil sämtliche Teilnehmer draußen im Freien standen, um das Niedersteigen des Ballons abzuwarten.

In der allergrößten Sorge befand sich die Baronin. Sie hatte sich im Hotel ein Zimmer geben lassen und schritt ruhelos in demselben auf und ab. Emils Bruder und der Baron befanden sich bei ihr. Ersterer stand schweigend am Fenster und teilte seine Aufmerksamkeit zwischen dem Baron, den er kaum aus den Augen ließ, und den Wolken, zwischen denen jeden Augenblick die Erwarteten erscheinen konnten.

Säumen saß in nachlässiger Haltung auf dem Stuhle und konnte ein Lächeln des Triumphes immer weniger verbergen, je mehr die Zeit verstrich. Trotz dieser inneren Befriedigung sprach er zuweilen ein beruhigendes Wort zu der alten Dame, indem er die beobachtenden Blicke Winters gar nicht zu bemerken schien.

Da öffnete sich die Thür und die Zofe erschien auf der Schwelle.

„Herr Winter, es ist ein Mann draußen, der mit Ihnen sprechen will.“

Der Angeredete stand auf und trat hinaus auf den Vorsaal, wo der Schmied seiner wartete.

„Nehmen Sie’s nich übel, daß ich störe; aber Ihr Bruder und ooch Sie haben gesagt, daß wir uns zu Ihnen halten sollen und doch läßt sich keener sehen. Wo is der Baron?“

„Drinnen.“

„Wissen Sie was Neues?“

„Was?“

„Er hat verkooft.“

„Verkauft? Was?“

„Nu, alles, seine ganzen Besitzungen.“

„Wann?“

„Vorhin, ehe die Fahrt losging.“

„An wen?“

„An den Kommissar Hagen.“

„Der hat kein Geld, das muß ein Irrtum sein.“

„Geld hat der Kerl allerdings nich, aber een Jude aus der Hauptstadt muß ihm das Nötige vorgeschossen haben. Blumenbach oder Blumenthal, meinetwegen ooch Blumenfeld heeßt der Mann und hat mir im Coupé alles erzählt.“

„Gut. Behalten Sie ihn im Auge. Vielleicht brauchen wir ihn.“

Als er in das Zimmer zurücktrat, ließ sich der erste Donnerschlag vernehmen, und die Baronin

sank, die Augen mit beiden Händen bedeckend in das Sofa.

„Mein Gott; jetzt sind sie verloren, jetzt ist jede Hoffnung vergeblich!“

„Noch nicht, gnädige Frau,“ sprach Winter. „Wenn sie sich über den Wolkenschichten befinden, so haben Sie nichts zu befürchten. Ich vermute sehr, daß sie durch eine widrige Luftströmung von der eingeschlagenen Richtung abgetrieben worden sind.“

Er erhielt keine Antwort. Das Wetter entlud sich in ungewöhnlicher Macht über der Gegend; Blitz folgte auf Blitz und das Grollen des Donners rollte ohne Aufhören fort. Aber gerade dadurch beschleunigte sich die Ausgleichung der angesammelten Elektricität, und nach kurzer Zeit brach die Sonne sich wieder lichte Bahn. Da bemerkte man eiliges Laufen auf den Straßen, laute Zurufe ließen sich vernehmen, und als Winter das Fenster öffnete, um nach der Ursache dieser Aufregung zu sehen, bemerkte er Thomas raschen Schrittes auf das Gasthaus zukommen. Da er eine Unglücksbotschaft vermutete, ging er ihm entgegen.

„Sie sind verunglückt, Herr Winter; erschrecken Sie nich!“ rief ihm der Buchbinder schon unten auf der Treppe entgegen.

„Woher weißt Du das?“

„Dreiviertel Stunden von hier is eener von ihnen niedergestürzt. Der Bauer, off dessen Feld er liegt, is selber da, um es uns zu melden. Er hat von der Luftfahrt gehört und ooch von der

Wette und weeß also, daß die Angehörigen hier sind.“

„Holen Sie ihn; er soll unten warten, bis ich hinab komme. Und befehlen Sie sogleich dem Hausknechte, anzuspannen.“

Hierauf kehrte er zur Baronin zurück.

„Man hat eine Spur der Erwarteten entdeckt, gnädige Tante. Wollen Sie mir erlauben, mich in Ihrem Wagen an den Ort zu begeben, um zu sehen, ob etwas Wahres an der Nachricht ist?“

„Ich fahre selbst mit,“ antwortete sie und erhob sich, sank aber wieder zurück. „Doch nein, es geht nicht; ich bin zu angegriffen. Fahren Sie also ohne mich und kehren Sie schnell zurück. Leben sie noch?“

„Ich hoffe es. Herr Baron, Sie haben doch die Güte, mich zu begleiten?“

„Ich kann Madame unmöglich allein lassen, das sehen Sie doch.“

„Madame hat ihre Bedienung hier und wird weibliche Hilfe wünschenswerter finden als eine andere. Oder ist Ihnen das Schicksal der Expedition gleichgültig?“

Es lag sehr viel Wahres in dieser letzten Bemerkung. Säumen mußte ja möglich zuerst wissen, was aus den vier Leuten geworden war, um seine Maßregeln danach ergreifen zu können. Er erhob sich also.

„Ich kann unmöglich gleichgültig sein, wo es sich um das Schicksal meiner Verlobten handelt.

Wenn die Frau Baronin erlauben, gehe ich also mit.“

„Jawohl, gehen Sie und bringen Sie mir schleunigst Nachricht!“

Die beiden Männer entfernten sich. Unten schirrte der Kutscher eben die Pferde vor, und nach einigen Augenblicken konnte man einsteigen. Säumen saß neben Winter im Plafond, während Thomas an der Seite des Landmannes sich auf den Rücksitz placierte.

„Zugefahren, Kutscher!“ rief Winter, und die Equipage rollte im Galopp davon.

Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Der Bauer schien zwar einen Bericht beginnen zu wollen, aber der Polizist winkte ihm Schweigen zu. Es lag ihm daran, den Baron jetzt noch in Ungewißheit zu lassen, um ihn später desto sicherer beobachten zu können und ihm keine Zeit zu Plänen zu geben.

„Da drüben auf der Stoppel ist es, wir müssen also hier einbiegen,“ klang es nach einiger Zeit, während welcher jeder seinen Gedanken und Gefühlen Raum gegeben hatte. „Es war kurz vor dem Beginn des Regens, und ich habe gar nicht erst Anzeige im Dorfe gemacht, sondern bin gleich stracks nach der Stadt gelaufen, weil ich mir denken konnte, daß Sie neugierig sein würden, wie die Sache abgelaufen ist.“

Jetzt hielt der Wagen. Seitwärts von ihm lag eine formlose Masse, in welcher man nur bei näherer Betrachtung einen Menschen zu erkennen

vermochte. Den Männern grauste es, und selbst den Baron überkam ein bisher noch nie empfundenes Gefühl, welches er sich nicht zu bezeichnen getraute.

Bald aber hatte er es überwunden und bückte sich nieder, um den Zerschmetterten zu untersuchen.

„Es ist der Kommissar Hagen. Zwar ist der Körper vollständig unkenntlich; aber hier ist ein Büschel seines weißgelben Haares, und diese Stiefel habe ich heute Vormittag noch bei ihm gesehen, als er mich besuchte.“

„Das war jedenfalls, als Sie den Kauf mit ihm abschlossen, Herr Baron,“ sprach Winter wie absichtslos; aber trotzdem brachten seine Worte eine ungeheure Wirkung auf Säumen hervor. Mit aufgerissenen Augen in dem schreckensbleichen Angesichte starrte er den Sprecher an; doch faßte er auch jetzt sich wieder und antwortete sich zur Erde beugend und den Leichnam betastend:

„Haben Sie ein Interesse für meine Privatangelegenheiten?“

„Vielleicht, noch mehr aber interessire ich mich für den Gegenstand, welchen Sie hier von der Erde nehmen.“

„Soll ich vielleicht meine Brieftasche liegen lassen, wenn Sie mir beim Bücken entfällt?“

„Das wird Ihnen allerdings niemand zumuten; aber bitte, verwahren Sie das Portefeuille von jetzt an besser,“ antwortete Winter. Er wußte, daß es dem Toten gehöre; aber es war jedenfalls jetzt besser für seine Absichten aufgehoben, als in den Händen der Kommission, welche auf die zu

erfolgende Anzeige hier erscheinen mußte, und da die beiden anderen zu sehr mit dem Verunglückten beschäftigt waren, als daß sie das kleine Intermezzo bemerkt hätten, so ließ er es ruhig geschehen, daß Säumen die Tasche zu sich nahm.

„Allerdings ist es Hagen,“ wandte er sich an Thomas; „und es ist nun fast nicht zu bezweifeln, daß dasselbe Schicksal auch die anderen betroffen hat. Trotzdem aber ist der Fall denkbar, daß der Kommissar nur infolge einer Unvorsichtigkeit verunglückt ist, und wir dürfen deshalb immer noch so lange Hoffnung hegen, bis man auch die anderen findet. Nach ihnen zu suchen, wäre ein mühevolles und vielleicht erfolgloses Unternehmen, und so wird es geraten sein, in die Stadt zurückzukehren und weitere Nachrichten ruhig zu erwarten. — Sie aber,“ bedeutete er den Bauer; „müssen sofort das Versäumte nachholen und bei Ihrer Ortsbehörde Anzeige von dem Funde machen. Aber eilen Sie, der Platz wird nicht lange unbesucht bleiben, und wir haben keine Zeit, uns als Wächter herzustellen!“

Sie stiegen ein, um nach der Stadt zurückzukehren. Unterwegs begegneten ihnen Scharen von Neugierigen, welche den Spuren des Wagens gefolgt waren, um die Unglücksstätte zu finden. Ohne die Fragen dieser Leute zu berücksichtigen, fuhren sie an ihnen vorüber und hielten bald vor dem Hotel, wo ihnen diesmal der Wirt selbst beim Aussteigen behilflich war.

Winter bemerkte, daß er einen eigentümlich

forschenden Blick auf den Baron warf und sah dann, als Säumen hinter der Thür verschwunden war, diesen Blick mit einer Art fragenden Einverständnisses auf sich gerichtet.

„Sie haben mir etwas zu sagen?“

„Wenn Sie erlauben und diskret sein wollen.“

„Das werde ich. Sprechen Sie!“

„Treten Sie in dieses Zimmerchen; ich möchte gern vorsichtig sein. — So, jetzt haben wir keinen Lauscher zu fürchten, und ich darf also Ihre Inkognito berühren.“

„Wieso?“

„Ihr Name ist Winter, und Sie befinden sich in der Gesellschaft des Herrn Barons von Säumen, um den Urheber eines Ihnen bekannten Verbrechens zu entdecken!“

„Woher kennen Sie mich?“ fragte Winter ruhig, ohne seine Ueberraschung über diese bedeutungsvollen Worte zu verraten.

„Ich war Oberkellner in dem Hause, in welchem die That verübt wurde und habe den Fremden bedient, welcher am anderen Morgen mit den Effekten des Ermordeten abreiste, ehe wir Kenntnis von dem Verbrechen haben konnten. Sie besuchten damals dieses Haus sehr oft und haben mich auch ins Examen genommen.“

„Ah, wirklich; ich besinne mich. Sie machten mich auf das seltsam geformte Uhrgehänge des Entflohenen aufmerksam. Aber wie kommen Sie heute zu der Vermutung, daß meine Anwesenheit hier in Beziehung zu jenem Ereignisse stehe?“

„Wissen Sie, bei wem ich dasselbe Gehänge bemerkt habe?“

„Nun?“

„Bei dem Herrn Baron von Säumen.“

„So, so, so!“ dehnte Winter in absichtlich zweifelndem Tone. Er mußte mit Rücksicht auf die Tante vorsichtig sein. „Sie wollen sich doch nicht etwa durch eine Uhrkettenähnlichkeit zu einem Schlusse verleiten lassen, der geradezu ein höchst verunglückter genannt werden mußte! Ich kenne den Herrn Baron sehr genau; er hat als Student in dem Hause meiner Eltern logiert.“

„Trug er schon damals diese Kette?“

„Freilich; es ist ein altes Familienstück. Es mag sein, daß es ähnliche giebt.“

„Dann habe ich mich getäuscht; aber nicht bloß in Folge dieser Aehnlichkeit.“ Er betonte das vorletzte Wort ganz besonders und setzte dann langsam hinzu: „Und dann schien es mir auch, als hätten Sie eine ganz besondere Aufmerksamkeit für den Baron, so ungefähr, wie man sie gegen jemanden hegt, den man schon halb und halb als Gefangenen betrachtet.“

„Ihr Scharfsinn ist beneidenswert!“ lachte Winter. „Sie müssen mir schon eine kleine Aufmerksamkeit einem Herrn gegenüber erlauben, dessen Stellung und Einfluß mir nützlich sein kann.“

„Und sodann,“ fuhr der Wirt, wie sich entschuldigend, fort; „schien mir Gestalt, Haltung und Stimme des Barons ganz die jenes Unbekannten zu sein, und wenn er einen Bart trüge, so —“

„So brauchte er sich nicht rasieren zu lassen,

mein Lieber! Und die andere Aehnlichkeit? Sie sprachen vorhin mit Betonung.“

„Ich glaube, der Baron hat große Aehnlichkeit mit dem Ermordeten.“

„Da sehen Sie,“ rief Winter abermals lachend; „was Sie heute alles glauben! Uebrigens dürfen Sie sich beruhigen, denn ich will Ihnen im Vertrauen die Mitteilung machen, daß es mir gelungen ist, jenen Mörder zu entdecken. Ein Baron von Säumen aber ist er nicht.“

Er verließ das Zimmer und schritt die Treppe hinauf. Oben eintretend, sah er die Baronin ohnmächtig auf dem Sofa liegen und die Zofe beschäftigt, sie ins Bewußtsein zurückzurufen. Säumen und Thomas standen dabei.

„Was ist hier geschehen?“ fragte er.

„Der Herr Baron ist so freundlich gewesen, ’ne rückhaltslose Mitteilung über unser Abenteuer zu machen,“ antwortete letzterer.

„Das war zum mindesten unvorsichtig, und —“

„Herr Winter,“ fiel ihm Säumen in das Wort; „ich hoffe nicht, daß Sie es unternehmen wollen, mich zu schulmeistern!“

„Nein, aber Sie geben doch zu, daß die Schicklichkeit uns gebietet, die Damen allein zu lassen. Treten wir ins Nebenzimmer.“

„Es ist vollständig gleichgültig, welchen Ort Sie zu Ihrem Aufenthalte nehmen wollen. Ich ziehe für mich einen anderen vor!“ entgegnete Säumen, nach der Ausgangsthür schreitend.

„Und doch ersuche ich Sie, Herr Baron, mir wenigstens noch einen Augenblick zu schenken. Soeben machte mir der Wirt eine Mitteilung, welche sich auf Sie bezieht.“

„Welche?“ fragte Säumen und schritt, von dem gleichgültigen Tone des Sprechers verführt, diesem nach in das Nebengemach. Während er sich dort, um die nötige Unbefangenheit zu zeigen, niederließ, bemerkte er nicht, daß Winter dem Buchbinder bedeutete, an der Thür Posto zu nehmen, während er selbst sich an das einzige Fenster stellte, welches das Zimmer hatte.

„Nun? Ich warte immer noch auf Ihre Mitteilung!“

„Der Wirt machte mich vor einigen Augenblicken auf die interessante Thatsache aufmerksam, daß vor längerer Zeit in einem jedenfalls auch Ihnen bekannten Hause ein Baron Eginhardt von Säumen ermordet worden sei. Der Mann ist damals Oberkellner dort gewesen und hat sich den Mörder so genau angesehen, daß er ihn in allen Verhältnissen und in jeder Verkleidung wieder erkennen würde. Ich glaubte, Ihnen diese Neuigkeit nicht vorenthalten zu dürfen, da Sie den Namen des Toten führen.“

Einige Augenblicke lang war der Angeredete sprachlos. Um seine Mundwinkel zuckte der Schreck, und ein heiseres Räuspern ließ erkennen, daß er nach Fassung rang. Bald aber klang es spöttisch von den bleichen Lippen:

„Ich danke Ihnen, Herr Winter, für diese humoristische Depesche. Ich habe bisher wirklich

noch nicht gewußt, daß ich einmal ermordet worden bin. Denn ich muß es doch wohl gewesen sein, da es nur einen meines Namens giebt.“

„Bitte sehr, Baron. Ich werde Sie sogar zu vermehrtem Dank verpflichten, dadurch, daß ich Ihnen einiges über den Mann sage, der Sie ermordet hat.“

„Thun Sie das; ich habe damals als Toter jedenfalls nicht Zeit gehabt, mir ihn nachträglich noch einmal genau anzusehen.“

„Er ist auch ein Herr ‚von‘.“

„Das höre ich gern. So bin ich doch wenigstens von ebenbürtiger Hand gestorben.“

„Hat seine Studien im Bicêtre vollendet.“

„Muß ein Teufelskerl gewesen sein!“

„Aber undankbar. Er ist fortgegangen, ohne nach dem Honorar zu fragen.“

„Vielleicht zahlt er es noch.“

„Das ist eben auch meine Meinung; ich werde ihn sehr darum bitten.“

„Wird er sich von Ihnen sprechen lassen?“

„Ich hoffe es um seiner selbst willen.“

„Wieso?“

„Das Schicksal eines überführten Mörders ist Ihnen bekannt. Doch habe ich Rücksicht auf einige Personen zu nehmen, welche Ihnen nicht weniger bekannt sind, und so bin ich vielleicht zu einigen Konzessionen ge­neigt —“

„Die Sie ihm aber erst dann machen werden, wenn Sie ihn haben!“ meinte Säumen, indem er sich erhob.

„O bitte, bleiben Sie sitzen; denn ich habe Ihnen noch zu beweisen, daß ich den Mann wirklich habe.“

„So halten Sie ihn fest. Nur glaube ich leider nicht, daß Sie das Zeug dazu haben.“ Mit geringschätzigem Blicke überflog er die schlanke Gestalt des Polizisten und schritt nach der Thür.

„Halt!“ klang es ihm da entgegen. Das Wort wurde nicht laut ausgesprochen; aber es lag etwas so Zwingendes in dem Tone und der Haltung des Sprechenden, daß der Baron unwillkürlich stehen blieb.

„Setzen Sie sich noch einen Augenblick; ich werde mich kurz fassen. Und dann mögen Sie entscheiden, ob Sie bleiben oder gehen wollen!“

Er folgte der Weisung, griff aber mit der Hand in die Brusttasche seines Rockes.

„Lassen Sie die Hand von der Tasche, Herr Baron. Der Gebrauch einer Waffe würde Ihre Lage nur verschlimmern. Auch ich bin nicht wehrlos und habe übrigens meine Maßregeln so getroffen, daß Sie auf keinen Fall entkommen werden.“

Säumen sah ein, daß es klug sein werde, sich zu fügen. Inmitten eines jetzt so belebten Ortes war es ihm unmöglich, sich durch einen Schuß den Weg zur Flucht zu bahnen, zumal er die Vorkehrungen nicht kannte, welche Winter jedenfalls getroffen hatte. Er zog die Hand also zurück und meinte in wegwerfendem Tone:

„Ich werde ausnahmsweise einmal gehorsam sein. Bitte, explizieren Sie sich!“

„Sie betrachten sich natürlich als meinen Gefangenen.“

„Schön!“

„Doch wird dieses Verhältnis kein auffälliges sein; vielmehr werde ich Sie einladen, sich, natürlich in meiner Begleitung, innerhalb der Stadt jede beliebige Bewegung zu machen.“

„Eine staunenswerte Humanität und Unvorsichtigkeit!“

„Bitte sehr, bloß human, nichts weiter! Sie dürfen sogar Ihre Waffe behalten.“

„Ist mir lieb!“

„Auch Ihr Notizbuch, welches Ihnen draußen auf dem Felde entfiel.“

„Natürlich. Es hat niemand das Recht, mir es abzunehmen.“

„Kommt mein Bruder mit Fräulein von Chlowicki wieder wohlbehalten zurück, so wird in einem Familienrate über das Schicksal jenes Mörders bestimmt.“

„Eine höchst ehrenwerte und, ich hoffe, nachsichtige Jury!“

„Sind sie verunglückt, so überliefere ich ihn ohne weiteres der Kriminalpolizei, da ich der festen Ueberzeugung bin, daß er in diesem Falle die Ursache des Verlaufes der Luftfahrt ist.“

„Sehr scharfsinnig. Sind Sie zu Ende?“

„Ja.“

„Ich füge mich Ihren weisen Anordnungen, obgleich ich weiß, daß ich gerade durch diese Fügsamkeit mich einer Offenherzigkeit schuldig mache, welche

ich vermeiden würde, wenn ich nur eine Ahnung von Furcht in mir fühlte. Sie handeln gegen Ihre Pflicht, wenn Sie einen Verbrecher, für dessen Schuld Ihnen die schlagendsten Beweise zur Verfügung stehen, Konzessionen machen, und ich glaube also, daß keiner von uns beiden den andern zu fürchten hat. Kommen Sie! Ich höre die Baronin sprechen, und wir müssen ihr das Vergnügen unserer Gesellschaft gön­nen.“ —

Niemand zweifelte mehr daran, daß das Schicksal des Kommissars auch die anderen Insassen des Ballons erreicht habe, und da durch diese Ansicht die Ungewißheit beseitigt war, so legte sich bald die Aufregung, und man schritt nun endlich zur Fortfeier des Festes.

Nachdem der Umzug durch die Straßen beendet war, begann das Konzert auf dem Festplatze, zu welchem sich eine zahlreiche Zuhörerschaft eingefunden hatte. Arm in Arm gingen auch Winter und Säumen auf und ab, und während scheinbar ihre Aufmerksamkeit den Tönen zugelenkt war, richteten sie dieselben auf ganz andere Dinge.

Säumen war überzeugt, daß sein Anschlag gegen die Luftfahrer gelungen sei; aber die Absicht, deren Ausführung er damit bezweckt hatte, war damit noch nicht erreicht worden, denn von allen Seiten wuchsen ihm neue Feinde und Mitwisser seiner Vergangenheit heran. Das einzige, was ihm übrig blieb, war die Flucht. Zwar hatte er die nötigen Mittel in den Händen; aber sein Begleiter bewachte jede seiner Bewegungen mit scharfem Auge,

daß ein Entkommen zu den Unmöglichkeiten gehörte. Aus diesem Gedanken wurde er geweckt durch eine Hand, welche sich auf seine Schulter legte.

„Endlich ist mir geworden das Glück, zu treffen den Herrn Baron.“

Es war der Jude, mit welchem er am Vormittag den Kauf abgeschlossen hatte. Ohne Winter zu beachten, fuhr der ängstliche Geschäftsmann fort:

„Ich habe vernommen, daß verunglückt ist der Herr von der Polizei; welchem ich habe vorgeschossen grausam viel Geld. Was soll ich nun thun mit die Papierchens, welche er hat ausgestellt und die nun sind ohne Wert? Ich werde mir nehmen den Kauf, den er wird haben zu Hause und ihn lassen umschreiben auf meinen Namen.“

Säumen war es um die Erhaltung seines Geldes zu thun, welches er bei sich führte, und schon hatte er deshalb eine zustimmende Antwort auf den Lippen, als ihm Winter zuvorkam.

„Das wird nicht leicht möglich sein, mein Lieber. Der Kauf befindet sich bereits wieder in den Händen des Herrn Barons, welcher seine Besitzungen behalten und Ihnen Ihr Geld zurückerstatten wird. Es befindet sich in seiner Tasche und Sie können es gegen Quittung sofort in Empfang nehmen.“

Säumen wollte einen Widerspruch erheben; aber der Jude ließ ihn nicht dazu kommen.

„Ich habe zu sprechen mit dem Herrn Baron und nicht mit Ihnen. Auch werde ich nicht zurücknehmen das Geld, sondern behalten die Schlösser

und Dörfer, welche nun nicht kann besitzen der Herr von Hagen.“

„Ganz wie Sie wollen! Der Herr Baron hat mich mit der Ordnung dieser Angelegenheit betraut, und Sie werden mich morgen am Vormittage in seiner Wohnung finden. Guten Abend!“

„Ist das die Meinung auch von dem gnädigen Herrn Baron?“

„Ja,“ antwortete Säumen; „kommen Sie morgen früh zu mir.“ Er war froh, auf diese Weise Zeit gewonnen zu haben, und schritt rasch am Arme Winters weiter. Eben wollten sie nach dem Hotel einbiegen, als sie von weitem angerufen wurden.

„Halt, heda, Herr Winter! Endlich kriege ich Sie zu sehen. Hab’ mich mein Seel’ ganz außer Atem geloofen, um Sie zu finden und dabei den Juden aus den Augen lassen müssen. Wissen Sie was Neues und Gutes?“

„Was denn?“ fragte der Angerufene den Schmied; denn er war es.

„Ihr Bruder und Wanda sind glücklich davongekommen; aber der Professor ist tot.“

„Woher wissen Sie das?“

„Es is vor een paar Minuten ’ne telegraphische Depesche angekommen. Mit dem letzten Zuge werden die beeden wohl da sein. Gehn Sie nur gleich zur Baronin; ich weeß nich, ob die’s schon erfahren hat. Die Depesche ist natürlich an das hiesige Telegraphenamt gerichtet gewesen, da Ihr Bruder nicht wissen konnte, wo Sie hier abgestiegen

sind. Ich will derweile den Blumenkranz oder Blumentopf, oder wie er heeßt, wieder offsuchen.“

„Das ist nicht notwendig. Er wird selbst kommen, und für jetzt brauchen wir ihn nicht. Kommen Sie mit uns?“

„Nee, da habe ich noch ’was Besseres zu thun.“

„Was denn?“

„Das werden Sie alleweile schon spüren, wenn es Zeit is!“ Bei diesen Worten sprang er davon, und die Nachblickenden sahen, daß er rechts und links den Begegnenden die frohe Botschaft mitteilte.

Bei Frau von Chlowicki angekommen, fanden sie dieselbe schon benachrichtigt. Man hatte von der Station sofort einen Boten abgeschickt, und auch Thomas war gekommen, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen. Es litt sie nicht länger in dem Zimmer. Sie ließ anspannen und fuhr nach dem Bahnhofe, um die Ankommenden dort zu erwarten. Es war ihr heute so recht klar geworden, wie lieb ihr das Stiefkind eigentlich sei, und sie nahm sich vor, diese Liebe von jetzt an rückhaltslos und im vollsten Maße über Wanda auszuschütten.

Auch Säumen war es bei der Nachricht leichter um das Herz geworden. Der Professor war jedenfalls von hoch oben herabgestürzt. Wer weiß an welchem Orte und in welchem Zustande er dalag, ja, ob er überhaupt gefunden werden konnte. Mit ihm war dann der gefährlichste Zeuge verschwunden, und selbst, wenn man ihn fand, durfte der Baron in Beziehung des gefährlichen Papieres doch auf irgend einen glücklichen Umstand rechnen. Der

Zufall war ihm bisher ja immer günstig gewesen und hatte ihn aus so mancher schlimmen Lage befreit.

Da hörte man von der Stadt her weitschallenden Marschschritt, der unter Musikklängen sich dem Bahnhofe näherte. Es waren die schnell versammelten Sänger, an deren Spitze der Schmied marschierte, den mit bunten Quasten und goldenem Knaufe versehenen Kapellmeisterstock schwingend.

Sein breites, ehrliches Gesicht glänzte vor Freude, und als er jetzt nach dem Perron einlenkte und an der Baronin vorüberschritt, nickte er ihr wohlgemut zu und vollführte mit dem Stocke eine Windmühlendrehung, die ihn fast um seine stattliche Haltung gebracht hätte. Dann gab er mit hoch erhobenem Arme das Zeichen zum Schweigen und kommandierte mit dröhnender Stimme:

„Bataillon — — — halt! Rrrrechts — — — umgedreht! So! Und nu bleibt Ihr stehen und rührt Euch nich, bis der Zug kommt. Nachher aber könnt Ihr meinetwegen springen, so hoch Ihr wollt und dazu rufen und schreien, so laut Ihr wollt. Und wer nich weeß, was er sagen soll, der mag rufen: „Fife Lamperöhr!“ Das klingt halt schön und macht Spektakel, und dazu muß die Musik blasen, was das Zeug hält, immer fest drauf. Und wenn Ihr Eure Sache gut macht, so gebe ich een Faß Lagerbier zum besten, und andere Leute werden ooch noch een paar Flaschen draufgeben. Habt Ihr’s verstanden?“

Alles lachte. Zwar ließ die Subordination sehr viel zu wünschen übrig; aber die Rede hatte Eindruck -

druckdruck gemacht, und als der Zug heranbrauste, konnte man das Rollen seiner Räder nicht hören vor den Jubelrufen der Anwesenden. Unbekümmert um die Menge der Umstehenden nahm die Baronin die wiedergegebene Tochter in ihre Arme und liebkoste sie in überwallender Zärtlichkeit. Winter aber wurde sofort von den Männern in Beschlag genommen und aufgefordert, sein Abenteuer zu erzählen. Er that es mit den notwendigen Abänderungen und machte sich dann los, um zu der Tante zu kommen, die auch ihn mit Sehnsucht erwartete. Wanda hatte ihr in aller Eile mitgeteilt, was er alles für sie gethan und gewagt, und die alte Dame wollte schier stolz werden bei dem Gedanken, daß dieser Mann ihr Neffe sei.

Unter diesen Vorgängen war es spät geworden, so daß man beschloß, hier zu bleiben und erst am folgenden Tage nach Hause zurückzukehren. Im Hotel angekommen, sollte Emil auch hier seinen Bericht abgeben; aber er wehrte diese Forderung von sich ab.

„Darf ich meine Mitteilungen nicht bis zu einer ruhigeren Stunde aufschieben, liebe Tante? Wir haben des Schrecklichen heute so viel gehabt, daß uns selbst die Erinnerung daran noch aufregen muß.“

„Emil hat recht, Mama. Du bist heute so lieb und schonend gegen mich; bitte, sei auch nachsichtig gegen ihn. Er hat fast über menschliche Kraft gethan und bedarf der Ruhe.“

„Wahr ists, was Du sagst, und ich werde wohl

vergebens über die Art und Weise nachsinnen, wie ich ihn würdig belohnen kann.“

„Was das betrifft, Tante, so habe ich mir einen Lohn ausgewählt, der jedenfalls viel zu groß ist für das, was mir nur der Zufall zu thun erlaubte. Schau her!“ Er legte den Arm um die schöne Cousine, zog sie an sich und drückte seine Lippen küssend auf ihre Stirn.

„Was willst Du damit sagen, Emil? Der Herr Ba­ron —“

„Wird mir seine Rechte abtreten, was ich sofort beweisen werde,“ fiel Emil ihr ins Wort. Er griff in die Tasche und wandte sich zu Säumen:

„Der verunglückte Professor hat die Unvorsichtigkeit begangen, ein Papier auf mich zu vererben, welches ich hiermit meinem Bruder mit der Bitte übergebe, damit nach seinem polizeilichen Gewissen zu verfahren.“

Ein einziger Blick machte Säumen alles klar. Jetzt war alles entdeckt, und die Stunde der Abrechnung hatte geschlagen. Er wollte um keinen Preis als entlarvter Missethäter vor den Frauen stehen, und der gegenwärtige Augenblick, an welchem die Aufmerksamkeit aller auf das Papier gerichtet war, bot ihm die beste Gelegenheit zur Flucht. Mit einem raschen Sprunge stand er vor der Thür, riß sie auf, schlug sie hinter sich wieder zu und drehte den Schlüssel um. Dann eilte er die Treppe hinunter und wollte eben auf die Straße treten, als er die kräftige Gestalt des Schmiedes an dem gegenüberliegenden Hause lehnen sah. Schnell entschlossen -

entschlossen trat er zurück und öffnete das untere Gastzimmer, um durch dasselbe in den Hofraum und von da durch den Garten ins Freie zu kommen. In der Stube trat ihm der Wirt entgegen.

„Der Herr Baron wollen noch ein wenig frische Abendluft schöpfen?“

„So ist es.“

„Dann nehmen Sie sich in acht vor —“

Säumen vernahm die übrigen Worte nicht. Er hatte keine Zeit, auf den Mann zu hören und schlug den kürzesten Weg quer über den Hof ein, nach einer Stelle, wo er eine Oeffnung in der Mauer zu bemerken glaubte.

Seine plötzliche Entfernung hatte ihn zwar aus der unmittelbaren Nähe der Feinde gebracht, diesen aber noch nicht die nötige Besinnung geraubt. Der Schornsteinfeger eilte an die Thür, um dieselbe durch einen kräftigen Druck aufzusprengen, aber sein Bruder rief ihn zurück.

„Halt, Emil, das dauert zu lange. Durch die Hinterthür entkommt er nicht; dahin habe ich Deinen Gräßler gestellt. Er wird durch den Garten gehen. Dort steht Thomas; aber der ist wohl nicht stark genug.“ Er riß die Thür zu dem Hinterzimmer auf, öffnete das Fenster, und ohne ein Wort zu verlieren oder auf die Zurufe und Fragen der Frauen zu hören, standen die beiden Brüder im nächsten Augenblick im Garten.

Der Flüchtling konnte noch nicht hier sein, da sie den kürzesten Weg eingeschlagen hatten, und so lauschten sie aufmerksam auf sein Kommen.

Da ertönte vom Hofe her ein lautes Krachen, welchem ein Schreckensruf folgte.

„Rasch, Emil!“ rief der Polizist. „Er ist in den alten Brunnen gestürzt, welchen ich heute dort an der Mauer bemerkt habe. Der Wirt hat eine Reparatur daran vornehmen lassen und die Oeffnung jedenfalls nur leicht verdeckt.“

Als sie an der Stelle ankamen, wollten sie eben über die Mauer steigen, als sie bemerkten, daß der Wirt mit einigen seiner Gäste herbeieilte, welche das Krachen und den Schrei vernommen hatten.

„Bleib hier! Die dürfen nicht wissen, daß wir ihn verfolgen und er also geflohen ist.“

„Du hast recht. Er muß im Auge eines jeden anderen der Baron Säumen bleiben, um unserer Frauen willen. Die da drüben sind Mannes genug, um das Notwendige zu thun.“

Über den Zaun springend, kehrten sie durch die Straße in das Haus zurück, wo die Damen ihrer voller Angst warteten und sie um Aufklärung baten.

„Nachher, liebe Tante; denn ich sehe, daß die Verschwiegenheit jetzt zu Ende gehen muß. Für diesen Augenblick aber werden wir in Anspruch genommen sein. Ich höre jemanden kommen, jedenfalls ist es der Wirt.“

Wirklich trat der Genannte ein und meldete nach einer Bitte um Entschuldigung und Fassung, daß dem Herrn Baron von Säumen ein großes Unglück passiert sei.

„Er schien große Eile zu haben und hörte meine Warnung gar nicht, die ich ihm in betreff des Brunnens nachrief. Leider ist diese nur zu begründet gewesen, denn —“

„Ich ahne, um was es sich handelt. Wir werden sofort unten sein. Lassen Sie schnell einen Arzt kommen!“ schnitt ihm Winter die Rede ab. Der Arme war so voller Angst, daß ihm dicke Schweißtropfen auf der Stirn standen und er die Worte mehr stotterte, als sprach. Er zog sich eilig zurück.

„Mein Gott, so sprecht doch!“ rief die Baronin.

„Lies hier dieses Blatt, Tante, während wir hinunter spazieren. Es wird Dir alles sagen, und was Dir noch unverständlich ist, kann Wanda Dir während unserer Abwesenheit erklären.“

„Ich bin nicht schuld!“ rief ihnen der Wirt bei ihrer Ankunft entgegen. „Ich habe ihn gewarnt, und nun ist er jedenfalls tot. Der Brunnen war fast bis oben voll Wasser, welches durch unreinen Zufluß so ungenießbar geworden war, daß wir lange Zeit gar nicht davon geschöpft haben.“

„Ich habe ihn, ich habe ihn!“ rief plötzlich die Stimme des Hausknechtes, welcher mit einer Stange das Wasser sondierte. „Der ist tot! Laternen her und dort die Feuerhaken von der Wand!“ — —

Einige Stunden waren vergangen. Der Ertrunkene lag im Hospital und hatte durch seinen Tod alle Schwierigkeiten gelöst, welche die letzte Zeit entwickelt hatte. Während alles die Baronin und ihre Tochter in tiefer Betrübnis wähnte, unterhielt -

unterhielt sich die erstere mit dem Polizisten, während letztere an der Seite Emils am Fenster lehnte und Worte der Liebe und des Glückes wechselte.

„So hat sich alles zur Zufriedenheit gestaltet, und selbst der Jude erhält sein Geld zurück, welches sich noch in der Brieftasche des Toten vorfand!“

„Und Du quittierst also den Polizeidienst?“

„Gern, Tantchen, wenn ich bei Dir bleiben darf. Ich habe in dieser Angelegenheit so wenig polizeilichen Takt bewiesen, daß ich endlich einsehe, wie wenig ich für diesen Beruf geschaffen bin.“

Am Fenster wurden weniger geschäftliche Dinge besprochen. Es war die Rede von Lieblingsliedern, und Wanda behauptete, das schönste Lied, welches sie kenne, habe einst ein angehender Schmiedelehrling auf einen gewissen Wildfang im Walde gedichtet und sei von einem Essenkehrer einer unartigen Baronesse vorgesungen worden. Emil gab sich alle erdenkliche Mühe, dieses Lied zu erraten, als unten vor dem Hause ein leises Getrappel hörbar wurde und dann eine tiefe Baßstimme herauf rief:

„Offgepaßt da oben; itzt geht’s los!“

Dann folgte nach einer kleinen Pause in vollen, reinen Männerstimmen jenes prächtige:

„Ich will Dich auf den Händen tragen Und Dir mein ganzes Leben weih’n. Ich will in Deinen Erdentagen

Dir stets ein treuer Engel sein!“

Und als Emil das Fenster öffnete, um sich für das Ständchen zu bedanken, ertönte dieselbe Baßstimme:

„Hab ich’s alleweil getroffen, Alter, von wegen der Verlobung?“

„Ich will’s nicht bestreiten, Anton.“

„Hab mir’s gedacht, obgleich’s een anderer nich zuwege gebracht hätte. Een Essenkehrer und ’ne Baronin! Bist mein’ Seel’ een ganzer Kerl; weshalb, das brauche ich ooch itzt nicht erst zu sagen. Offgepaßt ihr Leute! Fife Lamperör unser Vorsteher zum ersten Male, zum zweeten Male und zum dritten Male! Das Faß von mir is leer; morgen bist Du an der Reihe. Gute Nacht, Emil, altes Haus! — —