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Die falschen Excellenzen.

Humoreske von Karl May.

Wer von Euch hat die ambulante Schauspielertruppe Uhlewald gekannt? Keiner? Das ist schade! Denn da könnt Ihr auch nicht wissen, was für einen Knall es in Limberg gab, als es auf einmal hieß: „Uhlewald kommt!“

Das war ein gar lustiges Chörchen, die Truppe Uhlewald, und der Lustigste von Allen war der Herr Direktor selbst, welcher, was leider nicht gar zu häufig vorkommen soll, sich der liebevollsten Anhänglichkeit von Seite der ihm anvertrauten Künstlerseelen erfreute. Und das hatte seinen guten Grund, denn er pflegte sein väterliches Thun nach zwei Wahlsprüchen, zu richten, mit denen die Seinen vollständig einverstanden sein konnten. Der erste lautete: Lieber selbst hungern, als meine Leute auf Moneten warten lassen, und der zweite hieß: Fehlt mir’s, so haben’s die Philister. Das half wirthschaften und war auch gar nicht gefährlich, denn er hatte eine ganz eigene Art und Weise, mit den Manichäern zu verkehren, und wußte sie dermaßen aus der Vogelperspective zu behandeln, daß sie es für eine Ehre hielten, den bekannten Platz hinter der Feueresse als Wechselformular benutzen zu dürfen.

Also „Uhlewald kommt!“ hieß es in Limburg [Limberg], und er kam auch. Aber nicht etwa auf einem alten, wackeligen Rheumatismuskarren sondern mit drei vollen, zweispännigen „Fudern“, von denen die beiden ersten die todten Requisiten enthielten, während der dritte Wagen so voll lebender und lebendiger Personagen gepfropft war, daß sie auf allen vier Seiten herauszuquellen drohten.

Der dicke Prinzipal mit dem runden, klugen und dabei äußerst gutmüthigen Gesichte saß vorn neben dem Kutscher und hielt fleißigen Ausguck nach dem Orte, welcher berufen mar [war], der Kunst für die Zeit von einigen Wochen als Tempel zu dienen.

„Halt! Brrrr, Gevatter!“ commandirte er, als sie den Gasthof zu den „drei Schwanen“ erreicht hatten, wo die beiden andern Wagen schon hielten: „Hier ist der Schimmel alle, und ’rrrraus aus der Arche mit Euch buntem Volke!“

Er stieg zuerst aus dem unsichern Vehikel herab auf die feste, zuverlässige Erdenkruste und steuerte dann ohne Aufenthalt dem Gastzimmer zu, wo er diejenige Individualität zu treffen hoffte, welche es unbegreiflicher Weise versäumt hatte, ihn und seine Auserwählten willkommen zu heißen.

Im Flur stieß er auf einen jungen Mann, welcher eilig aus dem Hofe herbeizukommen schien.

„Ah, das ist ja der Anton! Grüß Gott, Herzensjunge; da sind wir, Gott sei Dank, wieder in Limberg! Wie geht es und wo steckt der Herr Papa?“

Der Angeredete war der Sohn des Wirthes, ein hochgewachsener, stämmiger Gesell, dem man es auf den ersten Blick anmerken mußte, daß er aus einer wackeren und wohlvermögenden Familie stammen müsse. Er reichte dem Angekommenen mit freundlichem Lächeln die Hand.

„Willkommen, Herr Director! Danke! Wie man es treibt, so geht es, und es wird sich ja wohl noch treiben lassen! Vater ist ausgegangen, wird aber bald wieder da sein.“

„Treiben lassen? Mein Sohn, das klingt ja ganz nach irgend einem Räthsel!“

„Möglich! Es ist bei uns nicht Alles mehr so in Ordnung wie bei Ihrem letzten Hiersein! Sie werden das bald merken. Wir leben gegenwärtig auf kriegerischem Fuße und haben alle Tage irgend ein Gewitter auszuhalten. Eben jetzt ist Vater wieder beim Advocaten und ich bin überzeugt, daß es wieder Blitz und Donner gibt, wenn er nach Hause kommt!

„So, so, hm, hm! Ich sehe schon, da fehlt der Uhlewald, um dem Schwanenwirth wieder einmal den Kopf zurecht zu setzen. Du mußt mir die Sache noch näher erklären; zuvörderst aber will ich einmal hereingehen, um mich bei der Frau Mutter sehen zu lassen.“

Er trat in die Stube, wo ihn die anwesende Wirthin ebenso wie die gegenwärtigen Gäste freudig begrüßten. Er stand in Folge seines zweiten Grundsatzes noch im lebhaften Andenken bei ihnen, und seine Rückkehr schien also gar wohl geeignet, alte, längst aufgegebene Hoffnungen wieder zu beleben. Es dauerte gar nicht lange, so saßen die munteren Kinder der Bühne bei fröhlicher Unterhaltung im Kreise der ehrsamen Spießbürger und die Fuhrleute hatten ihre liebe Noth, den Inhalt ihrer hochbepackten Frachtwagen loszuwerden. Erst auf ein halb zorniges, halb lachendes Machtgebot Uhlewald’s fanden sich bereite Hände, die Requisiten an Ort und Stelle zu bringen, und als dies geschehen war, versammelte er das Häuflein zu einer Conferenz, in welcher er ihnen seine Feldzugspläne zu entwickeln beabsichtigte.

„So so, hm hm!“ meinte er, mit einem liebevollen Blicke die Reihe überfliegend, in welcher „kein theures Haupt“ fehlte. „Wollen uns doch einmal überlegen, wie wir uns hier in Limberg einzurichten haben! Das, meine Kinder, ist nothwendig, weil beim letztenmale Manches von uns

hier hängen geblieben ist, was uns’re guten Freunde eigentlich hätten vergessen sollen. Da ist zunächst Franke, der Schwanenwirth, eine alte, gute Haut, aber er will „gestreichelt“ sein. Dem sind wir noch Alles schuldig, was — — — —“

Er wurde unterbrochen. Derjenige, von welchem soeben die Rede war, erschien unter der Thür, eine Anzahl von Papierzetteln in der Hand und fuhr ohne große Umstände mitten unter die Versammelten hinein.

„Guten Tag, Herr Director! Gut, daß Sie gleich Alle beisammen sind, denn ich habe für Jeden etwas mitgebracht!“

„Danke, Schwanenwirth!“ antwortete Uhlewald mit einem herablassend vertraulichen Kopfnicken und ohne sich vom Stuhle zu erheben. „Etwas mitgebracht? Für Jeden? Hm hm, so so, da sehe ich doch, daß wir Euch lieb und werth sind? Aber Ihr habt Euch doch nicht etwa unsertwegen in allzugroße Ausgaben gesteckt?“

„Nein, nein, das ist mir gar nicht eingefallen! Sie denken wohl gar, ich rede von Geschenken? Da wäre ich schön dumm, das ist doch faktisch! Nein, im Gegentheile, ich habe unsere alten Rechnungen hervorgesucht und will sie Ihnen hiermit zur nochmaligen Durchsicht präsentiren.“

„Schön, mein lieber Gasthof, daß Ihr Euch die Papiere so sorgfältig aufgehoben habt; Ordnung muß sein. Aber das Präsentiren ist bei uns nicht nothwendig, da wir die Notizen ja gar nicht durchzusehen brauchen. Wenn Ihr uns die Versicherung gebt, daß Alles gehörig notirt ist, so hegen wir gar keinen Zweifel, daß es auch so ist. Ihr wißt ja, daß Ihr Vertrauen und Credit bei uns besitzt!“

Der Wirth sah dem Sprecher einigermaßen verblüfft in das Gesicht.

„Ja, so meine ich es nicht, das ist doch faktisch! Ich bringe die Rechnungen nicht etwa, daß sie bloß geprüft, sondern daß sie endlich einmal

berichtigt werden sollen. Ich habe zwei volle Jahre gewartet und denke, daß ich nun zu dem Meinen kommen werde.“

„So so, hm hm, Ihr habt mich falsch verstanden! Glaubt Ihr etwa, daß wir gewohnt sind, einem jeden beliebigen Wirthe unsere Rechnungen in Verwahrung zu geben? Ich dächte, Ihr wäret der Mann dazu, noble Gesinnungen zu begreifen! Und dann werdet Ihr die Hochachtung und das Zutrauen, welche wir Euch bewiesen haben, auch zu würdigen wissen.“

„Ach was nobel! Was hilft mir das Nobeln, wenn sich der Beutel dabei schlecht steht! Ich will Ihnen einmal im Einzelnen verlesen, was ich Alles zu fordern habe. Es sind schlechte Zeiten, und g’rad mir geht es am Allerschlechtesten. Ich brauche Geld und wenn ich kein’s bekomme, so halte ich mich an die Effecten. Ich hätte schon damals so viel zurückbehalten sollen, als nöthig war, meine Auslagen zu decken; das ist doch faktisch!“

„Ach so, hm hm! Geld wollt Ihr haben?“ frug erstaunt der Director. „Wenn Ihr weiter nichts verlangt! Da könnt Ihr Euch das einzelne Verlesen ersparen. Sagt, was Ihr im Ganzen bekommt!“

Er griff mit überlegenem Lächeln in die Tasche seines Rockes und zog eine alte, rothlederne Brieftasche hervor, in welcher sich außer einigen vollgeschriebenen Notizblättern nichts befand, als höchstens ein paar Briefcouverts und Visitenkarten, das wußten seine Untergebenen alle. Dabei hatte er sich erhoben und war an das Fenster getreten.

„Wahrhaftig, es ist gerade noch Zeit! So so, hm hm, Schmidt“, meinte er zum Souffleur, welcher der Thür am nächsten stand, „springen Sie doch einmal hinunter zu den Fuhrleuten. Sie sollen warten; wir laden wieder auf!“

„Wiederaufladen?“ frug der Wirth, „warum denn?“

„Weil wir nicht in den „drei Schwanen“, sondern im „römischen Kaiser“ spielen werden. Die Wagen sind einmal da, und so werden wir unsere Sachen doch nicht etwa huckepack durch die Stadt schaffen!“

„Im römischen Kaiser? Ist das faktisch? Hier der erste Liebhaber ist doch vor acht Tagen in Ihrem Auftrage bei mir gewesen und hat mit mir abgeschlossen, daß Sie Ihre Vorstellungen in meinem Saale geben! Sie können ja gar nicht zurücktreten!“

„Warum denn nicht?“

„Weil das gegen unser Uebereinkommen wäre. Der Kaiserwirth würde ein schönes Gaudium haben, wenn er die Einnahmen, die das Theater mit sich bringt, so mir nichts, dir nichts zugeschwenkt bekäme, und ich, ich wäre blamirt für lange Zeiten!“

„Hm hm, so so! Also Ihr gebt zu, daß Ihr Profit von uns habt? Das ist aufrichtig und rechtschaffen von Euch, Franke, und bringt Euch in meiner Achtung um ein Beträchtliches wieder in die Höhe. Aber in dem Kaiser werden wir trotzdem spielen, da ich es nicht nothwendig habe, Beleidigungen zu dulden, die nicht nur gegen mich allein, sondern gegen jedes einzelne Glied meiner Gesellschaft ebenso gerichtet sind. Man kennt uns, achtet uns und heißt uns überall willkommen. Oder glaubt Ihr etwa, daß irgend Jemand auftreten könnte, der es hätte wagen dürfen, mich oder Einen von den Meinigen um elendes Geld zu mahnen? Und was das Zurücktreten betrifft, Schwanenwirth, so sind wir damit in [im] vollen Rechte. Ihr seid ein kluger und belesener Mann und kennt das Gesetzbuch besser als mancher Advocat. Daher wißt Ihr ebensogut wie ich, was es zu bedeuten hat, daß Ihr uns hier in pleno corpore et pluralis als Eure Schuldner ausschreit. Man darf Niemanden in Gegenwart eines Andern mahnen, ja, es ist sogar verboten, Jemandem per Postkarte eine Erinnerung zu geben -

geben und Ihr tretet zu uns zwölf Personen herein und setzt jede einzelne derselben in den Augen der andern auf das Beleidigendste herab! Das ist nicht nur unedel und rücksichtslos, nein, das ist eine zwölffache Injurie, die man gerichtlich verfolgen lassen sollte! Wir spielen beim Kaiserwirth. Sagt, was wir Euch in Summa zu berichtigen haben!“

„Eine zwölffache Injurie? Ja, mein bester Herr Director, so war das nicht gemeint, das ist doch factisch! Ich dachte, weil Sie einander kennen, so wäre es — — —“

„Ja grad, weil wir einander kennen, ist die Beleidigung doppelt groß, denn in Gegenwart eines Unbekannten kann so etwas natürlich weniger Schaden bringen. Und Ihr habt Eure Mahnung nicht blos in Worten ausgesprochen, sondern auch durch das Vorzeigen der Rechnungen bewerkstelligt, also durch eine vollendete That. In Folge dessen ist die Injurie nicht blos verbal, sondern sogar zu gleicher Zeit auch real. Ihr seid fast ein ebenso guter Lateiner wie ich, und werdet wissen, was das für zwei gefährliche Criminal-Ausdrücke sind! — Was habe ich zu bezahlen?!“

„Aber, Herr Director, so lassen Sie doch nur mit sich reden! Ich stecke schon jetzt in einer Amtsgeschichte, die mir den Kopf warm macht; ich war vorhin beim Advocaten und habe alle Hoffnung, den Proceß zu verlieren und die riesigen Kosten bezahlen zu müssen, und da kommen nun auch noch Sie mit einer zwölffachen Injurie, die nicht nur re-, sondern auch verbal ist, das macht also eine vierundzwanzigfache Klage! Wer soll denn das aushalten? Stecken Sie doch nur Ihre Brieftasche wieder ein! Ich habe gar kein Geld gewollt, sondern Ihnen nur zeigen wollen, daß meine Buchführung in Ordnung ist. Sie sind mir ja so sicher wie nur irgend Einer, das ist doch factisch!“

„So so, hm hm! Das kann ein Jeder: Erst blamiren und dann lamentiren. Ich habe viel auf Euch gehalten, Franke, und überall, wohin ich nur gekommen bin, von dem Schwanenwirth in Limberg erzählt; darum thut mir’s leid, daß ich Euch verkannt habe. Wir spielen im Kaiser; also gebt endlich einmal die Summe an, damit wir wieder fort können!“

Er öffnete die Brieftasche und zog einige abgerissene Blätter hervor, mit denen er, zum Aufzählen bereit, sich dem Tische näherte. Der Wirth schob ihn zurück.

„Ich sage Ihnen, Herr Director, lassen Sie das heut’! Jetzt bin ich der Beleidigte, denn Sie halten mich für einen Menschen, der solche Gäste, wie Sie sind, nicht zu schätzen und zu behandeln weiß. Es ist wirklich factisch, daß ich Sie nicht habe mahnen wollen, und wenn ich nicht ernstlich bös werden soll, so stecken Sie Ihre Cassenscheine nur immer wieder ein! Sie haben ja für die ersten Tage so viel Ausgaben, daß es g’radezu unverständig von mir wäre, Ihre Casse zu schwächen.“

„Na, was die Casse anbelangt, so wäre sie einem solchen Unverstande jedenfalls gewachsen, und Euer Bössein könnte uns wohl nicht viel Schaden bringen. Aber — hm hm, so so, ich war Euch stets gewogen und es sollte mich dauern, wenn das nicht so bleiben könnte. Ihr mögt es also für eine ganz besondere Freundschaft und Nachgiebigkeit ansehen, daß ich Eure Bitte erfülle. Ich meine, daß hier diese guten Leute ebenso, wie ich, nicht weiter an die vierundzwanzigfältige Injurie denken wollen, und damit einverstanden sind, daß ich nicht am Ende gar noch gewaltsam auf die Annahme der Bezahlung dringe. Und als Beweis uns’rer bereitwilligen Verzeihung mag der Entschluß dienen, vom „römischen Kaiser“ abzusehen und, wie es allerdings ausgemacht war, hier bei

Euch zu spielen. Seid Ihr so zufrieden?“

„Vollständig, Herr Director!“

Der Genannte schob die Papiere mit huldvoller Miene in die Tasche zurück, und meinte dann:

„Was ist denn das für ein Proceß, an dem Ihr laborirt?“

„Ja, zu welcher Sorte von Processen er gehört, das weiß ich eigentlich selbst nicht. Als ich die „drei Schwanen“ von dem Bismarck kaufte, da — — —“

„Von dem Bismarck?“

„Ja, aber nicht von dem echten. Der frühere Wirth, Werner heißt der Kerl, war früher der eingefleischteste Socialdemokrat, den es nur gab. Er hatte Bebeln, Mosten, Mottelern und wie sie alle heißen, unten in der Stube hängen, und keine andern Gäste als Demokraten und rothe Republikaner. Er mußte verkaufen und zog nach Ebersbach, wo er den Gasthof pachtete. Dort ist er in den Armenvorstand gewählt worden, und seit er das Aemtchen hat, thut er dicke und hat sich unter die National-Liberalen gemacht oder wie sie heißen, die auf ihrem Dorfe grad so tanzen, wie in Berlin gepfiffen wird. Jetzt hängen in seiner Gaststube Bismarck und Moltke und der Kaiser und wer weiß, was sonst noch für große Geister und Potentaten; er hat sich Bismarckbücher gekauft, weiß von Niemanden, als von Bismarcken, redet von nichts, als von Bismarcken, und hat sogar seiner Frau ein bismarkfarbiges Kleid als Weihnachtsgeschenk gegeben, was doch schon viele Jahre nicht mehr in der Mode ist. Auf seinem Pfeifenkopf hat er Bismarcken, am Stocke hat er Bismarcken, am Regenschirm hat er Bismarcken, kurz und gut, überall hat er Bismarcken oder Moltken, und als sie letzthin den zwei einzigen Gassen, die Ebersbach aufzuweisen hat, Namen geben wollten, hat er vorgeschlagen, sie Bismarckstraße und Moltkestraße zu heißen. Daher heißt ihn kein Mensch

mehr Werner, sondern Bismarck. Der Kerl ist nicht recht bei Troste, das ist factisch!“

„So so, hm hm! Hat er denn mit Eurem Processe etwas zu schaffen?“

„Freilich! Er ist ja der Hauptmatador dabei! Nämlich, als ich die „drei Schwanen“ von ihm kaufte, da — da — na, wissen Sie, Herr Director, er war bankrott und wollte nicht gern um die paar Pfennige kommen, die er noch hatte. Da habe ich ihm den Gasthof abgekauft und ihm nachher zuweilen, je nachdem ich es zusammenbrachte, etwas hinaus nach Ebersbach getragen. Als es genug war, ist’s mit dem Zahlen abgewesen, wie sich’s von selbst versteht; da aber tritt der Mann auf und behauptet, daß ich ihm Geld schuldig bin. Ich habe es nicht zugegeben, und darauf geht er vor Gericht und verklagt mich. Ich habe mich geweigert, den Eid zu leisten, weil — na, das ist Nebensache, und so hat sich der Proceß fast zwei Jahre hingezogen. Uebermorgen nun ist Vergleichstermin oder Entscheidungstermin oder wie sie es nennen, und ich wäre da wohl zu meinem Rechte gekommen; plötzlich aber spricht der Werner — und das habe ich heut’ erst gehört — daß er meine Unterschrift endlich gefunden habe, die er so lange gesucht hat, und da, da ist der Proceß verloren, das ist factisch!“

„Ihr seid zwei Spitzbuben, Einer wie der Andere! Wißt Ihr das, Schwanenwirth? Und das Richtigste wäre, wenn Ihr alle Beide tüchtig bezahlen müßtet! Diese Unterschrift kann Euch und auch dem Bismarck viel zu schaffen machen. Sieht er das denn nicht ein?“

„Er hat gemeint, ihm sei jetzt Alles egal; einen Advocaten hat er nicht, weil er sich selbst für klug genug hält, und der meinige schüttelt den Kopf dazu. Und an dem Unheile sind Sie auch mit Schuld, Herr Director!“

„Ich? hm hm, so so! In wiefern denn ich?“

„Wegen Ihren Liebesgeschichten. In jedem Stücke, welches Sie vor zwei Jahren hier bei mir gaben, waren Zwei in einander verliebt, manchmal auch Vier, und einmal gar Sechs. Dadurch haben Sie meinen Jungen, den Anton, ganz verdreht gemacht und er ist auf die dumme Idee gekommen, daß er auch eine Liebste haben müsse. Das wäre nun freilich nicht gar so sehr schlimm gewesen, denn er ist am Ende schon alt genug dazu; aber daß er grad auf dem Bismarck seine Lisbeth kommen muß, das kann mir nicht passen!“

„Ach, so so, hm hm! Also darum lebt man hier auf kriegerischem Fuße, und darum gibt es täglich ein Gewitter!“

„Hat er es Ihnen schon erzählt! Er soll mich nur nicht in die Wolle bringen, sonst halte ich mein Wort, welches ich ihm gegeben habe!“

„Was für ein’s denn, wenn man fragen darf?“

„Wenn er nicht von dem Mädchen läßt, so muß er aus dem Hause. Ich mag von der Ebersbacher Gesellschaft nichts wissen! Und nun gar den Bismarck, der mich verklagt hat und der den Proceß gewinnt, als Schwager; ich führe vor Aerger aus der Haut, das ist factisch!“

„Hm! Das, von wegen aus dem Hause jagen, Schwanenwirth, das überlegt Euch ja erst richtig! Der Anton ist ein folgsamer und guter Junge; aber er hat da, wo es gilt, seinen Kopf auch für sich. Er wird wohl meinen, daß die Lisbeth für ihn paßt, und daß die Kinder mit der Feindschaft der Eltern nichts zu thun haben. Ich kenne das Mädchen nicht; ist sie denn so unrecht?“

„Ach nein! Man kann ihr nichts nachreden; sie ist hübsch und arbeitsam und häuslich, geht stets nett und sauber, und man könnte fast Respect vor ihr haben, wenn der Bismarck

mich nicht verklagt hätte und nun auch den Proceß gewänne.“

„So vergleicht Euch doch im Guten!“

„Herr Director, es ist doch factisch, daß dies nicht geht. Der Werner gibt nicht nach, weil er gewinnt, und ich kann nicht nachgeben, wenn ich auch wollte, weil ich verliere.“

„So so, hm hm! Würdet Ihr denn nachgeben, wenn Ihr am Gewinnen wäret? Seid einmal aufrichtig!“

„Ich —? Das weiß ich nicht. Möglich wäre es, denn — nun ja, der Streit hat mir viel Sorge gemacht, und man wird seines Lebens gar nicht mehr froh. Dazu kommt die Angst von wegen der Unterschrift, denn durch sie wird doch unser damaliger Handel verkehrt. Wir hatten gar nichts Böses im Sinne; ich kam in den Gasthof, und er behielt so viel, daß er sich in Ebersbach einrichten konnte. Seine alten Schulden hat er nach und nach abgezahlt, und so könnte wohl Keiner auftreten, der Schaden von uns gehabt hätte; es ist also nur wegen der Reputation, Herr Director. Ich wollte sonst ’was geben, wenn die Sache zur Ruhe käme!“

„Gibt es denn keine Möglichkeit für Euch, doch noch zu gewinnen?“

„Nein, gar keine, wie mir vorhin der Advocat zu verstehen gab, wenn der Bismarck nicht etwa den Termin versäumt; denn, wer nicht kommt, der hat verloren, das ist factisch.“

„Für welche Zeit ist er anberaumt?“

„Für übermorgen, Vormittags zehn Uhr, hier in Limberg.“

„So so — — — hm hm!“

Uhlewald machte ein ganz eigenthümliches Gesicht. Die Seinen kannten diese Miene; sie pflegte dann sich über sein rundes, schalkiges Gesicht zu legen, wenn irgend ein launiges Project ihm durch den Kopf gefahren war.

„Wissen Sie vielleicht eine Hilfe, Herr Director?“ frug der Wirth, welcher diesen Ausdruck in den Zügen seines Gastes bemerkte.

„Hilfe? Warum nicht? Mühe wird es freilich kosten, und Gefahr ist vielleicht für mich auch dabei! Aber sagt, Franke, was gebt Ihr, wenn Ihr den Proceß gewinnt?“

„Was ich gebe? Hier diese Papiere stecke ich sofort in den Ofen, das ist factisch, und bei der kommenden Rechnung werde ich mich außerdem noch dankbar zeigen.“

„Gut! Angenommen! Aber ich mache zwei Bedingungen.“

„Welche?“

„Erstens: Ihr laßt dem Anton seine Liesbeth!“

„Herr Director — —!“

„Wenn Ihr nicht wollt, so mag die Sache bleiben. Ich habe es gut gemeint!“

„Nennen Sie mir Ihr Mittel; vielleicht kann ich es auch fertig bringen!“

„Nein! So etwas kann nur Unsereiner ausführen, und dazu habt Ihr kein Geschick, Schwanenwirth, obgleich Ihr sonst ein anstelliger Kopf seid.“

„Geht es denn wirklich nicht ohne die Lisbeth?“

„Ist denn auch der Bismarck gegen diese Liebschaft?“

„Freilich, noch mehr als ich; das ist factisch!“

„So, so, hm, hm, und doch wird es nicht ohne sie gehen! Ihr müßt in einen sauern Apfel beißen, Franke!“

„Nun, so mag es denn meinetwegen sein, wenn es wirklich so nothwendig ist. Es ist auch ’was werth, wenn man gewinnt.“

„Schön! Zweitens: Ihr tragt die Gerichtskosten!“

„Fällt mir gar nicht ein! Wenn ich gewinne, ist es ganz von selbst nicht nöthig.“

„Gut; so verliert den Proceß!“

„Sie sind heut’ ganz außerordentlich kurz, Herr Director. Es wäre doch

geradezu lächerlich, die Kosten zu bezahlen, wenn ich ihn gewinne.“

„Und es ist ebenso lächerlich, ihn nicht zu gewinnen, weil Ihr die Kosten nicht bezahlen wollt, denn dann seit [seid] Ihr dazu gezwungen und habt obendrein die Forderung Eures Gegners zu berichtigen. Von allem Andern, was dabei zu bedenken wäre, will ich gar nicht sprechen.“

„Das ist wirklich eine ganz heillose Geschichte! Und trotzdem würde ich mich fügen, wenn ich nur gewiß wüßte, ob ich auch wirklich gewinne.“

„Ihr habt es mir ja nur für diesen Fall zu versprechen, und wenn ich mein Wort nicht halte, so seid Ihr von dem Euren auch entbunden.“

„Da mag es sein! Also ich nehme die Kosten auf mich und der Anton mag sein Mädchen haben.“

„So ist’s! Abgemacht! Schlagt ein, Schwanenwirth! Schriftlich will ich es nicht von Euch verlangen, denn ich kenne Euch als einen Mann, der stets sein Wort hält, und überdies stehen mir hier ja eilf Zeugen zu Gebote!“

Während Franke mit erleichtertem Herzen das Zimmer verließ, wandte sich der Director fröhlich zu den Seinen:

„So so, hm hm! Kinder, ich bin mit mir zufrieden, und Ihr könnt es auch sein. Aber macht mir doch ’mal ein wenig Platz!“

Er wand sich zwischen ihnen hindurch und trat zum Spiegel. Dort unterwarf er seine Züge einer sorgfältigen Betrachtung, schnitt zur Verwunderung der Zuschauer eine Reihe der verschiedensten Gesichter und that endlich gar etwas, was Alle für vollständig unmöglich gehalten hätten: er nahm sich sorgsam die Perrücke vom Kopfe und gab den neugierigen Blicken eine bisher, wenn auch nicht mit allgemeinem Erfolge, verheimlichte Tonsur Preis, welche, vollständig glatt und nackt, nur grad über der Stirn einige wenige Härlein zeigte. Nachdem er auch sie sehr aufmerksam in Augenschein genommen hatte, wandte er

sich wieder zurück und richtete sein Auge prüfend auf den Souffleur.

„Treten Sie einmal näher, Schmidt!“

Der Gerufene folgte dem Wunsche. Er war ein langer, hagerer, dabei aber kräftiger und breitschultriger Mann, der in passender Gewandung keine ganz üble Figur bilden mußte.

„So so, hm hm! Das könnte gehen! Die Gestalt paßt, das Gesicht paßt auch, bleich, ohne Bart, ein wenig faltig — hm! Wollen Sie einmal den General-Feldmarschall Grafen von Moltke geben, Schmidt?“

„Ich — —?“ frug der Souffleur erstaunt. „Sie scherzen wohl, Herr Director!“

„Es ist mein vollständiger Ernst, Männchen! Zwar habe ich Sie nie zu irgend einer Rolle gebrauchen können, obgleich Sie Schnick und Schnack genug im Kopfe führen, aber für meine jetzigen Zwecke werden Sie sich eignen. Also, wollen Sie?“

„Mit Vergnügen, wenn nämlich kein Gagenabzug dabei zu befürchten ist!“

„Ohne Sorge, mein Lieber! Sie treten in einem kleinen Privatstücke auf, welches wir außerhalb der Bühne geben; ich als Bismarck und Sie als Moltke. Ueber Ihre Rolle werde ich Sie heut’ noch instruiren. Jetzt aber, Kinder, wollen wir unser Geschäftliches wieder aufnehmen!“

„Das versteht Ihr nicht! Ich muß das besser wissen, denn ich habe die Bücher darüber. Wenn Ihr etwa meint, daß er vom Kriege nichts verstehe, so irrt Ihr Euch gewaltig. Er hat schon als Junge reiten können, trotz einem Hußaren-Lieutenant, und mit den Waffen umzugehen verstanden, wie nur irgend Einer. Sogar den Herkules, was doch ein Kerl ist, der einen Löwen gleich todtgequetscht hat, hat er in Schönhausen einmal mit der Vogelflinte von hinten angeschossen, und damals war er noch ein Schulbube. Als Student ist er der beste Fechter gewesen, den es gegeben

hat, und denkt Ihr vielleicht, daß ihn der Kaiser zum General gemacht haben würde, wenn er kein Geschick dazu hätte? Geht nur hinein in die Stube, wo er in seiner Cürassieruniform an der Wand hängt! Man sieht es ihm gleich an, daß er seine Sache versteht!“

Der Sprecher saß mit seinen Gästen vor dem Hause. Die jungen Bursche schoben Kegel, und die älteren Männer hatten sich um die alte, weitästige Linde versammelt, um zu politisiren. Natürlich war der Werner dabei der Hauptsprecher, und er konnte sich dieser seiner Lieblingsbeschäftigung auch ohne Sorge hingeben, denn die Lisbeth hatte helle Augen und flinke Beine, so daß Keiner lange auf den bestellten Trunk zu warten brauchte. Es dämmerte bereits, und das ist bekanntlich diejenige Zeit, in welcher es sich am gemüthlichsten plaudern läßt.

„Die Geschichte von dem Herkules habe ich auch gehört“, meinte Einer. „War denn der Kerl lebendig?“

„Nein, es war nur die Bildsäule, welche dort im Parke steht, aber es bleibt doch immer der Herkules, der sogar den Höllenhund einmal fast todtgeschlagen hat. Ich weiß das ganz genau, denn ich habe ein altes Buch darüber, worin es haarklar zu lesen ist. Es ist ganz gut, wenn man sich mit solchen gelehrten Dingen ein wenig befaßt, denn man kann in der Politik ein Wörtchen mitsprechen und braucht sich von Niemandem etwas vormalen zu lassen. Und auch in anderen Sachen bringt es großen Nutzen. Da habt Ihr zum Beispiel meinen Proceß mit dem Limberger Schwanenwirth. Ein Anderer hätte zum Advocaten laufen müssen; ich aber brauche keinen, denn ich verstehe mich auf die Gesetze ebenso gut wie ein Jurist; ich habe ein Buch darüber.“

„Wie steht es denn mit dem Streite?“

„Der ist so gut wie aus. Morgen früh um zehn Uhr haben wir Termin, und da werde ich die Schrift vorlegen,

in welcher mein Recht bewiesen ist. Sie war mir bei dem Umzuge abhanden gekommen, und erst vorgestern habe ich sie in der Nürnberger Bilderbibel wiedergefunden. Ich hätte wohl schon eher einmal in das alte Buch gucken können, aber man hat immer keine Zeit dazu, weil es noch ganz and’re Werke zu studiren gibt. Nun könnt Ihr Euch denken, was so ein Mann, wie Bismarck, zu arbeiten und zu lesen hat, wenn schon Unsereiner den ganzen Tag über den Büchern liegen muß. Und dazu kommen noch die Conferenzen und Vorträge und Besprechungen und Audienzen und Reisen. Jetzt ist er wieder einmal unterwegs, und zwar incognito, wie man sich ausdrückt, wenn so ein Herr einmal unerkannt bleiben will. Nach Ebersbach freilich dürfte er nicht kommen, denn ich würde sofort wissen, wer er ist; ich habe ihn ja viermal in der Stube hängen!“

„Wohin ist er denn gegangen?“

„Ja, das wird er Niemanden sagen, und es war also auch gar keine Bemerkung darüber gemacht. Habt Ihr denn das Limberger Tageblatt noch gar nicht gelesen?“

Er erhob sich und ging in das Gastzimmer, aus welchem er bald mit einem Zeitungsblatte in der Hand zurückkehrte. Er schlug dasselbe auseinander, und obgleich es schon stark dunkelte, bemühte er sich doch, die betreffende Stelle zu finden.

„Hier steht es: „Wie aus sicherer Quelle verlautet, hat sich in Folge des drohenden Krieges der Reichskanzler Fürst von Bismarck mit dem Grafen von Moltke incognito auf eine militärische Recognition begeben; über deren Ziel sich der Bericht allerdings in tiefes Schweigen hüllt.“ — Nun, glaubt Ihr jetzt, daß er von dem Kriege auch etwas versteht? Die beiden großen Männer wissen schon im voraus, wenn es losgeht und wo die Schlachten geschlagen werden. Das haben sie Anno Sechsundsechzig bewiesen, -

bewiesen, Siebzig und Einundsiebzig ebenso, und wenn es jetzt wegen der Türkei mit den Russen und Franzosen losgeht, so sind die Pläne alle schon im voraus fertig. Ich weiß das, denn ich habe die Bücher darüber.“

„Da wird es wohl wieder einmal Einquartierung geben, wenn wir auch den Kanonendonner hier nicht zu hören bekommen.“

„Ihr redet wie Ihr’s versteht, ich aber muß das besser wissen! Wir können doch unsere Armeen nicht spalten und die eine Hälfte nach Osten gegen die Russen und die andere Hälfte nach Westen gegen die Franzosen schicken, sondern wir müssen unsere Kräfte zusammenhalten und den Feind zu uns hereinkommen lassen; da kennt er sich nicht aus und wird total auf’s Haupt geschlagen. Es ist also gar nicht unmöglich, daß wir hier in unserer Gegend die Kanonen auch brummen hören. Ich will Euch einmal die ganze Politik deutlich auseinandersetzen; aber da müßt Ihr mit herein in die Stube kommen, denn hier kann man die Zeitungen nicht mehr erkennen!“

Er erhob sich, und die Anderen folgten seinem Beispiele. Sie hatten aber die Thür noch nicht erreicht, so blieben sie stehen. Eine vierspännige Kutsche kam im Galopp das Dorf herabgesaust und hielt vor dem Gasthofe. Während der Kutscher in vornehmer Ruhe sitzen blieb, sprang ein Bedienter vom Bocke und öffnete den Schlag. Ein Herr stieg aus. Es war eine hohe, militärisch stramme Gestalt mit einem etwas nach vorn gebeugten Kopfe. Die Beine staken in weit heraufgezogenen Reitstiefeln; den Körper umhüllte ein dunkler Civilüberrock, den Kopf aber bedeckte eine rothrandige Soldatenmütze. Nachdem er mit einem raschen Blicke die Umgebung gemustert hatte, winkte er mit der Hand zurück; der Wagen rollte wieder von dannen, er selbst jedoch schritt auf das Haus zu.

Als er an den neugierigen Gästen vorüberkam, zogen sie ehrerbietig ihre

Mützen und Hüte und wünschten einen „schönen guten Abend“. Er nickte leise mit dem Kopfe und trat in die Gaststube, wo er nach einer kurzen Umschau an dem hintersten Tische Platz nahm. Der Wirth, welcher ihm mit den Uebrigen gefolgt war, begrüßte ihn mit seiner besten Reverenz und fragte nach seinen Wünschen.

Statt einer hörbaren Antwort zeigte der Fremde auf eine der vollen Bierflaschen, welche am Buffete standen. Werner verstand diesen stummen Wunsch und holte das Verlangte nebst einem Glase herbei. Dabei fiel sein Auge auf das Bild, welches grad über dem Kopfe des schweigsamen Gastes hing und er war von der außerordentlichen Aehnlichkeit zwischen diesen Beiden so überrascht, daß er mitten im Gehen stehen blieb und die Flasche zu Boden fallen ließ. Der Unbekannte warf ihm einen scharfen, mißbilligenden Blick zu und hob wie warnend den Zeigefinger, an welchem mehrere gewiß sehr kostbare Ringe im Lichte der eben erst in Brand gesetzten Lampe blitzten. Werner hob die ganz gebliebene Thonflasche wieder vom Boden auf, entkorkte sie, schenkte ein und trat sodann mit einer Verbeugung zurück, welche so tief und ehrfurchtsvoll war, daß seine Stirn fast die Kante des Tisches berührte. Sodann trat er zu den Dorfleuten, welche inzwischen Platz genommen hatten und den Gast mit unverhohlener Wißbegierde betrachteten.

„Moltke!!!“

Nur dieses eine Wort raunte er ihnen zu, wobei er sich in Acht nahm, daß diese indiscrete Bemerkung am hintern Tische nicht gehört werde, aber sofort fuhren alle Köpfe in die Höhe und aller Augen suchten eilig nach dem Bilde, um dasselbe mit dem berühmten Originale zu vergleichen. Die Aehnlichkeit mußte nichts zu wünschen übrig lassen, denn die Köpfe senkten sich wieder und wurden mit so bedeutungsvollen Blicken zusammengesteckt, daß der Fremde gewiß aufmerksam geworden

wäre, wenn ihn nicht etwas Anderes beschäftigt hätte. Er hatte nämlich den Ueberrock geöffnet und eine Anzahl Landkarten aus der Tasche gezogen, sie vor sich ausgebreitet und war nun in das Studium derselben so versenkt, daß er von der ihm gewidmeten Theilnahme nicht das mindeste bemerkte. Ebenso schien es ihm zu entgehen, daß ihm zwischen dem geöffneten Rocke eine Reihe blanker Knöpfe hervorfunkelte und ein reich betreßter Uniformkragen sichtbar wurde. Ohne nur ein einzigesmal von den Karten aufzublicken, war er eifrig beschäftigt, Notizen einzutragen, und wenn er ja einmal zum Glase griff, so war es nur, um die Lippen kurz zu netzen.

„Der große Schweiger!!!“ flüsterte der Wirth, der sich zu den Andern niedergelassen hatte. „Gar kein Zweifel! Das hätte der Redacteur von dem Limberger Tagblatte wissen sollen!“

Die Andern nickten zustimmend. Es war in dem Raume wie in einer Kirche; eine heilige Scheu hatte Alle erfaßt, und Keiner wagte, ein lautes Wort zu sprechen. Da ertönte ein leises Klopfen; der Wirth schnellte in die Höhe und trat in devoter Haltung zu dem durchschauten Feldmarschall.

Dieser näherte, ohne den Kopf von der Arbeit zu erheben, Daumen und Zeigefinger der linken Hand den bezeichnend gespitzten Lippen. Der kluge Wirth hatte ihn sofort verstanden, sprang nach einem in der Ecke befindlichen Brette und langte die werthvollste seiner Cigarrenkisten von demselben herab. Als er sie dem hohen Herrn präsentirte, stand dieser schon im Begriffe hineinzugreifen, zog aber die Hand wieder zurück und winkte gebieterisch nach der Thür. Es hatte sich das Rollen eines Wagens auf der Straße vernehmen lassen.

Werner stellte die Cigarren auf den Tisch und eilte hinaus. Wieder erblickte er eine vierspännige Carrosse, und wieder stieg ein Herr aus, welcher auf die Thür zugeschritten kam, während der Wagen davonsauste.

„Das ist der Ebersbacher Gasthof?“ frug der Ankömmling mit einer Stimme, welcher man die Gewohnheit des Befehlens deutlich anhörte.

„Aufzuwarten, mein Herr!“

„Sind Sie der Wirth?“

„Ich habe die Ehre!“

„So heißen Sie Werner?“

„Wenn Sie erlauben!“

„Ist ein fremder Herr hier angekommen?“

„Vor kurzer Zeit. Er befindet sich in der Stube, wenn es Ihnen beliebt, einzutreten!“

Er riß die Thür so weit wie möglich auf.

„Bitte, bemühen sich der Herr hier herein! Da hinten an — — —“

Die angefangene Rede blieb ihm vor seligem Schreck im Munde stecken, denn er hatte im hellen Schein der Lampe einen Mann erkannt, dem es in Ebersbach ganz unmöglich war, incognito zu bleiben. Es trug derselbe auch einen Civilüberrock, auch seine Beine staken in einem Paar weit heraufgezogener Reitstiefel, auch seinen Kopf bedeckte eine buntrandige Soldatenmütze, und auch er besaß eine geradezu bewundernswerthe Aehnlichkeit, nämlich mit den vier Bildnissen des Reichskanzlers, welche an den Wänden hingen. Und wenn ja noch ein Zweifel möglich gewesen wäre, so mußte derselbe augenblicklich schwinden, als der Eingetretene sein Haupt entblößte, um den vorher Angekommenen zu begrüßen; die obere Seite des Kopfes war kahl und zeigte über der Stirn jene weltgeschichtlichen drei Haare, an welchen das Herz eines jeden braven Deutschen mit rührender Pietät zu hängen hat.

Er nahm ohne weitere Umstände Platz, öffnete einige Knöpfe seines Rockes, streckte die Beine gemüthlich aus und griff in die Cigarrenkiste. Als es ihm mit Hilfe Werner’s gelungen war, eine Probe des zweifelhaften Krautes in das Glimmen zu bringen, meinte er, den Rauch mit Wohlbehagen von sich blasend:

„Alle Wetter, Herr Feldmarsch — — wollte sagen Herr Kamerad, die Cigarre ist nicht schlecht! Habe diesem Ebersbach gar nichts so Exquisites zugetraut und glaube, daß selbst in Varzin kein solches Deckblatt gezogen werden kann. Stecken Sie sich Eine an!“

Der Andere kam diesem Rathe schweigend nach; dann vertieften sich Beide in die Karten und gaben sich dabei ihre Meinungen in einer Sprache kund, von welcher keiner der Anwesenden ein Wort verstand. Das währte eine Zeitlang, bis endlich ihre Ansichten einmal auseinander zu gehen schienen. Das Ebenbild des Bismarckportraits sprach sehr eindringlich und wurde sogar etwas hitzig; sein Gegenüber blieb ruhig, schüttelte mißbilligend den Kopf und machte, die Worte sparend, eine sehr bedenkliche Miene.

„Ach, was gibt es denn da zu zweifeln, Excell — — Herr College,“ rief wieder deutsch der Hitzige. „Hier sind ja Leute, bei denen wir uns erkundigen können! Wirth!“

Im nächsten Augenblicke stand der Gerufene vor ihm.

„Nicht wahr, Sie kennen uns nicht?“

„Wenn die Herren es so befehlen, nein!“ antwortete Werner mit einem sehr pfiffigen Gesichte.

„Gut, so werden Sie auch keine störenden Folgerungen aus unseren Fragen ziehen. Wissen Sie, was man unter einem coupirten Terrain versteht?“

„Ja, das weiß ich ganz genau, denn ich habe die Bücher darüber.“

„Ist die Gegend zwischen Limberg und Ebersbach coupirt?“

„Ja, denn sie steht auf jeder Landkarte; aber wer sie coupirt hat, das kann ich hier den Augenblick nicht sagen.“

„Thut auch nichts zur Sache,“ bemerkte mit einem belustigenden Lächeln der Frager. Wir wollen einmal den Fall setzen, die Russen stünden in Limberg und die Deutschen hier in Ebersbach; ließe sich da wohl mit der Cavallerie ein tüchtiger Choc ausführen? Sie sind ein kluger Mann, das weiß

ich, und ich habe meine Gründe, Sie zu fragen.“

Der Wirth warf einen sehr selbstbewußten Blick auf die am vordern Tische Sitzenden und meinte dann:

„O, auf solche Fragen verstehe ich schon zu antworten, denn ich habe die Bücher darüber! Freilich wird es gehen; ganz gut wird es gehen, denn Platz ist genug da. Ein Schock Cavallerie! Das sind sechzig Mann, ohne die viere, die man gewöhnlich obendrein bekommt; aber Sie können zwanzigtausend Mann hier ausführen oder aufführen oder anführen, ganz wie es Ihnen beliebt.“

„Gut,“ wandte sich der Dreihaarige an seinen Kameraden, „so schlagen wir sie mit der Reiterei!“

Der Angeredete zuckte mit der Achsel und warf dabei einen mitleidigen Blick auf die ohrenspitzenden Bauern.

„Sie meinen, Herr Feldmar — — Herr Kamerad, daß die Felder dabei schlecht wegkommen werden? Ja, das bringt der Krieg einmal mit sich, und ich sehe gar nicht ein, warum wir die Hauptschlacht in eine andere Gegend verlegen sollen!“

„Könnte man denn nicht einen Artillerieangriff machen?“ frug Werner, dem es unter den Nägeln brannte, seine Weisheit an den Mann zu bringen. „Da fliegen die Kugeln über die Felder weg und man braucht auch nicht so viel Menschen daran zu setzen.“

Bei dieser Erinnerung sprang der Schweigsame auf und starrte mit unaussprechlicher Verwunderung den Rathgeber an. Dann that er etwas, was bisher noch nicht geschehen war; er redete mit dem Wirthe:

„Das ist richtig! Das ist brillant! Daran habe nicht einmal ich gedacht! Sagen Sie, haben Sie Strategie studirt?“

„So ein bischen!“ meinte Werner ganz überglücklich. „Ich muß mich wohl darauf verstehen, den ich habe die Bücher darüber!“

„Das hätte ich eher wissen sollen! Vielleicht hätte ich dann meinen Plan ganz anders entworfen; er paßt mir

weder rechts noch links, weder hinten noch vorn!“

„Schadet nichts!“ tröstete der Andere, indem er sich mit sorgloser Miene den Schnurbart drehte. „Wir machen morgen Früh noch einmal die Runde. Bei so wichtigen Dingen darf es auf einen halben Tag nicht ankommen. Hören Sie, Werner, Sie werden uns begleiten müssen; wir brauchen Ihren Rath!“

„Ich stehe ganz und gar zu Befehl!“ versicherte der Wirth mit einem Gesichte, aus welchem der helle Triumph leuchtete. Er dachte an nichts weiter als an die ungeheure Ehre, welche ihm widerfuhr und an die ebenso außerordentliche Anerkennung, welche ihm zu Theil wurde. Und das geschah in Gegenwart seiner Nachbarn und Bekannten! Er hätte vor Entzücken die Stube zum Fenster hinauswerfen können.

„Aber wo halten wir da heut’ unser Nachtquartier? Wir hatten ganz andere Dispositionen getroffen.“

„Wo? Bei mir, meine Herren, bei mir!“ fiel der glückliche Mann schnell ein. „Ich bin kein reicher Mann und habe auch keine Einrichtung, wie Sie es gewohnt sind; aber ich werde mir trotzdem Mühe geben, Sie zufrieden zu stellen!“

„Das ist annehmbar. Wie steht es, Herr Kamerad? Wollen wir — —?“

Der Gefragte gab seine Zustimmung durch ein vertrauensvolles Nicken zu erkennen.

„Abgemacht! Also zwei Zimmer und ein gutes Abendbrod! Dann wird geschlafen, und morgen Früh Punkt Fünf geht es nochmals auf Recognition!“

Damit war die Losung zu einer wirthschaftlichen Revolution gegeben, durch welche die Befähigung des weiblichen Hauspersonales in ein glänzendes Licht gestellt wurde, denn schon nach verhältnißmäßig kurzer Zeit meldete Werner:

„Die Zimmer sind bereit! Wollen die gnädigen Herrschaften sich herauf bemühen?“

Er verschwand mit den beiden Fremden, und nun waren die Zungen der Zurückgebliebenen auf einmal gelöst. Daß man Bismarck und Moltke vor sich gehabt habe, darüber gab es nicht den leisesten Zweifel, und daß die Russen hereinkommen würden und zwischen Limberg und Ebersbach geschlagen werden sollten, das war ebenso sicher. Und daß der Werner einen anstelligen Kopf habe, das wußte man, daß er aber so ganz ungemein gescheidt sei, davon hatte man erst heut’ den Beweis gesehen. Von wegen dem Kanonenangriffe hatte er den großen Moltke ja erst auf den richtigen Gedanken gebracht, und dieser wollte nun gar seinen Plan aufgeben, um mit dem Wirthe einen neuen zu entwerfen! Das war doch erstaunlich!

„Wer weiß, was Alles noch aus dem Werner werden kann!“ rief Einer.

„Der bleibt nicht hier in Ebersbach; das ist nun sicher!“

„Ja, den büßen wir ein. Er hat doch recht: es ist gut, wenn man sich zuweilen ein wenig mit den Büchern abgibt. Bei mir ist es nun freilich schon zu spät, aber meine Jungens, die müssen von heut’ an ganz gehörig lesen lernen!“

„Und ich halte mir von jetzt an so viel Zeitungen, wie es im deutschen Reiche gibt! Es ist kein Spaß, von solchen Männern um einen guten Rath gefragt zu werden.“

„Wie schnell so etwas eintreffen kann. Erst vorhin hat er da draußen vor dem Hause gesagt, daß die Russen und Franzosen herein nach Deutschland kommen müssen, und jetzt ist schon der Moltke da, und sieht sich die Gegend an, wo sie todtgeschossen werden! Ich muß nur gleich nach Hause springen und es meiner Alten erzählen!“

Dieses letzte Wort fuhr wie eine platzende Bombe unter die Gesellschaft hinein. Alle sprangen auf, denn Jeder hatte es nothwendig, die große Neuigkeit so weit wie möglich zu verbreiten, und nach wenigen Augenblicken war die Stube leer, freilich nur auf kurze Zeit, denn die Kunde, daß Bismarck und Moltke im Gasthofe abgestiegen seien und morgen Früh mit dem Wirthe einen Schlachtplan zeichnen würden, ging wie ein Lauffeuer im Dorfe herum, und bald konnte der Raum die Gäste gar nicht fassen, welche sich herbeidrängten, um mit dem Auge vielleicht einen der berühmten Rockzipfel zu erwischen.

(Schluß folgt.)

Die falschen Excellenzen.

Humoreske von Karl May.

(Schluß.)

Es wurde natürlich ganz gehörig politisirt, und die Begeisterung, welche unter der zahlreichen Versammlung herrschte, erhielt nur durch die Gewißheit, daß es hier in der Nähe zum Kampfe kommen werde, einen Dämpfer. Die Klagen darüber flogen hin und her, und schon begann man den Schaden zu berechnen, welchen die Gemeinde und jeder Einzelne dabei haben könnte, als einer auf einen höchst glücklichen Gedanken kam.

„Hört, Ihr Leute, ich will Euch einmal etwas sagen!“ rief er unter die Debattirenden hinein. „Es ist noch nicht Alles verloren, und wenn wir uns hinter den Werner stecken, so kann die Sache eine ganz andere Wendung nehmen.

„Wieso denn?“

„Na, das ist doch sehr einfach: Er geht morgen früh mit den beiden Herren hinaus auf’s Feld und soll ihnen da seinen Rath geben. Da muß er nun behaupten, daß eine Schlacht hier bei uns gar nicht gewonnen werden kann, und wenn er seine Sache gut macht, so suchen sie sich eine andere Gegend aus.“

„Das ist richtig, das müssen wir ihm sagen!“ ertönte es im Kreise.

„Und hört Ihr, dabei können wir den Langenbergern endlich einmal Eins auswischen, die unserer Gemeinde immer in den Haaren liegen!“

„Jawohl, jawohl! Die Schlacht muß bei Langenberg geschlagen werden!“

„Schreit doch nicht so fürchterlich!“ mahnte der Wirth, welcher eben jetzt eintrat. „Die Herrschaften haben gegessen und wollen nun schlafen gehen. Was habt Ihr denn mit den Langenbergern?“

„Komm, Werner, setze Dich einmal her! Du sollst uns einen großen Gefallen thun!“

„Was denn für einen?“

„Wir mögen hier von der Schlacht nichts wissen, weil uns dabei Alles zu Grunde gehen wird!“

„Zu Grunde gehen? Ihr redet wie Ihrs versteht, ich aber muß das besser wissen! Der Schaden, welchen wir für den ersten Augenblick haben werden, hat ganz und gar nichts zu bedeuten. Unsereiner weiß ja Alles schon im voraus, und so will ich Euch sagen, wie es wird: Von rechts kommen die Franzosen herüber und werden geschlagen; von links kommen die Russen herein und werden geschlagen; die Franzosen zahlen fünf Milliarden, und die Russen zahlen fünf Milliarden und von diesen zehn Milliarden bekommt ein Jeder von uns so viel, als er Vergütung ansetzt. Der Bismarck und der Moltke haben bei mir gewohnt, und wenn ich nun gar noch den Plan mit fertig mache, so werden sie schon dafür sorgen, daß wir nicht schlecht wegkommen. Bei zehn Milliarden kommt es auf ein paar Tausend Mark mehr oder weniger nicht an; ich werde ihnen das morgen schon zu verstehen geben!“

„Das ist Alles ganz gut, aber es gibt dabei noch Mehrerlei zu bedenken. Wenn die Turkos und Zuaven kommen und dann noch die Kosaken und Mongolen, dann ist ja das Kind im Mutterleibe nicht sicher. Man hat gehört, wie es zugegangen ist, und Du hast doch auch Weib und Kind, Werner!“

„Ja, das ist wahr; von dieser Seite habe ich mir die Sache noch gar nicht angesehen!“

„Und das wäre doch eigentlich so ein richtiges Meisterstück von Dir, wenn Du den großthuigen Langenbergern die Schlacht zuschwenken könntest mit Allem, was d’rum und d’ran hängt. Denen könnten ein paar Hundert Turkos und Mongolen gar nichts schaden! Und wir würden es Dir ganz gewiß großen Dank wissen!“

„Das läßt sich hören! Und den Langenbergern bin ich ja auch nicht grün. Aber ich will mir die Sache doch erst einmal richtig überlegen. Eine Schlacht hat auch ihr Gutes, besonders für einen Gasthof. Der Ort wird berühmt, und noch nach vielen Jahren kommen die Fremden herbeigelaufen, um sich die Gegend anzusehen.“

Dieses Argument kam den Absichten der Andern nicht willkommen. Es erhob sich ein lebhaftes Hin- und Wiedersprechen, und man drang mit Bitten und Vorstellungen so lange in den Wirth, bis er seine Zustimmung gab.

„Nun gut, Ihr sollt Eueren Willen haben: die Schlacht kommt nach Langenberg. Aber Ihr dürft bei Leibe vor der Zeit nichts ausplaudern!“

„Das versteht sich ganz von selbst. Was gesprochen worden ist, das haben wir unter uns geredet. Und fertig bringen wirst Du’s wohl auch; Du bist ja der Mann dazu!“

„Habt nur da keine Sorge! Ich werde die beiden Herren so sachte von hinten herumkriegen, daß sie gar nichts merken. Gründe werde ich mehr als genug finden; ich verstehe mich ja auf den Krieg, denn ich habe meine Bücher dar­über!“ —

Es war schon ziemlich spät, als der Letzte der Gäste das Haus verließ und Werner mit den Seinen sich zur Ruhe begeben konnte. Der Abend war ein sehr lebhafter für ihn gewesen, und die Aufregung hielt noch lange Zeit den Schlaf von seinen Augen fern. Doch war er wohl nicht die einzige Person, welche munter blieb. Auch Lisbeth war auf ihr Stübchen

gegangen, doch nur auf eine kurze Dauer, denn als sie annehmen zu können glaubte, daß sie Niemandem mehr begegnen werde, schlich sie sich hinunter und trat durch die leise geöffnete Thür hinaus in das Freie.

An demselben Tische, an welchem der Wirth heut seine politische und kriegerische Weisheit offenbart hatte, saß Einer, welcher sich jetzt erhob, auf das Mädchen zutrat und sie ohne alle Einleitung beim Kopfe nahm und recht herzlich küßte.

„Guten Abend, Lischen. Hast mich heut doch recht lang warten lassen.“

„Sei nicht bös darüber, Anton; ich kann nicht dafür! Wir haben zwei Gäste bekommen, zwei Gäste, sag ich Dir, die Du in Deinem ganzen Leben nicht errathen würdest!“

„Das ist möglich, denn in der Welt gibt es so viele Leute, daß ich sie nicht alle kennen kann. Und noch weniger kann ich wissen, wer von ihnen grad heut Abend bei Euch eingekehrt ist. War es denn wirklich so etwas Außergewöhnliches?“

„Ganz und gar. Der Vater ist vor Freude und Seligkeit geradezu aus dem Häuschen. Denke Dir nur, er hat heut mit keinem einzigen Worte von Euerem Proceß gesprochen. Das ist doch viel!“

„So, vor Freud’ und Seligkeit gradezu aus dem Häuschen? Ist denn etwa der Kaiser dagewesen oder gar der Bismarck?“

„Wahrhaftig“, staunte sie, „Du hast es errathen! Oder hast Du schon davon gehört?“

„Keine Sylbe! Ich habe seit zehn Uhr dort am Zaune gestanden und auf Dich gewartet. Ich darf mich hier doch gar nicht sehen lassen; wie kann ich also mit irgend Jemandem verkehrt haben! Aber das mit dem Errathen ist natürlich nur Dein Spaß!“

„Spaß? Nein, es ist mein vollständiger Ernst. Der Bismarck und der Moltke sind da und bleiben bei uns über Nacht.“

„Papperlappapp!“

„Natürlich! Da droben in den beiden Stuben schlafen sie!“

„Papperlappapp!“

„Sie wollen unsere Gegend aufnehmen, weil hier die Russen und Franzosen geschlagen werden!“

„Papperlappapp!“

„Und der Vater soll ihnen helfen, den Plan zu machen. Er geht mit ihnen hinaus und führt sie überall herum!“

„Papperlappapp!“

„Ach laß doch nur Dein Papperlappapp! Ich werde Dir doch nichts weiß machen! Sie sind gegen Abend gekommen, jeder in einer vierspännigen Karrosse, erst der Moltke und dann der Bismarck!“

„So! haben sie Euch denn ihre Geburtszeugnisse und Taufscheine vorgezeigt?“

„Nein. Solche Herren kann man natürlich gar nicht nach dem Passe fragen; aber wir haben sie gleich erkannt, weil wir die Bilder haben.“

„Also wirklich? da ist es doch wahr, was heute im Blatte gestanden hat!“ meinte er. Hätte sie mehr auf den Ton seiner Stimme geachtet, so wäre sie vielleicht auf den Gedanken gekommen, daß er von den beiden hohen Gästen mehr wisse als er sich merken lassen wollte. „Der Redakteur war gestern bei uns zu Biere und hat die Neuigkeit von dem Uhlewald erfahren, der sie in einer Berliner Zeitung gelesen hat.“

„Uhlewald? Ist das der Theaterdirector, der mit seiner Gesellschaft vor zwei Jahren bei Euch spielte?“

„Ja; er ist jetzt wieder da. Kennst Du ihn?“

„Nein. Es ist von hier zu weit nach Limberg, um Abends in das Theater zu gehen. Aber ich möchte gern wieder einmal so etwas sehen!“

„Das kannst Du haben. Er weiß, daß Du meine Geliebte bist und hat mir für Dich so viele Freibillets versprochen, als Du nur immer haben willst. Du sollst sie Dir morgen holen,

wenn Du nach Limberg zu Markte kommst.“

„Die können mir nichts nutzen, denn wenn es auch nicht so weit wäre, ich dürfte doch nicht gehen!“

„Warum nicht?“

„Nun, Du denkst wohl gar nicht an den Proceß!“

„O doch; aber der Uhlewald ist ein gewaltig kluger Kopf, der schon Manches fertig gebracht hat, was keinem Anderen gelungen wäre. Er behauptet, daß die Feindschaft ein Ende hat, wenn Du morgen, oder vielmehr heut, denn es ist schon Zwölf vorüber, zu ihm in die „drei Schwanen“ kommst. Willst Du, Lisbeth?“

„Ach, das sagt er nur so, weil er mich vielleicht gern einmal sehen will. Mein Vater würde zwar nichts davon erfahren, wenn ich einmal zu Dir käme, aber der Deinige, der jagte mich doch gleich wieder zur Thür hinaus!“

„Was das betrifft, so wollen wir es erst einmal versuchen. Du kommst doch wie gewöhnlich zum Wochenmarkte?“

„Ja.“

„Gut, so werde ich Dich treffen, und das Uebrige wird sich finden. Der Zank und Aerger muß endlich ein Ende nehmen, sonst gehe ich aus dem Hause!“

Er legte den Arm liebevoll um das hübsche Mädchen und zog es näher an sich. Sie hatten sich so viel zu sagen, und dabei verging die Zeit so schnell, daß Lisbeth fast erschrak, als es auf dem Dorfkirchthurme drei Uhr schlug. Sie stand auf.

„So spät schon! Jetzt muß ich schlafen gehen, denn um vier Uhr weckt mich Vater wieder auf.“

„So bleibst Du lieber gleich wach. Die eine Stunde Schlaf nützt Dir nun auch nicht viel. Wir gehen hinein in die Stube; da kannst Du immer schon dafür sorgen, daß der Kaffee zur rechter [rechten] Zeit fertig ist, und ich, nun, ich trinke auch eine Tasse.“

„Aber wenn der Vater es merkt?“

„Sobald der oben lebendig wird, reiße ich aus.“

„So komm mit. Ich verschließe die Hausthür nicht wieder und riegle auch die Hofthür auf, damit Du zu allen Seiten hinauskommst, wenn er unvermuthet kommen sollte.“

Sie schlichen sich in das Innere des Hauses. Während das Mädchen sich mit den nöthigen Vorsichtsmaßregeln und sodann in der Küche zu thun machte, ging Anton in die Stube und trat an die alte Wanduhr, welche durch die Stille ihr einförmiges Tiktak hören ließ. Sich leise und schnell einen Stuhl herbeiziehend, stellte er sich auf denselben und drehte den Zeiger um über eine Stunde zurück. Damit hatte er seine heutige Aufgabe gelöst und suchte nun mit unbefangener Miene das Mädchen wieder auf.

Dieses wunderte sich allerdings einigermaßen, als es später die Differenz bemerkte, Anton aber wußte sie schnell zu beruhigen.

„Es hat dreimal geschlagen. Das ist dreiviertel auf Zwei gewesen, aber nicht drei Uhr. Wir haben uns geirrt. Hier sieh an meine Uhr! Es stimmt!“ —

Werner war so lange wach geblieben, daß er zur festgesetzten Stunde noch nicht wieder munter war. Als er herabkam, fiel sein erster Blick auf das Zifferblatt.

„Ein Viertel Fünf! Sapperlot, da hätte ich es bald verschlafen, und es ist gut, daß Du schon da bist. Mache schnell den Kaffee fertig. Die Mutter wird auch gleich kommen, und dann müssen wir die Herren wecken!“

So geschah es. Der Tag war schon längst angebrochen; die Knechte zogen mit ihren Gespannen, neugierige Blicke herüber werfend, auf die Felder, und ihre Herren dispensirten sie von den Früharbeiten, um dem Ausmarsche der drei Kriegsgelehrten beiwohnen zu können. Aber als der Erste von ihnen durch die Thür trat, kam ihm Werner mit zurückweisender Miene entgegen.

„Hört, heut Morgen müßt Ihr mir die Herrschaften in Ruhe lassen. Was müssen sie von mir denken, wenn

ich es zugebe, daß sie hier wie in einer Menagerie angeguckt und beobachtet werden! Kommt heut Abend wieder; da sollt Ihr jedes Wort erfahren, was gesprochen worden ist!“

Dem Manne leuchtete das ein; er verließ das Haus. Aber draußen auf der Straße hatte ihm kein Mensch etwas zu sagen. Er steckte also die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich an den Zaun, um wenigstens von Weitem zu genießen, was ihm in der Nähe verwehrt worden war. Die Zeit sollte ihm dabei nicht lang werden, denn es kam nach und nach ein Nachbar nach dem andern gegangen, und als die Erwarteten endlich aus der Thür traten, erblickten sie eine dichtgedrängte Volksmenge, welche nur deshalb bei dem Erscheinen der beiden berühmten Leute nicht in laute Zurufe ausbrachen, weil die Herren ja nicht erkannt sein wollten. Diese aber bogen schnell in einen der Seitenpfade ein und waren bald den Augen der Nachblickenden entschwunden.

„Habt Ihr sie gesehen? Was die für Augen machen, und für Beine! Man sieht es solchen Leuten doch gleich an, daß sie was Großes sind. So ein Gesicht und so einen Gang brächte Keiner von uns fertig!“

„Warum denn nicht? Beim Werner zum Beispiel fehlte gar nicht viel. Er machte ja eine noch viel vornehmere Miene als die beiden Andern!“

„Ja, der! Bei dem steckt’s drin. Der weiß schon, was für ein Gesicht man aufstecken muß, wenn man in solcher Gesellschaft ist, denn er hat ja die Bücher darüber!“

„Und wie er uns zublinzelte! Der ist schlau, und ich möchte dabei sein und mit zuhören, wie fein er sie herumkriegt wegen den Langenbergern!“

„Ja! Es ist nur schade, daß wir das Alles erst heut’ Abend erfahren. Wißt Ihr was?“

„Nun?“

„Ich gehe nach Limberg. Dort können wir schon um Zehn hören,

was ausgemacht worden ist, denn er muß ja zum Termine dort sein!“

„Das ist wahr, und den versäumt er nicht! Sie sind zwar über eine Stunde später fortgegangen, als vorherbestimmt war, aber vier Stunden sind eine lange Zeit; da können sie recht gut fertig sein. Ich gehe mit!“

„Ich auch!“ meinte ein Dritter. „Es ist heut Wochenmarkt, und da kann man sich leicht einen Behelf machen. Er muß bei den drei Schwanen vorbei, wenn er auf das Amt geht, und sobald er fertig ist, lauern wir ihn ab.“

Die Richtigkeit dieser Ansicht leuchtete Allen ein. Es fanden sich mehr und mehr unter den Anwesenden, welchen es plötzlich einfiel, daß sie ein Nothwendiges in der Stadt zu verrichten hätten, und wer einige Zeit später auf die Limberger Chaussee gegangen wäre, der hätte ganz sicher die Beobachtung gemacht, daß diese Straße heut’ eine außerordentlich belebte sei.

Als Franke die ersten Ebersbacher bei sich eintreten sah, hieß er sie herzlicher noch als sonst willkommen. Er befand sich in einer außerordentlichen Spannung. Uhlewald hatte ihm aus naheliegenden Gründen von seinem Plane nichts mitgetheilt, sondern nur Anton in’s Vertrauen gezogen. Dieser hatte gestern am späten Nachmittage die Füchse vor die Kutsche gespannt; darauf war der Director mit Schmidt und dem Zettelträger, welcher verschiedene Packete bei sich geführt hatte, eingestiegen, und dann war es fortgegangen, wohin, das wußte der Schwannenwirth nicht, obgleich er es sich denken konnte. Noch spät am Abend hatte er von einem Gaste, welcher Lohnkutscher war, gehört, daß Anton sich bei ihm für kurze Zeit zwei eingeschirrte Pferde geliehen und zur bestimmten Stunde auch wieder zurückgebracht habe. Er suchte zu errathen, was die vier Männer eigentlich vorgehabt hatten, aber es wollte dabei gar nichts Rechtes herauskommen. Vielleicht konnte er jetzt von den Ebersbachern etwas erfahren.

„Wie geht’s da draußen bei Euch?“ frug er, indem er sie bediente.

„Denke, gut, wenn man das Schlechte nicht rechnet!“

„So ist’s wohl überall! Und leider erfährt man jetzt mehr Schlechtes als Gutes. Das Geschäft stockt, das Geld fehlt, die Wirthshäuser stehen leer, und nur die Zeitungen machen gute Geschäfte. Nach ihnen greift man schon am frühen Morgen, um zu sehen, ob es endlich nun bald losgehen wird.“

„Um das zu wissen, braucht man keine Zeitung. Los geht’s, das ist sicher!“

„Das fragt sich. Wo anders wollt Ihr so etwas erfahren, als in den Blättern!“

„In Ebersbach brauchen wir Eure Blätter nicht. Diesmal wissen wir Alles ganz genau, noch viel, viel besser, als sie es in Berlin wissen!“

„Da hat es Euch wohl der Bismarck geschrieben?“

„Nein, geschrieben nicht!“

„Ach ja, Ihr habt ja einen Bismarck draußen; da wäre das Schreiben ja eine Thorheit!“

„Ihr meint den Werner? Hört, Ihr Beide seid zwei dicke Feinde miteinander; aber, Schwanenwirth, den Werner macht Ihr uns nicht schlecht, denn das ist ein Kerl, der Haare auf den Zähnen hat, darauf könnt Ihr Euch verlassen!“

„So? Na, da seid froh, daß Ihr ihn habt!“

„Ja, das sind wir auch, denn wenn wir ihn nicht hätten, so stände es mit uns vielleicht nicht zum Allerbesten, wenn nächstens die Russen und Franzosen hier in die Gegend kommen.“

„Ihr seid wohl nicht recht klug? Die Russen und Franzosen hier in unsere Gegend?“

„Wer von uns Beiden nicht recht klug ist, das wird sich finden! Wir aber wissen, daß wir bald die Zuaven und Turkos sammt den Kosaken und Baschkiren hier zu sehen bekommen.

Freilich, woher wir es erfahren haben, das ist unsere Sache.“

Werner hatte zwar gestern Abend verboten, von dem Geschehenen zu sprechen, aber welcher Ebersbacher hätte unter solchen Verhältnissen zu schweigen vermocht! Die braven Bauersleute waren in die politischen Geheimnisse tiefer eingeweiht als das hohe Ministerium sammt dem Reichstage und allen Prinzen und Prinzessinnen des kaiserlichen Hauses, und hier zu schweigen, das wäre nicht nur Thorheit, sondern geradezu die größte Sünde gegen die eigene Ehre und Ambition gewesen. Franke kannte also die großen Ereignisse des gestrigen Abends und heutigen Tages bald ebenso gut wie die Ebersbacher selbst, und nun war ihm auf einmal Alles klar. Aeußerlich zwar mußte er seine Ruhe bewahren, aber innerlich war er voller Freude und Jubel, denn wie er seinen Gegner kannte, so war ein Besuch Bismarcks allerdings das einzige und richtige Mittel, ihn vom Termine abzuhalten, und die Angst vor der gefürchteten Stunde minderte sich mit jeder Minute, welche sie näher rückte.

Endlich war sie da. Franke griff nach der Mütze und ging. Das Zimmer hatte sich mit Gästen gefüllt, von denen nur sehr Wenige nicht aus Ebersbach waren, und man belagerte förmlich die Fenster, denn jetzt mußte auch Werner kommen, und ein einziger Blick genügte ja, zu sehen, ob ihm sein Vorhaben gelungen sei.

Es schlug zehn. Der Erwartete kam nicht. Es schlug ein Viertel und sogar halb, er war noch nicht da. Eine Stunde grad mußte auf ihn gewartet werden, so viel Frist gestattete ihm das Gesetz, war er aber um elf noch nicht erschienen, so hatte er den Proceß verloren. Er mußte also bis dahin noch kommen.

Da fuhren jetzt plötzlich alle Köpfe an das Fenster und wandten sich dann nach der Thür. Werner war es nicht, nach dem man blickte, sondern Lisbeth,

seine Tochter, welche mit Anton eintrat. Sie erröthete verlegen, als sie die Augen von lauter Bekannten verwundert auf sich gerichtet sah, wurde aber von ihrem Begleiter sofort in die Küche geführt, wo er sie der Mutter übergab.

Das Erscheinen des Mädchens gab natürlich Veranlassung zu lebhaften Vermuthungen und zu Fragen, welche allerdings Niemand beantworten konnte, und so kehrte sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Es schlug Dreiviertel. Die Erwartung wurde immer gespannter, und es war fast, als ob der Proceß nicht bloß für Werner, sondern für jeden Einzelnen der Anwesenden auf dem Spiele stehe.

Da schlug es Elf. Noch eine kurze Zeit verging, und es kam Einer langsam die Straße herauf, dessen Gesicht von Freude und Genugthuung erglänzte. Und zu gleicher Zeit kam ein anderer die Gasse herab, aber nicht langsam, sondern erhitzt und eiligen Laufes, in dessen Mienen sich Angst und Aerger zugleich aussprachen. Ohne nur einen einzigen Blick auf die Fenster der „Drei Schwanen“ zu werfen, rannte er an dem Gasthofe und seinem Besitzer vorüber. Er kam zu spät; wer den Schwanenwirth ansah, der konnte gar nicht daran zweifeln.

Die Spannung, in welcher sich die Gäste befunden hatten, war jetzt gewichen. Sie befanden sich bei dem Gegner ihres Mitbürgers und hielten also ihre Gefühle mehr zurück, als es an einem andern Orte geschehen wäre. Die Fenster hatten das ihnen vorhin gewidmete Interesse verloren, denn Werner kam jedenfalls vor einer geraumen Weile nicht wieder zurück, und so wurde den drei Männern, welche jetzt draußen zu sehen waren, keine Aufmerksamkeit geschenkt, obgleich sie dieselbe wohl verdient hätten.

Zuerst kam einer, welcher allerlei Packete trug; es war der Theaterdiener und Zettelträger, und wenige Augenblicke, nachdem er unter dem Eingange zum Gasthofe verschwunden

war, bogen zwei andere um die Straßenecke, ein wohlbeleibter Mann mit einem vollen, gutmüthigen Gesichte und an seiner Seite eine lange, hagere Person, der man es schon am Habite anmerkte, daß des Lebens Glück nicht sonderlich gut auf sie zu sprechen sei. Es war der Herr Director Uhlewald mit seinem Souffleur. Sie kamen gemüthlich selbander dahergeschlendert, hielten vor dem Hause ein kleines Ständchen und traten dann in die Gaststube.

„Guten Morgen!“

Niemand antwortete, auch schien kein Platz mehr für sie übrig zu sein, aber der Dicke schob sich ohne Umstände zwischen zwei Ebersbachern auf die Bank hin und sorgte mit Hilfe der Ellbogen dafür, daß der Dünne neben ihm es sich auch einigermaßen bequem machen konnte.

„Wer sind denn diese Beiden? Die thun ja, als ob sie hier zu Hause seien!“

„Kenne sie nicht, habe sie auch niemals gesehen; es müssen vollständig Fremde sein!“

Franke hatte sich bis jetzt nicht wieder sehen lassen. Er saß droben in seiner Stube, die er verschlossen hatte, um die Freude über den gewonnenen Proceß zunächst vollständig ungestört und ungetrübt zu genießen. Ungetrübt? Es war doch, als käme zuweilen ein Gedanke geschlichen, welcher nicht recht zur gegenwärtigen Stimmung zu passen schien. War eine solche Freude streng genommen, nicht vielleicht Schadenfreude zu nennen? Auf welcher Seite hat eigentlich das meiste Recht gelegen? Und welchem Umstande war der Triumph über den Gegner zu verdanken?

Uhlewald hatte vollständig richtig geurtheilt, als er den Schwanenwirth eine „alte, gute Haut“ genannt hatte und der Letztere gehörte zu jenen Naturen, welche das Glück milder macht selbst gegen einen erklärten Feind. Er dachte an die leichte Art und Weise, wie er in den Besitz des Gasthofes gekommen war, an die

Sorgen der letzten zwei Jahre, an den einzigen Sohn, über den er nie eine begründete Klage auszusprechen gehabt hatte, an die Tochter Werners und an diesen selbst, welcher in diesem Augenblicke sicher wie niedergeschmettert vor dem Actuar stand und — —

Er dachte nicht weiter, sondern er erhob sich vom Stuhle und ging, mit einem Entschlusse ringend, im Zimmer auf und ab. Da klopfte es an die Thür.

„Franke, Schwanenwirth, macht doch einmal auf!“

Er öffnete. Es war der Director, welcher eintrat.

„So so! hm hm! Da hat man sich geplagt, damit der Mann da den Proceß gewinnen soll, und nun es gelungen ist, versteckt er sich und schließt sich gar noch ein, um weder „guten Morgen“ noch „hab Dank“ sagen zu müssen. Was ist mir denn das für ein Brauch!“

„Hören Sie, Herr Director, Sie beurtheilen mich wieder einmal falsch; das ist factisch! Der „gute Morgen“ kann Ihnen nicht viel nützen, und was den Dank betrifft, so passen Sie einmal auf!“

Er trat zum Secretär und nahm aus einem Kästchen die Papiere, welche er gestern präsentirt hatte. Sodann setzte er ein Streichholz in Brand, hielt die Rechnungen über die Flamme und schob sie in den Ofen.

„Sind sie nun zufrieden?“

Was diesen Punkt betrifft, ja. Hier habt Ihr meine Hand; ich muß Euch Dank sagen. Aber was das Andere be­trifft — —“

„Das lassen Sie mir selbst über! Ich war soeben bei einem Gedanken, den ich auch ausführen würde, wenn der Werner Verstand haben wollte.“

„So so, hm hm! Darf man ihn erfahren?“

„Warum denn nicht! Ich wollte ihn hereinrufen, wenn er vom Gerichte kommt und mit ihm und dem Anton hinausfahren nach Ebersbach zur Lisbeth.“

„Bravo, Franke; Ihr seid ein Ehrenmann! Aber Ihr könnt Euch den Weg ersparen, denn die Lisbeth ist unten in Eurer Küche. Ich traute Euch nicht so recht und wollte Euch deshalb überrumpeln.“

„Ist sie da? Nun, dann fehlt blos der Werner noch! muß aufpassen, wenn — —“ er war zum Fenster getreten und unterbrach, hinausblickend, seine Rede. „Da kommt er! Er muß herauf; das ist factisch!“

Er ließ den lächelnden Uhlewald stehen und eilte hinab. Werner stand grad in dem Begriffe, gesenkten Hauptes am Eingange vorüberzuschreiten, als er am Arme gefaßt wurde. Er hielt den Schritt an, erhob den Kopf und konnte vor Erstaunen keine Worte finden, als er den Schwanenwirth mit freundlicher Miene vor sich stehen sah. Schnell jedoch verwandelte sich sein Staunen in den gewohnten Grimm, und den Arm frei machend, frug er:

„Was solls? Was hast Du noch mit mir zu schaffen?“

„Komm doch einmal mit herein zu mir! Ich habe mit Dir zu reden.“

„Du mit mir? Ich in Dein Haus? In die „Drei Schwanen“? Niemals! Das wär nicht geschehen, wenn ich gewonnen hätte, und nun erst recht nicht!“

Franke ergriff seinen Arm wieder und hielt ihn fest.

„Ich will Dich nicht beleidigen, Werner, sondern ich meine es gut mit Dir; das ist factisch! Komm mit herein, und Du wirst es nicht bereuen.“

„Niemals! Ich hab’s gesagt und dabei bleibt es!“

„Und doch mußt Du mit; ich thu’s nicht anders. Und wenn Du nicht meinetwegen mitgehst, so thue es doch wenigstens dem Anton und der Lisbeth zu Gefallen!“

Die Unterredung zwischen den beiden Feinden war im Zimmer bemerkt worden, und die Neugierde trieb die anwesenden Ebersbacher herbei.

„Denen?“ antwortete Werner. „Denen erst recht nicht; Ich will dafür schon sorgen, daß Du sie nicht wieder zusammen zu nennen brauchst. Meine Tochter hat nicht nöthig, mit Deinem Jungen zu liebäugeln!“

„Dann denke an die Kosten, die Du bezahlen mußt. Ich will mich ja, ganz abgesehen von dem heutigen Termine, im Guten mit Dir vergleichen!“

„Ich brauche Deinen Vergleich nicht. Die Kosten bezahle ich nicht, sondern ich werfe die ganze Geschichte um und fange den Streit wieder von Neuem an; daß Du es nur weißt! Und dieses mal werde ich gewinnen, denn ich habe Deine Handschrift. Und wenn Du denkst, daß ich es nicht durchsetzen werde, so irrst Du Dich. Ich weiß es schon hinaus zu führen, denn ich habe die Bücher darüber, und außerdem gibt es seit gestern Abend zwei Männer, auf die ich mich verlassen kann. Was die sagen, das gilt!“ Er wandte sich bei den letzten Worten an seine Dorfnachbarn. „Ihr werdet es wissen, wen ich meine!“

„Freilich wissen wir’s! Du mußt gewinnen; das steht fest! Aber sag, wie ist es denn gegangen?“

„Prächtig, sage ich Euch!“

„So kommt die Schlacht nach Langenberg?“

„Natürlich! Ich weiß sogar schon den Tag, und hier —“ er zog einen großen, zusammengefalteten Bogen aus der Tasche — „hier ist der Schlachtplan, wo Alles bis auf’s Kleinste drauf gezeichnet und geschrieben steht. Ja, Unsereiner weiß so etwas schon aus zuarbeiten [auszuarbeiten] und anzudrehen, denn man hat ja die Bücher darüber!“

„So willst Du also nicht mit hereingehen?“ frug Franke.

„Nein! Mach Deinen Vergleich mit wem Du willst, aber nur mit mir nicht!“

„Gut! So habe ich Dir nur noch Eins zu sagen, und dann kannst Du gehen. Komm einmal her!“

Er machte ihm eine leise Bemerkung in das Ohr. Werner fuhr zurück und sah ihn halb erschrocken, halb ungläubig an.

„Das wären zwei Falsche gewesen? Du lügst!“

„Oho! Fällt mir gar nicht ein! Was ich gesagt habe, das ist factisch, und ich werde Dir es auf der Stelle beweisen. Warte nur einen kleinen Augenblick!“

Er eilte in die Stube, kehrte mit einem Zeitungsblatte zurück, suchte eine Stelle auf und hielt ihm dieselbe vor.

„Da, lies, wenn Du mir nicht glaubst!“

Werner las, und während des Lesens wurde seine Miene immer bedenklicher. Die Stelle lautete:

„Aerztlichen Berichten zufolge ist die Rückkehr des Reichskanzlers aus Varzin nach Berlin noch nicht in Aussicht zu stellen, da der hohe Patient während der letzten Tage so angegriffen war, daß er das Bett hüten mußte.“

„Nun? Und hier ist noch eine Stelle, die Du Dir auch einmal genau ansehen mußt!“

Dieses zweite Alinea berichtete:

„Der General-Feldmarschall Graf von Moltke ist von seiner Reise zurückgekehrt, hat heute im Kriegsministerium vorgesprochen und wird morgen in besonderer Audienz von Sr. Majestät dem Kaiser empfangen werden!“

„Na, ist das factisch oder nicht?“

„Das kann doch keine Lüge sein, hier!“

„Komm nur mit herein. Du wirst Alles erfahren!“

„Aber wer sind denn da die beiden Hallun­ken — — —“

Er setzte seine Rede, wohl einsehend, daß sie ihn selbst blamire, nicht fort.

„Du wirst sie auch noch sehen. Komm nur mit herauf!“

„Gut! Wenn ich Dir einen Gefallen damit thue, so mag es sein. Ich gehe mit!“

Die Zurückbleibenden konnten den letzten Theil der Unterredung nicht begreifen und kehrten kopfschüttelnd in die Stube zurück. Uhlewald war in dem Zimmer des Schwanenwirthes zurückgeblieben.

„Kennst Du diesen Herrn?“ frug letzterer.

„Nein.“

„Sieh Dir ihn nur einmal genauer an!“

„Es ist mir, als hätte ich ihn einmal gesehen; ich weiß aber nicht wo!“

Uhlewald lächelte.

„So so, hm hm! Da muß ich Seinem Gedächtnisse doch einmal auf die Sprünge helfen.“ Er öffnete die Thür. „Schmidt!“

Der Gerufene kam den Corridor entlang und trat ein.

„Diesen da kennt Ihr vielleicht besser, als mich!“

„Nein, aber gesehen muß ich ihn früher einmal haben!“

„Na, so passe Er auf!“

Er zog sich wie gestern die Perrücke vom Kopfe, richtete sich stramm empor und warf aus einem vollständig veränderten Gesichte einen Blick auf Werner, der direct vom Reichskanzleramte geborgt sein mußte. Der Souffleur hatte sich an seine Seite gestellt und die so wohl bewährte Feldmarschallsfigur angenommen.

„Himmeltausendsapp — — Ihr also seid die zwei Schlingels, die mich und das ganze Ebersbach an der Nase herumgeführt haben? Und ich bin Euch nachgelaufen über Stock und Stein, durch Dick und Dünn, habe Karten gemalt und Pläne geschmiert und dabei meinen schönen Termin versäumt! Wart, Euch werde ich kriegen! Ihr seid ja Majestätsbeleidiger, Bismarcksverräther, Moltkeschänder, falsche Kriegsgerüchtsverbreiter und wer weiß was Alles sonst noch miteinander! Ihr sollt an mich denken! Ihr müßt in das Zuchthaus, auf die Festung; ich bringe es so weit, denn ich habe die Bücher darüber!“

„So so, hm hm! Spart Euern Athem, Mann, und redet anständig mit Unsereinem. Ich bin der Theaterdirector Eusebius Lucianus Uhlewald, das merkt Euch! Und nun sagt mir doch einmal, wer Euch weiß gemacht hat, daß ich der Bismarck bin? Und mein Souffleur da, der arme, unschuldige Mensch, der soll auf einmal mit Kanonen, Bomben und Granaten zu thun gehabt haben? Hahahaha! Der gute Mann fällt in die Ohnmacht, wenn er nur eine Knallerbse platzen hört, und jetzt soll er der große Moltke sein! Ich glaube, Ihr seid nicht recht bei Troste!“

„Aber Sie haben es doch gelitten, daß wir Sie für die Beiden gehalten haben!“

„Na, warum sollen wir das denn nicht? Ist es etwa eine Schande für einen Director und Souffleur, für Bismarck und Moltke gehalten zu werden? Und wer hat uns denn gesagt, daß Ihr uns mit diesen berühmten Herren verwechselt? Kein Mensch! Und wir, nun wir haben Euch doch ganz unmöglich einen so heillosen Unsinn zutrauen können! geht nur und klagt, wenn Ihr ausgelacht sein wollt. Ich sage Euch, Männchen, es ist am Besten, Ihr schweigt über diese Geschichte. Und wir werden Euch zu Gefallen mitschweigen, wenn Ihr verständig seid und mit dem Franke Frieden schließt. Da, setzt Euch nieder und laßt in Güte mit Euch reden!“

Was Jedem eine Unmöglichkeit gewesen war, der alte Menschenkenner brachte es fertig. Zwar war die Unterredung lebhaft und wurde sogar zuweilen hitzig, so daß sie eher zu zu Schlimmerem als zu einer Versöhnung zu führen schien, aber der ursprünglich gesunde und nur vom Hasse beeinflußte Verstand der beiden Wirthe ließ ihnen doch endlich in einem friedlichen Ausgleiche das für sie Beste erkennen, und da besonders Franke sich zu jedem billigen Zugeständnisse -

Zugeständnisse bereit finden ließ, so erklärte sich schließlich Werner für überwunden.

„Gut, Ihr sollt Euern Willen haben, weil ich des Streitens nun einmal müde bin. Ich könnte noch gar Manches vorbringen, was der Sache für mich eine gute Wendung gäbe, denn ich habe die Bücher darüber, aber, wie gesagt, ich will Euch beweisen, daß ich Niemanden gern ins Unglück bringe. Also, Du bezahlst die Kosten alle?“

„Ja!“

„Und was Du mir noch schuldig bist, das — —“

„Ich bin Dir nichts mehr schuldig! Und überdies ist dies ja auch ganz gleichgiltig; der Anton ist mein einziger Erbe, und mit der Lisbeth ist es ebenso; sie werden also die fragliche Summe einmal bekommen, ob von mir oder von Dir, das darf uns nicht mehr entzweien. Ich werde sie alle beide gleich herauf holen und die Mütter dazu!“

„Alle beide? Ist denn die Lisbeth auch da?“

„Natürlich! Das versteht sich! Das ist doch factisch!“

„Also hinter meinem Rücken ist das Mädchen — — na, ich will nicht raisonniren! Hole sie herauf! Aber halt, erst müssen Sie mir mit der Hand versprechen, Herr Director, daß kein Mensch etwas davon erfährt, daß der Bismarck und der Moltke nicht die richtigen gewesen sind. Ich bin unter dem Armenvorstande und mag mich nicht auslachen lassen!“

„So so, hm hm! Ich wills versprechen, und der da, der sagt erst recht nichts, denn Ihr habt ihn ja gestern selbst den „großen Schweiger“ genannt. Hier sind unsere Hände!“

Die drei Personen, welche unten in der Gaststube und Küche mit Zagen den Ausgang der Unterredung erwartet hatten, wurden geholt, und nun gabs so viel Glück und Freude, daß selbst das Herz Werners weich wurde.

„Haltet nun einmal auf mit Eurem Danke!“ rief er. „Ich weiß nicht, was ich zu all dem Lobe sagen soll, denn ich habe kein Buch darüber!“

Und Franke wischte sich die Augen und versicherte:

„Das ist die schönste Stunde in meinem ganzen Leben, das ist factisch!“

Uhlewald hatte sich abgewendet, um seine Rührung nicht sehen zu lassen.

„So so, hm hm,“ brummte er; so wunderbar wie heut ist mir’s seit Langem nicht zu Muthe gewesen; ich glaube seit den Zeiten, als ich meine Selige noch hatte! Sie haben sie doch auch gekannt, Schmidt, und — — —“

Er hatte sich herumgedreht in der Meinung, daß der Souffleur noch neben ihm stehe. Dieser jedoch war leise davongeschlichen. Draußen aber auf dem Corridor blieb er stehen, fuhr sich mit der Hand in die dünnen schlichten Haare und klagte mit trübseligem Gesichte:

„Souffleur, Souffleur, o du jammervolles Individuum! Ich habe im Kasten gesteckt, so lange ich lebe, und wenn ich sterbe, wird man mich auch in einem Kasten hinaustragen. Zu keiner Rolle habe ich es bringen können, zu keiner einzigen, weder auf der Bühne, noch im Leben, nicht einmal zu einer drei Secunden langen Schäferscene. Nur einmal habe ich es versucht, und das war bei einer

Großmagd; aber hat die mich zur Treppe hinuntergefackt, hurrrrr!“

Mit tragisch zitternden Schritten schob er sich in seine Kammer.

Die Ebersbacher waren natürlich nicht wenig überrascht, als sie aus dem Munde der Betheiligten vernahmen, was über ihren Häuptern vorgegangen sei. Die Lisbeth konnte doch sicher eine andere Partie machen, wenn sie das Avancement ihres Vaters abgewartet hätte. Aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Man konnte nichts dagegen sagen, zumal Franke ein volles Fäßlein hereinrollen ließ, damit ein Jeder sich auf nassem Wege an der Versöhnung betheiligen könne.

Obgleich viel von dem bevorstehendem [bevorstehenden] Kriege gesprochen wurde, verlief das Fest vollkommen friedlich und ungestört, jedenfalls weil kein Langenberger dabei war, und als Werner von den Wißbegierigsten zu der Entdeckung gedrängt wurde, an welchem Datum die Zuaven und Kirgisen geschlagen würden, wehrte er mit geheimnißvoller Miene ab:

„Laßt das jetzt! Ich weiß Alles, wie es kommen wird, denn ich habe es in meinen Büchern und auf dem Plane, aber ich darf es Euch nicht eher verrathen, als gerade acht Tage vorher. Ihr erfahrt es dann noch immer früh genug!“

Und Franke stimmte bekräftigend bei:

„Ja, Bruder Werner, das ist factisch!“