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Die Universalerben.

Eine rachgierige Geschichte von Karl Hohenthal.

I.

Es gibt Aehnlichkeiten, die wirklich ganz erstaunlich sind. Wiesenburg, Wiesenthal und Wiesenberg, diese drei beinahe gleichlautenden Namen stehen in ganz gleichen Intervallen auf der Karte, da die betreffenden Städte in vollständig gleichen Entfernungen von einander liegen.

Wiesenthal ist Bahnstation. Fährt man von hier nach Westen, so gelangt man an einen kleinen Halteort, von welchem aus die zwei Stunden lange Poststraße nach Wiesenburg führt. Und fährt man nach Osten, so kommt man an eine Haltestelle, von welcher aus man Wiesenberg in ganz derselben Zeit erreicht.

Einige Minuten vor Wiesenburg liegt seitwärts von der Straße und mitten unter schattigen Bäumen, die von einem eisernen Stakete umgeben sind, ein allerliebstes Häuschen von sechs Fenstern Front und im gothischen Stile erbaut. Auf dem Ziegeldache ist in abstechenden Farben ein „A — 1860 — H“ eingedeckt. Und einige Minuten vor Wiesenberg steht, mehrere hundert Schritte von der Straße gelegen und rings von Bäumen umgeben, um welche sich ein eiserner Zaun zieht, ein kleines, nettes, gothisches Häuschen von sechs Fenstern Breite mit ganz genau derselben Inschrift auf dem Dache.

Das Wiesenburger Häuschen bewohnt Herr Rentier August

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Hildebrandt, ein Junggeselle, und das Wiesenberger die Rentière Fräulein Auguste Hildebrandt.

Herr Hildebrandt weiß nicht mehr ganz genau, wie alt er ist; er hat keine Zeit, auf die Zeit zu merken, denn das anderthalb Dutzend Hunde, welches er besitzt, macht ihm genug zu schaffen, und außerdem muß er täglich einige Stunden auf seinen Kassenschrank verwenden, um die Nummern der darin aufgestapelten Banknoten immer von Neuem einzutragen. Und Fräulein Hildebrandt kann nicht mehr sicher sagen, seit wann sie die Zwanzig überschritten hat; die Jahre nehmen ihre Aufmerksamkeit weniger in Anspruch als die Katzen, von denen sie ein ganzes Bataillon besitzt, und der Sekretär, in welchem ihre Gold- und Silberrollen liegen.

Herr Hildebrandt hat wie jeder andre Mensch ein Herz, in welchem Liebe und Haß hart neben einander wohnen; die Liebe gilt ausschließlich seinen Hunden, die sie ihm auch erwiedern und der Haß der ganzen übrigen Welt, von der er nicht das Mindeste sehen oder hören mag. Er hat darum seit langen, langen Jahren sein Häuschen nicht verlassen und nur in den allerdringendsten Fällen Jemand vor sich gelassen. Ein dienstbarer Geist Namens Christian besorgt die laufenden Geschäfte; er seufzt unter der Last, welche der Menschenhaß seines Herrn ihm auferlegt, zankt sich vom Morgen bis zum Abend mit ihm herum und ist schon unzählige Male von ihm fortgelaufen, immer aber wieder zu ihm zurückgekehrt. — Und Fräulein Hildebrandt hat ihre Katzen mit unendlicher Liebe in ihr Herz geschlossen; ebenso groß ist aber auch ihre Abneigung gegen jedes andere Geschöpf, den Menschen natürlich mit eingeschlossen. Sie blickt täglich kaum einmal durch das Fenster, besucht den Garten noch viel seltener und setzt den Fuß nie über das Gitterthor heraus, welches man leider hat anbringen müssen, weil es doch nun einmal Bedürfnisse giebt, welche eine wenn auch noch so schwache Verbindung mit der Außenwelt nöthig machen. Diese Verbindung zu unterhalten ist Sache eines weiblichen Wesens, welches den Namen Christine führt, den ganzen Tag wie eine Rohrsperlingin über die Herrin schimpft und einige hundert Male von derselben fortgelaufen ist, um eben so oft wieder zu ihr zurückzukehren.

Herr Hildebrandt ist der Cousin von Fräulein Hildebrandt, und sie ist also seine Cousine. Sie sind die einzigen Ueberreste einer sonst vollständig ausgestorbenen Verwandtschaft, und der überlebende Theil müßte also eigentlich den andern beerben. Um das nun zu hintertreiben, haben Beide adoptirt, er nämlich einen früheren Zögling des Wiesenthaler Waisenhauses, welcher auf den Vornamen Paul hört, und sie ein Mädchen aus derselben Anstalt, welche Pauline heißt, notabene nicht die Anstalt, sondern das Mädchen.

Herr Hildebrandt hat für seinen Adoptivsohn in so väterlicher Weise gesorgt, daß dieser die Universität besuchen konnte und jetzt bei dem Gerichtsamte Wiesenthal als Referendar angestellt ist. Nach Wiesenburg zu kommen ist ihm jedoch von allem Anfange an streng verboten worden. Und Fräulein Hildebrandt hat Pauline auf das Seminar geschickt, um sie zur Lehrerin ausbilden zu lassen. Die Adoptivtochter bekleidet gegenwärtig eine Stelle an dem Töchterinstitut zu Wiesenthal.

Woher aber so viel Haß bei so viel Aehnlichkeiten?

Sie wohnten Beide in Wiesenthal und hatten einander unendlich lieb. Er war der stattlichste junge Mann und sie das hübscheste Mädchen in der Runde. Wenn er mit seinem Wachtelhündchen sie besuchte, so empfing sie ihn mit tausend Küssen und zog ihn neben sich auf das Sopha. Das Hündchen saß dann, von ihrer weißen Hand gestreichelt, auf ihrem Schooße, und ihre dreifarbige Cyperkatze sprang auf seine Schulter, machte einen Chimborassobuckel und zog ihm den langen Schwanz liebkosend über das Gesicht. Das war eine selige Zeit.

Leider besaßen Beide ganz dasselbe jähe, stachelige Temperament. Es gab zahlreiche Veruneinigungen, denen ebenso viele Versöhnungsscenen folgten. Bei diesem Auf- und Niederwogen ihres Glückes konnten Hund und Katze als genaue Thermometer gelten, denn die Stimmung der Besitzer pflanzte sich mit außerordentlicher Regelmäßigkeit auch auf die liebenswürdigen Geschöpfe über. Schnurrte die Katze und wedelte der Hund, so waren wenigstens fünfzehn Grad plus, knurrte der Hund und pfauchte die Katze, so ging man nicht fehl, zehn Grad minus Cupido’scher Skala zu vermerken. Es gab nicht etwa große Sünden gegen Liebe und Treue, sondern jene kleinen, häßlichen Alltägeleien, welche das Gemüth verbittern, wie ein schleichendes Gift die Zufriedenheit zerfressen und langsam aber desto sicherer zum unvermeidlichen Bruche führen. August fühlte, daß er sie nicht mehr leiden könne, und Auguste begann zu vermuthen, daß er ihrer nicht werth sei. Sie theilten sich dies zankend mit, wälzten mit Empörung die Schuld von einer Achsel auf die andre, der Hund zeigte die Zähne, die Katze zischte wie eine Klapperschlange -

Klapperschlange und — Mensch und Thier ging auseinander und zwar mit dem Schwure, sich nie wieder zu begegnen. Die Cyper und der Wachtelhund haben diesen Schwur gehalten; der Erstere [Letztere] steht ausgestopft auf dem Kassenschranke und bewacht die Banknoten seines Herrn; die Letztere [Erstere] liegt in demselben präparirten Zustande auf dem Sekretär und blickt mit den künstlichen Augengläsern auf die Herrin, wenn diese mit den Thalern klimpert; Beide sind von dem Geiste des Hasses getrennt und von keinem versöhnenden Zufalle wieder zusammengeführt worden, — das Firmament sei ihren Namen [Manen] gnädig!

Herr August Hildebrandt zog, um allen Erinnerungen und Aergernissen aus dem Wege zu gehen, nach Wiesenburg, wo er sich vor dem Orte ankaufte, um, mit aller Welt verfeindet, sein jetziges Einsiedlerleben zu beginnen. Christian war die einzige menschliche Seele, die sich ihm nahen durfte. Um das Herz des Verbitterten legte sich eine Rinde, welche von Jahr zu Jahr stärker und härter wurde, bis er es selbst glauben mußte, daß seine Liebe sich in den grimmigsten Haß umgewandelt habe.

Fräulein Auguste Hildebrandt war zurückgeblieben, doch nicht für lange Zeit. Sollte sie von sich sagen lassen, daß der Ungetreue, dessen Pflicht es gewesen wäre, um Verzeihung zu bitten, die Stadt verlassen habe, um ihrer etwaigen Annäherung auszuweichen? Nein; auch sie zog fort, und zwar nach Wiesenberg, nicht etwa aus Sympathie für den Namen seines jetzigen Wohnortes, sondern um ihm zu beweisen, daß sie ganz das Nämliche haben könne wie er. Derselbe Architekt, der ihm sein Häuschen gebaut hatte, mußte ihr das ihre errichten, derselbe Möbleur es ausstatten; sie mußte Alles bis auf das Tüpfelchen so bekommen, wie er es hatte, und sogar der Name ihres Dienstmädchens, der Name ihrer Adoptivtochter mußte der ganz gleiche sein. Und wie sie sich von der Außenwelt zurückzog, so trat auch ihr Herz immer weiter nach innen, bis sie seine Stimme nicht mehr vernahm und die frühere Zuneigung völlig erstorben und in grimmen Haß verwandelt glaubte.

Soeben sitzt sie am Sekretär und zählt. Ihre Mienen zeigen eine Heiterkeit, welche mit ein wenig Schadenfreude vermischt zu sein scheint.

„Endlich, endlich habe ich es errungen! Er ist ausgestochen, er ist besiegt; von jetzt an stehe ich um eine Steuerklasse höher als er. O, er wird sich ärgern, er wird geradezu wüthend sein, wenn er es erfährt! Ich muß mir nur einmal vorstellen, wie sein verhaßtes Gesicht dabei aussehen wird.“

In der Nische des Sekretärs steht ein mit schwarzem Flor verhüllter Rahmen; sie schlägt die Umhüllung zurück und betrachtet das nun sichtbar werdende Bild.

„Schade, jammerschade um den Menschen, daß er ein so schwarzes Herz hat! Es geht ihm grad wie den Hunden, die er liebt, weil er weiß, daß ich diese Bestien nicht ausstehen kann. Er war unausstehlich und ist es auch noch, sonst hätte er längst Eine gefunden, die es mit ihm zu versuchen wagte.“

In diesem Augenblicke erschallt draußen vor dem Entrée ein markerschütterndes Geschrei. Sie springt empor und eilt hinaus. Ihre Lieblingskatze krümmt sich an der Erde; der Schwanz ist ihr zwischen die Thür geklemmt.

„Himmel, was muß ich sehen! Doris, meine süße Doris, welches Ungeheuer hat Dir das gethan? Christine, Christine!“

Sie befreit das Thier aus der fatalen Lage, nimmt es liebkosend empor und ruft nach der Dienerin. Diese kommt mit zinnoberrothem Gesichte aus dem Garten herbeigelaufen.

„Bist Du jetzt durch diese Thür gegangen?“

„Ja.“

„So! Und hast dabei die Doris eingeklemmt, Du leichtsinniges, unbarmherziges Geschöpf! Schau her, wie sie jammert und sich krümmt! Du wirst von Tag zu Tag unachtsamer, und wenn das so fortgeht, da kann ich Dich nicht länger gebrauchen.“

Christine stemmt die Arme in die Seiten und stellt sich breitspurig vor die Herrin hin.

„Was bin ich, und wie bin ich? Leichtsinnig bin ich, unbarmherzig bin ich und unachtsam bin ich? Ja, leichtsinnig bin ich gewesen, sonst wäre ich nicht zu einer Herrschaft gezogen, die weiter nichts kann als Katzen hätscheln und Dienstboten turbiren; aber unbarmherzig? Was ists denn anders gewesen als die reine Barmherzigkeit, daß ich so lange bei Ihnen ausgehalten habe? Und unachtsam? Grad der Achtsamkeit wegen habe ich aus Versehen und in der Eile hier den Schwanz zwischen die Thür geklemmt! Draußen hängt die Wäsche im Garten; sie kostet mich manche Mühe und Anstrengung, und da zerren wohl an die zwanzig Katzen daran herum, reißen sie von der Leine herunter in den Schmutz und wälzen sich darin herum, als ob der Leibhaftige in sie gefahren sei. Ich springe hinaus, um zu retten, was noch zu retten ist und bekomme nun dafür den Hagel an den Kopf. Die Hausthür ist

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kein Schwanzfutteral, das muß die Doris wissen, und wenn sie ihn dennoch hineinsteckt, so kann ich nichts dafür. Und wenn ich nicht

mehr zu gebrauchen bin, so kann ich gehen. Eine solche Herrschaft bekomme ich in jeder Kurzwaarenhandlung für drei Pfennige!“

„Nimm Deine Zunge in Acht, Christine, sonst mache ich heut einmal Ernst!“

„Ernst? Denken Sie vielleicht, mir ists ein Spaß? Also meine Zunge hat weniger Recht wie ein Katzenschwanz! Der darf sogar

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zwischen die Thür gesteckt werden, ich aber soll mich nicht vertheidigen? Dieses Leben habe ich satt!“

„So kannst Du gehen. Komm herein! Ich zahle Dir Deinen Lohn, und dann fort mit Dir!“

„Schön! Einverstanden! Sie werden sehen, ob Sie wieder so Eine bekommen, die die Geduld und Langmuth selber ist!“ —

Um dieselbe Zeit sitzt Herr August Hildebrandt an seinem Geldschranke und schreibt Nummern ein. Es muß trotz der weiten Entfernung eine Art Rapport zwischen ihnen stattfinden.

„Morgen werden die Formulare gefüllt; ich steige um eine Klasse höher. Das wird sie natürlich hören und ganz außer sich darüber gerathen. Wenn ich mir ihr Gesicht dabei vorstelle, so muß ich heimlich lachen. Ich habe es wohl mehrere Jahre lang nicht gesehen und muß nun einmal suchen, ob ich das Bild noch finde!“

Er hat erst gestern die Photographie wohl eine halbe Stunde lang betrachtet und weiß ganz genau, daß sie im geheimen Fache bei den Werthsachen liegt. Der Mensch ist oft ein recht wunderbares Geschöpf, das schließlich der selbsterfundenen Unwahrheit Glauben schenkt.

„Sie ist schön, wahrhaftig, sie ist schön, aber falsch und untreu wie die Katzen, die sie hält, weil ich das heimtückische Viehzeug niemals habe leiden können. Wenn sie anders wäre, hätte sie schon längst Einen gefunden, der sie von der Schande errettet, keinen Mann zu bekommen!“

In diesem Augenblicke erhob erhebt sich draußen in der Küche ein fürchterliches Geheul. Er springt auf und eilt hinaus. Christian hat einen Stock in der Hand und bearbeitet den schönsten Pudel, den man sich nur den ken kann, aus Leibeskräften.

„Halt, Mensch, was fällt Dir ein? Ich glaube gar, Du willst den Leo ermorden!“

„Ja, ermorden will ich ihn, todtgeschlagen wird er, der Hallunke, todtgeschlagen wird die ganze Hundesippschaft, sonst fahre ich noch vor Aerger aus der Haut!“

„Laß ihn los, sage ich Dir, sonst bekommst Du selbst den Stock!“

„Was? Ich selber? I, sehen Sie doch einmal an, was Sie mir da sagen!“ Der gute Christian schleudert den Pudel an die Wand, daß alle Knochen krachen und stellt sich in Positur. „Ja, das glaube ich, das traue ich Ihnen wirklich zu! Wie ein Hund wird man hier behandelt, und es ist ein blaues Wunder, daß man immer wieder herläuft, wenn man einmal so gescheidt gewesen ist fortzugehen. Frißt mir das Thier mein ganzes Fleisch, welches ich für die halbe Woche eingekauft habe, vom Tische herunter, ich habe nun weder Saft noch Braten mehr und kann nun gleich wieder in die Stadt laufen, um anderes zu holen. Die Hundewirthschaft wird mir nun endlich zu Gift und Opperment, und entweder wird das Viehzeug abgeschafft oder ich gehe meiner Wege!“

„So geh!“

„Gut! Geben Sie mir mein Geld heraus! Ich gehe gleich und komme gewiß diesmal nicht wieder. Sie können lange suchen, ehe Sie so Einen finden, wie ich gewesen bin!“

Er bekommt den Lohn ausgezahlt, packt seine Sachen und geht.

Er lenkt seine Schritte nicht nach Wiesenburg, sondern wandert dem bekannten Halteorte zu, wo er sich ein Billet nach Wiesenthal löst. So ist es stets gewesen, wenn er fortgegangen oder fortgeschickt worden ist. Dort hat er den Herrn Referendar aufgesucht, um demselben seine Noth zu klagen und ist dann stets mit der stehenden Rede in seinen Dienst zurückgekehrt: „Es fiel mir gar nicht ein wiederzukommen, aber ich traf den Herrn Referendar zufällig, und da mich dieser bat, diesen Brief zu besorgen, so konnte ich nicht anders!“

In Wiesenthal angekommen, ist er noch nicht mit sich einig, ob er heut einmal Ernst machen oder den Referendar aufsuchen solle. Er tritt also in das Wartezimmer, um Zeit zur Ueberlegung zu finden. Während dem kommt ein Personenzug aus der Wiesenberger Richtung, und unter den Ausgestiegenen befindet sich eine robuste Frauengestalt, die ihren zaudernden Bewegungen nach auch nicht mit sich einig zu sein scheint.

Es ist Christine. Bei jedem Bruche mit ihrer Herrin ist sie nach Wiesenthal gefahren, um Fräulein Pauline aufzusuchen, die ein wahrer Engel ist und sie stets mit einem Schreiben zurückgeschickt hat, welches mit den Worten übergeben wurde: „Eigentlich sollte ich mich gar nicht mehr um Sie bekümmern, aber weil ich zufällig Jungfer Paulinchen traf und es ihr nicht abschlagen wollte, so bringe ich noch einmal diesen Brief. Es ist aber der allerletzte!“

Weil sie noch nicht weiß, ob sie sich zur Strenge oder Milde entschließen soll, so tritt sie in das Wartezimmer und nimmt, da dasselbe klein und sehr besetzt ist, an dem Tische Platz, an welchem Christian sitzt.

„Woher?“ fragte dieser nach dem gegenseitigen Gruße, mehr aus Höflichkeit, als eine Unterhaltung, an der ihm ja gar Nichts liegt, anzubahnen.

„Aus Wiesenberg.“

„Aus Wiesenberg?“ Seine Theilnahme beginnt zu erwachen. „Kennen Sie da vielleicht einen Drachen, welcher Auguste Hildebrandt heißt?“

Sie zögert vorsichtig mit der Antwort und fragt dann:

„Woher kommen Sie?“

„Aus Wiesenburg.“

„Aus Wiesenburg? Kennen Sie da vielleicht einen andern Drachen, Namens August Hildebrandt?“

„Das ist mein Herr.“

„Nicht möglich!“ ruft Christine. „Der Wiesenberger Drache ist meine Herrin.“

„Alle Wetter! Wie heißen Sie?“

„Christine. Ich bin fast fünfzehn Jahre in dem Dienst. Wie heißen Sie?“

„Christian, und diene grad ebenso lange bei ihm. Was wollen Sie in Wiesenthal?“

„Ich bin abgezogen.“

„Ich auch; es war nicht länger auszuhalten!“

Die Unterhaltung wird von Minute zu Minute lebhafter, und bald kennt Jedes die traurigen Erfahrungen des Andern. Sie beschließen, sich für heut Gesellschaft zu leisten und wandern mit einander dem Städtchen zu, welches in einiger Entfernung von dem Bahnhofe liegt. Sie besuchen weder den Referendar noch Fräulein Pauline und haben am Abende schon solches Wohlgefallen an einander gefunden, daß sie Arm in Arm die Promenade abspazieren und allerlei angelegentliche Pläne schmieden.

„Weißt Du was, Christine? Ich hab das ganze Leben hier satt, ich gehe nach Amerika. Gehst Du mit? Wir haben uns Beide ein Sümmchen gespart und hier keine Verwandten und Angehörigen. Hier bleiben wir, was wir sind, drüben aber kommt man rasch vorwärts, und wir können dann auch in den Geldschrank greifen wie unsre beiden Drachen.“

„Nimmst Du mich denn mit?“

„Freilich; es paßt ja Niemand besser zusammen als wir.“

„Als was denn?“

„Als meine Frau. Willst Du?“

„Ja,“ bringt sie nach einer Pause der schicklichen Verschämung hervor.

„Abgemacht!“ Eine kräftige Umarmung besiegelt den süßen Bund. „Aber ehe wir fortmachen, nehme ich noch Rache.“

„Ich auch.“

„Bravo! Wir haben uns genug gefallen lassen und wollen uns nun einmal eine Freude machen. Aber wie?“ Nach einem kurzen Nachdenken lacht er auf. „Ich hab’s. Hör’ einmal!“

Er beginnt, ihr seinen Plan mitzutheilen, wird aber durch einen Aufschrei Christinens unterbrochen.

„Himmel, rasch auf die Seite!“

„Warum?“

„Dort kommt Fräulein Pauline!“

„Das ist sie? Sapperlot, mit meinem Referendar, und noch dazu Arm in Arm wie wir! Komm hinter die Bäume!“

Sie glauben, nicht erkannt worden zu sein, haben sich aber geirrt, wie aus den Blicken des Pärchens, dessen Augen ihren hastigen Bewegungen verwundert folgen, zu ersehen ist. Der Mond ist ein zwar langjähriger Vertrauter der Liebenden, hat aber auch seine schwachen Augenblicke, in denen sein Licht das Plaudern nicht lassen kann.

II.

Am andern Vormittage sitzt der Herr Rentier August Hildebrandt an seinem Geldschranke und — — schreibt keine Nummern. Das ist eine ganz außergewöhnliche Erscheinung, die ihren Grund in dem Verdrusse hat, den ihm die Abwesenheit des Dieners bereitet.

Wie soll er es anfangen, einen neuen zu bekommen, wenn Christian nicht zurückkehrt? Nach Wiesenburg gehen, nachdem er so viele Jahre sich in der Stadt nicht hatte sehen lassen? Oder — nein, er will sich jetzt nicht weiter sorgen, sondern ruhig abwarten, ob der abtrünnige Diener sich nicht sehen lassen werde. Das Nöthigste ist ja vorhanden und das Uebrige muß sich ja später finden.

„An dem Allen ist Niemand schuld als sie, wegen der mein Leben ein so einsames geworden ist. Sie mußte wissen, daß ich mir unsre Entzweiung so tief in das Gemüth nehmen würde.“

Er stößt den Hund, welcher ihn liebkosend umstreicht, unwirsch

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von sich, ein Fall, der außerordentlich zu nennen ist, und greift nach der Photographie.

„Was würde ich wohl thun, wenn ich ihr einmal begegnete? Und wie würde sie sich wohl dabei verhalten? Ich würde sie nicht sehen, sie nicht kennen, sie gar nicht bemerken. Diese schönen Züge konnten so schmählich täuschen und das vergebe ich ihnen nie, nie, nie! Ich hasse sie, hasse sie wie ihre Katzen, diese gleißenden, sanften Thiere, deren Krallen und Zähne doch so spitz und scharf sind!“

Es klingelt am Entrée, welches er von innen verriegelt hat. Er horcht auf. Sollte es Christian sein? Als er öffnet, sieht er sich einem weiblichen Wesen gegenüber, welches ihn mit prüfenden Blicken betrachtet.

„Was wollen Sie?“

„Entschuldigen Sie, sind Sie Herr Hildebrandt?“

„Ja.“

„So erlauben Sie, daß ich eintrete. Ich habe eine wichtige Botschaft zu bringen.“

Er geht mit ihr in das Zimmer und blickt ihrer Mittheilung erwartungsvoll entgegen. Sie sieht sich in dem Raume um und bemerkt dabei das Bild. Bei dem Anblicke desselben zieht sie ihr Taschentuch hervor und bricht in Thränen aus.

„Was weinen Sie?“

„Warum ich weine?“ antwortete sie schluchzend. „Ach ja, Sie können es ja nicht wissen, daß sie gestorben ist!“

„Wer ist gestorben?“

„Wer anders als meine liebe, meine gute Herrin. Sie müssen sie ja gekannt haben, denn dort sehe ich ihr Bild und sie hat Sie ja auch zum Universalerben eingesetzt!“

„Wer ist — Auguste — — Fräulein Hildebrandt in Wiesenberg ist gestorben?“ ruft er, indem sich eine tiefe Blässe über sein Gesicht breitet. „Wann denn?“

„Vor vier Tagen. Sie hat keine besondere Krankheit gehabt, sondern sich langsam abgehärmt und ist dann eingeschlafen. Ich habe sie gepflegt bis zum letzten Augenblicke und will nun ihren letzten Befehl erfüllen.“

„Welchen?“

„Sie sagte mir kurz vor ihrem Tode: Laß mich begraben und dann gehst Du nach Wiesenburg zu meinem Cousin. Er ist mein einziger Erbe und soll dasselbe sofort antreten.“

Er hört kaum, was sie sagt. Es flimmert ihm vor den Augen; es schwirrt ihm um die Ohren; die Nachricht, daß seine Feindin gestorben sei, hat ihn mehr angegriffen, als es bei feindseligen Gefühlen zu geschehen pflegt. Er steht da und starrt auf das Bild, ohne zu bemerken, daß die Botin sich leise entfernt hat. Er gewahrt es erst, als er sich von seiner Bestürzung erholt hat und nun weiter fragen will.

„Sie ist fort. Sie hat keine Zeit und will vielleicht mit dem nächsten Zuge zurückkehren. Ich hätte sie anders empfangen und auch bewirthen sollen, aber Christian ist nicht da, und mich hat die Nachricht so angegriffen, daß ich gar nicht weiß, an was ich gedacht habe. Hier ist auch gar keine Zeit sich Gedan ken zu machen, ich muß nach Wiesenberg und das auf der Stelle!“

Er kleidet sich um, schließt die Hunde ein, denen er erst die nöthige Fütterung vorlegt und steht schon im Begriff, das Haus zu verlassen, als ihn die Schlüssel, welche er abgezogen hat, in Verlegenheit bringen.

„Wo thu’ ich sie hin? Mitnehmen? Nein, das inkommodirt. Ich lege sie auf den Kassenschrank, der Hausschlüssel kommt auf das Fenster neben der Thür, welches ich nur anlege, und das Gitter bleibt unverschlossen, damit Christian herein kann, wenn er kommt!“

So geschieht es, und dann schreitet er der Straße zu, welche nach der Haltestelle führt. Die Botin ist dort nicht zu sehen, doch kümmert ihn das nicht. Er besteigt ein Coupé des bald anlangenden Zuges und steht nach einigen Stunden vor dem gothischen Häuschen seiner einstigen Geliebten. Er hat es zwar noch nicht gesehen, aber davon gehört; die Aehnlichkeit mit dem seinen kann ihn also nicht überraschen.

Das Gitterthor steht offen. Er schreitet über den Hof und klingelt am Entrée. Alles bleibt still. Da probirt er das nächste Fenster, mehr unwillkürlich als mit einer besondern Erwartung. Es läßt sich aufstoßen, und er fühlt mit der Hand den Schlüssel liegen. Die Thür wird geöffnet, auch die Zimmerthür, welche unverschlossen ist, und nun sieht er sich in dem Raume um, wo sie sich „langsam abgehärmt hat,“ gewiß nur um seinetwillen.

Auf dem Sekretär liegen sämmtliche Schlüssel. Er nimmt sie und öffnet einen Raum nach dem andern. Es ist ihm, als befinde er sich in den geheiligten Hallen eines Tempels, sein Herz klopft ganz anders als bisher, so weich und nachgiebig, und als er dann

in das Wohnzimmer zurückkehrt und, den Sekretär öffnend, in der Nische desselben sein eigenes Bild und dann in einem Fache alle jene nur der Liebe wichtigen Kleinigkeiten bemerkt, welche Auguste einst von ihm empfangen hat, da tritt es ihm feucht und warm in die Augen und er muß sich niederlassen, um auszuruhen, nicht von dem heut zurückgelegten Wege, sondern von der inneren Qual so langer, langer Jahre.

So sitzt er da. Viertelstunde um Viertelstunde vergeht; er merkt es nicht. Endlich weckt ihn ein lautes Kreischen in den obern Räumen des Hauses. Er steigt die Treppe empor, öffnet eine Thür und sieht die hier gefangen gehaltenen Lieblinge der Todten. Freundlich schnurrend und katzbuckelnd streichen sie ihm um die Beine; er kann nicht anders, er muß sich bücken, um einer nach der andern über das seidenweiche Fell zu streicheln.

„Euch hat ihre Hand wohl tausendmal berührt; Ihr sollt nicht verwaist sein! Ich nehme Euch mit zu mir!“

Er schließt wieder zu und steigt hinab. Die „falschen, heimtückischen“ Thiere sind ihm plötzlich theuer geworden.

Kaum weiß er, was er jetzt beginnen soll. Zurück nach Wiesenburg muß er, das ist sicher, und doch kommt auch die Botin nicht, welche er hier bis auf Weiteres zurücklassen könnte. Er, der Menschenscheue, geht in die Stadt, sich einen Fuhrmann zu holen, der die Katzen nach der Station bringen soll. Es gelingt ihm auch, einen solchen zu finden. Wäsch- und Deckelkörbe sind zur Genüge da, und so schwer das Verladen der widerspänstigen Thiere fällt, es gelingt doch und der Wagen geht ab. Nun legt er alles Geld und die sämmtlichen Werthobjekte in eine vorgefundene Reisetasche, verschließt das Haus ganz in der Weise wie er es vorgefunden hat, und wandert der Haltestelle wieder zu.

Die Zeit hat ihm nicht erlaubt, das Grab der Todten zu besuchen, Visiten zu machen und die sonst nöthigen Förmlichkeiten zu erfüllen; er kommt ja morgen wieder, wo er das Dienstmädchen ganz sicher antreffen und alles Versäumte einbringen wird. An der Bahn holt er den Fuhrmann ein und besorgt, ohne überflüssige Worte mit ihm zu wechseln, die Expedition seiner wunderlichen Fracht, welche sich in ihr Schicksal gefunden hat und nicht das mindeste Geräusch von sich giebt. — —

An demselben Vormittage sitzt die Rentière Fräulein Auguste Hildebrandt vor ihrem Sekretär und — — zählt keine Thalerstücke. Der Grund zu dieser Unterlassungssünde ist die verdrießliche Lage, in welche sie sich durch die übereilte Ablohnung ihrer Dienerin gebracht hat.

Was soll sie thun, um die Fortgegangene zu ersetzen? Etwa in die Stadt gehen und nach einem Mädchen hausiren, sie, die vor vielen Jahren den Ort zum letzten Male betreten hat? Nein; jedenfalls kommt Christine wieder; so ist es stets gewesen und so wird es auch heut wieder sein. Was für heut gebraucht wird, ist vorhanden, und das Uebrige muß man eben ruhig abzuwarten suchen.

(Schluß folgt.)

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Die Universalerben.

Eine rachgierige Geschichte von Karl Hohenthal.

(Schluß.)

An dieser Verlegenheit ist wieder kein Anderer Schuld als er, dem ich alles Unangenehme zu verdanken habe. Er wußte, wie schwer ich unter seinem Verrathe leiden würde!“

Sie wirft die Katze, die soeben in ihren Schooß gesprungen ist, wieder hinab, ein Fall, der sonst gar nicht denkbar war, und greift nach seinem Bilde.

„Wie lieb ich ihn gehabt habe, den Treulosen! Ich sehe es jetzt täglich an der Größe meines Hasses. Ich kann viel, ich kann Alles vergeben, aber dies nie, niemals. Und wenn er mir zu Füßen läge und unter tausend Thränen um Gnade und Erbarmen flehte, ich stieß ihn von mir und würdigte ihn keines einzigen Wortes. Er hat es nicht anders verdient; er hat kein Zartgefühl, er ist rücksichtslos und ungeleckt wie seine Hunde, von denen er nichts Bessers lernen kann!“

Die Klingel wird gezogen.

„Das ist Christine. Gut, daß sie kommt!“

Sie öffnet und erstaunt, einen vollständig fremden Mann vor sich zu sehen.

„Wer sind Sie?“

„Ich bin der Diener des Herrn Rentier Hildebrandt in Wiesenburg und kom­me — — —“

„Nein,“ fällt sie ihm rasch in die Rede, „Sie kommen nicht, sondern Sie gehen, und zwar sogleich!“

„Verzeihen Sie, Fräulein! Ich habe Ih­nen — — —“

„Wollen Sie sofort diesen Ort verlassen, oder soll ich nach der Bedienung rufen?“

Der Mann blickt ihr lächelnd in das Gesicht.

„Ihre Bedienung ist nicht anwesend, ich brauche also keine Angst zu haben und sehe vielmehr, daß Sie vor mir sich fürchten. Darum will ich Ihnen nicht länger zur Last fallen, sondern Ihnen kurz meine Botschaft ausrichten. Mein Herr ist gestorben und gestern begraben worden. Sie sind seine Universalerbin, und er trug mir kurz vor seinem Tode auf, nach dem Begräbnisse zu Ihnen zu gehen, damit Sie sich darnach richten könnten. Adieu!“

Er geht. Sie hat die Thür erfaßt und lehnt an derselben, kaum fähig, sich aufrecht zu erhalten. Sie ist nicht im Stande, ein Wort auszusprechen, um den Mann zurückzurufen; sie zittert am ganzen Körper, und ihr Athem stockt unter dem Schreck, den die Botschaft ihr verursacht hat.

„Mein Gott,“ haucht sie endlich, „ist das denn nur möglich! Er ist todt und ich habe ihn nicht zuvor gesehen; er ist schon begraben und ich bin nicht dabei gewesen? Welch eine Beruhigung wäre es für mich gewesen, mit eigenen Augen zu sehen, daß mein Todfeind keine Macht mehr über mich hat!“

Sie ahnt nicht, daß ihr mit diesen Worten ein unbewachtes Geständniß entschlüpft; auch zeigt sie in diesem Augenblicke nicht die geringste Spur von Beruhigung, und als sie nun in das Zimmer zurückkehrt, liegt eine beinahe leichenhafte Blässe auf ihrem Angesicht, und ihre Augen suchen wie angstvoll nach dem Bilde, als könne sie es mit dem Originale auch verloren haben.

„Was ist nun zu thun? Ich kann nicht fort und muß doch fort. Daß auch Christine gestern gehen mußte!“

Sie schreitet wie fieberhaft aus einem Raume in den andern; sie sinnt und sinnt, was sie beginnen solle und bemerkt nicht, daß sie sich dabei zur Reise ankleidet. Endlich lockt sie die Katzen, welche sie in einem der oberen Zimmer einschließt, steckt das nöthige Geld zu sich und sieht sich auch jetzt noch rathlos dem so plötzlich über sie hereingebrochenen Ereignisse gegenüber.

„Was thue ich nur mit den Schlüsseln? Ich mache es wie früher, als wir noch in Wiesenthal wohnten und ich täglich mit ihm promeniren ging, ich lege die Schlüssel auf den Sekretär, laß das Zimmer unverschlossen und plazire den Entréeschlüssel hinter das herangezogene Parterrefenster. Ein Fremder findet sie nicht, und wenn Christine zurückkehrt, kann sie in das Haus.“

Sie führt diesen Vorsatz aus und wandert dann der Haltestelle zu. Dort braucht sie nicht lange auf den nächsten Zug zu warten. Sie steigt ein, erreicht die kleine Station und setzt hier ihre Wanderung fort, bis sie am Hause des Verstorbenen steht. Es ist ihr, als sei sie in der Heimath angelangt. Sie geht durch das offene Gitterthor und klingelt. Kein Mensch läßt sich hören.

Da stößt sie das Fenster auf und findet den Schlüssel. Sie öffnet und tritt aus dem Flur in das Zimmer.

Hier weht es sie an wie Geisterhauch; es ist ihr, als webten die zurückgelassenen Grüße des Todten in der lautlosen Stille, und sie sinkt erschüttert in einen Sessel.

Hier hat er gelebt und geathmet. Mit einem Fluche auf den Lippen oder mit einem segnenden Worte für sie? Gewiß hat er wenigstens an seinem Ende ihrer freundlich gedacht, sonst hätte er ihr nicht ein so reiches Erbe hinterlassen. Und welche zarte Schonung von ihm, daß er sie seinen Tod erst nach der aufreibenden Beerdigung hat wissen lassen! Hat sie das Alles an ihm verdient? Die Vergangenheit geht an ihr vorüber, und zum ersten Male kommt ihr die Erkenntniß, daß sie gefehlt, unverantwortlich gefehlt habe. Sie denkt der einsamen Jahre, die sie vertrauert hat, an ihren Haß gegen ihn, der so wenig ächte Weiblichkeit und Demuth bei ihr gefunden, und sie möchte Alles hingeben für einen einzigen jener glücklichen Tage der Liebe, möchte hinauseilen auf den Kirchhof und ihn mit den Händen aus der Erde scharren, wenn er dadurch wieder lebendig werden könnte.

So sitzt sie da und klagt sich an, giebt sich allein die Schuld, bis sie durch ein dumpfes Heulen aus ihrem Sinnen geweckt wird. Sie erhebt sich und geht hinaus, um den Verschlag zu öffnen, aus welchem die Töne kommen. Es fehlt ihr der Schlüssel. Sie kehrt zurück und sucht, bis sie das Gesuchte auf dem Schranke findet. Als sie öffnet, springen ihr seine Lieblinge dankbar freudig entgegen. Er hat sie gepflegt, sie sind seine einzigen Freunde gewesen, und so läßt sie sich ihr zutrauliches Schmeicheln gefallen und findet, daß es gar keine so schlimmen „Bestien“ sind, wie sie sich immer eingebildet hat.

„Ihr habt den Herrn verloren,“ tröstete sie, als könnten sie ihre Worte verstehen, „und Ihr sollt eine gute Herrin an mir finden. Ich nehme Euch mit nach Hause.“

Sie sucht in der Küche nach Eßbarem, und als sie es gefunden hat, füttert sie einen nach dem andern, und es ist ihr, als erweise sie damit dem Hingeschiedenen selbst eine Liebe.

Nun geht sie an das Durchsuchen der Zimmer. Ihr geübter Blick erkennt zwar sofort, daß hier eine weibliche Hand gefehlt habe, aber sie sieht doch Alles in einer anmuthenden Nettigkeit, für welche sie dem so Verhaßten gar keinen Sinn zugetraut hätte. Als sie den Geldschrank öffnet, findet sie aus den sorgfältig geführten Büchern den Beweis, daß sie ihn mit ihrer höheren Steuerklasse doch nicht ausgestochen habe. Sie zieht jedes Fach hervor und sieht nun auch ihre Photographie unter einer Menge von Andenken, die sich nur auf ihre Person beziehen. Alles zeugt davon, daß er sie oft hervorgezogen und betrachtet habe.

„Er hat mich lieb behalten, und ich — — o ich undankbares, treuloses Geschöpf!“

Sie schlägt die Hände vor die Augen und weint, weint bitterlich über ihre Verblendung, so daß die Hunde sie ganz verwundert anblicken und ihr herzzerreißendes Schluchzen mit keinem Laute unterbrechen. Sie küßt die Bücher, in denen seine Augen geruht und über welche seine Hände geglitten; sie nimmt sein Brustbild von der Wand und drückt es inbrünstig an ihr Herz, als ob es der Todte selber sei; sie muß Alles in die Hände nehmen, was er berührt und getragen hat, und immer ruft sie aufs Neue:

„Wie wollte ich jetzt ganz anders sein, wenn ich ihn noch lebend sehen könnte!“

So vergeht die Zeit. Sie denkt an keine der Formalitäten, die sie zu erfüllen hat; sie weiß ja auch nur Wenig oder gar Nichts von ihnen und denkt erst an den Aufbruch, als ihr keine Frist mehr übrig bleibt.

„Jetzt muß ich fort; aber morgen komme ich wieder!“

Sie nimmt alle Papiere und Sachen von Werth an sich, ruft die Hunde und verschließt das Haus gerade so, wie sie das Ihrige verschlossen hat. Freudig umsprungen von den vierbeinigen Gefährten, die froh sind, ihre Freiheit wieder erlangt zu haben und ihr willig folgen, schreitet sie durch die Abenddämmerung der Haltestelle zu. Sie ahnt nicht, daß diese Willigkeit der Thiere durch die Spur zu erklären ist, die sie von ihrem Herrn gefunden haben. Sie läßt sich auch nicht beirren durch die verwunderten Blicke, welche man ihr wegen einer so zahlreichen und seltenen Begleitung zuwirft. Sie löst für dieselben die nöthigen Billets und steigt, als der Zug kommt, mit einem Gefühle ein, als sei sie durch den Schmerz um den Verstorbenen und die Reue über ihre Fehler von einem Drucke befreit, dem sie im Laufe der Zeit ganz sicher noch erlegen wä­re. —

29319.

III.

Der Rentier August Hildebrandt kommt mit seinen Katzen wohlbehalten zu Hause an. Er hat für den Transport derselben von dem Haltepunkte bis nach Wiesenburg einen zweiten Fuhrmann

genommen, der ihm die Körbe in den Flur setzt und sich dann mit seiner Bezahlung entfernt.

Christian ist noch immer nicht da, doch findet Hildebrandt Alles scheinbar unberührt. Nur als er die Hunde aus ihrem Gewahrsam befreien will, sind sie verschwunden. Die Thür ist verschlossen -

verschlossen gewesen; sie müssen also durch das Fenster, welches er der nöthigen Luft wegen offen gelassen hat, gesprungen sein. Jedenfalls haben sie seine Spur verfolgt und werden morgen zurückkommen. Ueberhaupt würde ihm ihre Abwesenheit sonst viel mehr Sorge bereitet haben als heut, wo er sich körperlich und geistig angegriffen fühlt. Er öffnet die Körbe, um den Katzen ihre Freiheit zurückzugeben, versorgt die hungrigen Thiere mit Nahrung und

legt sich dann zur Ruhe, die ihm aber noch lange versagt bleibt, denn die Ereignisse des vergangenen Tages ziehen in bald freundlichen, bald drohenden Gestaltungen an ihm vorüber und scheuchen den Schlaf von seinen Augen.

Als er erwacht ist es bereits Mittag. Er erhebt sich und betritt das Wohnzimmer. Die Abwesenheit des Dieners gebietet ihm, die diesem obgelegenen Verrichtungen nun selbst zu übernehmen.

29419.

„So ists mit fremden Leuten,“ seufzte er. „Sie haben kein tieferes Interesse an dem Wohle der Herrschaft und handeln nur nach ihrem eigenen Vortheil. Wäre ich damals nicht so streng gewesen, so hätte eine Versöhnung ganz sicher stattgefunden, sie hätte sich nicht zu Tode gehärmt und ich könnte mich einer behaglichen Häuslichkeit erfreuen. Der Mensch ist das obstinateste Geschöpf, welches ich kenne!“

Die Katzen streichen durch das Haus; sie finden die Herrin nicht und kommen mit leisen Klagelauten zu ihm.

„Ihr werdet sie nie wiedersehen, ihr armen Thiere, und sie mit der Zeit vergessen; ich aber werde immer an sie denken müssen unter Vorwürfen und Klagen gegen mich selbst.“

Er sorgt für sie und sich und öffnet dann den Schrank. Kaum hat er das erste Fach herausgezogen, so fährt er entsetzt zurück.

„Leer! Himmel, ich bin bestohlen!“

Er sucht weiter und findet, daß ihm während seiner Abwesenheit sein ganzes Vermögen geraubt worden ist.

„Alles fort, Alles! So viele Hunde im Hause und dennoch bestohlen und beraubt. Ich muß sofort An zeige machen! Aber wenn mir diese fortgelaufenen Kreaturen wiederkommen, so nehme ich sie nach der Reihe her und schlage sie todt, einen nach dem andern. Christian hatte Recht; ich wollte, er hätte sie alle erschossen, erstochen, vergiftet und ersäuft. Hätte ich die Katzen noch nicht, so schaffte ich mir welche an, sie hätten den Spitzbuben die Augen ausgekratzt!“

Er läuft in höchster Wuth im Zimmer auf und ab; da klingelt es, und als er öffnet, bringt ihm der Postbote einen Brief. Verwundert, daß er den Einsiedler einmal zu sehen bekommt, benutzt er diese Gelegenheit, seine Neugierde zu befriedigen.

„Was ist denn gestern hier im Hause los gewesen? Es ist doch in der Dämmerung ein Frauenzimmer mit Ihren Hunden nach der Station gegangen und mit ihnen in der Wiesenthaler Richtung fortgefahren!“

„Ein Frauenzimmer? Mit meinen Hunden? Nach Wiesenthal? Hatte sie ein Paket, eine Tasche, einen Handkoffer oder etwas Aehnliches bei sich?“

„Jedenfalls. Ich habe sie zwar nicht selber gesehen, aber da — — —“

August Hildebrandt klappt ihm die Thür vor der Nase zu und eilt in das Zimmer zurück, um sich schleunigst umzukleiden.

„Ein Frauenzimmer? Das ist keine Andere als das Dienstmädchen der Verstorbenen! Sie hat gewußt, daß ich nach Wiesenberg gehe, und die Gelegenheit benutzt, mich auszuplündern. Die Hunde hat sie geködert — na, wart, ihr Bestien, das soll euch gut bekommen! Welch ein Glück, daß ich weiß, wohin sie ist! Darum also hat sie sich nicht nach Wiesenberg zurückgetraut! Die Anzeige hier im Orte hilft mir Nichts; ich muß die Verbrecherin verfolgen und mich in Wiesenthal an einen tüchtigen Kriminalisten wenden! Sapperlot, ich habe dort ja den Paul, der wird sie erwischen, ertappen, verurtheilen, aufhängen — — der Brief ist von ihm. Was schreibt er denn?“

Er öffnet das Couvert und liest:

„Bester Papa!

Du hast bei der Adoption mir zwar die Bedingung gestellt, auf allen persönlichen Verkehr mit Dir ein für allemal zu verzichten, aber es ist gegenwärtig ein für mich höchst wichtiger Umstand eingetreten, welcher mich zu der wirklich dringlichen Bitte veranlaßt, Dich einmal besuchen zu dürfen.

Ich habe nämlich hier ein Mädchen kennen gelernt, welches sich meine vollste Achtung und Liebe erworben hat; sie erwidert Beides, und ich bin sicher, mit ihr recht glücklich zu werden. Sie ist Lehrerin und — wie ich Dir gleich heut offen sage, die Adoptivtochter von Fräulein Hildebrandt in Wiesenberg. Die Differenzen, welche dieser letztere Umstand herbeiführen dürfte, bewegen mich zu der oben ausgesprochenen Bitte.

Ist Christian wieder einmal echappirt? Er war nicht, wie gewöhnlich, bei mir, sondern ich sah ihn heut Abend zu meiner Verwunderung mit dem Dienstmädchen von Fräulein Hildebrandt hier Arm in Arm spazieren gehen.

Eine möglichst umgehende Gewährung meiner Bitte erflehend, grüße ich mit gewohnter Dankbarkeit

Dein gehorsamer

Paul.“

Der Brief hat einen außerordentlich aufregenden Inhalt, und

Hildebrandt steigt in dem Zimmer auf und ab wie Einer, der losschießen will und dennoch zaudert.

„Verliebt ist er? Ich werde ihm den Kopf waschen, dem unvorsichtigen Menschen! — — — Aber, hm — — ich bins ja auch gewesen, hm — — — und in die Pauline ist er vernarrt! Warum gerade in die, hm? Sie ist die Tochter dieser, dieser — dieser — — hm, Hildebrandt, hast Du den gestrigen Tag vergessen? — Und den Christian hat er gesehen — mit der Christine? Sie sind im Komplott; sie haben den Diebstahl verabredet; ich lasse sie Beide arretiren! Paul braucht gar nicht zu kommen, ich fahre selbst zu ihm!“

Er schließt die Katzen ein und verläßt das Haus. Auf der Straße kommt ihm ein neuer Gedanke.

„Gestern Abend sind sie in Wiesenthal gewesen? Wie nun, wenn sie nicht mehr dort, sondern nach Wiesenberg gefahren sind! Sie wissen, daß ich zurück muß und das Haus also leer steht. Ja, ich verspüre in mir Anlagen zum Kriminalisten, sie sind ganz sicher hin, um das Haus auszuräumen. Und wenn dies auch nicht der Fall sein sollte, ich muß dennoch hin, um einen Mann anzustellen, der es während meiner Abwesenheit bewacht. Ich hätte gestern daran denken sollen!“

Er löst das Billet nicht bis Wiesenthal, sondern bis Wiesenberg und nimmt, um schneller vorwärts zu kommen, an der letzten Station einen Wagen. Bei dem Häuschen, welches er geerbt hat, angekommen, steigt er aus und öffnet. Alles ist so, wie er es gestern verlassen hat. Das beruhigt ihn. Er schließt auch den Sekretär auf und — stößt einen Ruf der Ueberraschung aus, das ganze ihm geraubte Gut liegt hier, Alles, Alles, bis auf den Pfennig. Ohne sich zu fragen, wie es hierher gekommen ist, eilt er zum Fuhrmann hinaus und gebietet ihm, in die Stadt zu gehen und einen Hüter für das Haus zu besorgen.

Da erschallt auf einmal ein vielstimmiges Gebell von oben herab. Er steigt empor und öffnet die Thür, hinter welcher er gestern die Katzen gefunden hat; seine Hunde stürzen ihm entgegen, jauchzend, heulend, kläffend, je nach der Größe ihres Stimmorganes und des Entzückens, in welches sie durch die Gegenwart ihres rechtmäßigen Herrn versetzt worden.

„Meine Hunde!“ ruft er. „Wie sind sie nach Wiesenberg gekommen?“

Er gönnt sich aber nicht Zeit, diese Frage eines Näheren zu erörtern, sondern sorgt für die schadensichere Verpackung des so unverhofft wiedergefundenen Vermögens und setzt sich dann, nachdem der Fuhrmann seinen Auftrag ausgeführt hat und ein Aufseher angestellt ist, in den Wagen, um zur Station zu fahren. Denn nach Wiesenthal muß er, das steht fest.

Die Hunde folgen dem Fuhrwerke wie die wilde Jagd dem Geisterhirsche. Zwar müssen sie sich an der Bahn noch einmal zur Gefangenschaft bequemen, aber diese dauert nur bis zur Ankunft in Wiesenthal; dort umspringen sie ihren Herrn von Neuem.

Dieser lächelt still in sich hinein, daß er aus einem Einsiedler auf einmal ein förmlicher Bahnlagerer geworden ist und schreitet der ihm der Nummer nach bekannten Wohnung seines Adoptivsohnes zu. Dieser ist nicht zu Hause; die Wirthin sagt, er sei zu Fräulein Pauline Hildebrandt gegangen.

„Das trifft sich gut,“ denkt der Rentier; „ich gehe hin und werde sie Beide überraschen!“

Er erkundigt sich nach der Wohnung der jungen Dame, nach der er sich sofort begiebt.

„Ich bin nur begierig, sie kennen zu lernen! Es ist eigentlich außerordentlich, einen Sohn zu haben, den man noch nie gesehen hat. Ja, die Einsamkeit stimmt das Herz feindlich und verdüstert die ganze Seele, so daß die Augen wie durch schwarze Gläser blicken!“ — —

Auch die Rentière Fräulein Auguste Hildebrandt kommt mit den ererbten Hunden wohlbehalten zu Hause an.

Christine ist nicht zurückgekehrt, und sie findet scheinbar Alles so, wie sie es verlassen hat. Nur als sie nach ihren Katzen sehen will, sind diese verschwunden. Sie kann sich nicht erklären, auf welche Weise die Thiere aus dem Raume gekommen sind, als sie aber ein Fenster offen sieht, muß sie annehmen, daß sie durch dasselbe geklettert sind. Noch gestern würde ihr die Abwesenheit der Lieblinge große Sorge bereitet haben, heut aber nach den Erlebnissen dieses inhaltsschweren Tages fühlt sie sich so abgespannt, daß es ihr gerathen scheint, so bald wie möglich die Ruhe zu suchen. Sie füttert die Hunde, weist ihnen einen Platz für die Nacht an und geht dann schlafen. Aber noch stundenlang klingen die heutigen Stimmen in ihr wieder, bald anklagend, bald versöhnlich; der Schlaf flieht ihre Lider, wie die Seelenruhe bisher ihr Herz geflohen hat, und als sie endlich entschlummert, ist Mitternacht längst vorüber.

29519.

Sie erwacht ungewöhnlich spät und erhebt sich, um das Frühstück zu bereiten. Sie ist dabei die Handreichungen Christinens gewohnt und seufzt:

„Es ist wirklich schrecklich, sich so ganz allein zu wissen; auf fremde Leute ist kein Verlaß, und die Einem nahe stehen sollten, sind entweder todt oder unfähig zu einem befriedigenden Zusammenleben. Wie hab’ ich mir mein Loos einst doch so ganz anders ausgemalt! Aber ich bin selbst Schuld, daß es so gekommen ist. Das Weib hat die Aufgabe, sich zu fügen; ich erkannte dies nicht und muß nun die schweren Folgen meines Starrsinnes tragen.“

Die Hunde sind unruhig geworden. Sie öffnet ihnen das Verließ und bemerkt, daß sie in allen Winkeln nach ihrem Herrn suchen.

„Ihr werdet ihn nie mehr finden,“ meint sie, als könne sie von ihnen verstanden werden, „aber ich werde seine Stelle ersetzen, so gut es mir möglich ist!“

Nach dem Morgenbrode öffnet sie den Sekretär. Ein Schrei des Entsetzens entfährt ihren Lippen und schreckensbleich starrt sie auf die leeren Fächer.

„Fort, Alles fort! Man hat mich beraubt!“

Mit zitternden Händen wühlt sie in dem zurückgebliebenen Inhalte, sinnt und vergleicht und findet, daß ihr sämmtliches Vermögen verschwunden ist.

„Nichts, nichts mehr da, nicht ein Groschen, nicht ein Pfennig mehr! O, diese Katzen, wie habe ich sie nur mit solcher Aufopferung hegen und pflegen können! Sie sind fort. Hätte ich nur einen einzigen, nur den kleinsten Hund im Hause gehabt, als die Diebe kamen, so wäre mir Alles erhalten geblieben! Christine hatte Recht, ich hätte die nutzlosen Thiere schon längst fortjagen sollen! Was ist zu thun? Ich muß sofort in die Stadt, um Anzeige zu machen!“

Noch ist sie mit ihrer Toilette beschäftigt, so klingelt es und der Briefträger überreicht ihr einen Brief.

„Sind Sie hier bekannt?“

„Ein Postbote und nicht bekannt!“ lacht er selbstbewußt.

„Wissen Sie nicht, ob gestern Jemand bei meinem Hause gesehen worden ist?“

„Ich selbst habe Niemand gesehen, da ich nur Mittags nach dieser Richtung komme, aber heut Morgen erfuhr ich in der Stadt, daß gestern Nachmittag ein fremder Mann bei Ihnen gewesen ist und Ihre Katzen nach der Station schaffen ließ. Er hat eine sehr schwere Reisetasche getragen und ist in der Richtung nach Wiesenthal abgefahren.“

Er geht; sie aber bleibt in höchster Aufregung zurück.

„Ein fremder Mann! Das ist der Diener meines seligen August gewesen! Er hat gewußt, daß ich abwesend sein werde und dies benutzt, sich in den Besitz meines Eigenthumes zu setzen. Aber warum hat er auch die Katzen mitgenommen? Es sind seltene Exemplare, deren Felle gut bezahlt werden. Er will sie schlachten und hat hier keine Zeit dazu gehabt. — Nach Wiesenthal ist er? Da ist mir die Anzeige hier im Orte zu umständlich, zumal wir eine schlafsüchtige Polizei haben. Ich werde ihm schleunigst folgen und mich dort an einen tüchtigen Beamten wenden!“

Sie öffnet jetzt den Brief. Er lautet:

„Liebste Mama!

Obgleich Du mir ausdrücklich befohlen hast, die Hoffnung auf einen persönlichen Verkehr zwischen uns ein für allemal aufzugeben, sehe ich mich heut in der Lage, mir die freundliche Erlaubniß zu einem Besuche bei Dir zu erbitten. Du darfst versichert sein, daß ich diesen Wunsch nicht aussprechen würde, wenn ich mich nicht durch eine mir höchst wichtige Angelegenheit dazu veranlaßt sähe.

Zu Deiner Vorbereitung gestehe ich, daß ich mich der Liebe eines jungen Mannes erfreue, der eine sehr achtbare Stellung einnimmt und mir außer seiner aufrichtigen Zuneigung alle Garantien einer glücklichen und sorgenfreien Zukunft bietet. Er ist Referendar und der Adoptivsohn des Rentier August Hildebrandt in Wiesenburg. Dieser letztere Umstand macht mich für Deine Zustimmung bange und darum halte ich eine persönliche Rücksprache für dringend nothwendig. Kannst Du sie mir verweigern, Mama?

Christine ist wohl wieder einmal wanderlustig geworden? Ich bin ihr begegnet, obgleich sie mich dieses Mal nicht aufgesucht hat. Sie ging nämlich heut Abend mit Christian, dem Diener des Herrn Hildebrandt, Arm in Arm auf unserer Promenade spazieren. Hast Du schon ein anderes Mädchen engagirt oder kann ich Dir mit einer Empfehlung dienen?

Indem ich Dich von ganzem Herzen ersuche, meine Bitte

einer möglichst gerechten Erwägung zu unterziehen, erwartet eine baldige Zuschrift

Deine gehorsame

Pauline.“

Das Schreiben macht einen gewaltigen Eindruck auf die Leserin, welche es zwischen ihre gefalteten Hände nimmt und lächelnd vor sich niederblickt.

„Sie liebt — sie liebt seinen Sohn, den er um meinetwillen im Erbe übergangen hat! Sie soll nicht so unglücklich sein wie ich, wenn dieser Paul — — Wie? Referendar ist er? Wie sich das schickt! Pauline soll nicht kommen, ich selbst suche sie auf und werde mich wegen des Einbruches an ihn wenden. Er muß den Thäter persönlich kennen und wird ihn desto leichter entdecken. Fort also, nach Wies — — —. Aber wie, wenn der Mensch seit gestern Wiesenthal verlassen hat? Er muß ja wissen, daß in Wiesenburg das Haus des Verstorbenen unbewacht ist! Und dazu ist die Christine mit ihm verbunden! Gewiß haben sie schon längst im geheimen Einvernehmen gestanden und werden nun diese Nacht nach Wiesenburg gegangen sein, um ihr Verbrechen fortzusetzen. Ich muß schleunigst hin, um Weiteres zu verhüten und für alle Fälle einen Wächter anzustellen. Nach Wiesenthal komme ich dann auch noch zurecht!“

Sie schließt die Hunde ein und verläßt dann das Haus. Die Erregung läßt ihr den Weg doppelt lang erscheinen, und im Coupé werden ihr die Viertelstunden zu Ewigkeiten. Als sie endlich aussteigt, nimmt sie einen Wagen, dessen schnelles Gespann sie dann zum Ziele bringt.

Kaum kann sie erwarten, das Haus zu betreten, in welchem sie gegen alles Vermuthen Alles in Ordnung findet. Die Schlüssel liegen auf dem Schranke; sie öffnet ihn und stößt einen gleichen Schrei aus wie daheim, aber nicht vor Schreck, sondern vor Freude.

„Mein Geld, meine Pretiosen, meine Rollen! Wahrhaftig, Alles, Alles ist hier! Die Diebe haben nicht geglaubt, daß ich heut wiederkomme, und mein Eigenthum bis zu ihrer Rückkehr hier verborgen. Ich werde im Augenblicke nach der nöthigen Bewachung schicken!“

Der Fuhrmann muß die Pferde aussträngen und in die Stadt gehen. Währenddessen packt sie den wiedergefundenen Raub ein und ist noch damit beschäftigt, als über ihrem Haupte sich ein lautes Katzengeschrei erhebt. Sie horcht auf.

„Katzen hier? Sollten sich welche vom Felde herein verlaufen haben? Aber nein, das ist ja die tiefe Baßstimme meines Schnurr, die man gar nicht verkennen kann!“

Sie eilt hinauf und öffnet.

„Wahrhaftig, mein, alle mein! Man hat sie noch nicht geschlachtet, sondern bis vielleicht heut Nacht hier versteckt. Ich nehme sie wieder mit!“

Der Bote kommt zurück und bringt zwei Männer mit, welche bereit sind, das Haus bis auf Weiteres zu bewachen. Es wird wieder angesträngt; sie steigt mit dem Gepäck ein, die Katzen nehmen Platz auf den Sitzen und in ihrem Schooße und so geht es wieder der Haltestelle zu, um den Referendar zur Festnehmung der Verbrecher zu requiriren.

Zwar bemerkt sie recht gut, daß die Blicke der Begegnenden verwundert oder belustigt auf ihren sonderbaren Fahrgenossinnen ruhen, doch nimmt sie das mit stillem Lächeln hin. Wer ein ganzes Vermögen glücklich wiedergefunden hat, läßt sich durch einen Blick nicht aus der Fassung bringen.

Ganz in der gleichen Weise und mit derselben Gesellschaft besteigt sie dann in Wiesenthal eine Droschke, um sich zu Pauline fahren zu lassen, deren Wohnung sie natürlich kennt.

Das Mädchen sitzt am Tische bei der Lampe und schreibt; da klopft es an, die Thür geht auf und — mit einem Laute des Erschreckens fährt sie empor, ein ganzes Detachement Katzen kommt hereingefahren und hat sich im Augenblicke auf Stühle, Kommode, Sopha, Schrank und Tisch plazirt. Am Eingange aber steht eine hohe, stolze, bleichschöne Frauengestalt, deren dunkle Augen forschend auf der Erschrockenen ruhen. Diese kennt die Katzenliebe ihrer Adoptivmutter, erinnert sich des gestrigen Briefes und ruft, vor Freude erröthend:

„Mama!“

„Ja, ich bins, wenn Du Pauline bist!“

Sie liegen einander in den Armen, denn Beiden ist es gleich im ersten Augenblicke klar geworden, daß sie einander herzlich lieb gewinnen werden.

„Laß eilig den Referendar rufen!“

Pauline erglüht, da sie den Grund einer solchen Hast noch nicht kennt; als ihr aber die Mutter in kurzen Worten mitgetheilt

29619.

hat, was geschehen ist, verläßt sie das Zimmer, um einen Boten zu suchen. Die Rentière wirft einen forschenden Blick durch den Raum, und ihr weiblicher Scharfsinn sagt ihr, daß ihre Wohlthat einen würdigen Gegenstand gefunden habe. Mit gewinnender Freundlichkeit zieht sie darum die Rückkehrende neben sich auf das Sopha, wo sie durch den Referendar in der mittheilsamsten Unterhaltung unterbrochen werden.

Dieser hat sich höchlichst gewundert, daß er so unerwartet zu der Geliebten gerufen wird, die ihm die Erlaubniß, bei ihr Zutritt nehmen zu dürfen, bisher so streng verweigert hat, und ist dem Wunsche ohne Verweilen nachgekommen. Er weiß, daß Pauline gestern schreiben wollte, er sieht die Katzen und die fremde Dame neben dem Mädchen und weiß sofort, wen er vor sich hat.

Der Blick der Reintière ruht mit Wohlgefallen auf den offenen, geistreichen Zügen des Eingetretenen, und sie reicht, sich erhebend, ihm ihre Hand entgegen.

„Sie sind der Herr Referendar Paul Hildebrandt?“

„Das ist mein Stand und Name, gnädiges Fräulein!“

„Wie, Sie kennen mich?“

„Ich vermuthe nur, wer mir die Hand reicht, die ich mit Ehrerbietung in der meinen halte.“

„Sie vermuthen richtig. Bitte, nehmen Sie Platz und gestatten Sie mir, mich zunächst an den Referendar zu wenden, ehe ich Sie ersuche, Herrn Paul Hildebrandt kennen lernen zu dürfen!“

Er läßt sich auf den angebotenen Sessel nieder und hört mit steigender Aufmerksamkeit den Bericht, den sie ihm von den Ereignissen der letzten beiden Tage erstattet. Noch hat sie nicht ganz geendet, so erhebt sich draußen auf der Treppe und Vorsaal ein Spektakel, der gar nicht größer und verworrener gedacht werden kann. Befehlende, bittende und kreischende Menschenstimmen bilden mit einem vielstimmigen Gebell und Geheul von Hunden ein Chaos, aus dem man endlich die rufenden Worte vernimmt:

„Auf mit der Thür, es kommt Besuch!“

Der Referendar erhebt sich und öffnet, wird aber beinahe zu Boden gerissen, denn eine ganze Anzahl scharfer Hundeaugen haben die Katzen erblickt, und was nun folgt, ist mit der Feder nicht zu beschreiben. Die Hunde drängen sich im Nu in die Stube, und es beginnt ein Kampf, der seinesgleichen sucht. Die beiden Damen sind auf das Sopha gesunken und suchen sich so viel wie möglich der über sie hinstürmenden Thiere zu erwehren; Paul hat die Geistesgegenwart, die Lampe zu vertheidigen, während alle andern nicht niet- und nagelfesten Gegenstände zu Boden gerissen und unter einander geworfen werden; vor der Thür erheben sich drei zeternde Stimmen, welche den Wirrwarr nur vermehren, und es tritt nicht eher eine Sicherheit der Person ein, als bis sämmtliche Katzen sich auf die hohen Möbels retirirt haben, wo sie von den Zähnen ihrer Feinde nicht erreicht werden können, und sämtliche Hunde mit emporgesträubten Haaren und gefletschten Zähnen am Boden sitzen, wie lebendige Belagerungsgeschütze, die jeden Augenblick Tod und Verderben sprühen können.

Die eine der drei Personen vor der Thür ist August Hildebrandt; die andern sind seine Gefangenen. Er muß sie festhalten, damit sie ihm nicht entwischen können, und darum war es ihm vollständig unmöglich, sich mit vermittelnder Strenge in den Kampf zu mischen. Jetzt aber schiebt er die Beiden in das Zimmer, verschließt die Thür von innen und zieht den Schlüssel ab.

„So, jetzt seid Ihr mir sicher!“

Dann schreitet er zur Thür der Nebenstube, öffnet dieselbe, und auf seinen befehlenden Zuruf geben die Hunde die Belagerung auf und ziehen sich vom Schlachtfelde zurück.

„August!“ ruft es da vom Sopha her. Es ist die Rentière, welche leichenblaß und zitternd dasteht, die Arme halb verlangend, halb abwehrend gegen ihn ausgestreckt.

„Auguste!“ antwortet er, fast ebenso erstarrt wie sie. Er hat sie erst jetzt bemerkt und glaubt eine Erscheinung vor sich zu haben.

Sie nähern und sie weichen sich wieder aus; unendliche Furcht, unendliche Hoffnung blickt und strahlt aus ihren Mienen, bis sie endlich das Vertrauen fassen und sich einander in den Armen liegen.

„Du lebst! Ist es auch wahr?“

„Du bist nicht gestorben? Man hat mich belogen!“

„Belogen? Ja, ganz fürchterlich belogen, um mich zu berauben!“

„Und mich zu bestehlen. Aber ich habe Alles wieder!“

„Ich auch. Ich fand es in Deinem Sekretär.“

„In mei — — — Meinst Du Deine Banknoten?“

„Ja.“

„Die habe ich in Wiesenburg geholt, weil ich mich für Deine Universalerbin hielt.“

„Und ich Deine Rollen und Pretiosen aus demselben Grunde in Wiesenberg.“

Der Referendar hat die Lampe auf den Tisch gesetzt und verwendet kein Auge von der Scene.

„Vater!“

„Bist Du es, Paul?“

„Ja. Darf ich Dich begrüßen?“

„Komm her!“

Es erfolgt eine herzliche Umarmung zwischen den Beiden, die Vater und Sohn sind und sich doch nie gesehen haben. Dann fragt Paul, der vermöge seines im Amte geübten Scharfblickes die ganze Situation erfaßt hat:

„Wie bist Du zu den Thätern gekommen?“

Er zeigt auf Christian und Christine, denn diese sind es. Sie sind mit Pack und Tasche ausgerüstet, als ob sie sich zur Reise begeben wollten.

„Ich sah sie vor mir hergehen und erkannte sie auf der Stelle. Unten am Hause holte ich sie ein. Sie wollten fliehen, aber mit Hülfe der Hunde zwang ich sie, mitzugehen.“

„So laß uns einmal Klarheit bekommen, Vater!“

Er beginnt das Verhör. Nicht um sich zu bereichern, sondern aus Absicht der Rache haben sie sich verabredet, ihre Herrschaft für todt auszugeben und auf diese Weise eine Verwirrung anzurichten, welche nach allem Vermuthen die Feindschaft der Hildebrandts bis auf das Höchste steigern mußte. Die beiden Belogenen erzählen ihre Erlebnisse, und als nun Alles aufgeklärt ist, fragt Paul das entlarvte Paar:

„Wo wolltet Ihr jetzt hin?“

„Nach dem Bahnhofe. Wir wollen nach Amerika.“

„Später vielleicht, jetzt aber noch nicht. Ich werde Euch der Polizei übergeben!“

„Halt, Paul,“ meint da der Rentier, „das gebe ich nicht zu! Christian hat mir fünfzehn Jahre lang treu gedient; ich will ihn nicht unglücklich machen, da sein Schwank mir keinen Schaden verursacht hat, sondern mir zum Heil gewesen ist.“ Er öffnet die Tasche, welche seine Banknoten enthält und winkt den Diener herbei. „Hier, Christian, nimm, damit Du wirklich hinüber kannst. Aber laß Dich nicht wieder hier erblicken, sonst macht der Referendar Ernst!“

Während dieser Ermahnung hat auch die Rentière eine Rolle hervorgezogen.

„Da, Christine; Du sollst nicht schlimmer wegkommen als Dein Mitverschworener!“

Die so ganz wider alle Erwartung für ihre That Belohnten sind unendlich beschämt und vermögen kaum, ihren Dank zu stammeln. Schon hat Christian die wieder geöffnete Thür in der Hand, da ruft der Rentier:

„Warte noch. Es kommt mir ein Gedanke! Ich mag die Hunde nicht mehr haben; ich schenke sie Dir. Nimm sie mit und verauktionire sie; das wird Dein Reisegeld vermehren!“

„Und ich mag von den Katzen Nichts mehr wissen,“ schließt sich ihm die Rentière an. „Nimm sie mit, Christine; Du wirst sofort Käufer für sie finden!“

Die zwei Dienstboten sind über dieses neue Geschenk noch mehr erstaunt als über das erste, doch hüten sie sich wohl, dasselbe abzulehnen; sie wissen, daß der Erlös für die ausgezeichneten Thiere kein zu verachtender sein werde und sorgen dafür, daß nach Verlauf von kaum einer Viertelstunde keines von ihnen mehr sich in der Wohnung der Lehrerin befindet.

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Einige Minuten vor Wiesenthal liegt abseits von der Straße und von Bäumen umgeben, welche von einem eisernen Stakete umschlossen sind, ein im gothischen Stile erbautes Haus, welches unlängst erst errichtet wurde und auf dessen Ziegeldache in abstechenden Farben ein „A. H. — 1878 — P. H.“ eingedeckt ist. Was diese Chiffre zu bedeuten hat, wird der geneigte Leser sicher errathen. Das Parterre bewohnt der Rentier Herr August Hildebrandt mit seiner Auguste und den obern Stock der Assessor Herr Paul Hildebrandt mit seiner Pauline. Im Frühjahre ist, ungefähr wie man es in manchen Romanen findet, Doppelhochzeit gewesen. Die beiden Häuschen unweit Wiesenberg und Wiesenburg wurden verkauft mit sammt der ganzen Einrichtung, von der nur Weniges behalten wurde, nämlich der ausgestopfte Wachtelhund und die präparirte Cyper, welche nun von einer Pfeilerkonsole gar ernst herniederblicken auf die beiden glücklichen Menschen, welche sich einst so sehr zu hassen vermeinten und doch im tiefen Herzen sich ungeminderte -

ungeminderte Liebe bewahrten. Ihr Haß war kein lebenslänglicher wie bei den zwei ausgestopften [Ausgestopften], deren Manen — wir wiederholen es — das Firmament gnädig sein möge. — — —