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„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(Nachdruck nicht gestattet.)

1. Die Railtroublers.

Der Senat und das Haus der Repräsentanten der Vereinigten Staaten beschließen:

1. Der Landstrich, in den Territorien Montana und Wyoming liegend, nahe dem Ursprunge des Yellowstone River, ist hierdurch von jeder Besitznahme, Besiedelung und jedem Verkaufe unter den Gesetzen der Vereinigten Staaten ausgenommen und soll als ein öffentlicher Park oder Lustplatz zum Wohle und Vergnügen des Volkes betrachtet werden. Jedermann, der sich diesen Bestimmungen zuwider dort niederläßt oder von irgend einem Theile Besitz ergreift, soll als Uebertreter des Gesetzes angesehen und ausgewiesen werden.

2. Der Park soll unter die ausschließliche Kontrole des Sekretärs des Innern gestellt werden, dessen Aufgabe es sein wird, so bald als thunlich solche Vorschriften und Anordnungen zu erlassen, als er zur Pflege und Erhaltung desselben für nothwendig erachtet.“

Als mir die Bekanntmachung dieses Gesetzes in die Hände kam, freute ich mich herzlich über die Hochherzigkeit, mit welcher der Vereinigte-Staaten-Kongreß

durch diese Beschlußfassung dem Volke ein Geschenk erhielt, welches zu kostbar war, als daß man es hätte gestatten können, daß die Spekulation und Gewinnsucht sich seiner bemächtige.

Tausende werden diese Bekanntmachung gelesen haben, ohne zu ahnen, was ihnen damit geboten wurde. Viele, sehr Viele werden vielleicht gelächelt haben, daß die Regierung der Vereinigten Staaten einen 9500 Quadratkilometer großen Park, eine im wilden, unzugänglichen Felsengebirge liegende Landesfläche als Lust- und Erholungsplatz der Unterthanen reservirt. Die Zukunft aber wird beweisen, daß diese ganz ohne Beispiel dastehende Handlung einer der dankeswerthesten Vorgänge ist, den Millionen seiner Zeit noch segnen werden.

Dieser Park ist nämlich ein Stück Wunderland, wie es auf Erden wohl kaum zum zweiten Male gefunden werden dürfte. Die ersten märchenhaften Nachrichten von demselben erhielt General Warren im Jahre 1856. Er fühlte sich durch dieselben veranlaßt, eine Expedition dahin auszurüsten, welche aber nicht so glücklich war, ihr Ziel zu erreichen. Erst zehn Jahre später gelang es Anderen, den Schleier theilweise zu lüften und der Welt eine reiche, nie geahnte Fülle der großartigsten Naturwunder ahnen zu lassen. Im Sommer des Jahres 1871 drang Professor Hayden erfolgreich vor, und seine Berichte, so sachlich und nüchtern sie

auch gehalten waren, begeisterten den Kongreß zu dem Entschlusse, jenes außerordentliche Land nicht dem gemeinen Schacher in die Hände zu liefern.

Jenseits der weiten westlichen Prairien, fern noch hinter dem Höhenzuge der Blackhills, ragen die gigantischen Mauern des Felsengebirges zum Himmel empor. Man möchte sagen, hier habe nicht die Hand, sondern die Faust des Schöpfers gewaltet. Wo sind die Cyclopen, die solche Basteien zu thürmen vermögen? Wo sind die Titanen, die solche Lasten bis über die Wolken treiben könnten? Wo ist der Meister, der jene Firnen mit ewigem Schnee und Eise krönte? Hier hat der Schöpfer „ein Gedächtniß seiner Wunder“ errichtet, welches nicht imposanter und ergreifender sein könnte.

Und hinter jenen gigantischen Mauern, da wallet und siedet, da dampft und brodelt es noch heut aus den kochenden Tiefen des Erdinnern hervor; da treibt die dünne Erdkruste Blasen, da zischen glühende Schwefeldämpfe empor, und mit einem Getöse, welches dem Kanonendonner gleicht, sprühen riesige Geyser ihre siedenden Wassermassen in die zitternden Lüfte. Plutonische und vulkanische Gewalten kämpfen gegen die Gestaltungen des Lichtes. Die Unterwelt öffnet von Minute zu Minute den Rachen, um die Feuer der Tiefe emporzuspeien und die Gebilde des Tages in den tosenden Schlund hinabzusaugen.

Hier ist oft jeder einzelne Schritt mit Todesgefahren -

Todesgefahren verbunden. Der Fuß kann durch die trügerische Kruste brechen, der dampfende Katarakt kann den müden Wanderer erfassen, der unterhöhlte Felsen kann mit dem Ruhenden in den gähnenden Abgrund stürzen. Aber diese Todesfelder werden einst Tausende von Wallfahrern sehen, welche in den heißen Quellen und ozonreichen Lüften Heilung ihrer Leiden suchen, und dann wird man auch jene wunderbaren Schlüfte und Klüfte entdecken, in denen die geizige Einsamkeit Schätze an Steinen und anderen Werthen aufgespeichert hat, welche man an anderen Orten mit Gold aufwiegen wür­de. — — —

Zweimal bereits hatte ich die Prairie nach allen Richtungen durchstreift. Ich war von den Seeen bis nach Texas und von Florida bis hinauf zu den Schlangenindianern gekommen. Ich hatte manchen wackern Westmann kennen gelernt und manches Abenteuer erlebt und war dann zum zweiten Male nach der Heimath in der Ueberzeugung zurückgekehrt, daß ich die Jagdgründe und Felsenmauern des Westens niemals wiedersehen werde. Wer aber einmal den Thau der Savanne getrunken und den Duft des Büffelgrases geathmet hat, dem geht es wie dem Seemanne mit dem Meere: er kann nimmer von ihm lassen; es zieht ihn zurück, und die geringste Veranlassung wird ihm zur eisernen Nothwendigkeit, den Wanderstab und die Trapperbüchse von Neuem zu ergreifen.

So erging es auch mir. Seit meiner Rückkehr nach dem „alten Lande“ waren Jahre verflossen, ohne daß ich von jener Unruhe, welche den Wandervogel immer wieder von Neuem hinauszieht, Etwas gespürt hätte; da aber sollte mich das Verhängniß um so unverhoffter

und unwiderstehlicher packen. Es rief mich eine kleine geschäftliche Angelegenheit nach Hamburg, wo ich einen Bekannten traf, dessen Anblick alle Erinnerungen plötzlich aufleben ließ. Er war aus St. Louis, und wir hatten in den Sümpfen des Missisippi gar manches Stück Wild mit einander geschossen. Er war reich, sehr reich und bot mir freie Passage an, wenn ich ihm die Freude machen wolle, ihn nach St. Louis zu begleiten. Da ergriff mich die Prairiekrankheit mit voller, siegreicher Gewalt; ich sagte zu, telegraphirte nach Hause, um mir meine Gewehre und sonstigen Ausrüstungsstücke schleunigst kommen zu lassen, und nur fünf Tage nach unserem Wiedersehen schwammen wir bereits auf dem dienstfertigen Rücken der Elbe dem deutschen Meere und dem Ocean entgegen.

Drüben angekommen, vertieften wir uns für einige Wochen in die Wälder des untern Missouri; dann mußte er zurückkehren, während ich stromaufwärts nach Omaha City ging, um von da aus auf der großen Pacific-Bahn weiter nach Westen vorzudringen.

Ich hatte meine guten Gründe, grad diese Route einzuschlagen. Ich hatte das Felsengebirge von den Quellen des Frazer-Flusses bis zum Hell Gate Paß, vom Nordpark bis hinunter zur Wüste Mapimi kennen gelernt, doch die Strecke vom Hell Gate Paß bis zum Nordpark, also eine Strecke von über sechs Breitegraden, war mir noch fremd geblieben. Und gerade hier sind die interessantesten Punkte des Gebirges zu suchen: die drei Tretons, die Windriverberge, der Südpaß und ganz besonders die Quellgegenden des Yellow Stone, Schlangenflusses und Columbia.

Dorthin war außer dem schleichenden Indianer oder

einem flüchtigen Trapper noch kein Mensch gekommen, und es zog mich förmlich, mich an dem Wagnisse zu versuchen, in jene unwirthlichen, nach der Sage der Rothhäute von bösen Geistern belebten Schluchten und Cannons einzudringen.

Freilich war dies nicht so leicht, wie es sich erzählen läßt. Welche umständlichen und umfangreichen Vorbereitungen trifft der Schweizerreisende, ehe er sich anschickt, einen der Alpenberge zu besteigen! Und was ist sein Unternehmen gegen dasjenige eines einsamen Westmannes, der es wagt, im Vertrauen auf nur sich allein und seine gute Büchse Gefahren entgegen zu gehen, von denen der zahme europäische Tourist gar keine Ahnung hat! Aber gerade diese Gefahren sind es, die ihn locken und bezaubern. Seine Muskeln sind von Eisen und seine Sehnen von Stahl; sein Körper kennt keine Anstrengungen und Entbehrungen, und alle Thätigkeiten seines Geistes haben durch unausgesetzte Uebung eine Energie und Schärfe erlangt, die ihn selbst noch in der größten Noth ein Rettungsmittel finden lassen. Daher ist seines Bleibens nicht in civilisirten Distrikten, wo er seine Fähigkeiten nicht üben und bethätigen kann; er muß hinaus in die wilde Savanne, hinein in die todtbringenden Abgründe des Gebirges, und je drohender die Gefahren auf ihn einstürmen, desto mehr fühlt er sich in seinem Elemente, desto höher wächst sein Muth, desto größer wird sein Selbstvertrauen, und desto inniger hält er die Ueberzeugung fest, daß er selbst in der tiefsten Einsamkeit von einer Hand geleitet wird, die stärker ist als alle irdische Gewalt.

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(1. Fortsetzung.)

Was mich betrifft, so war ich zwar nicht ein Westmann in des Wortes vollständiger Bedeutung, doch hatte ich das Jägerleben schon auch ein Wenig kennen gelernt, konnte mich auf meine gute Konstitution verlassen und, was die Hauptsache war, befand mich im Besitz von oft erprobten Waffen, die mich noch nie im Stich gelassen hatten. Nur eines fehlte mir, ohne das es geradezu unmöglich ist, in den dark and bloody grounds) zu bestehen — ein gutes, zuverlässiges Pferd; doch verursachte mir dieser Mangel keine Kopfschmerzen. Den alten Wallach, der mich bis Omaha getragen hatte, verkaufte ich dort und setzte mich mit der festen Ueberzeugung in den Bahnwagen, daß ich ein gutes Pferd, sobald ich es brauche, auch wohl bekommen werde.

Damals war die Bahn noch nicht in allen ihren Theilen vollständig fertig gestellt; aber man dampfte doch bereits über die Felsenberge hinüber und herüber, und arbeitete eifrig an der Fertigstellung derjenigen

) „Finstern und blutigen Gründen“. So nennt der Amerikaner den wilden Westen seines Landes.

Punkte, die bisher nur interimistisch fahrbar waren. Daher erblickte man während der Fahrt an vielen Stellen der Bahn noch Arbeiter, welche beschäftigt waren, den Bau von Brücken und Viadukten nachzuholen oder solche Punkte, welche bereits schadhaft geworden waren, wieder auszubessern. Diese Leute hatten, wenn sie nicht in der Nähe einer der damals wie Pilze aus der Erde schießenden Ansiedelungen arbeiteten, sich gewöhnlich ein Camp, ein Lager errichtet, welches mit einigen Befestigungen versehen war. Dieses Letztere war nothwendig der Indianer wegen, welche den Bau der Eisenbahn als einen Eingriff in ihre Rechte betrachteten und ihn auf alle Weise zu verhindern und zu erschweren suchten.

Aber auch noch andere Feinde gab es, Feinde, welche fast noch furchtbarer als die Rothhäute waren.

Es treibt sich nämlich in der Prairie eine Menge Gesindels umher, welches sich aus denjenigen Elementen rekrutiert, welche der civilisirte Osten ausgestoßen hat, Existenzen, welche auf alle Weise bankerott geworden sind und nun vom Leben nichts weiter zu erwarten haben, als was sie durch ein verbrecherisches Durchschweifen des Westens zu erreichen vermögen. Diese Menschen rotten sich bald zu diesem, bald zu jenem verderblichen Zwecke zusammen und sind mehr zu fürchten, als selbst die wildesten Indianerhorden. Zur

Zeit des Eisenbahnbaues hatten sie es ganz besonders auf die jungen Ansiedelungen und auf die Camps abgesehen, welche entlang der Bahnstrecke entstanden, und es war daher nicht zu verwundern, daß diese Camps Befestigungen erhielten und die Bewohner derselben selbst während der Arbeit bewaffnet gingen.

Wegen der Angriffe, welche diese Räuber auf die Camps und kleinen Wagentrains unternahmen, wobei sie gewöhnlich den Schienenweg zerstörten, um den Zug zum Stehen zu bringen, wurden sie Railtroublers, Schienenstörer genannt. Man hatte ein scharfes Auge auf sie, so daß sie schließlich ihre Ueberfälle nur dann unternehmen konnten, wenn sich mehrere ihrer Trupps vereinigt hatten, so daß sie sich also zahlreich genug wußten. Uebrigens herrschte gegen sie eine solche Erbitterung, daß jeder gefangene Railtroubler nichts anderes als den sicheren Tod zu erwarten hatte. Diese Banden mordeten ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes, darum konnte auch gegen sie von keiner Gnade die Rede sein.

Es war Sonntag Nachmittag, als wir mit dem Zuge Omaha verließen. Unter den Reisegefährten befand sich kein Einziger, der mein Interesse mehr als vorübergehend in Anspruch genommen hätte. Erst am nächsten Tage stieg in Fromont [Fremont] ein Mann ein, dessen Aeußeres sofort meine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte.

Da er in meiner unmittelbaren Nähe Platz nahm, so hatte ich die beste Gelegenheit, ihn zu beobachten.

Sein Anblick bot eigentlich etwas so Komisches, daß ein oberflächlicher Beobachter gewißlich Mühe hatte, ein belustigtes Lächeln zu verbeißen; ich aber war an derartige Erscheinungen genugsam gewöhnt, um meinen vollen Ernst bewahren zu können. Der Mann war von kleiner Statur, dabei aber so dick, daß man ihn ohne große Mühe hätte kugeln können. Er trug einen Schafpelz, dessen rauhe Seite nach Außen gekehrt war. Diese rauhe Seite war früher jedenfalls behaart gewesen, jetzt aber war die Wolle verschwunden, und nur hier und da erblickte man ein kleines, einsames Flöckchen, welches auf dem nackt gewordenen Leder das Aussehen einer Oase in der Sahara hatte. Vor Zeiten mochte dieser Pelz seinem Besitzer gepaßt haben, dann aber war er unter dem Einflusse von Schnee und Regen, von Hitze und Kälte so zusammengeschwunden, daß sein unterer Rand das Knie nicht mehr erreichte; er konnte nicht mehr zugeknöpft werden, und die Aermel hatten sich bis in die Gegend des Ellbogens nach rückwärts konzentriert. Unter diesem

Pelze erblickte man eine rothflanellene Jacke und eine Lederhose, welche jedenfalls einmal schwarz gewesen war, jetzt aber in allen Regenbogenfarben funkelte und ganz das Aussehen hatte, als ob es ihre Bestimmung sei, dem Besitzer als Wisch-, Tisch- und Taschentuch zu dienen. Unterhalb dieser antidiluvianischen Hose erblickte man die nackten, blau gefrorenen Fußknöchel des Mannes und dann ein Paar Schuhe, die eine ganze Ewigkeit aushalten konnten. Sie waren aus rindsledernen Stiefeln geschnitten und hatten Doppelsohlen, die mit so starken Nägeln beschlagen waren, daß man mit ihnen hätte ein Krokodill todttreten können. Auf dem Kopfe trug er einen Hut, der außer dem Façon auch einen Teil der Krämpe verloren hatte. Um diejenige Körpergegend, welche vor Jahren einmal Taille gewesen war, jetzt aber eine wahrhaft staunenswerthe Ausdehnung erhalten hatte, schlang sich ein alter Schal, dessen Farbe leider vollständig abhanden gekommen war und in welchem eine urahnenhafte Reiterpistole neben einem Bowiemesser steckte. Neben diesen beiden Waffen hing ein Kugel- und ein Tabakbeutel, ein kleiner Spiegel, wie man ihn auf deutschen Jahrmärkten -

Jahrmärkten für zehn Pfennige kauft, eine eingestrickte Feldflasche und vier Patenthufeisen, welche dem Pferde wie Schuhe angezogen und dann festgeschraubt werden können. Daneben erblickte ich ein Etui, dessen Inhalt mir jetzt noch verborgen war; später erfuhr ich, daß es ein vollständiges Rasierzeug enthielt, in der wilden Prairie höchst unnütz, wie mir schien.

Das wunderlichste aber an diesem Manne war sein Angesicht. Dasselbe war so vollständig glatt rasirt, als ob er soeben aus dem Laden eines Friseurs gekommen sei. Die beinahe rosenrothen Wangen waren so dick und fest, daß das kleine, kurze Stumpfnäschen zwischen ihnen beinahe verschwand und die zwei braunen, lebhaften Augen Mühe hatten, über sie hinwegzusehen. Sobald die mehr als vollen Lippen sich öffneten, erblickte man zwei Reihen blendend weißer Zähne, die ich aber leider sofort in Verdacht hatte, unächt zu sein. An der linken Seite des Kinnes hing eine gurkenähnlich gestaltete Verhärtung oder Wucherung, welche das Spaßhafte der Erscheinung dieses Mannes noch erhöhte, ihn aber nicht im Mindesten zu geniren schien. (Forts. folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(2. Fortsetzung.)

So saß er vor mir und hielt zwischen den kurzen, dicken Elephantenbeinen ein Schießgewehr eingeklemmt, welches eher einem im Walde roh abgebrochenen Prügel als einer Büchse glich. Der Lauf war vom Roste zerfressen und schien arg verbogen zu sein; am Schafte erblickte man verschiedene Kerben und Einschnitte, und der Kolben war öfters zerbrochen gewesen, wohl vom Zuschlagen, aber immer wieder nothdürftig reparirt worden. Jetzt wurden die Splitter von starken, eisernen Bändern zusammengehalten, und wer mit diesem Kolben einen Hieb auf den Kopf erhielt, der unterließ es ganz gewiß, um den zweiten Schlag zu bitten. Es hätte wohl nicht so leicht Jemand gewagt, mit diesem Gewehre einen Schuß zu thun, aus Furcht, daß es zerplatzen möchte; ich aber betrachtete mit dieses alte Schießzeug mit einer gewissen Ehrerbietung. Ich hatte Gewehre gesehen, mit denen kein Mensch auf fünfzig Schritte einen Hirsch getroffen hätte, mit denen aber der Besitzer unter hundert Mal sicher neunundneunzig Meisterschüsse that. Diese unscheinbaren Gewehre sind die furchtbarsten Waffen in der Hand dessen, der sich

auf sie eingeübt hat, und wiegen zehn der theuersten Sonntags-Büchsen auf.

Es hätte sicher hunderte von Leuten gegeben, die diesen Menschen für alles Andere, aber nur nicht für einen tüchtigen Westmann gehalten hätten. Mir war so manche sonderbare Gestalt begegnet, und bereits der erste Blick sagte mir, daß ich es hier wohl mit einem jener Wald- und Prairien-Läufer zu thun hatte, die man nicht nach dem ersten Eindrucke beurtheilen darf, sondern erst genau kennen lernen muß, um sie richtig zu beurtheilen.

Er hatte mit einem einfachen „Good day, Sir!“ bei mir Platz genommen und schien sich dann nicht im Geringsten weiter um mich zu bekümmern. Erst eine Stunde später bat er mich um die Erlaubniß, eine Pfeife rauchen zu dürfen. Das fiel mir auf, denn ein echter, rechter Trapper oder Fallensteller kümmert sich nicht darum, ob das, was ihm zu thun beliebt, von Andern gutgeheißen wird.

„Raucht, soviel Ihr wollt, Master!“ antwortete ich. „Ich werde Euch Gesellschaft leisten. Wollt Ihr Euch eine von meinen Cigarren anstecken?“

„Danke, Sir!“ meinte er. „Diese Dinger, welche man Cigarren nennt, sind mir zu nobel. Ich halte es mit meiner Pfeife.“

Er hatte nach Trapperart die kurze, schmierige

Pfeife an einer Schnur am Halse hängen. Als er sie gestopft hatte, beeilte ich mich, ein Hölzchen hervorzulangen; er aber schüttelte abwehrend mit dein Kopfe, griff in die Tasche seines Pelzes und brachte eines jener Prairien-Feuerzeuge zum Vorschein, welche Punks genannt werden und trockenen Baummoder als Zunder enthalten.

„Auch so eine noble Erfindung, diese Zündhölzer, die nichts für die Savanne taugen,“ bemerkte er. „Man darf sich nicht verwöhnen.“

Damit war das kurze Gespräch beendet, und er schien nicht die mindeste Lust zu haben, ein neues anzuknüpfen. Er rauchte ein Kraut, dessen Duft mich sehr lebhaft an Wallnußblätter erinnerte, und widmete dabei der Gegend seine ganze Aufmerksamkeit. So erreichten wir die Station „Nordplatte“ an dem Vereinigungspunkte des Nord- und Südplatte-Stromes, Hier stieg er für kurze Zeit aus und machte sich an einem der vorderen Wagen zu schaffen. Ich bemerkte, daß sich in demselben ein Pferd befand, welches jedenfalls ihm gehörte.

Als er eingestiegen war und der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, beobachtete er sein bisheriges Schweigen, und erst als wir am Nachmittage in Cheyenne am Fuße der Black Hills hielten, fragte er:

„Geht Ihr von hier aus vielleicht mit der Kolorado-Bahn nach Denver zu, Sir?“

„Nein,“ antwortete ich.

„Well, so bleiben wir Nachbarn.“

„Fahrt Ihr sehr weit mit der Pacific?“ fragte ich ihn.

„Hm! Ja und nein — wie es mir einfällt. Und Ihr?“

„Ich möchte am liebsten nach Ogden City.“

„Ah! Ihr wollt die Mormonenstadt sehen?“

„Ein Weniges, und dann hinauf nach den Windriverbergen und den Tretons.“

Er musterte mich mit einem sehr ungläubigen Blick und meinte:

„Da hinauf? Das bringt nur ein sehr kühner Westmann fertig. Habt Ihr Gesellschaft?“

„Nein.“

Jetzt blickten mich seine kleinen Aeuglein förmlich belustigt an, und er frug:

„Allein? Hinauf nach den drei Tretons? Mitten unter die Sioux und grauen Bären! Pshaw! Habt Ihr vielleicht einmal gehört, was ein Sioux oder ein grauer Bär zu bedeuten hat?“

„Ich denke!“

„Ah! Hm! Darf ich fragen, was Ihr seid, Sir?“

„Ich bin Writer.“

„Writer? Schriftsteller? So! Ihr macht also Bücher?“

„Ja.“

Jetzt lachte er am ganzen Gesichte. Es gab ihm gewaltigen Spaß, daß ein Schriftsteller den Gedanken gefaßt hatte, ganz allein und nur auf sich selbst angewiesen, den gefährlichsten Teil des Felsengebirges aufzusuchen.

„Schön!“ sagte er kichernd. „So wollt Ihr wohl über die drei Tretons ein Buch schreiben, mein werther Master?“

„Vielleicht!“

„Und Ihr habt wohl einmal ein Buch gesehen, in welchem ein Indianer oder ein Bär abgebildet war?“

„Versteht sich,“ antwortete ich sehr ernsthaft.

„Und nun glaubt Ihr, daß Ihr da mitmachen könnt?“

„Allerdings.“

„Und Ihr habt wohl gar auch eine Flinte mit, die da in Euere Decke eingewickelt ist?“

„Ja.“

„So will ich Euch einen guten Rath geben, Sir! Steigt schleunigst aus, und macht, daß Ihr wieder nach Hause kommt! Ihr seid zwar ein langer, starker Kerl, aber Ihr seht mir gar nicht aus, als ob Ihr ein Eichhorn schießen könntet, viel weniger einen Bären. Das Lesen hat Euch den Kopf benebelt. Es wäre jammerschade um Euer junges Leben, wenn Euch beim Anblick eines Wildkätzchens der Schlag rühren sollte! Ihr habt gewiß einmal den Cooper gelesen?“

„Ja.“

„Dachte es mir! Habt vielleicht auch von berühmten Prairiemännern gehört!“

„Ja,“ antwortete ich abermals im bescheidensten Tone.

„Von Winnetou, von Old Firehand, von Old Shatterhand, von dem dicken Walker oder von dem langen Hilbers?“

„Von allen,“ nickte ich.

Das dicke Männchen ahnte gar nicht, daß er mir wenigstens ebenso viel Spaß machte, als ich ihm. Winnetou war mein treuester Freund; mit Old Firehand -

Firehand hatte ich manchen schweren Ritt gemacht, und Old Shatterhand, das war ja der Name, den man mir selbst gegeben hatte. Nur den dicken Walker und den langen Hilbers hatte ich noch nicht getroffen, aber sehr viel von den Beiden gehört.

„Ja,“ meinte er, „solche Bücher und Geschichten sind gefährlich, denn sie stecken an. Das klingt so schön und leicht, aber — hihihihi, Master, nehmt mir’s nicht übel, Ihr dauert mich! Dieser Winnetou ist ein Apachen-Häuptling, der mit tausend Teufeln kämpfen würde; dieser Old Firehand schießt Euch jede einzelne Mücke aus dem Schwarm heraus, und Old Shatterhand hat noch niemals einen Fehlschuß gethan und schlägt die stärkste Rothhaut mit einem einzigen Hiebe zu Brei. Wenn einer von diesen Kerls sagt, daß er hinauf will zu den drei Tretons, so ist das zwar immer noch ein ganz gewaltiges Wagniß, aber man denkt doch, daß er es bestehen kann; aber Ihr — ein Büchermacher? Pshaw! Wo habt Ihr denn Euer Pferd?“

„Ich habe keins.“

Jetzt konnte er sich nicht länger halten; er platzte mit einem lauten Gelächter heraus:

„Hihihihi, kein Pferd, und hinauf nach den drei Tretons! Seid Ihr verrückt, Sir?“

„Ich glaube nicht. Wenn ich jetzt noch kein Pferd habe, so werde ich mir doch eins kaufen oder fangen.“

„Ah! Wo denn?“

„Da, wo es paßt.“

„Ihr, Ihr selbst wollt es Euch fangen?“

„Ja.“

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

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(3. Fortsetzung.)

„Das ist lustig, Sir! Ihr habt zwar ein Lasso da um Euere Schultern gewickelt, aber damit fangt Ihr keine Fliege, viel weniger einen wilden Mustang!“

„Warum?“

„Warum? Na, weil Ihr das seid, was man da drüben im alten Lande einen Sonntagsjäger nennt!“

„Und warum haltet Ihr mich für einen solchen?“

„Hihihihi, das ist doch einfach! Weil Alles an Euch so nett und sauber ist. Seht Euch einmal einen tüchtigen Waldläufer an, und vergleicht ihn mit Euch! Eure hohen Reitstiefel sind neu und, wahrhaftig, sie sind ganz blank gewichst! Euere Leggins ) sind vom feinsten Elennleder; Euer Jagdhemde ist ein Meisterstück aus der Hand einer indianischen Squaw ✽✽); Euer Hut hat wenigstens zwölf Dollar gekostet, und Euer Messer samt den Revolvern haben sicherlich noch keinem Menschen weh gethan! Könnt Ihr schießen, Sir?“

„Ja, ein Wenig. Ich bin sogar einmal Schützenkönig gewesen!“ antwortete ich mit einer sehr wichtigen Miene.

) Hose. ✽✽) Frau.

„Schützenkönig! Ah, dann seid Ihr am Ende gar ein Deutscher?“

„Freilich!“

„Hm! So, so! Also ein Deutscher seid Ihr? Nach einem hölzernen Vogel habt Ihr geschossen, und Schützenkönig seid Ihr da geworden? Hihihihi! So sind diese Deutschen! Old Shatterhand soll zwar auch ein Deutscher sein, aber das ist ja nur eine Ausnahme! Sir, ich bitte Euch herzlich, kehrt sobald wie möglich um, sonst geht Ihr zu Grunde!“

„Wollen sehen! Wo steckt denn eigentlich dieser Old Shatterhand, von dem Ihr redet?“

„Ja, wer weiß das! Als ich das letzte Mal da droben am Fox-Head war, traf ich den berühmten Sans-ear, der mit ihm geritten war. Dieser sagte mir, daß Old Shatterhand wieder hinüber sei ins Afrika, in die dumme Gegend, welche man die Wüste Sahara nennt. Dort schlägt er sich wohl mit den Indianern herum, welche den Namen Araber führen. Dieser Mann hat seinen Namen „Shatterhand“ davon, daß es ihm ein Leichtes ist, mit der bloßen Faust einen Feind niederzuschlagen; er hat das sehr oft gethan. Seht Euch dagegen einmal Eure Händchen an! Sie sind so zart und weiß, wie die Hände einer Lady, und man merkt sofort, daß Ihr nur mit Papier umgeht und keine andere Waffe kennt als den Gänsekiel. Nehmt

meinen Rat zu Herzen, Sir, und geht nach dem alten Germany zurück. Unser Westen ist keine Gegend für einen Gentleman von Eurer Sorte!“

Mit dieser Warnung beendete er das Gespräch, und ich gab mir keine Mühe, es wieder anzuknüpfen.

Wir passirten die Station Sherman; dann wurde es wieder Abend. Die erste Station, welche wir beim Lichte des folgenden Morgens erblickten, war Rawlins. Hinter diesem Orte beginnt eine öde, wüste Gebirgslandschaft, deren einzige Vegetation in Artemisia-Büschen besteht, ein ungeheueres, unfruchtbares Bassin ohne Leben, ohne Flüsse oder Bäche, eine Gebirgs-Sahara, die keine einzige Oase kennt. Bald schmerzt der mit Alkalien gesättigte Boden mit seiner blendenden Weiße das müde Auge, und bald nimmt diese Wüste einen Charakter finsterer, tief melancholischer Größe an, hervorgebracht durch nackte Lehnen, dürre Abhänge und steile Felswände, welche von Sturm, Fluth und Blitz zerrissen worden sind.

In dieser trostlosen Gegend liegt die Station „Bitterer Bach“, doch ist von einem Bache keine Rede, sondern das Wasser muß über siebzig Meilen weit herbeigeholt werden. Und dennoch wird sich hier einst ein reges, vielleicht großartiges Leben entfalten; denn es befinden sich hier unerschöpfliche Kohlenfelder, welche dieser Wüste eine Zukunft garantiren.

Wir dampften weiter, über Station Carbon und Green River hinaus, welche letztere 846 Meilen westlich von Omaha liegt. Das traurige Aussehen der Gegend hörte auf; die Vegetation begann wieder, und die Höhenzüge erhielten ein freundliches, erquickendes Colorit. Wir hatten eben ein herrliches Thal durchsaust und fuhren hinaus auf eine freie, offene Ebene, als die Maschine in kurzer Reihenfolge jene gellenden Pfiffe ausstieß, welche das Zeichen einer drohenden Gefahr sind. Wir schnellten von unseren Sitzen empor; die Bremsen kreischten, die Räder knirschten — der Zug kam zum Stehen, und wir sprangen aus den Waggons hinaus auf die sichere Erde.

Der Anblick, welcher sich uns bot, war ein schauderhafter. Man hatte hier einen Arbeiter- und Fouragezug überfallen, und die Strecke war bedeckt von den verbrannten und halbverkohlten Trümmern desselben. Der Ueberfall war während der Nacht geschehen. Die Railtroublers hatten die Schienen aufgerissen, und infolgedessen war der Zug entgleist und den ziemlich hohen Damm hinabgestürzt. Was nun geschehen war, konnte man ahnen. Es waren beinahe nur noch die Eisentheile des verunglückten Zuges vorhanden. Man hatte in jeden Waggon, nachdem er beraubt worden war, ein riesiges Feuer gelegt, und in der Asche fanden wir die traurigen Ueberreste vieler Menschen, welche bereits bei dem Sturze verunglückt oder dann später von Railtroublers getödtet worden waren. Kein Einziger schien lebend entkommen zu sein.

Es war ein Glück für uns, daß die offene Gegend es unserem Maschinisten erlaubt hatte, die Gefahr noch rechtzeitig zu bemerken, sonst wären wir auch den Damm hinabgestürzt. Die Lokomotive hielt kaum einige wenige Ellen von der Stelle, wo die Zerstörung begann.

Die Aufregung der Passagiere und des Zugpersonales war eine ganz bedeutende, und es ist geradezu unmöglich, -

unmöglich, die Kraftworte und Interjektionen wiederzugeben, welche ringsum zu hören waren. Man durchwühlte die noch rauchenden Trümmer, aber es gab nichts mehr zu retten, und nachdem der Thatbestand konstatiert worden war, konnte man nichts weiter thun, als die Strecke wirder [wieder] schleunigst herzustellen, wozu jeder amerikanische Zug die nothwendigen Werkzeuge bei sich führt. Der Zugführer erklärte, er müsse sich darauf beschränken, auf der nächsten Station Anzeige zu erstatten; das Uebrige, und also auch die Verfolgung der Verbrecher, sei dann Sache der Jury, welche dort jedenfalls sogleich gebildet werde. (Forts. folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(4. Fortsetzung.)

Während die anderen Passagiere noch unnöthigerweise in den Trümmern wühlten, hielt ich es für das Beste, mich einmal nach den Spuren der Railtroublers umzusehen. Das Terrain zeigte eine offene, mit Gras bewachsene und nur von wenigen Büschen unterbrochene Fläche. Ich ging eine ziemliche Strecke auf dem Geleise zurück und schlug sodann um die rechte Seite der Unglücksstelle einen Halbkreis, dessen Grundlinie von dem Bahnkörper gebildet wurde. Auf diese Weise konnte mir bei nur einiger Aufmerksamkeit nichts entgehen.

In der Entfernung von vielleicht dreihundert Schritten von der Unglücksstätte fand ich zwischen einigen Büschen das Gras niedergedrückt, als ob hier eine ziemliche Anzahl von Menschen gesessen hätte, und die noch im niedergedrückten Grase erkennbaren Spuren führten mich an eine zweite Stelle, wo man die Pferde angehobbelt ) hatte. Diesen Platz untersuchte ich sehr sorgfältig, um die Anzahl und Beschaffenheit der Pferde kennen zu lernen; dann setzte ich meine Forschung weiter fort.

Am Schienenwege traf ich mit meinem dicken Nachbar zusammen, welcher, wie ich erst jetzt bemerkte, denselben -

) Trapperausdruck für „an den Vorderbeinen fesseln.“

denselben Gedanken mit mir gehabt und die links von der Unglücksstelle gelegene Gegend abgesucht hatte. Er blickte verwundert auf und frug:

„Ihr hier, Sir? Was thut Ihr?“

„Das, was ein jeder Westmann thun wird, wenn er in eine ähnliche Lage kommt: ich suche nach den Spuren der Railtroublers.“

„Ihr? Ah! Werdet auch viel finden! Das sind gescheite Kerls gewesen, welche es verstanden haben, ihre Spuren wieder zu verwischen. Ich habe nicht das Mindeste entdeckt; was wird da so ein Greenhorn finden, wie Ihr doch seid?“

„Vielleicht hat das „Greenhorn“ bessere Augen gehabt als Ihr, Master,“ antwortete ich lächelnd. „Warum sucht Ihr hier auf der linken Seite nach Spuren? Ihr wollt ein alter, erfahrener Savannenläufer sein und seht doch nicht, daß sich das Terrain hier rechts viel besser zu einem Lagerplatze und Versteck eignet als links da drüben, wo fast gar kein Buschwerk zu sehen ist.“

Er blickte mir sichtlich überrascht in das Gesicht und meinte dann:

„Hm, diese Ansicht ist nicht übel! So ein Büchermacher scheint doch zuweilen einen guten Gedanken zu haben. Habt Ihr Etwas gefunden?“

„Ja.“

„Was?“

„Dort hinter den wilden Kirschensträuchern haben sie gelagert, und dahinten bei den Haselbüschen standen die Pferde.“

„Ah! Da muß ich hin, denn Ihr habt doch nicht die richtigen Augen, um zu sehen, wie viele Thiere es gewesen sind!“

„Es waren sechsundzwanzig.“

Wieder blickte er mich mit einer Geberde der Ueberraschung an.

„Sechsundzwanzig?“ fragte er ungläubig. „Woraus erkennt Ihr das?“

„Aus den Wolken jedenfalls nicht, sondern aus den Spuren, Sir,“ lachte ich. „Von diesen sechsundzwanzig Pferden waren acht beschlagen und achtzehn unbeschlagen. Unter den Reitern befanden sich dreiundzwanzig Weiße und drei Indianer. Der Anführer der ganzen Truppe ist ein Weißer, welcher mit dem rechten Fuße hinkt; sein Pferd ist ein brauner Mustanghengst. Der Indianerhäuptling aber, der bei ihnen war, reitet einen Rapphengst, und ich glaube, daß er ein Sioux ist vom Stamme der Ogellallah.“

Das Gesicht, welches der Dicke mir jetzt machte, läßt sich gar nicht beschreiben. Der Mund stand ihm vor Erstaunen offen und die kleinen Aeuglein blickten mich mit einem Ausdrucke an, als ob ich ein Gespenst sei.

„All devils!“ rief er endlich. „Ihr phantasirt wohl, Sir?“

„Seht selbst nach!“ antwortete ich trocken.

„Aber wie wollt Ihr wissen, wie viel es Weiße oder Indsmen waren? Wie wollt Ihr wissen, welches Pferd braun oder schwarz gewesen ist, welcher Reiter hinkt und zu welchem Stamme die Rothäute gehörten?“

„Ich habe Euch gebeten, selbst nachzusehen! Und dann wird es sich ja zeigen, wer bessere Augen hat, ich, das Greenhorn, oder ihr, der erfahrene Westmann.“

„Well! Schön! Werde sehen! Kommt, Sir! Hihihihi, ein Greenhorn und errathen, wer diese Kerls gewesen sind!“

Unter diesem kichernden Lachen eilte er der bezeichneten Stelle zu, und ich folgte ihm langsamer nach.

Als ich ihn wieder erreichte, war er so eifrig mit der Betrachtung der Spuren beschäftigt, daß er mich gar nicht beachtete. Erst als er wohl zehn Minuten lang die Umgebung auf das Sorgfältigste abgesucht hatte, kam er zu mir und sagte:

„Wahrhaftig, Ihr habt Recht! Sechsundzwanzig sind es gewesen, und achtzehn Pferde waren unbeschlagen. Aber das Andere ist Unsinn, reiner Unsinn! Hier haben sie gelagert, und in dieser Richtung sind sie auch wieder davongeritten. Weiter sieht man nichts!“

„So kommt, Sir,“ meinte ich. „Ich will Euch einmal zeigen, welchen Unsinn die Augen eines Greenhorns sehen!“

„Well, ich bin neugierig!“ nickte er mit einer sehr belustigten Miene.

„Seht Euch einmal die Pferdespuren genauer an! Drei Thiere wurden abseits gehalten und waren nicht vorn, sondern über’s Kreuz gekoppelt; das waren also jedenfalls Indianerpferde.“

Er bückte sich nieder, um den Abstand der einzelnen Hufstapfen genau auszumessen. Der Grasboden war feucht und die Spuren waren für ein geübtes Auge recht leidlich zu erkennen.

„By god, Ihr habt Recht!“ rief er erstaunt. Das waren Indianergäule.“

„So kommt jetzt weiter, da zu der kleinen Wasserlache! Hier haben sich die Indsmen die Gesichter abgewaschen und dann wieder mit den Kriegsfarben neu bemalt. Die Farben waren mit Bärenfett abgerieben.

Seht Ihr die kleinen, ringförmigen Eindrücke im weichen Boden? Da haben die Farbennäpfchen gestanden. Es ist warm gewesen, und die Farben waren in Folge dessen dünn und haben getropft. Seht Ihr hier im Grase einen schwarzen, einen rothen und zwei blaue Tropfen, Sir?“

„Jes [Yes]! Wahrhaftig, es ist wahr!“

„Und ist nicht schwarz, roth und blau die Kriegsfarbe der Ogellallah?“

Er nickte nur; sein verwundertes Gesicht sagte mir, was sein Mund verschwieg. Ich fuhr fort:

„Nun kommt weiter! Als die Truppe hier angekommen ist, hat sie hier neben der sumpfigen Lache gehalten; das zeigen die Hufeindrücke, welche sich mit Wasser gefüllt haben. Nur zwei sind vorgeritten, also jedenfalls die Anführer; sie wollten rekognosziren und die Andern mußten bescheiden zurückbleiben. Seht hier die Pferdespur im Moraste! Das eine Pferd war beschlagen und das andere nicht; dieses Letztere trat hinten tiefer als vorn; es saß ein Indianer darauf; der andere Reiter aber war ein Weißer, denn sein Pferd hatte Eisen und trat vorn tiefer als hinten. Ihr kennt wohl den Unterschied zwischen der Art und Weise, wie ein Indsmen und ein Weißer zu Pferde sitzt?“

„Sir, ich möchte nur wissen, woher Ihr —“

„Gut!“ unterbrach ich ihn. „Nun paßt genau auf! Sechs Schritte weiter vor haben sich die Pferde gebissen; das aber thun nach einem so langen und anstrengenden Ritte, wie diese Leute hinter sich hatten, nur Hengste. Verstanden?“

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(5. Fortsetzung.)

„Aber wer sagt Euch denn, daß sie einander gebissen haben, he?“

„Erstens die Stellung der Hufstapfen. Das Indianerpferd ist hier gegen das andere aufgesprungen; das werdet Ihr zugeben. Und zweitens, seht Euch einmal die Haare an, welche ich hier in der Hand halte! Ich fand sie vorhin, als ich die Spuren untersuchte, ehe ich Euch traf. Da sind vier Mähnenhaare von brauner Farbe, welche das Indianerpferd dem anderen ausgerissen hat und sofort fallen ließ. Weiter vorn aber fand ich diese zwei schwarzen Schwanzhaare, und aus der Stellung der Stapfen ersehe ich ganz genau: das Indianerpferd biß das andere in die Mähne, wurde aber von seinem Reiter sogleich zurückgedrängt und dann vorwärts getrieben; dabei langte das andere Pferd herüber und riß ihm diese Haare aus dem Schwanze, welche noch einige Schritte weit im Maule hängen blieben und dann zur Erde fielen. Das Pferd des Rothen ist also ein Rappe und dasjenige des Weißen ein Brauner. Kommt weiter! Hier aber ist der Weiße abgestiegen, um den Bahndamm zu ersteigen. Seine Fährte ist im weichen Sande bis heute sichtbar geblieben. Ihr könnt ganz

genau sehen, daß er mit dem einen Fuße fester und heftiger aufgetreten ist als mit dem andern. Er hinkt. Uebrigens waren diese Menschen ganz außerordentlich unvorsichtig. Sie haben sich nicht die mindeste Mühe gegeben, ihre Spuren unkenntlich zu machen; sie müssen sich also sehr sicher fühlen, und das kann nur zwei Gründe haben.“

„Welche?“

„Entweder waren sie gewillt, heute recht schnell eine bedeutende Strecke zwischen sich und die Verfolger zu legen, und das möchte ich bezweifeln, da aus den Spuren zu ersehen ist, daß ihre Pferde sehr angegriffen und ermüdet waren. Oder sie wußten eine größere Truppe der Ihrigen in der Nähe, auf die sie sich zurückziehen konnten. Dieser Fall scheint mir der wahrscheinlichere zu sein, und da sich drei vereinzelte Indsmen nicht an über zwanzig Weiße schließen, so vermuthe ich, daß da gegen Norden hin ein zahlreicher Trupp Ogellallahs zu suchen ist, bei dem sich jetzt die dreiundzwanzig Railtroublers befinden.“

Es war wirklich spaßhaft anzusehen, mit welch’ einer eigenthümlichen Miene mich das dicke Männchen jetzt vom Kopfe an bis herab zu den Füßen fixirte.

„Mann!“ rief er endlich. „Wer seid Ihr denn eigentlich, he?“

„Ich habe es Euch ja bereits gesagt.“

„Pshaw! Ihr seid kein Greenhorn und auch kein Büchermacher, obgleich Ihr mit Euren gewichsten Stiefeln -

Stiefeln und Eurer ganzen Sonntags-Ausrüstung ganz darnach ausseht. Ihr seid so abgeleckt und sauber, daß Ihr in einem Theaterstücke, in welchem ein Westmann aufzutreten hätte, gleich auf der Bühne erscheinen könntet; aber unter hundert wirklichen Westmännern ist kaum Einer, der so wie Ihr die Fährten zu lesen versteht. By god, ich dachte bisher, daß ich auch etwas leiste, aber an Euch komme ich nicht, Sir!“

„Und dennoch bin ich ein Bücherschreiber. Aber ich habe bereits früher diese alte Prairie von Norden nach Süden und von Osten bis nach dem entferntesten Westen durchmessen; daher kommt es, daß ich mich so leidlich auf Spuren verstehe.“

„Und Ihr wollt wirklich hinauf nach den Windriverbergen?“   „Allerdings.“

„Aber, Sir, wer das ausführen will, der muß bedeutend mehr sein als ein guter Spurenfinder, und da — nehmt mir es nicht übel — scheint es bei Euch zu hapern.“

„In wiefern?“

„Wer einen so gefährlichen Weg vor sich hat, der läuft nicht so leichtsinnig in das Blaue hinein wie Ihr, sondern er sieht sich vor allen Dingen nach einem guten Pferde um. Verstanden?“

„Das werde ich noch thun.“

„Wo denn?“

„Nun, ein Pferd ist an jeder Station zu kaufen, und wäre es auch nur ein alter Karrengaul. Bin ich dann beritten, so hole ich mir schon aus irgend einer wilden Heerde einen Mustang, der mir paßt.“

„Ihr? Ah! Seid Ihr ein solcher Reiter? Könnt Ihr einen Mustang bändigen? Wird es da oben Pferde geben?“

„Ihr vergeßt, daß grad’ jetzt die Jahreszeit ist, in welcher die Büffel und Mustangs nach Norden gehen. Ich bin sehr überzeugt, daß ich zwischen hier und den Tretons auf eine Heerde treffen werde.“

„Hm! Also ein Reiter seid Ihr. Aber wie steht es denn mit dem Schießen?“

„Wollt Ihr mich etwa examiniren, Sir?“ lachte ich.

„Einigermaßen,“ nickte er sehr ernsthaft. „Ich habe nämlich eine Absicht dabei.“

„Darf man erfahren, welche?“

„Später. Erst müßt Ihr einmal schießen. Holt Euer Gewehr!“

Dieses kleine Intermezzo gab mir Spaß. Ich hätte dem Manne einfach sagen können, daß ich Old Shatterhand sei, zog aber vor, es zu verschweigen. Ich ging also zum Waggon, um die Decke zu holen, in welche meine Gewehre gewickelt waren. Man bemerkte dies, und sofort schlossen die Passagiere einen Kreis um uns Beide. Der Amerikaner und besonders der

Bewohner des Westens läßt sicherlich keine Gelegenheit, ein Gewehr abschießen zu sehen, unbenutzt vorübergehen.

Ich schlug die Decke auseinander.

„Behold, ein Henrystutzen!“ rief der Dicke. „Ein wirklicher, richtiger Henrystutzen! Wie viele Schüsse hat er, Sir?“

„Fünfundzwanzig.“

„Ah, das ist viel. Das ist eine fürchterliche Waffe in der Nähe. Mann, um dieses Gewehr beneide ich Euch!“

„Diese Büchse ist mir noch lieber.“

Bei diesen Worten nahm ich meinen schweren Bärentödter empor.

„Pshaw! Ein glattes, gut geputztes Schießeisen!“ meinte der Dicke geringschätzig. „Ich lobe mir eine alte, rostige Kentuckybüchse oder meinen alten Schießprügel da!“

„Wollt Ihr Euch nicht einmal die Firma ansehen, Sir?“ fragte ich ihn, indem ich ihm das Gewehr entgegenstreckte.

Er warf einen Blick auf die Gravirung und fuhr überrascht zurück.

„Verzeiht, Sir,“ rief er; „das ist etwas ganz Anderes. Solche Büchsen gibt es nicht sehr viele mehr. Ich habe gehört, daß Old Shatterhand eine hat. Aber wie kommt denn Ihr zu einem solchen Meisterstücke?

Oder ist der Stempel nachgemacht? Hm, ja, so wird es wohl sein, denn dieses Gewehr sieht nicht aus, als ob man schon viele Male daraus geschossen hätte!“

Diese Büchse hat mich auf allen meinen Wanderungen, durch Amerika, Afrika und noch viel weiter begleitet; ich hatte sie stets gut gehalten; da aber der Prairie-Jäger den äußeren Schein ganz gründlich verachtet und seiner ganzen Ausrüstung gern ein möglichst abgebrauchtes Aussehen gibt, so konnte ich es meinem Dicken gar nicht übel nehmen, daß er dem Gewehre nicht recht traute, darum antwortete ich:

„Wir wollen es probiren. Gebt einmal an, was ich schießen soll, Sir!“

„Ladet erst neu!“

„Pah, das ist nicht nothwendig. Die Schüsse stecken trocken.“

„Well, so schießt mir einmal mit dem Schrotlaufe den Vogel dort vom Busche!“

„Das ist zu weit!“ meinte einer der Umstehenden.

„Wollen sehen!“ bemerkte ich.

Ich langte nach der Schnur und setzte langsam und sehr bedächtig meinen Klemmer auf die Nase. Sofort brach der Dicke in ein lautes Gelächter aus.

„Hihihihi; eine Brille! Dieser deutsche Buchmacher kommt in diese alte Savanne, um mit dem Zwicker auf der Nase zu jagen! Hihihihi!“ (Forts. folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(6. Fortsetzung.)

Auch die Andern lachten; ich aber meinte sehr ernsthaft.

„Was lacht ihr, Mesch’schurs? Wenn man dreißig Jahre lang über den Büchern sitzt, so leiden die Augen, und es ist besser, man thut mit der Brille einen guten Schuß, als ohne dieselbe einen schlechten?

„Richtig, Sir,“ lachte der Dicke. „Aber ich möchte Euch einmal sehen, wenn Ihr so recht unerwartet ein Mal von den Rothhäuten überfallen würdet! Ehe Ihr den Klemmer geputzt und auf die Nase gebracht hättet, würdet Ihr zehnmal skalpirt sein. Seht, nicht einmal den Vogel könnt Ihr nun schießen, denn er ist bereits auf und davon geflogen!“

„So suchen wir ein anderes Ziel!“ meinte ich ebenso kaltblütig wie vorher.

Der betreffende Vogel hatte in einer Entfernung von vielleicht zweihundert Schritten auf dem Busche gesessen; das wäre also ein sehr gewöhnlicher Schuß gewesen. Ich aber hatte hoch über uns eine Lerche trillern gehört und blickte jetzt nach oben.

„Seht ihr die Lerche da oben, Mesch’schurs?“ fragte ich. „Ich werde sie herunter holen.“

„Das ist ganz unmöglich!“ rief der Dicke. „Laßt das sein, denn Ihr schießt doch nur ein Loch in die Luft. Das brächte nicht einmal der alte Sans-ear oder Old Firehand fertig!“

„Wollen sehen!“

Ich erhob die Büchse und drückte ab.

„Fort!“ lachte der Dicke. „Der Schuß hat sie erschreckt; sie ist ausgerissen!“

„Da sollt Ihr doch gleich sehen, wozu die Brille nützlich ist,“ meinte ich, die Büchse absetzend; „Geht doch einmal hinüber auf den Bahndamm; sie ist darauf niedergefallen, ungefähr achtzig Schritte von hier.“

Ich deutete mit der Hand die Stelle an, und sofort sprangen einige der Umstehenden hin. Sie brachten die Lerche, welche fast mitten durch geschossen war. Der Dicke betrachtete abwechselnd sie und mich; dann rief er:

„Getroffen, wahrhaftig getroffen! Und nicht mit Schrot, sondern mit der Kugel!“

„Wollt Ihr mit Schrot in eine solche Höhe schießen, Sir?“ fragte ich. „Ein richtiger Savannenläufer wird sich überhaupt schämen, einen Schrotschuß zu thun. Das überläßt man den Kindern und den Aasjägern.“

„Aber Sir, das ist ja ein Schuß, wie ich noch gar keinen gesehen habe!“ wunderte sich der Dicke. „War das Zufall oder nicht?“

„Gebt mir ein zweites Ziel!“

„Es ist gut, Sir; ich glaube es! Ihr scheint es

darauf abgesehen zu haben, mit mir ein wenig Komödie zu spielen! Aber nun ist es gut. Kommt doch einmal ein Weniges mit auf die Seite!“

Er zog mich von den Andern fort, dahin, wo die Pferdestapfen am Deutlichsten zu sehen waren. Dort zog er ein Papier hervor und legte es in eine der Spuren.

„Well, es ist so!“ meinte er gedankenvoll. „Sir, sagt mir einmal, ob Ihr vielleicht Herr Eurer Zeit seid, ob Ihr direkt hinauf nach den Tretons wollt, oder ob Ihr vorher noch einen andern Ritt unternehmen könntet!

„Ich kann thun, was mir gefällt.“

„Well, so will ich Euch einmal etwas sagen. Habt Ihr vielleicht schon einmal von dem dicken Fred Walker gehört?“

„Ja. Er soll ein tüchtiger Westmann sein. Er ist einer der besten Pfadfinder des Gebirges und spricht mehrere Indianerdialekte.“

„Ich bin es, Sir!“

„Das konnte ich mir denken. Hier meine Hand! Es freut mich von ganzem Herzen, Euch getroffen zu haben, Sir.“

„Wirklich? Nun, vielleicht lernen wir uns besser kennen. Ich habe nämlich mit einem gewissen Williams einige ernsthafte Worte zu sprechen. Er war in letzter Zeit der Anführer einer Schaar von Buschheaders und

Pferdedieben, ganz abgesehen von Dem, was er von früher her schon auf dem Gewissen hat. Jetzt ist er mit seiner Bande weiter nach dem Westen gezogen, und ich folgte ihm. Dieses Papier ist die genaue Abbildung von den beiden Hinterhufen seines Pferdes; sie stimmen ganz genau mit diesen Spuren überein, und da Williams mit dem rechten Beine hinkt, so bin ich überzeugt, daß er mit dem Anführer der Railtroublers ganz eine und dieselbe Person ist.

„Williams?“ fragte ich. „Wie ist sein Vorname?“

„Sam, Samuel. Doch pflegt er verschiedene Namen zu tragen.“

„Samuel Williams? Ah, von dem habe ich gehört. Ist er nicht der Buchhalter des Oelprinzen Rallow gewesen? Er ging seinem Herrn mit einer ganz bedeutenden Summe durch!“

„Ja, das ist er. Er verführte den Kassirer, die Kasse zu räumen und mit ihm zu gehen. Dann erschoß er ihn. Er wurde von der Polizei verfolgt und tödtete zwei Konstabler, die ihn fassen wollten. In New-Orleans wurde er ergriffen, als er sich grad’ einschiffen wollte; es gelang ihm auch dort zu entkommen, indem er den Kerkermeister erschlug. Dann ging er nach dem Westen. Es blieb ihm nichts Anderes übrig, da man ihm den Raub abgenommen hatte. Seit dieser Zeit hat er Verbrechen auf Verbrechen gehäuft, und es wird Zeit, daß dies ein Ende nimmt.“

„Ihr wollt ihn ergreifen?“

„Mein muß er werden, todt oder lebendig.“

„Ihr habt also eine persönliche Abrechnung mit ihm zu halten?“

Er blickte eine Weile vor sich nieder und antwortete dann:

„Ich spreche nicht gern davon, Sir. Vielleicht theile ich es Euch noch mit, sobald wir uns erst näher

kennen gelernt haben. Und daß wir uns kennen lernen, das hoffe ich, Sir. Es ist ein wunderlicher Zufall, daß ich mich grad’ in diesem Zuge befunden habe, aber trotzdem hätte ich die Spur dieses Williams wohl noch lange vergebens gesucht, wenn Ihr es nicht gewesen wäret, der mich auf sie aufmerksam machte. Daß der Anführer der Railtroublers lahm geht und einen braunen Hengst reitet, hätte ich nicht herausgebracht, und doch ist es gerade Dieses, was mir von der allergrößten Bedeutung ist. Ich werde hier den Zug verlassen, um der Spur zu folgen. Wollt Ihr mich begleiten, Sir?“

„Ich? Das Greenhorn?“ lächelte ich.

„Pshaw! Ihr dürft mir dieses Wort gar nicht übel nehmen, denn Euer ganzes Aussehen ist das eines Mannes, der in den Salon gehört, aber nicht in die Savanne. Hab’ doch all’ mein Lebtage noch keinen Menschen gesehen, der sich mit dem Zwicker auf der Nase hierher mitten in die alte Prairie stellt, um einen Vogel zu schießen, der ihm davonfliegt, hihihihi. Das war ein Irrthum von mir, den ich Euch gern abbitten will. Also Sir, wollt Ihr mit aussteigen?“

„Hm! Wäre es nicht besser, Euch den Männern anzuschließen, welche bald von den nächsten Stationen eintreffen werden, um die Railtroublers zu verfolgen?“

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(7. Fortsetzung.)

„Nein. Redet mir nicht von einer solchen Verfolgung. Ein einziger Westmann wiegt da schwerer als ein ganzes Schock solcher hergelaufener Pulverschnapper. Ich muß allerdings ehrlich sein und sagen, daß es kein geringes Wagniß ist, hinter solchen Leuten herzulaufen; es hängt da das Leben eines Menschen nur an einem versengten Haare; aber ich meine, Ihr seid der Mann, welcher Abenteuer sucht, und hier findet Ihr eins, welches gar nicht interessanter sein könnte.“

„Das ist richtig,“ antwortete ich. „Es ist aber niemals meine Leidenschaft gewesen, mich in fremder Leute Sachen zu mischen. Dieser Samuel Williams geht mich gar nichts an, und ich weiß ja auch nicht, ob ich zu Euch passen würde.“

Er blinzelte mich mit seinen kleinen Aeuglein sehr schalkhaft an und sagte:

„Ihr meint es wohl umgedreht: ob ich zu Euch passen würde. Na, da dürft Ihr keine Sorge haben. Der dicke Walker ist nicht der Mann, der mit dem

ersten besten Westläufer Kameradschaft macht; darauf könnt Ihr Euch getrost verlassen. Ich bleibe gern für mich, und wenn ich mich einmal einem Andern anschließe, so muß ich Vertrauen zu ihm haben und es darf kein gewöhnlicher Kerl sein. Verstanden?“

„In dieser Beziehung bin ich grad wie Ihr. Ich bleibe auch am Allerliebsten für mich. Man kann hier in der Wahl seiner Gefährten nicht vorsichtig genug sein. Man findet hier einen Kameraden, legt sich des Abends nieder und ist am Morgen eine Leiche; der Kamerad aber reitet mit seinem Raube wohlgemuth davon.“

„Zounds; denkt Ihr etwa, daß ich ein solcher Schlingel bin, Sir?“

„Nein. Ihr seid ein ehrlicher Kerl; das sieht man Euch an. Ja, noch mehr, Ihr gehört sogar zur Polizei, die doch keine Schlingels unter sich duldet.“

Er erschrak und wechselte die Farbe.

„Sir!“ rief er. „Was fällt Euch ein?“

„Still, Master Walker! Euer ganzer Habitus ist zwar nicht sehr polizeimäßig, aber gerade deshalb seid Ihr vielleicht ein sehr brauchbarer Detektive. Ihr hieltet mich zwar für einen Neuling, aber ich habe Euch doch durchschaut. Seid in Zukunft vorsichtiger! Wenn es in diesen Breiten herumgesprochen wird, daß

der dicke Walker nur deshalb die Prairie durchstreift, um als Geheimpolizist gewisse abhanden gekommene Gentlemen unschädlich zu machen, so habt Ihr sehr bald den letzten Schuß gethan.“

„Ihr irrt Euch, Sir!“ versuchte er mich zu versichern.

„Still! Euer Abenteuer spricht mich an, und ich würde mich Euch sofort anschließen, um diesen Railtroublers einen Streich zu spielen! die Gefahr könnte mich nicht abhalten, denn sie lauert ja überall auf unsereinen, so weit die Prairie reicht. Aber grad daß Ihr Versteckens spielt, das hält mich ab. Wenn ich mich einem Menschen anschließen soll, so muß ich wissen, woran ich mit ihm bin.“

Er blickte nachdenklich zu Boden; dann erhob er den Kopf und meinte:

„Gut, Sir, Ihr sollt wissen, woran Ihr mit mir seid. Ihr habt trotz Eures angeputzten Wesens Etwas an Euch, was auch einem alten Wildläufer Vertrauen machen kann. Ich habe Euch im Waggon beobachtet und sage Euch aufrichtig, daß ich Euch gut geworden bin. Ich bin sonst ein einsamer, ungeselliger Junge, Euch aber hätte ich recht gern noch ein Weniges bei mir, und darum will ich aufrichtig sein! Ja, ich bin ein Beamter des Privat-Detektive-Korps von Dr.

Sumter in St. Louis. Meine Aufgabe ist, entflohenen Subjekten im Hinterwalde nachzuspüren, gewiß kein leichtes Leben, aber ich verwende meine ganze Kraft darauf. Weshalb ich das thue, erzähle ich Euch später, wenn wir Zeit dazu haben; es ist eine traurige Geschichte. Und nun sagt mir, Sir, ob Ihr Euch mir anschließen wollt?“

„Ich will. Hier meine Hand; wir wollen treue Kameraden sein und alle Noth und Gefahr miteinander theilen, Master Walker!“

Er schlug mit freudigem Gesichte ein und sagte.

„Das soll ein Wort sein, Sir! Habt Dank für Eure Einwilligung. Ich hoffe, daß wir uns nicht übel zusammenfinden werden. Aber laßt mir den „Master Walker“ bei Seite und nennt mich lieber Fred. Das ist kurz und bündig, und ich weiß genau, wer gemeint ist. Ich darf wohl auch wissen, wie ich Euch zu nennen habe?“

Ich nannte ihm meinen Namen und fügte hinzu.

„Ruft mich einfach Charles; das ist genug. Aber seht, der Damm ist ausgebessert und die Strecke wieder fahrbar. Man wird bald wieder einsteigen.“

„So will ich Viktory holen. Ihr braucht über ihn nicht zu erschrecken. Er sieht nach Nichts mehr aus; aber er hat mich zwölf lange Jahre getragen, und ich möchte ihn nicht gegen den besten Renner der Welt vertauschen. Habt Ihr noch Etwas im Waggon?“

„Nein. Aber Fred, werden wir diesen Leuten sagen, was wir vorhaben?“

„Nein. Je weniger man von uns weiß, desto sicherer sind wir.“ (Forts. folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(8. Fortsetzung.)

Er trat an den Wagen, in welchem sich sein Pferd befand, und ließ sich denselben öffnen. Das Terrain eignete sich nicht im Mindesten zum Ausladen eines Pferdes, und es war auch kein Apparat dazu vorhanden; aber es ging ganz anders, als ich dachte.

„Viktory, come on!

Auf diesen Ruf des Jägers steckte das alte Thier zuerst seinen Kopf heraus, um sich das Terrain anzusehen, legte bedenklich die langen Ohren nach hinten und sprang dann mit einem einzigen und wirklich verwegenen Satze heraus auf den Damm. Sämmtliche Anwesende, welche bei diesem Sprunge zugegen waren, klatschten Beifall. Das Thier schien dies zu verstehen; es wedelte mit dem Schwanze und stieß ein lautes Wiehern aus.

Dieses Pferd sah gar nicht so aus, als wenn es seinen Namen Viktory, Sieger, mit nur der allergeringsten Spur von Recht trage. Es war ein dürrer, hochbeiniger Fuchs, der sicherlich bereits zwanzig Jahre zählte. Die Mähne war ihm ganz abhanden gekommen; der Schwanz zeigte nur noch einige ganz dürre

Haarsträhnen, und die Ohren sahen aus wie zwei Kaninchenlöffel im Superlativ. Dennoch hatte ich alle Achtung vor dem Thiere, zumal da ich sah, daß es ausschlug und biß, als einer der Männer vertraulich nach ihm langte. Man bekommt in der Prairie zuweilen solche „Inseparables“ zu sehen, Pferde, für welche man keinen Cent bieten würde, die aber ihr Herr um keinen Preis hergeben würde. Der berühmte Sans-ear hatte eine solche alte Stute, Tony genannt, die einer Ziege ähnlicher sah als einem Pferde, aber ich war hundertmal Zeuge gewesen, daß er ohne dieses brave Thier verloren gewesen wäre.

Viktory war gesattelt und gezäumt. Fred bestieg ihn und sprengte den steilen Damm hinab, ohne den Anderen irgend eine Bemerkung zu machen. Sie bekümmerten sich auch nicht weiter um uns. Wir waren ihnen ja fremd, und es war ihnen also vollständig gleichgiltig, daß wir den Zug verließen.

Unten am Damme hielt Walker an.

„Seht Ihr, Charles, wie gut es nun wäre, wenn Ihr ein Pferd hättet?“ meinte er.

„Es wird nicht lange dauern, so haben wir eins,“ antwortete ich. „Mit Hilfe Eures Viktory werde ich mir sehr leicht eins fangen.“

„Ihr? Das müßte ich fangen, denn ich gebe Euch mein Wort, daß Ihr den Viktory nicht reiten könnt.

Er trägt keinen andern Menschen als nur mich allein.“

„Das würde sich finden!“

„Es ist aber so; ich versichere es Euch. Wir könnten, damit Euch das Laufen nicht so sehr angreift, zuweilen mit dem Pferde wechseln; aber es wirft Euch sicher ab, und so seid Ihr zum Marschiren verurtheilt, bis wir eine Mustang-Heerde treffen. Das ist höchst unangenehm, da wir auf diese Weise nur langsam vorwärts kommen und sehr viele Zeit versäumen. Aber seht, da steigen die Leute ein; der Zug will weiter gehen.“

Es war so, wie er sagte. Die Maschine gab Dampf; die Räder bewegten sich, und der Zug rollte dem Westen wieder entgegen. Nach wenigen Augenblicken war er unseren Augen entschwunden, und es war das Band, welches uns bis zu diesem Augenblicke mit der Civilisation verband, für unbestimmte Zeit zerrissen.

„Hängt Eure schwere Büchse an meinen Sattel,“ sagte Walker.

„Ein guter Jäger trennt sich keinen Augenblick von seinem Gewehre,“ antwortete ich. „Ich danke Euch, Fred. Vorwärts!“

„Ich werde langsam reiten, Charles.“

„Laßt den Viktory immer einen tüchtigen Schritt nehmen; ich bin ein guter Läufer und halte aus.“

„Well, so kommt!“

Ich warf die Decke über, hing den Stutzen über die Achsel, schulterte die Büchse und schritt an der Seite des Reiters vorwärts. Die Verfolgung der Railtroublers begann. (Forts. folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(9. Fortsetzung.)

Ihre Fährte war so deutlich, daß wir uns nicht die mindeste Mühe zu geben brauchten, sie aufzuspüren. Sie wies beinahe grad’ nach Norden zu, und wir folgten ihr ohne Aufhalten bis um die Mittagszeit, als wir einen kurzen Halt machten, um den Viktory ausruhen zu lassen und einen kleinen Imbiß zu uns zu nehmen. Er bestand aus dem Wenigen, welches wir zufällig eingesteckt hatten, denn es war uns nicht eingefallen, uns mit Hilfe der Vorräthe des Zuges zu verproviantiren. So lange der Savannenmann eine Büchse und Munition besitzt, braucht er keinen Hunger zu leiden. Und in dieser Beziehung war ich gut versehen, denn mein wasserdichter Ledergürtel enthielt so viele Patronen, daß ich keine Sorge zu haben brauchte.

Das Land, in welchem wir uns befanden, war hügelig und recht gut bewaldet. Die Spur führte an einem kleinen Flusse aufwärts, dessen Ufer theils sandig und theils mit einem so fetten Grase bewachsen waren, daß die Hufe der Pferde einen stets sichtbaren Eindruck hinterlassen hatten. Am Nachmittage schoß ich einen recht feisten Waschbären, welcher uns ein gutes Nachtmahl versprach, und als es dunkel wurde,

machten wir in einer kleinen, von dichtem Baumwuchse verhüllten Felsenschlucht Halt, wo wir ohne Sorge um Entdeckung ein Feuer anzünden und den Waschbären braten konnten. Wir fühlten uns an diesem Orte so vollständig sicher, daß wir es für überflüssig hielten, Wache zu halten, sondern uns alle Beide schlafen legten, nachdem Fred seinen Viktory versorgt hatte.

Am andern Morgen brachen wir sehr in der Frühe auf und erreichten am Nachmittage den Ort, an welchem die Railtroublers während der verflossenen Nacht gelagert hatten. Sie hatten mehrere offene Feuer gebrannt, schienen also jeder Verfolgung Hohn sprechen zu wollen. Gegen Abend ritten und gingen wir demselben Flüßchen entlang über eine Ebene hin und hielten auf eine Ecke zu, welche der Urwald gegen das Grasland bildete, Wir hatten die Verfolgten fast eine ganze Tagereise vor uns und fühlten uns um so sicherer, als wir auch nicht die mindeste Spur von der Anwesenheit eines andern Menschen bemerkt hatten. Wir erreichten die Ecke und wollten um dieselbe biegen, als wir Beide plötzlich zurückfuhren. Vor uns hielt ein Indianer, der zu derselben Minute im Begriffe gestanden hatte, von der andern Seite um die Spitze zu biegen. Er war mit einem Rappen beritten und führte ein mit einem beladenen Packsattel aufgeschirrtes Pferd neben sich.

In ganz demselben Momente, als er uns erblickte,

glitt er blitzschnell vom Pferde, so daß er hinter demselben Deckung bekam, und schlug die Büchse auf uns an. Das ging so schnell, daß ich von ihm nur die Gestalt und die Bemalung des Gesichtes gesehen hatte, aber auch nur so flüchtig und undeutlich, daß ich nicht einmal entscheiden konnte, zu welchem Stamme er gehöre.

Auch Fred war mit derselben Gewandtheit von seinem Pferde gesprungen und hatte sich hinter dasselbe gestellt; ich aber schnellte mich mit einem raschen, weiten Satze in die Waldecke hinein und faßte hinter einer starken Blutbuche Posto. Kaum jedoch stand ich da, so blitzte die Büchse des Indianers auf, und seine Kugel schlug in den Stamm der Buche — nur den zehnten Theil eines Augenblickes früher, so hätte sie mich durchbohrt. Dieser Mann hatte sofort erkannt, daß ich ihm gefährlicher sei als Fred, weil ich, durch die Bäume gedeckt, ihn und seine Pferde umgehen und dann von hinten auf ihn schießen konnte.

Schon während meines Sprunges hatte ich die Büchse halb erhoben, jetzt aber, als die Kugel in den Baum schlug, ließ ich sie wieder sinken. Warum?

Ein jeder erfahrene Westmann weiß, daß ein jedes Gewehr seine eigene Stimme hat. Es ist unendlich schwierig, den Krach zweier Büchsen in dieser Beziehung zu unterscheiden; aber das Leben in der Wildniß schärft die Sinne bis zur höchsten Potenz, und wer eine Büchse öfters gehört hat, der kennt ihren Knall unter hunderten -

hunderten heraus. Daher kommt es, daß Jäger, die sich früher trafen, und dann lange Zeit nicht mehr sahen, sich bereits von Weitem an der Stimme ihrer Gewehre wieder erkennen.

So ging es auch mir in diesem Augenblicke. Die Büchse, mit welcher der Wilde jetzt geschossen hatte, hätte ich während meines ganzen Lebens nicht vergessen können. Ich hatte ihren scharfen, sonoren Knall während einer ganzen Reihe von Jahren nicht gehört, erkannte ihn aber im Augenblicke. Sie hatte dem berühmten Apachenhäuptling Winnetou gehört, jenem Indianer, von dem Walker gestern am Bahndamme gesprochen hatte, und der mein Lehrer und Freund gewesen war im wildesten Wald- und Savannenleben. War er es selbst, der sie jetzt noch trug, oder war sie in eine andere Hand übergegangen? Ich rief in der Mundart der Apachen hinter dem Baume hervor:

„Toselkhita, shi shteke — schieß nicht, ich bin dein Freund!“

„To tistsa tá ti. Ni peniyil — ich weiß nicht, wer Du bist. Komm heraus!“ antwortete er.

„Ni Winnetou, natan shis inté — bist Du Winnetou, der Häuptling der Apachen?“ fragte ich, um ganz sicher zu gehen.

„Ha-au — ich bin es!“ antwortete er.

Im Nu sprang ich hinter dem Baume hervor und auf ihn zu. Ja, das war er, der Held so vieler Abenteuer, der einzige Indianer, den ich von Herzen lieb gewonnen hatte, der herrliche, stolze Krieger, der seine gefahrvollen Streifzüge stets allein unternahm, weil er mit seiner Tapferkeit einen ganzen Stamm aufwog! Auch er erkannte mich sofort.

„Schar-lih!“ rief er frohlockend.

So pflegte er nämlich meinen englischen Vornamen Charles oder Charley auszusprechen. Er öffnete die Arme, und wir lagen uns am Herzen.

„Schar-lih, shi shteke, shi nta-ye — Charles, mein Freund, mein Bruder!“ rief er, beinahe weinend vor Freude. Shi intá ni intá, shi itchi ni itchi — mein Auge ist Dein Auge, und mein Herz ist Dein Herz!“

Auch ich war so ergriffen von diesem so ganz und gar unerwarteten Wiedersehen, daß mir das Wasser in die Augen trat. Ich hatte diesem Manne mehr als hundert Male mein Leben zu verdanken; es konnte mir nichts Glücklicheres geschehen, als ihn hier zu treffen. Er blickte mich immer von Neuem mit liebevollen Augen an; er drückte mich immer von Neuem an seine Brust, bis er sich endlich erinnerte, daß wir nicht allein waren.

Ti ti ute — wer ist dieser Mann?“ fragte er, auf Walker deutend.

Aguan ute nshó, shi shteke ni shteke — er ist ein guter Mann, mein Freund und auch Dein Freund,“ antwortete ich.

Ti tenlyé aguan — wie ist sein Name?“

The thick Walker,“ nannte ich englisch den Namen meines Gefährten.

Da streckte er auch Fred die Hand entgegen und begrüßte ihn:

„Der Freund meines Bruders ist auch mein Freund! Fast hätten wir uns erschossen, aber Schar-lih hat die Stimme meiner Büchse erkannt, wie ich auch die seinige erkannt hätte. Was thun meine weißen Brüder hier?“

„Wir verfolgen die Feinde, deren Fährte Du hier im Grase siehst,“ antwortete ich.

„Ich habe sie erst vor einigen Minuten erblickt. Ich komme von Osten her an dieses Wasser. Was für eine Farbe haben diese Männer, denen ihr folgt?“

„Es sind Weiße und einige Ogellallah.“

Bei dem letzten Worte zogen sich seine Brauen zusammen. -

zusammen. Er legte die Hand auf den glänzenden Tomahawk, welcher in seinem Gürtel steckte, und sagte:

„Die Söhne der Ogellallah sind wie die Kröten; wenn sie aus ihren Löchern kommen, so werde ich sie zertreten. Darf ich mit meinem Bruder Schar-lih gehen, um die Ogellallah zu sehen?“

Nichts konnte mir willkommener sein als diese Frage; wenn wir Winnetou zu unserm Verbündeten erhielten, so war das ebenso, als wenn zwanzig Westmänner zu uns gehalten hätten. Ich wußte zwar, daß er nach so langer Trennung mich keineswegs sogleich verlassen würde; aber daß er sich selbst zur Begleitung anbot, das war ein Zeichen, daß ihm unser Abenteuer ein willkommenes sei. Darum antwortete ich:

„Der große Häuptling der Apachen ist uns gekommen wie der Sonnenstrahl dem kalten Morgen. Sein Tomahawk mag wie der unserige sein.“

„Meine Hand ist Euere Hand, und mein Leben ist Euer Leben. Howgh!“

Dieses letztere Wort gebrauchte Winnetou stets als Bekräftigung, und so konnten wir sicher sein, daß er auch in der größten Gefahr zu uns halten werde.

Was meinen dicken Fred betrifft, so war es ihm sehr deutlich anzusehen, welchen gewaltigen Eindruck der Apache auf ihn machte. Es wäre jedem Andern auch so ergangen, denn Winnetou war wirklich das Prachtexemplar eines Indianers, und sein Anblick mußte einen jeden Westmann entzücken.

Er war nicht etwa übermäßig hoch und massig gebaut, sondern grad die zierlichen, dabei aber äußerst nervigen Körperformen und die Spannkraft einer jeden seiner Bewegungen hätten auch dem stärksten und erfahrensten Trapper imponirt. Seine breiten Schultern und seine starke Brust waren nackt und mit Narben bedeckt. Um seine engen gerundeten Hüften schlang sich eine feine Decke von Santillo, in glänzenden verschiedenartigen -

verschiedenartigen Farben schillernd. Eine kurze, prächtig gegerbte Wildlederhose legte sich eng um seine muskulösen Oberschenkel und war an den Seiten mit den Skalplocken getödteter Feinde geschmückt. Gamaschen von scharlachrothem Tuche bedeckten seine Unterschenkel; von Menschenhaaren geflochtene Kniebänder, die mit aus Stachelschweinsborsten gefertigten Eicheln verziert waren, umschlossen diese Gamaschen unterhalb des Knies und oberhalb des Knöchels, und die Füße staken in kunstreichen Moccassins, welche mit Zierrathen von Pferdehaar ausgeputzt waren. Um die schimmernde Santillodecke trug er einen wasserdichten Ledergurt, gleich dem meinigen, in welchem das leicht gekrümmte Skalpmesser, der glänzende Tomahawk und zwei Revolver steckten. Von seinen Schultern hing das schwere Fell eines grauen Bären. Wäre sein Gesicht nicht mit den Kriegsfarben bemalt gewesen, so hätte man eine echt römische Nase, eine ungewöhnlich hohe Stirn, einen kühn geschnittenen Mund und zwei Augen bewundern können, welche bestimmt zu sein schienen, durch ihren Blick zu herrschen. Die fast unmerklich hervortretenden Backenknochen störten die schöne Harmonie dieser männlich biedern Züge nicht, vielmehr gaben sie ihnen etwas eigenthümlich Fremdartiges, was den Beschauer frappiren und fesseln mußte. Sein Kopf war unbedeckt, und er trug das Haar in einen hohen Schopf geflochten, aus welchen das Häuptlingszeichen, mehrere Rabenfedern, hervorragten; dadurch erhielt diese Frisur ein helmartiges Aussehen, welche das Kriegerische seines Ausdruckes erhöhte. Zu bemerken war außerdem ein künstlich geflochtener Lasso, welcher in kurzen Bogen um seine Hüften hing, und das Calummet, die Friedenspfeife, welche er an einer feinen Stahlkette über der offenen Brust trug. In der Faust hielt er seine kostbare Waffe, die gezogene Doppelbüchse, deren Holztheile eng mit silbernen Nägeln beschlagen waren. (F. f.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(10. Fortsetzung.)

Das also war der Mann, dessen Name an jedem Lagerfeuer lebte, dessen Ruf von dem einen Meere bis zum andern reichte, und dessen Thaten in jedem Munde waren. Verehrt von den Freunden, war er zugleich geachtet und gefürchtet bei den Feinden. Er hatte noch niemals einem Gegner den Rücken gewandt, aber er war fern jedem Blutdurste, und Gerechtigkeit leitete alle seine Handlungen.

Wie er jetzt vor uns stand, so hatte ich ihn auch gesehen, als er mir zum ersten Male begegnete, nett und sauber in seiner ganzen Erscheinung, ritterlich und gebieterisch in dem ganzen Eindrucke, den er machte, jeder Zoll an ihm ein Mann, ein Held.

Der dicke Fred war jedenfalls am meisten darüber überrascht, daß an diesem Indsmann Alles glänzte und flimmerte, daß an ihm nicht die leiseste Spur eines Fleckes zu entdecken war, und der Blick der kleinen Aeuglein flog so sprechend zwischen mir und Winnetou hin und her, daß ich errieth, welche Parallele er zwischen uns zog.

„Meine Brüder mögen sich niedersetzen, um die Pfeife des Friedens mit mir zu rauchen,“ sagte der Apache.

Er setzte sich gleich da, wo er stand, in das Gras, langte in den Gürtel und zog ein kleines Quantum Tabak, welcher mit wilden Hanfblättern vermischt war, hervor, mit dem er sein mit Federn geschmücktes Calummet stopfte. Wir nahmen neben ihm Platz. Die Ceremonie der Friedenspfeife war unumgänglich nothwendig, denn sie besiegelte das Bündniß, welches wir geschlossen hatten, und ehe sie nicht geraucht war, hätte Winnetou sicher kein einziges Wort über unsern Plan gesprochen.

Als er den Taback in Brand gesteckt hatte, erhob er sich und stieß einen Mund voll Rauch grad zum Himmel empor und ebenso einen grad zur Erde nieder; dann verneigte er sich nach den vier Himmelsgegenden, indem er vier Züge aus der Pfeife that und den Rauch nach den betreffenden Richtungen blies. Hierauf setzte er sich nieder und gab mir die Pfeife mit den Worten:

„Der große Geist hört meinen Schwur: meine Brüder sind wie ich, und ich bin wie sie; wir sind Freunde!“

Ich ergriff das Calummet, erhob mich, that wie er und sagte dann:

„Der große Manitou, den wir verehren, beherrscht die Erden und die Sterne. Er ist mein Vater und Dein Vater, o Winnetou; wir sind Brüder und werden uns beistehen in jeder Gefahr. Die Pfeife des Friedens hat unsern Bund erneut.“

Ich gab die Pfeife an Walker, der ebenso wie wir vorher den Rauch nach den sechs Richtungen ausstieß und dann gelobte:

„Ich sehe den großen Winnetou, den herrlichsten Häuptling der Mescaleros, Mimbrenjos und Apachen; ich trinke den Rauch seiner Pfeife und bin sein Bruder. Seine Freunde sind meine Freunde und seine Feinde meine Feinde, und nie soll dieser Bund gebrochen werden!“

Er nahm dann wieder Platz und gab dem Apachen die Pfeife zurück, welcher diese weiterrauchte. Jetzt war der Sitte Genüge gethan, und wir konnten uns besprechen.

„Mein lieber Bruder Schar-lih mag mir erzählen, was er gethan hat, seit er von mir geschieden ist, und wie er auf die Fährte der Sioux-Ogellallah gekommen ist,“ bat jetzt Winnetou.

Ich folgte diesem Wunsche so kurz wie möglich und forderte ihn dann auf:

„Mein Bruder Winnetou sage mir, was er erlebt hat, seit ich ihn nicht sah, und wie er so entfernt von dem Wigwam seiner Väter auf das Jagdgebiet der Sioux kommt!“

Er that einen langen, bedächtigen Zug aus dem Calummet und antwortete dann:

„Das Wetter stürzt das Wasser aus den Wolken herab, und die Sonne trägt es wieder empor. So ist es mit dem Leben des Menschen. Die Tage kommen

und verschwinden. Was soll Winnetou viel erzählen von den Sonnen, die vorüber sind? Ein Häuptling der Sioux-Dakota beleidigte mich; ich folgte ihm und nahm seinen Skalp; seine Leute verfolgten mich; ich vernichtete meine Fährte, kehrte zu ihren Wigwams zurück und holte mir die Zeichen meines Sieges, welche ich auf das Pferd des Häuptlings lud. Da steht es!“

Mit diesen wenigen, anspruchslosen Worten berichtete dieser Mann eine Heldenthat, zu deren Erzählung ein Anderer die Zeit von Stunden gebraucht hätte. Aber so war er. Er hatte von den Ufern des Rio Grande im Süden bis weit hinauf zum Milk-River im Norden der Vereinigten Staaten Monate lang einen Feind durch Urwälder und Prairien verfolgt, diesen endlich im männlichen, offenen Kampfe besiegt, sich dann mitten in das Lager der Gegner gewagt und ihnen die köstlichsten Trophäen abgenommen. Das war ein Stück, welches ihm kein Anderer nachmachte, und wie bescheiden berichtete er es! Er fuhr fort:

„Meine Brüder wollen die Ogellallah und die weißen Männer verfolgen, welche man Railtroublers nennt. Dazu bedarf es guter Pferde. Will mein Freund Schar-lih das Roß des Sioux-Dakota reiten? Es hat die beste indianische Dressur, und er versteht sich auf dieselbe besser als ein anderes Bleichgesicht.“

Bereits früher hatte er mir einen herrlichen Mustang geschenkt; ich wollte also die Gabe ablehnen und antwortete daher:

„Ich bitte meinen Bruder um die Erlaubniß, mir ein Pferd selbst zu fangen. Das Roß des Dakota hat die Beute zu tragen.“

Er schüttelte den Kopf und entgegnete:

„Warum will mein Bruder vergessen, daß Alles

sein ist, was mir gehört. Warum will er große Zeit versäumen mit der Pferdejagd? Soll diese Jagd uns den Ogellallah verrathen? Glaubt er, daß Winnetou Beute bei sich führen wird, wenn er der Fährte der Sioux folgt? Winnetou wird sie vergraben, und das Pferd wird ledig sein. Howgh!“

Dagegen war nichts zu machen; ich mußte die Gabe annehmen. Uebrigens hatte ich das Pferd schon längst mit bewundernden Augen betrachtet. Es war ein Schwarzschimmel von dunkelster Färbung, kurz gebaut, kurz gefesselt, fein und doch kräftig gegliedert und so sichtbar geädert, daß man seine Freude an ihm haben mußte. Die volle Mähne hing bis über den Hals herab; der Schweif berührte beinahe den Boden; das Innere der Nüstern zeigte jene röthliche Färbung, auf welche der Indianer so sehr viel gibt, und in den großen Augen lag bei allem Feuer des Ausdruckes doch eine Art ruhiger Ueberlegung, welche hoffen ließ, daß ein guter Reiter sich auf dieses Pferd verlassen könne.

„Aber der Sattel?“ bemerkte Fred. „Ihr könnt doch nicht auf einem Packsattel reiten, Charles!“

„Das ist das Wenigste,“ antwortete ich. „Habt Ihr noch nicht gesehen, wie ein Indsman einen Reitsattel aus einem Packsattel macht? Seid Ihr noch nicht dabei gewesen, wenn ein geschickter Jäger sich mit Hilfe der noch rauchenden Haut eines frisch erlegten Wildes einen ganz leidlichen Sattel herstellt? Ihr sollt sehen, daß ich bereits morgen mit einem so bequemen Sitze versehen bin, daß Ihr mich um denselben beneiden werdet.“

Der Apache nickte zustimmend und meinte:

„Winnetou hat nicht weit von hier am Wasser die frische Spur eines großen Wolfes gesehen. Ehe die Sonne untergegangen ist, werden wir sein Fell und

seine Rippen haben, welche einen guten Sattel geben. Haben meine Brüder Fleisch zu essen?“

Als ich bejahend antwortete, fuhr er fort:

„So mögen meine Brüder aufbrechen, um mit mir den Wolf zu holen und einen Lagerplatz zu suchen, an welchem ich die Beute vergraben kann. Sobald die Sonne am Morgen erscheint, werden wir den Spuren der Railtroublers folgen. Sie haben die Wagen des Feuerrosses zerstört; sie haben viele ihrer weißen Brüder beraubt, getötet und verbrannt. Der große Geist ist zornig über sie und wird sie in unsere Hände geben, denn sie haben nach dem Gesetze der Savanne den Tod verdient.“

Wir verließen den Platz, an welchem ein ebenso merkwürdiges wie glückliches Zusammentreffen stattgefunden hatte. Der Lagerplatz des Wolfes war bald gefunden; wir erlegten das Thier, welches zu der Art gehörte, welche der Indianer Coyote nennt, und saßen kurze Zeit später am Feuer, um einen Sattel anzufertigen. Am andern Morgen vergruben wir die Beute Winnetous, welche aus indianischen Waffen und Medizinsäcken bestand, und bezeichneten den Ort, um ihn später wiederfinden zu können. Dann brachen wir auf, den Mördern nach, die wohl verächtlich gelacht hätten, wenn ihnen bekannt gewesen wäre, daß drei Männer es wagten, sie, die an der Zahl so Ueberlegenen, zur Rechenschaft zu zie­hen. — — —

II. Helldorf-Settlement.

Wie kam es, daß ich dem dicken Walker zu Liebe meinen ursprünglichen Plan aufgab und mit ihm hinter den Railtroublers herging? Was gingen mich diese Leute an, welche mir gar nichts gethan hatten? Warum überließ ich ihre Verfolgung nicht denjenigen, welche dazu berufen waren?

Sobald der Mensch den Fuß in die Prairie setzt, tritt er aus dem Schutze der sozialen Gemeinschaft heraus und sieht sich dagegen von Verhältnissen umgeben, welche ihn auf allen Seiten zum Kampfe auffordern. Er hat mit einer unbarmherzigen Natur zu ringen und weiß, daß diese Natur belebt ist von Menschen, die wenigstens ebenso unbarmherzig sind. Von dem Augenblicke an, in welchem der erste Weiße die Savanne betrat, bis auf den heutigen Tag ist die Geschichte des Westens mit Blut geschrieben.

Dieser Westen mit seinen „finstern und blutigen Gründen“ ist der Schauplatz eines Vernichtungskampfes, wie er gar nicht grausamer und erbitterter geführt werden kann. Die weiße Raçe zeigt sich auch hier der dunkler gefärbten überlegen. Niemand darf sagen, daß der Indianer vor dem Erscheinen der Weißen gesittungslos gewesen sei. Die Ruinen mächtiger Atobesstädte und andere monumentale Ueberreste, mit denen die egyptischen Pyramiden keinen Vergleich aushalten, beweisen das Gegentheil. Ein jeder Mensch ist eben als Mensch existenzberechtigt; er soll die Freiheit haben, sich nach seiner Eigenart zu entwickeln, so lange er damit nicht das Wohl seiner Nebenmenschen gefährdet. Ein jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes, der die Liebe ist; alle Gesetze menschlicher Entwickelung sollen sich auf das eine, große Gesetz der Liebe gründen, damit das Ebenbild des großen, göttlichen Meisters nicht beleidigt, beschimpft und entweiht werde. Welch’ eine traurige, jammervolle Episode der Geschichte bildet da der Untergang einer ganzen Menschen-Raçe, welche vor drei Jahrhunderten nach vielen Millionen zählte und heut’ nur noch aus einzelnen Hunderten, aus wenigen meist verkommenen, entnervten und korrumpirten Rudera besteht!

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(11. Fortsetzung.)

Als die Mongolen sich auf die Kaukasier warfen, ertönte durch ganz Europa und Westasien ein einziger Schrei der Entrüstung und alle die Millionen „Blaßgesichter“ hielten sich vor göttlichen und menschlichen Gesetzen nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, die Dschigiskhans und Timurlenks mit blutigen Köpfen zurückzuweisen. Und als dann kurze Zeit später diese „Bleichgesichter“ ihre Völkerwanderung über den Ozean begannen, da räumten sie den „Rothhäuten“ weder Rechte noch Pflichten ein und gestatteten ihnen höchstens großmüthig, sich zurückzuziehen. Der Indianer mußte seine Heimath, seine Weide- und Jagdgründe aufgeben, und wenn er eine neue Heimath gefunden hatte, so kam das Bleichgesicht und machte ihm mit den Waffen in der Hand erklärlich, daß er sich eine dritte Heimath suchen müsse. So ist er von Heimath zu Heimath getrieben worden, bis zuletzt in diejenige Heimath, aus welcher ihn glücklicher Weise kein spekulativer und selbstsüchtiger Yankee mehr vertreiben kann — in die „ewigen Jagdgründe“.

Auch über die weiten Fernen Nordamerika’s ist ein Schrei der Entrüstung erschollen, aber dieser Schrei

wurde nicht beachtet; der Indianer muß einfach weichen, muß sterben, muß verschwinden und untergehen. Das Bleichgesicht sagt freilich, daß es der Rothhaut Bildung und Gesittung bringe, und daß der „Indsman“ nur deshalb untergehe, weil er diese Bildung nicht annehme. Aber hatte der Rothe den Weißen nicht mit einem Vertrauen, einer Gastfreundlichkeit und einer Hochachtung und Ehrerbietung aufgenommen, wie man sie von einem „gebildeten“ Manne nur verlangen kann? Hat der Weiße jemals Lust gezeigt, die wohlberechtigte Eigenart des Rothen zu berücksichtigen? Hat er ihm jemals Zeit gelassen oder ihn durch eigenes Beispiel veranlaßt, diese Gesittung nach ihrem Werthe anzuerkennen? Stellt er sich ihm in allen seinen Anforderungen nicht so schroff gegenüber, daß dem Rothen nur übrig bleibt, sich assimiliren zu lassen oder von der Erde zu verschwinden?

Und was ist das Traurigste, das Allertraurigste bei diesem furchtbaren Prozeß einer vollständigen Rassenvernichtung? Daß der Indianer die Religion der Liebe, das Christenthum hassen lernt! Und doch ist die heilige Lehre des Erlösers so außerordentlich unschuldig an seinem Untergange. Alle die wahrhaft frommen Männer, welche als wirkliche Glaubensboten unter den Indianern wirkten, haben die Reche dieser Nation anerkannt. Diejenigen aber, welche nur von der Habsucht und Eroberungslust hinübergetrieben

wurden, legten die christliche Propagande nur als Maske vor, um ihr häßliches Angesicht hinter derselben zu verbergen. Hunderte von, besonders katholischen, Missionen sind noch heut in Mittel- und Südamerika in segensreicher Thätigkeit; sie berücksichtigen die Eigenart und die Menschenrechte des Indianers, und dieser verehrt in den frommen Vätern nicht nur die Verkünder eines selig machenden Gottesglaubens, sondern auch die leiblichen Wohlthäter seiner Rasse.

Es wird sehr viel über den rachsüchtigen, mordlustigen, hinterlistigen Charakter des Indianers gesprochen und geschrieben; aber man bedenke seinen Bildungsgrad, man bedenke ferner, daß er aus einer Reservation in die andere gedrängt wird, daß er Jahrhunderte lang weichen und immer wieder zurückweichen mußte, obgleich er seine Heimath ebenso liebt wie wir, und man wird gerechter von ihm denken. Man gehe hinüber in seine Wigwams und gewinne sein Vertrauen, so wird man ihn als den uneigennützigsten und aufopferndsten Freund kennen lernen, dem alle Lüge, Hinterlist und Verstellung fern liegt. Was die „Rothhaut“ jetzt ist, das ist sie durch das Bleichgesicht geworden. Das Christenthum möchte diese reichbegabte Rasse gern vom Untergange retten, aber es ist — — zu spät! Nur eins ist den Boten Gottes möglich: das Abscheiden des Indianers zu einem friedlichen zu machen. Aber wird dies geschehen? -

geschehen? Jetzt gleicht dere wilde Westen einem Sterbebette, auf welchem die Rothhaut unter den schmerzhaftesten Konvulsionen mit einem blutigen, unfreiwilligen Tode ringt. Darf man sich wundern, daß er unter diesen Todeszuckungen die Fäuste ballt und seinen Peiniger trifft? Ist es ein Wunder, daß ein Jeder, der sich diesem Todesbette naht, Acht haben muß, nicht getroffen und verletzt zu werden?

Aus diesem Grunde ist die Prairie eine Stätte unausgesetzter Gefahr. Aber diese Gefahr wird erhöht und verdoppelt durch die Ausgestoßenen der weißen Kaste, durch die sittlichen Parias, welche die Wildniß aufsuchen müssen, weil sie mit den Gesetzen gebrochen haben. Diese Menschen sind schlimmer als die Indianer; diese Letzteren gleichen dem Schwindsüchtigen, der sich mit aller Gewalt an das Leben klammert, die Ersteren aber sind ekelhaft und unheilbar aussätzig. Sie stehen außerhalb des Gesetzes; ihre Hand ist gegen Jedermann, und darum ist auch Jedermann’s Hand gegen sie; sie schonen, heißt die Ehrlichen verderben. Wer ihre Spur kreuzt, ohne sie zu verfolgen, der muß gewärtig sein, ihnen dann unvorbereitet zu begegnen und in ihre Hände zu fallen. Ein jeder brave und muthige Westmann wird sich keinen Augenblick besinnen, ihrer Fährte zu folgen; dann weiß er sie vor sich und hat von den anderen Seiten Nichts zu befürchten. Und haben sie sich gar mit den Rothhäuten verbunden, von denen sie aber auch nur verachtet werden, so ist es doppelt gerathen, lieber der Angreifer als der Angegriffene zu sein. Ich befand mich in der

Nähe der Gegend, welche das Ziel meiner Wanderung war. Wer gab mir Sicherheit, daß ich da nicht irgendwo auf Sioux oder die Railtroublers stieß? Darum war es gerathener, mich vorher über ihre Absichten und den Schauplatz ihrer Thätigkeit zu unterrichten. Und das war der Grund davon, daß ich mich Fred Walker angeschlossen hatte, obgleich ich aufrichtig gestehe, daß die Aussicht auf ein Abenteuer das Ihrige zu meinem Entschlusse beigetragen hatte.

Als wir am andern Morgen aufgebrochen waren, bewährte sich mein Schwarzschimmel als ein ganz ausgezeichnetes Pferd. Ein Reiter, welcher nichts von indianischer Dressur verstand, wäre keinen Augenblick im Sattel geblieben; wir aber hatten uns gar bald zusammengerichtet. Dadurch schien ich in der Achtung meines dicken Fred sehr gewonnen zu haben. Ueberhaupt bemerkte ich, daß er mich zuweilen mit ganz eigenthümlichen Blicken musterte. Er mochte die Auszeichnung nicht begreifen, mit welcher mich Winnetou behandelte. In seinen Augen mußte die ganz und gar außerordentliche Freundschaft des berühmten Apachen zu einem unbekannten Jäger ein wahres Wunder sein.

Der alte Victory hielt sehr gut aus, und so kamen wir recht schnell vorwärts. Bereits am Mittag erreichten wir den letzten Lagerplatz der Railtroublers, waren ihnen also fast um einen halben Tagesritt näher gekommen.

Die Spur, welcher wir folgten, hatte das Flüßchen verlassen, und sich in ein langes Seitenthal gezogen, durch welches sich ein Bach schlängelte. Ich bemerkte,

daß Winnetou von jetzt ab den Boden weit aufmerksamer betrachtete als bisher; auch suchten seine Augen den Rand des Waldes, welcher von beiden Seitenhöhen bis auf die Sohle des Thales hinuntertrat, zu durchdringen. Endlich hielt er gar an und wandte sich, da wir Einer hinter dem Andern ritten und er der Vorderste war, zu mir um.

„Uff!“ rief er. „Was sagt mein Bruder Schar-lih zu diesem Wege?“

„Er wird hinauf bis zum Höhenkamm führen.“

„Und dann?“

„Auf der anderen Seite wird sich das Ziel der Railtroublers befinden.“

„Welches Ziel wird dies sein?“

„Der Weideplatz der Ogellallah.“

Er nickte.

„Mein Bruder Schar-lih hat noch immer das Auge des Adlers und die Witterung des Fuchses. Er hat richtig gerathen,“ sagte er und ritt dann vorsichtig weiter.

„Wieso?“ fragte Walker. „Weideplatz der Ogellallah?“

„Ich habe Euch bereits einmal gefragt, ob Ihr glaubt, daß sich drei Indianer ohne ganz besondere Gründe einer solchen Schaar von Weißen anschließen,“ antwortete ich. „Es gibt im wilden Westen mehr Rothe als Weiße, und so wird es ja auch in unserm Falle sein.“

Pshaw, ich verstehe Euch nicht, Charles!“

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(12. Fortsetzung.)

„Nun, die drei Ogellallah werden, so zu sagen, den Railtroublers als Aufsicht mitgegeben worden sein.“

„Ah! In wiefern? Von wem?“

„Hm! Nehmt es mir nicht übel, mein lieber Fred, aber die Rollen scheinen sich vertauscht zu haben; heut möchte ich Euch ein Greenhorn nennen.“

Heigh-ho! Warum?“

„Glaubt Ihr, daß eine Bande von über zwanzig weißen Spitzbuben hier in dieser Gegend ihr Wesen treiben kann, ohne von den Rothen bemerkt zu werden?“

„Nein, sicherlich nicht.“

„Wozu werden also die Weißen gezwungen sein?“

„Hm, ja! Sie werden sich unter den Schutz der Rothen stellen müssen.“

„Richtig! Werden sie diesen Schutz umsonst haben?“

„Nein. Sie werden ihn bezahlen müssen.“

„Womit?“

„Mit dem, was sie haben, natürlich; mit Beute.“

„Schön! Begreift Ihr nun, was wir Beide meinen, Winnetou und ich?“

„Ah, das also ist es! Die Weißen haben den Zug überfallen, um ihren Tribut zu bezahlen, und die drei Ogellallah waren die Exekutoren!“

„Vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht. Sicher aber ist es, daß unsere ehrenwerthen weißen Brüder bald zu einer größeren Truppe von Rothhäuten stoßen werden. Das sagte ich doch bereits da unten an der Eisenbahn. Aber weiter! Glaubt Ihr etwa, daß sich Rothe und Weiße zusammengethan haben, nur um sich zu pflegen und auf die Bärenhaut zu legen?“

„Auf keinen Fall!“

„Das ist auch meine Meinung. Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß sie bald eine neue Teufelei aushecken werden, besonders da die letzte so gut gelungen ist.“ —

„Was könnte das sein?“

„Hm, ich habe so meine Ahnung.“

„Das wäre viel! Voraus ahnen, was Leute thun werden, die man noch nicht einmal gesehen hat! Charles, ich habe in der letzten Zeit gewissermaßen Respekt vor Euch bekommen, aber mit dieser Ahnung wird es wohl nichts sein!“

„Wollen sehen! Ich habe mich genugsam unter den Indsmen umhergetrieben, um ihre Art und Weise zu kennen. Und wißt Ihr, auf welche Weise man am besten errathen kann, was ein Mensch thun wird?“

„Nun?“

„Wenn man sich recht lebhaft in die Lage versetzt, in welcher er sich befindet, und dabei seinen Charakter mit in Rechnung zieht. Soll ich einmal so kühn sein, zu rathen?“

„Ihr macht mich wahrlich neugierig!“

„Gut! Wem hat unser Zugpersonal wohl zuerst die Zerstörung der Bahn und die Vernichtung des Zuges gemeldet?“

„Doch jedenfalls der nächsten Station.“

„Von da aus wird man also auch Männer zur Unglücksstelle senden, um sie zu untersuchen und die Thäter zu verfolgen. Nicht?“

„Jedenfalls.“

„Dadurch aber wird diese Station von Leuten entblößt, und sie kann also ohne sehr große Gefahr überfallen werden.“

Egad! Jetzt ahne ich, was Ihr denkt!“

„Nicht wahr? Die Stationen sind jetzt hier noch temporär. Es fragt sich, an welchem Punkte man genug Leute haben wird, um ein Detachement entbehren zu können. Meiner Ansicht nach wird dies wohl Echo-Cannon sein.“

„Charles, Ihr könnt Recht haben. Die Railtroublers und die Rothen wissen jedenfalls ebenso genau wie wir, daß der Ort dann entblößt ist.“

„Rechnen wir auch noch dazu, daß die Sioux ihre Kriegspfeile ausgegraben und sich mit den Kriegsfarben bemalt haben, daß sie also ohne allen Zweifel Feindseligkeiten beabsichtigen, so ist fast zu ahnen, daß sie es jetzt auf Echo-Cannon abgesehen haben werden. — Doch seht, da ist der Quell des Baches. Jetzt geht es steil bergan, und wir haben keine Zeit zum Plaudern mehr!

Wir ritten jetzt unter hohen Bäumen eine Steigung hinan. Das Terrain war schwierig und wir mußten Achtung geben. Oben breitete sich die Höhe plateauartig aus und sank dann wieder zu Thale, wo wir bald wieder einen kleinen Wasserlauf erreichten, welcher nach Osten ging.

Hier hatten die Verfolgten zur Mittagszeit Halt gemacht und sich dann mit dem abbiegenden Wasser nordwärts gewendet. Wir kamen durch mehrere kleine Thäler, durch einige Schluchten, und die Spuren wurden nach und nach immer frischer, so daß wir uns zu immer größerer Vorsicht veranlaßt sahen.

Endlich erreichten wir gegen Abend die Höhe eines langgestreckten Bergrückens, und schon wollten wir auf der andern Seite abwärts biegen, als der voranreitende Apache sein Pferd anhielt und mit der ausgestreckten Hand vorwärts zeigte.

„Uff!“ rief er, aber mit gedämpfter Stimme.

Wir hielten an und wandten unsere Blicke in die angedeutete Richtung.

Zu unserer rechten Hand breitete sich tief unten eine kleine Ebene aus, deren Umfang vielleicht eine Stunde betragen mochte. Sie war offen und mit Gras bewachsen. Auf ihr erblickten wir eine ganze Anzahl von Indianerzelten, bei denen reges Leben herrschte. Ledige Pferde weideten im fetten Grün, und zahlreiche Männer waren ringsumher beschäftigt. Man hatte Fleisch gemacht. Außerhalb der Zelte lagen die Skelette einiger Büffel, und über Stangen hatte man Schnuren gezogen, an denen dünne Stücke des Büffelfleisches zum Trocknen aufgehängt waren.

„Ogellallahs!“ sagte Fred.

„Seht Ihr, daß ich Recht hatte!“ bemerkte ich mit einigem Selbstgefühle.

„Zweiunddreißig Zelte!“ fügte er hinzu.

Winnetou hielt sein Auge scharf hinunter gerichtet und sagte dann:

Naki gutesnontin nagoiya — zweihundert Krieger!“

„Und die Weißen sind bei ihnen,“ bemerkte ich. „Wir wollen die Pferde zählen; so gehen wir am sichersten.“

Wir konnten die ganze Ebene übersehen und zählten zweihundertfünf Pferde. Für einen Jagdzug hatte man zu wenig Fleisch gemacht, auch war dieses Thal kein Ort zu einem einträglichen Büffelfang; wir hatten es also mit einem Kriegszuge zu thun, was auch die Schilde bewiesen, welche wir sahen. Auf der Jagd

ist der Schild ja mehr hinderlich als förderlich. Das größte Zelt stand etwas abseits von den übrigen, und die Adlerfedern, welche seine Spitze zierten, ließen errathen, daß es das Häuptlingszelt sei.

„Was sagt mein Bruder Schar-lih? Werden diese Kröten von Ogellallah noch lange hier bleiben?“ fragte Winnetou.

„Nein.“

„Woraus schließt Ihr das, Charles?“ forschte Fred. „Eine solche Frage ist schwer und auch zu wichtig für uns, als daß man sie so schnell beantworten kann.“

„Seht Euch die Gerippe der geschlachteten Büffel an, Fred! Sie werden Euch die Frage genau beantworten.“

„Ah! Wie so?“

„Die Knochen sehen bereits weiß aus; sie sind gebleicht und liegen wohl schon vier oder fünf Tage an der Sonne. Das Fleisch ist also wohl ziemlich trocken. Meint Ihr nicht?“

„Jedenfalls!“

„Nun, so können die Rothen also aufbrechen. Oder meint Ihr, daß sie hier bleiben werden, um noch einige Partien Schach oder Dame zu ziehen?“

„Ihr werdet spitzig, Sir, hihihihi. Wollte nur sehen, was Ihr sagtet. Ah, da tritt Einer aus dem Zelte! Wer mag das sein?“

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(13. Fortsetzung.)

Der Apache griff in die Innentasche seines Bärenfelles und zog ein — Fernrohr hervor. Das war gewiß ein seltener Gegenstand in der Hand eines Indianers. Auch Fred Walker war überrascht. Aber Winnetou hatte die Städte des Ostens gesehen; er war sogar als Abgesandter seiner Nation bei dem „weißen Vater“, dem Präsidenten in Washington gewesen und kannte von den Gebräuchen der Weißen weit mehr, als er sich gewöhnlich merken ließ. Er schob die Glieder des Rohres auseinander und setzte es an das Auge, um den Indianer, von dem Fred gesprochen hatte, genauer zu betrachten. Als er es wieder absetzte und mir hinreichte, zuckte ein grimmiges Wetterleuchten über sein Gesicht.

„Ko-itse, der Lügner und Verräther!“ zürnte er. „Winnetou wird seinen Tomahawk in seinen Schädel pflanzen!“

Ich blickte durch das Rohr und sah mir den Ogellallah mit großem Interesse an. Ko-itse heißt Feuermund. Der Träger dieses Namens war als ein guter Redner, ein sehr verwegener Krieger und ein unversöhnlicher Feind der Weißen in der ganzen Savanne

und im ganzen Gebirge bekannt. Wenn wir es mit ihm zu thun bekamen, so hatten wir uns vorzusehen.

Ich gab das Rohr auch Walker zum Gebrauch und bemerkte dabei:

„Es wird gerathen sein, uns zu verbergen. Es sind weit mehr Pferde als Männer zu sehen, und wenn auch viele der letzteren in den Zelten liegen mögen, so ist doch immerhin anzunehmen, daß noch welche in der Gegend umherschweifen.“

„Meine Brüder mögen warten,“ meinte der Apache. „Winnetou wird einen Ort suchen, wo er sich mit den Freunden verbergen kann.“

Er verschwand unter den Bäumen und kehrte erst nach längerer Zeit zurück. Dann führte er uns seitwärts längs des Höhenrückens hin auf eine Stelle zu, an der das Unterholz so dicht war, daß wir es kaum zu durchdringen vermochten. Im Innern dieses Dickichts war genug Spielraum für uns und unsere Pferde, welche wir anbanden, statt sie anzuhobbeln, während der Apache zurückkehrte, um unsere Spuren unbemerkbar zu machen.

Hier lagen wir bis zum dunklen Abende im tiefen, duftenden Waldgrase, jeden Augenblick bereit, beim geringsten verdächtigen Geräusch aufzuspringen und den Pferden die Nasen zu verschließen, damit ihr Schnauben uns nicht verrathen könne. Als es vollständig finster war, schlich sich Winnetou davon und kehrte

bald mit der Nachricht zurück, daß man unten einige Feuer angebrannt habe.

„Diese Menschen fühlen sich sehr sicher,“ sagte Fred. „Hihihihi, wenn sie wüßten, daß wir ihnen so nahe sind!“

„Daß sie verfolgt werden, können sie sich denken,“ antwortete ich. „Wenn sie sich also heut’ noch sicher fühlen, so kann dies nur daher rühren, daß sie überzeugt sind, daß die Stationsleute noch nicht hier sein können. Daraus möchte ich schließen, daß sie morgen aufbrechen werden. Wir müssen versuchen, Etwas zu erfahren.“

„Winnetou wird gehen,“ sagte der Apache.

„Ich gehe mit,“ meinte ich. „Fred mag bei den Pferden bleiben. Die Gewehre lassen wir hier; sie würden uns nur im Wege sein. Messer und Tomahawk sind genug, und im äußersten Notfalle haben wir noch die Revolver.“

Unser dicker Fred war sofort einverstanden, zurückzubleiben. Er besaß jedenfalls Muth genug, aber wenn es nicht durchaus nöthig war, liebte er es wohl nicht, sein Leben zu exponiren; und ein Wagniß war es doch jedenfalls, hinunter in das Thal zu steigen, um die Ogellallah zu belauschen. Wer von ihnen entdeckt und ergriffen wurde, der war auf jeden Fall verloren.

Wir standen drei oder vier Tage vor dem Neumond. Der Himmel war bewölkt, und kein Stern ließ sich sehen; die Nacht war also für unser Vorhaben

sehr günstig. Wir tappten uns aus dem Dickicht heraus bis zu der Stelle hin, an welcher wir am Nachmittage gehalten hatten.

„Winnetou geht rechts, und mein Bruder Schar-lih mag links gehen!“ flüsterte der Apache, und im nächsten Augenblicke war er bereits lautlos im Dunkel des Waldes verschwunden.

Ich folgte der Weisung des Freundes und schlich mich an der linken Seite des ziemlich steilen Abhanges hinunter.

Eine der schwierigsten, wo nicht die allerschwierigste Aufgabe des Prairie-Jägers ist das Anschleichen an den Feind. Es gehört nicht nur eine jahrelange Uebung, sondern auch geradezu ein natürliche Begabung dazu, sich auf die vollständig unhörbare Weise eines wilden, reißenden Thieres einem Gegner zu nähern, der alle seine Sinne auf das Aeußerste anstrengt, diese Annäherung zu bemerken. Es ist das fast wie mit dem Schwimmen. Wer schnell schwimmen lernen will, der muß sich muthig der Fluth anvertrauen, welche ihm über dem Kopfe zusammenschlägt; im seichten Wasser wird er niemals ein Schwimmer werden. So lernt sich auch das Anschleichen am schnellsten, wenn man sich in wirklicher Gefahr befindet, denn die Gefahr schärft die Sinne, verzehnfacht die Vorsicht und lehrt selbst den kleinsten Umstand zu Rathe ziehen, den man sonst gar nicht benutzen würde.

Schon die Annäherung an einen einzelnen Feind ist schwer. Man muß jeden Vortheil des Terrains berücksichtigen, jede Deckung benutzen, die Lage jedes

Zweiges, jedes Blattes berechnen; da gibt es zu Rathe zu ziehen die Farbe der Erde und der Umgebung, die Richtung des Luftzuges, die Anwesenheit von Vögeln und anderen Thieren, deren Flucht Einen verrathen würde. Da schleicht man, den Leib tief an der Erde, aber doch so, daß er den Boden nicht berührt, nur auf den Spitzen der Zehen und der Finger, was große Körperkraft erfordert und außerordentlich anstrengend ist; da gilt es, die Gestalt eines Baumstumpfes oder Steines anzunehmen und oft eine Geduld zu entfalten, welche den Geist ermüdet und den Körper entkräftet.

Schlimmer noch ist es, eine große Mehrzahl anzuschleichen, da es dann gilt, die Aufmerksamkeit Vieler zu täuschen. Ist es am Tage, so wird man leichter gesehen, aber man befindet sich ja auch selbst in der Lage, Alles genau sehen, beobachten und benutzen zu können. Ist es bei Nacht, so befindet man sich allerdings unter dem Schutze der Dunkelheit, aber diese Letztere birgt wiederum die größten Gefahren in sich. Jeder Augenblick kann die Entdeckung bringen und mit ihr den unvermeidlichen Tod.

Ich erreichte, mich unhörbar zwischen den Büschen und Bäumen hinabwindend, die Sohle des Thales und erblickte nun die Lagerfeuer vor mir. Jetzt nahm ich das Bowiemesser zwischen die Zähne, legte mich lang in das Gras und schob mich langsam vorwärts, dem Häuptlingszelte zu, welches in einer Entfernung von ungefähr zweihundert Schritten vor mir lag. Vor demselben brannte ein Feuer, aber das Zelt warf seinen dunklen Schatten auf mich.

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(14. Fortsetzung.)

Ich gelangte nur Zoll für Zoll vorwärts, doch hatte ich die Luft gegen mich und brauchte daher keine Sorge vor den Pferden zu haben, welche die Annäherung eines Fremden immer mit einem lauten Schnauben zu verrathen pflegen. In dieser Beziehung hatte Winnetou mehr Schwierigkeiten zu überwinden als ich.

So war weit über eine halbe Stunde vergangen, ehe ich die zweihundert Schritte zurückgelegt hatte. Nun lag ich unmittelbar hinter dem Büffelhautzelte des Häuptlings, und die Männer, welche am Feuer saßen, befanden sich höchstens acht Ellen vor mir. Sie unterhielten sich sehr lebhaft in englischer Sprache mit einander, und als ich es wagte, den Kopf ein wenig vorzustrecken, um sie sehen zu können, bemerkte ich, daß es fünf Weiße und drei Indianer waren.

Diese Letzteren verhielten sich ruhig. Nur der Weiße wird am Lagerfeuer laut, während der einsilbige und vorsichtige Indianer mehr durch Zeichen als durch Worte redet. Auch das Feuer brannte hell und nicht nach indianischer Weise. Der Weiße nämlich legt das Holz so zu, daß er eine helle, lodernde Flamme bewirkt; der Indianer aber bildet mit den Holzscheiten

einen Stern, dessen Strahlen von dem Feuer aus nach Außen gehen. Auf diese Weise brennen die Scheite immer nur an dem einen Ende und werden nach Bedarf immer weiter in die Flamme geschoben, welche klein und niedrig bleibt. Lodert sie ja einmal zu hoch empor, so legt der besorgte Wilde sicher sofort feuchtes Gras auf, um die Gluth sogleich zu dämpfen, die ihn verrathen könnte.

Einer der Weißen war ein langer, bärtiger Mensch, welcher eine Schmarre, die von einem Messerschnitte herzurühren schien, auf der rechten Wange trug. Er schien das große Wort zu führen, und die Art und Weise, wie die Andern sich zu ihm stellten, ließ vermuthen, daß er eine Respektsperson sei. Ich konnte ein jedes Wort hören, welches von den Leuten gesprochen wurde.

„Und wie weit wird es sein von hier bis Echo-Cannon? fragte der Eine.

„Ungefähr hundert Meilen,“ antwortete der Lange. „In drei Tagemärschen ist es sehr leicht zu erreichen.“

„Aber wenn unsere Berechnung falsch ist, wenn man uns nicht verfolgt hat und die Leute dort also vollzählig sind?“

Der Lange lachte in wegwerfender Weise und antwortete:

„Unsinn! Man wird uns verfolgen, das ist sicher. Wir haben ihnen ja die Fährte deutlich genug gemacht.

Es sind ungefähr gegen dreißig Menschen mit dem Zuge umgekommen, und wir haben eine schöne Beute gemacht; das wird man nicht hingehen lassen, ohne wenigstens den Versuch zu machen, uns einzuholen.“

„Wenn das stimmt, so muß der Coup gelingen,“ sagte der Andere. „Wie viele Leute sind in Echo-Cannon beschäftigt, Rollins?“

„Gegen hundertfünfzig,“ sagte der indianische Späher, „alle gut bewaffnet. Außerdem gibt es dort einige wohlgefüllte Stores, mehrere Trinksalons, und daß wir eine volle Bau- und Verwaltungskasse finden, darüber brauchen wir keine Sorge zu tragen. Ich habe gehört, daß diese Kasse alle zwischen Green-River und Promontory vorkommenden Ausgaben zu bestreiten hat. Das ist eine Strecke von über zweihundertunddreißig Meilen und es läßt sich also vermuthen, daß da viele Tausende vorhanden sein müssen.“

Heigh-day, das läßt sich hören! Und Du glaubst, daß wir die Verfolger von unserer Spur wegbringen?“

„Auf jeden Fall. Ich kalkulire, daß sie morgen am Nachmittag hier sein werden. Wir brechen mit dem Morgengrauen auf, gehen erst eine Strecke nach Norden und theilen uns dann nach verschiedenen Richtungen in so viele Trupps, daß sie nicht wissen, welcher Spur sie folgen sollen. Später verwischt ein jeder Trupp seine Spur auf das Sorgfältigste, und wir kommen da unten am Greenfork wieder zusammen.

Von da aus vermeiden wir alle offenen Plätze und können von heut an in vier Tagen in Echo-Cannon sein.“

„Schicken wir Boten voraus?“

„Das versteht sich! Sie gehen morgen früh direkt nach dem Cannon und erwarten uns dort am Painterhill. Das ist Alles schon bestimmt. Selbst wenn die Arbeiter vollzählig im Cannon vorhanden wären, brauchen wir keine Sorge zu haben. Wir sind ihnen überlegen, und ehe sie zu den Waffen greifen, wird der größte Theil von ihnen gefallen sein.“

Ich hätte wahrhaftig in keinem besseren Augenblick den Lauscher machen können, denn was ich hier erfuhr, das war weit mehr, als ich hätte erwarten dürfen. Sollte ich länger bleiben? Nein. Mehr konnte ich auf keinen Fall errathen, und der geringste Umstand konnte meine Anwesenheit verrathen. Ich zog mich also langsam wieder zurück.

Dies geschah immer noch in tief gebückter Stellung und zwar rückwärts, denn ich mußte Sorge tragen, meine Spur zu verwischen, damit sie morgen früh nicht bemerkt wurde. Das war, da ich nur nach dem Gefühle gehen konnte und fast jeden Grashalm einzeln betasten mußte, eine höchst zeitraubende Arbeit, und es dauerte wohl eine Stunde, ehe ich den Rand des Waldes wieder erreichte und mich nun in Sicherheit befand.

Jetzt legte ich die Hände muschelförmig an den Mund und ließ den Ruf der großen, grünen Unke ertönen. Das war vor Jahren ein zwischen mir und Winnetou verabredetes Rückzugszeichen gewesen, und

ich war überzeugt, daß er es hören und befolgen werde. Den Indianern konnte dieser Unkenruf nicht auffällig sein, da die Gegenwart eines solchen Thieres hier im hohen, feuchten Grase leicht vermuthet werden konnte und es ja auch die Abendzeit war, an welcher diese Amphibien gewöhnlich ihren Ruf erschallen lassen.

Ich hielt es für nöthig, dieses Zeichen zu geben. Der Apache lag unter dem Winde und konnte leicht entdeckt werden. Was ich erfahren hatte, war vollständig genug, und so war es jedenfalls gerathen, ihn zu benachrichtigen, daß unser Zweck erreicht sei.

Auch die Höhe aufwärts mußte ich die Spur vertilgen, und so war ich endlich froh, als ich trotz der Dunkelheit unser Dickicht glücklich erreichte.

„Nun, wie war es?“ fragte Fred.

„Wartet, bis Winnetou kommt.“

„Warum? Ich brenne vor Begierde.“

„So verbrennt meinetwegen! Man redet nicht gern überflüssiges, und ich müßte ja meinen Bericht zweimal geben, erst Euch und dann dem Apachen.“

Damit mußte er sich begnügen, obgleich es sehr lange dauerte, ehe der Apache kam.

Endlich hörten wir das Strauchwerk rascheln; er huschte zu uns heran und ließ sich an meiner Seite nieder.

„Mein Bruder Schar-lih hat mir das Zeichen gegeben?“ sagte er.

„Ja.“

„So ist mein Bruder glücklich gewesen?“

„Ja. Was hat der Häuptling der Apachen erfahren?

„Er hat nichts erfahren. Er brauchte eine große

Zeit, um an den Pferden vorüber zu kommen, und als er das eine Lagerfeuer beinahe erreicht hatte, hörte er den Ruf der Kröte. Dann mußte er seine Fährte auswischen, und die Sterne sind hoch gestiegen, ehe er kommen konnte. Was hat mein Bruder gesehen?“

„Ich habe Alles gehört, was wir zu wissen brauchen.“

„Mein weißer Bruder ist immer glücklich, wenn er den Feind belauscht. Er mag erzählen!“

Ich berichtete, was ich gehört hatte. Als ich fertig war, meinte Fred.

„So ist also Eure Vermuthung richtig gewesen, Charles. Das mit dem Ueberfalle des Cannon war gut errathen!“

„Es war nicht schwer!“

„Und wie sah der Lange aus? Einen Schnitt hatte er über die rechte Wange?“

„Ja,“

„Und einen großen Bart?“

„Ja,“

„Er ist es, obgleich er früher keinen Bart getragen hat. Den Schnitt hat er sich bei dem Ueberfalle einer Farm da unten bei Leawenworth geholt. Und wie wurde er genannt?“

„Rollins.“

„Das muß man sich merken. Es ist bereits der vierte falsche Name, den ich von ihm höre. Aber was werden wir thun, Sir? Heut heraus holen können wir ihn doch nicht.“

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(15. Fortsetzung.)

„Das ist allerdings unmöglich. Und übrigens kann Euch an seiner Bestrafung allein doch nicht gelegen sein. Die andern Railtroublers sind nicht weniger schlecht als er. Ich will Euch sagen, Fred, daß ich mich auf allen meinen Streifzügen möglichst gehütet habe, einen Menschen zu tödten, denn Menschenblut ist die kostbarste Flüssigkeit, welche es gibt. Ich habe lieber großen Schaden getragen, ehe ich zur tödtlichen Waffe griff, und wenn es doch geschehen mußte, so geschah es sicherlich im äußersten Grade der Nothwehr. Und selbst da habe ich lieber den Feind kampfunfähig gemacht, als daß ich ihm das Leben nahm —“

„Ah,“ meinte der Dicke, „da seid Ihr grad wie Old Shatterhand. Dieser soll auch nur in der größten Noth einen Indianer tödten. Das Wild schießt er in das Auge; aber wenn ihn der Feind zur Gegenwehr zwingt, so zerschmettert er ihm entweder das rechte Bein oder den rechten Arm, oder er schlägt ihm einfach die Faust an den Kopf, daß er zusammenbricht und stundenlang liegen bleibt.“

„Uff!“

Diesen gedämpften Ruf der Verwunderung stieß der Apache aus. Er merkte erst jetzt, daß Walker noch gar nicht wußte, daß ich selbst Old Shatterhand sei. Ich nahm von diesem Rufe keine Notiz und fuhr fort:

„Dennoch aber kann es mir nicht einfallen, einen Bösewicht oder gar eine ganze Schaar solcher Kerls ruhig laufen zu lassen. Das hieße ja, ihr Mitschuldiger werden und diese Rotte gegen brave Leute loszulassen. Herausholen können wir diesen Williams nicht; aber es wäre mir ein Leichtes gewesen, ihn vorhin unschädlich zu machen, indem ich ihn niederschoß. Doch will ich kein Mörder sein, und gegen das, was er verbrochen hat, wäre so ein schneller Tod ja geradezu eine Belohnung gewesen. Ich meine vielmehr, daß wir auch seine Helfershelfer fassen müssen, und das kann nur dann geschehen, wenn wir sie ruhig nach dem Cannon ziehen lassen.“

„Und wir?“

„Da gibt es Nichts zu fragen! Wir kommen ihnen zuvor und warnen die Leute, welche überfallen werden sollen.“

„Well! Diesen Gedanken lasse ich mir gefallen. Vielleicht gelingt es uns, diese Raubmörderbande lebendig zu fangen. Aber werden sie uns nicht zu zahlreich sein?“

„Wir sind ihnen zu Dreien gefolgt, ohne uns zu

fürchten, und werden sie noch weniger fürchten, wenn wir in Echo-Cannon Verbündete gefunden haben.“

„Wir werden nicht viele finden. Die größte Anzahl dieser Leute wird sich auf der Verfolgung befinden.“

„Wir werden dafür sorgen, daß sie von dem Stande der Dinge benachrichtigt werden und schleunigst zurückkehren.“

„In welcher Weise?“

„Ich schreibe einen Zettel und befestige ihn an einen Baum, an welchem die Spur, der sie folgen, vorüberführt.“

„Werden sie es glauben? Es könnte das ja auch eine List der Railtroublers sein, um sie von der Verfolgung abzubringen.“

„Sie werden von unserm Zugpersonale gehört haben, daß Zwei ausgestiegen sind, und auch unsere Fährten gefunden haben. Uebrigens werde ich die Warnung so abfassen, daß sie geglaubt werden muß. Ferner werde ich sie bitten, den Greenfork und Painterhill zu vermeiden, da am ersteren Orte die getheilten Sioux sich wieder treffen sollen und an dem zweiten die Kundschafter verweilen. Diese Letzteren dürfen die zurückkehrenden Eisenbahnen keineswegs bemerken, und daher werde ich mit notiren, daß die Heimkehr nach dem Cannon vom Süden her geschehen muß.“

„Uff,“ meinte da Winnetou. „Meine weißen Brüder werden mit mir aufbrechen.“

„Jetzt?“ fragte Walker.

„Die Sonne muß uns bereits weit von hier sehen, wenn sie aufgeht.“

„Aber wenn man morgen früh unsere Spuren findet?“

„Die Hunde der Ogellallah werden sich erheben, um sofort nach Norden zu ziehen, und Keiner von ihnen wird auf diese Höhe kommen. Howgh!“

Er erhob sich und trat zu seinem Pferde, um es loszubinden. Wir thaten dasselbe, führten sie aus dem Dickicht heraus, stiegen auf und ritten denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Von einer Nachtruhe war natürlich keine Rede.

Es war noch ebenso finster wie vorher, und nur ein Westmann konnte es unternehmen, bei einem so schwierigen Terrain durch den Urwald auf einer Spur zu reiten, welche er nicht zu sehen vermochte. Ein europäischer Reiter wäre in dieser Dunkelheit abgestiegen, um sein Pferd zu führen; der Hinterwäldler aber weiß, daß sein Thier besser sehen kann als er. Hier zeigte sich Winnetou in seiner Größe. Er ritt voran, über Bäche und Felsen, über Stock und Stein, und nicht ein einziges Mal war er zweifelhaft, welche Richtung er einzuschlagen habe. Mein Schwarzschimmel hielt sich vortrefflich und auch der alte Victory schnaubte zwar zuweilen ein wenig mißmuthig, hielt aber gleichen Schritt mit uns.

Als es zu grauen begann, befanden wir uns wohl bereits neun bis zehn englische Meilen von dem Lager der Ogellallahs entfernt und konnten nun unsere Pferde ausgreifen lassen. Unsere Richtung ging einstweilen grad auf Süd zurück, aber als ich eine geeignete Stelle fand, hielten wir an. Ich riß ein Blatt aus dem Notizbuche, schrieb die nothwendigen Notizen mit dem Stifte darauf und stach es dann mittels eines zugespitzten

Hölzchens in die Rinde eines Baumes so ein, daß es einem Jeden, der von Süden her kam, in die Augen fallen mußte. Dann schlugen wir mehr nach rechts hin die Richtung nach Südwest ein.

Zu Mittag gingen wir über den Green-Fork, aber jedenfalls sehr weit entfernt von der Stelle, an welcher die einzelnen Trupps der Ogellallah zusammentreffen wollten. Diese mußten alle offenen Stellen vermeiden und sich also auf Umwegen im Urwalde halten; wir aber konnten die möglichst gerade Richtung einschlagen und ließen unseren Pferden nicht eher Ruhe, als bis die Sonne sich zur Rüste zu neigen begann.

Seit heute Morgen hatten wir unbedingt weit über vierzig englische Meilen zurückgelegt, und es war zu verwundern, daß der alte Victory immer gleichen Schritt hielt. Wir ritten zwischen zwei eng zusammentretenden Höhen hin und standen im Begriffe, uns einen Ort zu suchen, welcher zum Lagerplatze geeignet war. Da traten die Höhen plötzlich auseinander, und wir befanden uns am Seiteneingange eines größeren Thalkessels, dessen Mitte ein kleiner See einnahm. Dieser Letztere wurde von einem Flüßchen gespeist, welches von Ost herüberkam und, nachdem es den See verlassen hatte, sich nach Westen hin einen Ausgang aus dem Kessel brach.

Bei dem Anblicke dieses Thalkessels hielten wir überrascht unsere Pferde an. Diese Ueberraschung galt jedoch nicht dem Thale selbst, sondern etwas Anderem. Die uns gegenüberliegende Höhe war nämlich entwaldet und bestand aus Feldern, während im Thale Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen weideten. Am Fuße der Höhe lagen fünf große Blockhäuser mit Nebenhütten, unsern deutschen Bauernhöfen ähnlich, und ganz oben auf der höchsten Spitze stand ein kleines Kapellchen, über welches sich ein mächtiges Kreuz mit dem aus Holz geschnitzten Bilde des Erlösers erhob.

Neben diesem Kapellchen bemerkten wir mehrere

Personen, welche uns aber nicht zu sehen schienen. Sie blickten gegen Westen, wo der Sonnenball sich immer tiefer senkte, und als er das Wasser des Flüßchens, welches er mit den herrlichsten Tinten färbte, erreicht zu haben schien, erklang von oben herab der silberne Ton eines Glöckchens.

Hier, mitten im wilden Westen, im tiefen Urwalde das Bild des Gekreuzigten! Mitten zwischen den Kriegspfaden der Indianer eine Kapelle! Ich hätte vom Pferde steigen, niederknieen und vor Entzücken weinen mögen! Ich nahm den Hut herunter und betete, wurde aber von dem Indianer unterbrochen.

„Ti ti — was ist das?“ frug er.

„Ein Settlement (Niederlassung) natürlich,“ antwortete Walker sehr weise.

„Uff! Winnetou sieht die Niederlassung; aber welcher Klang ist das?“

„Das ist die Vesperglocke. Sie läutet das Ave Maria.“

„Uff!“ meinte der Apache erstaunt. „Was ist Vesperglocke? Was ist Ave Maria?“

„Warten!“ sagte Fred, welcher sah, daß ich die Hände gefaltet hatte.

Als der letzte Schlag des Glöckleins verklungen war, ertönte plötzlich ein vierstimmiger Gesang vom Berge herab. Ich horchte empor, erstaunt ob des Gesangs an und für sich, noch erstaunter aber über die Worte dieses Gesanges:

„Es will das Licht des Tages scheiden;

Nun bricht die stille Nacht herein.

Ach, könnte doch des Herzens Leiden

So, wie der Tag vergangen sein!

Ich leg mein Flehen Dir zu Füßen;

O trags empor zu Gottes Thron,

Und laß, Madonna, laß Dich grüßen

Mit des Gebetes frommem Ton:

Ave, ave, Maria!“

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(16. Fortsetzung.)

Was war denn das? Das war ja mein eigenes Gedicht, mein Ave Maria! Wie kam dies hierher in die Wildnisse des Felsengebirges? Ich war zunächst ganz perplex; dann aber, als die einfachen, ergreifenden Harmonieen wie ein unsichtbarer Himmelsstrom vom Berge herab über das Thal hinströmten, da überlief es mich mit unwiderstehlicher Gewalt; das Herz schien sich mir ins Unendliche ausdehnen zu wollen, und es flossen mir die Thränen in großen Tropfen von den Wangen herab.

In Chicago und vor einer Reihe von Jahren war es gewesen, daß mich ein Freund, welcher Musikdirektor war, um den Text zu einem dreistrophigen Ave Maria gebeten hatte. Ich war natürlich sofort bereit gewesen, diesen Wunsch zu erfüllen, und als ich später in einem Konzerte seine Kompositionen singen hörte, fühlte ich, daß er ein Meisterstück geliefert hatte. Die Zuhörerschaft belohnte den Vortrag mit einem solchen Applaus, daß das Ave Maria noch zweimal da Capo gegeben wurde.

Und jetzt hörte ich diese Komposition des Freundes nach Jahren zum zweiten Male, und zwar an einem

Orte, an welchem ich kaum die Gegenwart eines Indianers, noch viel weniger aber die Anwesenheit eines so gut geschulten Doppelquartetts vermuthen konnte! Als ich die letzten Töne über dem Thale verklingen hörte, riß ich die Büchse von der Schulter, feuerte die beiden Läufe schnell hintereinander ab und gab dem Schwarzschimmel die Sporen. Ich sauste über das Thal hinüber, in das Flüßchen hinein, drüben wieder heraus und dann auf die Blockhütten zu, ohne mich ein einziges Mal umzusehen, ob mir die Gefährten auch folgten.

Die beiden Schüsse hatten nicht nur das Echo des Thales geweckt, sondern auch anderes Leben herbeigerufen. Die Thüren der Blockhäuser öffneten sich und es erschienen Leute, welche besorgt ausschauten, was das Schießen zu bedeuten habe. Als sie einen Weißen in halbwegs civilisiertem Kostüm erblickten, beruhigten sie sich und traten mir erwartungsvoll entgegen.

Vor der Thür des mir nächstliegenden Blockhauses stand ein altes Mütterchen. Ihr Gewand war einfach und sauber; ihr ganzes Aeußere zeugte von fleißiger Arbeit und über ihr Angesicht, welches von schneeweißen Haaren eingefaßt wurde, lag jener selig lächelnde Frieden ausgebreitet, welcher nur das Eigentum einer Seele sein kann, die mit ihrem Gotte in unwandelbarem Vertrauen lebt.

„Good evening, grand-mother — guten Abend,

Großmutter! Ich bitte, nicht zu erschrecken; wir sind ehrliche Backwoodsmen! Wird es uns erlaubt sein, abzusteigen?“

Sie nickte lächelnd und antwortete:

„Welcome, Sir! Steigt in Gottes Namen ab! Ein ehrlicher Mann ist uns hier stets willkommen. Da seht meinen Alten und meinen Willy; sie werden Euch behilflich sein.“

Die Sänger waren durch meine Schüsse aufmerksam gemacht worden und schleunigst von der Höhe herabgestiegen. Jetzt hatten sie die Wohnungen erreicht, voran ein rüstiger Greis und neben ihm ein prächtiger, junger Mann, hinter ihm noch sechs ältere oder jüngere Männer und Burschen, Alle in der festen, haltbaren Tracht des Hinterwaldes. Auch diejenigen Personen, welche ich vor den anderen Gebäuden hatte stehen sehen, waren herzugetreten. Der Alte streckte mir mit biederer Miene die Rechte entgegen und begrüßte mich:

„Willkommen, Sir, in Helldorf-Settlement! Das ist eine Freude, einmal Menschen zu sehen! — Willkommen abermals!“

Ich sprang vom Pferde und erwiderte seinen Handschlag:

„Thank you, Sir! Es gibt keinen schöneren Anblick im Leben, als ein freundliches Menschen-Angesicht. Habt Ihr ein Nachtlager für drei müde Reiter?“

„Allemal! Wir werden doch einen Platz haben für Leute, die uns willkommen sind!“

Bis jetzt hatten wir englisch gesprochen; da aber trat einer der jüngeren Männer näher herbei und rief, mich schärfer betrachtend:

„Vater Hillmann, Ihr könnt mit diesem Herrn deutsch reden. Hurra, ist das eine Ehre und eine Freude! Ratet einmal, wer das ist!“

Der alte Hillmann blickte verwundert auf und fragte-

„Wohl gar ein deutscher Landsmann? Kennst du ihn?“

„Ja, aber ich mußte mich erst besinnen. Willkommen, Herr! Nicht wahr, Sie sind es, der das Ave Maria gedichtet hat, welches wir soeben gesungen haben?“

Jetzt war ich an der Reihe, mich zu verwundern.

„Allerdings,“ antwortete ich. „Woher kennen Sie mich?“

„Von Chicago her. Ich war Mitglied im Gesangverein des Direktors Balding, der Ihr Gedicht komponirt hat. Können Sie sich noch auf das Concert besinnen, in welchem es zum ersten Male gesungen wurde? Ich sang damals zweiten Tenor, jetzt aber ersten Baß. Meine Stimme ist herabgegangen.“

„Ein Deutscher — ein Bekannter von Bill — ein Dichter — von unserm Ave Maria!“

So rief es rund um mich her, und so viel Männer, Frauen, Buben und Mädchen zugegen waren, so viele Hände streckten sich mir entgegen und so viele Stimmen riefen mir ein immer wiederholtes Willkommen zu. Es war für mich ein Augenblick der Freude, wie man sie nicht sehr oft erlebt.

Mittlerweile hatten uns auch Winnetou und Fred erreicht. Bei dem Anblicke des Ersteren schienen die guten Leute besorgt werden zu wollen; ich aber suchte ihre Befürchtungen sofort zu zerstreuen:

„Das ist Fred Walker, ein Savannenmann, und dieser ist Winnetou, der berühmte Häuptling der Apachen, vor dem Sie keine Angst zu haben brauchen.“

„Winnetou? Ist’s möglich?“ frug der alte Hillmann. „Von dem habe ich hundertmal erzählen hören, und nur lauter Gutes. Das hätte ich nicht gedacht! Das ist eine Ehre, Herr, denn dieser Mann ist berühmter und geachteter, als mancher Fürst da drüben im alten Lande.“

Er nahm seine Mütze von dem ergrauten Haupte, streckte dem Häuptlinge die Hand entgegen und sagte englisch:

„I am your servant, Sir — Ich bin Euer Diener, Sir.“

Ich gestehe, daß diese Ergebenheitsphrase einem Indianer gegenüber mir ein kleines Lächeln abnöthigte;

aber sie war gut und aufrichtig gemeint. Winnetou verstand und sprach das Englische gut. Er nickte freundlich, drückte dem Alten die Hand und antwortete:

„Winnetou is your friend; it loves the whites if they are good — Winnetou ist Euer Freund; er liebt die Weißen, wenn sie gut sind.“

Jetzt begann eine Art freundlichen, liebevollen Streites darüber, wer die Gäste bekommen sollte. Hillmann machte demselben ein Ende durch den Schiedsspruch:

„Sie sind vor meinem Hause abgestiegen und gehören alle Drei mir. Damit Ihr aber nicht zu kurz kommt, seid Ihr heut Abend zu mir geladen. Nun aber gebt den Herren Ruhe; sie werden ermüdet sein!“

Die Anderen ergaben sich darein. Unsere Pferde wurden in eine der Nebenhütten geführt und wir mußten in das Blockhaus treten, wo uns im Wohnraume eine hübsche, junge Frau empfing, die Frau Willy’s, des jungen Hillmann. Es wurde uns alle mögliche Bequemlichkeit geboten, und während des kurzen Imbisses, den wir vor dem eigentlichen Abendessen, welches heute ein Festmahl werden sollte, nehmen mußten, erfuhren wir die Verhältnisse der kleinen Ansiedelung. (Forts. folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(17. Fortsetzung.)

Sämmtliche Settlers hatten vorher in Chicago gewohnt. Sie waren aus dem bayerischen Fichtelgebirge nach Amerika gekommen, hatten in Chicago treu zusammengehalten und fleißig gearbeitet, um sich das Geld zu einer Farm zu verdienen. Das war allen fünf Familien gelungen. Als sie sich entscheiden sollten, in welcher Gegend sie sich eine Heimath gründen wollten, gab es eine schwere Wahl. Da hörten sie einen alten Westmann von den Tetons erzählen und von den Reichthümern, welche in jenen unerforschten Gegenden aufgestapelt liegen. Er hatte ihnen zugeschworen, daß da oben ganze Felder von Chalcedonen, Opalen und Achaten, Carneolen und anderen Halbedelsteinen zu finden seien. Hillmann war eigentlich Steinschneider, und dieser Bericht begeisterte ihn. Seine Begeisterung bemächtigte sich auch der Andern, und so wurde beschlossen, nach jenen Gegenden zu gehen. Aber die vorsichtigen Deutschen waren klug genug, nicht ihr ganzes Vertrauen auf jene Reichthümer zu setzen. Sie beschlossen sich in der Nähe der Berge einen für Farmereibetrieb passenden Ort zu suchen, sich dort als Squatters niederzulassen und erst

dann, wenn die Farm in Gang gebracht sei, nach den Steinfeldern des alten Westmanns zu forschen. Der alte Hillmann war mit noch Zweien auf die Suche gegangen und hatte den prächtigen Thalkessel mit dem See gefunden. Dieser Ort paßte für ihr Vorhaben; man holte die andern nach, und nun, nach drei arbeitsreichen Jahren, konnten sich die braven Leute die erste Ruhe gönnen.

„Und sind Sie schon einmal droben bei den Tetons gewesen? fragte ich.

„Mein Willy und Bill Meinert, der Sie von Chicago aus kennt, haben es einmal versucht, hinauf zu gelangen, das war im vorigen Herbste; sie sind aber nur bis zum John Grays See gekommen; dann ist es ihnen zu wild und bergig geworden. Sie konnten nicht weiter fort.“

„Daran sind sie leider selbst schuld,“ bemerkte ich; „sie sind keine Westmänner.“

„O, Herr, ich denke doch!“ meinte Willy.

„Nehmt mir’s nicht übel, wenn ich trotzdem bei meiner Behauptung bleibe. Selbst bei einem drei Jahre langen Urbarmachen einer Wildniß wird man nur ein Settler, aber kein Westmann. Sie haben die Tetons von hier aus in schnurgerader Linie erreichen wollen, und ein Westmann weiß genau, daß dies ganz unmöglich ist. Das wird selbst in einem halben Tausend von Jahren noch nicht möglich sein, viel weniger -

weniger jetzt, wo Alles noch in dichter Wildnis liegt. Wie wollen Sie undurchdringliche Urwälder, die von Bären und Wölfen bevölkert sind, Abgründe und Schluchten, in denen kein Fuß einen Halt findet, Cannons, wo hinter jedem Felsen ein Indsman lauschen kann, überwinden? Sie hätten von hier aus den Salt-River oder John Grays River zu erreichen suchen sollen. Beide münden unweit voneinander in den Snake-River, den Sie dann aufwärts verfolgen mußten. Dann bekamen Sie zur Linken zunächst die Snake River Mountains, dann die Teton Paß Mountains, nachher den Teton Paß selbst und endlich die ganze Tetons Range in einer Länge von über fünfzig englischen Meilen. Aber zu Zweien läßt sich eine beschwerliche und gefahrvolle Entdeckungsreise nicht ausführen. Haben Sie Steine gefunden?“

„Einige Moosachate, weiter nichts.“

„So lassen Sie einmal sehen! Winnetou kennt jeden Winkel des Felsengebirges. Ich will ihn einmal fragen.“

Da ich wußte, daß ein Indianer über die Gold- und anderen Schätze des Westens nur selten und höchst ungern spricht, so stellte ich meine Frage in der Sprache der Apachen. Ich war aber trotzdem überzeugt, daß er jede Auskunft verweigern werde.

„Will mein Bruder Schar-lih Gold und Steine suchen?“ meinte er ernsthaft.

Ich erklärte ihm den Zusammenhang. Er blickte lange vor sich nieder; dann musterte sein dunkles Auge die Anwesenden und endlich fragte er:

„Werden diese Männer dem Häuptling der Apachen einen Wunsch erfüllen?“

„Welchen?“

„Wenn sie mir noch einmal singen, was Winnetou draußen vor dem Thale hörte, so wird er ihnen sagen, wo Steine liegen.“

Ich war im höchsten Grade überrascht. Hatte das Ave Maria auf diesen Indianer einen so tiefen, gewaltigen Eindruck gemacht, daß er entschlossen war, für dasselbe die Geheimnisse der Berge zu verrathen?

„Sie werden es singen,“ antwortete ich ihm.

„So mögen sie in den Groß Ventre Bergen suchen; da liegen viele Goldkörner. Und im Thale des Beaverdam Flusses, der sein Wasser in den südlichen Punkt des Yellowstone-See ergießt, liegen sehr viele solche Steine, wie sie diese Männer suchen.“

Während ich den Settlers diese Auskunft mittheilte und ihnen die Lage der beiden angegebenen Punkte erklärte, stellten sich die ersten Nachbarn ein, und wir mußten das Gespräch unterbrechen.

Nach und nach füllte sich der Wohnraum des Blockhauses, und wir feierten einen Abend, wie ich ihn im Westen noch nicht erlebt hatte. Die Männer konnten noch alle Lieder, welche sie in der Heimath

und später in Chicago gesungen hatten. Als echte Deutsche liebten sie den Gesang und hatten sich ganz leidlich zu einem Doppelquartette zusammengeübt. Selbst der alte Hillmann sang einen erträglichen Baß, und so kam es, daß die Pausen des Gespräches mit deutschen Volksliedern und Quartetten ausgefüllt wurden.

Der Apache hörte schweigsam zu; endlich aber fragte er mich:

„Wann werden diese Männer ihr Wort halten?“

Darauf hin erinnerte ich Hillmann an das Versprechen, welches ich Winnetou gegeben hatte, und sie begannen das Ave Maria. Kaum jedoch hatten sie begonnen, so streckte der Apache die Hände abwehrend aus und rief:

„Nein! In dem Hause klingt es nicht gut. Auf dem Berge will Winnetou es hören.“

„Er hat Recht,“ sagte Bill Meinert. „Dieses Lied muß im Freien gesungen werden. Kommt heraus!“

Die Sänger stiegen eine Strecke die Höhe hinan. Wir andern blieben im Thale. Winnetou stand neben mir, war aber bald verschwunden. Dann erklang es von oben aus dem Dunkel herab in schönen, rein dahingetragenen Tönen:

„Es will das Licht des Tages scheiden;

Nun bricht die stille Nacht herein.

Ach könnte doch des Herzens Leiden

So, wie der Tag vergangen sein — —“

Wir lauschten in stiller, lautloser Andacht. Die Finsternis verhüllte die Sänger und den Ort, an welchem sie standen. Es war, als ob das Lied vom Himmel herab erklänge. Der Komponist hatte keine nach Effekt haschenden Modulationen, keine kunstreichen Wiederholungen und Umkehrungen, keine anspruchsvolle Verarbeitung des Motivs angewendet. Die Komposition erbaute sich nur aus den naheliegenden, leitereigenen Akkorden, und die Melodie war einfach, wie diejenige eines Kirchenliedes. Aber grad diese Einfachheit, diese Natürlichkeit der Harmoniefolge gab den Tönen das so tief Ergreifende, dem unsere Herzen nicht widerstehen konnten.

Bereits als das Lied verklungen war, standen wir noch lange still und kehrten nicht eher wieder in die Stube zurück, als bis uns die Rückkehr der Sänger daran erinnerte. Winnetou aber fehlte. Es verging wohl eine Stunde und noch länger, ohne daß er kam, und da wir hier doch von allen Seiten von der Wildniß umgeben waren und ihm also möglicher Weise etwas zugestoßen sein konnte, so warf ich die Büchse über und trat hinaus in das Freie. Vorher jedoch bat ich die Leute, mir nicht zu folgen, außer wenn sie einen Schuß hören sollten. Ich ahnte, was den Apachen in der Einsamkeit zurückhielt.

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(18. Fortsetzung.)

Der Richtung folgend, in welcher ich ihn hatte verschwinden sehen, näherte ich mich dem See. Eine etwas erhöhte Felsenplatte ragte über die dunklen Wasser hinein, und auf ihr sah ich die Gestalt des Gesuchten. Er saß hart am Rande, bewegungslos wie eine Statue. Mit leisem Schritte näherte ich mich ihm und ließ mich neben ihm nieder, wo ich in lautlosem Schweigen verharrte.

Es verging eine lange, lange Zeit, ohne daß er sich regte; endlich aber erhob er langsam den Arm, deutete auf das Wasser und sagte wie unter einem tiefen, sein ganzes Nachdenken in Anspruch nehmenden Gedanken:

Ti pa-apu shi itchi — dieser See ist wie mein Herz.“

Ich antwortete nicht. Er fiel wieder in sein Schweigen zurück, und sagte erst nach einer sehr langen Pause:

Ntch-nha Manitou nsho; shi aguan t’enese — der große Geist ist gut; ich liebe ihn!“

Ich wußte, daß ich mit einer Antwort nur die Entwickelung seiner Gedanken und Gefühle stören

würde; darum schwieg ich auch jetzt. In Folge dessen fuhr er bald fort:

„Mein Bruder Schar-lih ist ein großer Krieger und ein weiser Mann im Rathe; meine Seele ist wie die seinige; aber ich werde ihn nicht sehen, wenn ich einst in die ewigen Jagdgründe gelange!“

Dieser Gedanke stimmte ihn traurig; er war mir ein neuer Beweis, wie sehr lieb mich der Apache hatte; aber mit gutem Grunde entgegnete ich jetzt:

„Mein Bruder Winnetou besitzt mein ganzes Herz; seine Seele lebt in meinen Thaten; aber ich werde ihn nicht erblicken, wenn ich einst in den Himmel der Seligen gelange.“

„Wo ist der Himmel meines Bruders?“ fragte er.

„Wo sind die Jagdgründe meines Freundes?“ antwortete ich.

„Manitou besitzt die ganze Welt und alle Sterne!“ erklärte er.

„Warum gibt der große Manitou seinen rothen Söhnen einen so kleinen Theil der Welt und seinen weißen Kindern Alles? Was sind die Jagdgründe der Indianer gegen die unendliche Herrlichkeit, in welcher die Seligen der Weißen wohnen werden? Hat Manitou die Rothen weniger lieb? O nein! Meine rothen Brüder glauben an eine große, fürchterliche Lüge. Der Glaube der weißen Männer sagt: „Der gute Manitou ist der Vater über alle seine Kinder im Himmel und

auf Erden.“ Der Glaube der rothen Männer aber sagt: „Manitou ist nur der Herr der Rothen; er gebietet, die Weißen alle zu töten.“ Mein Bruder Winnetou ist gerecht und weise; er denke nach! Ist der Manitou der Rothen auch der Manitou der Weißen? Warum betrügt er dann seine rothen Söhne? Warum läßt er sie von der Erde verschwinden und erlaubt den Weißen, zu Millionen anzuwachsen und die Erde zu beherrschen? Oder ist der Manitou der Rothen ein Anderer als der Manitou der Weißen? Dann ist der Manitou der Weißen mächtiger und gütiger als der Manitou der Rothen! Der Manitou der Bleichgesichter gibt ihnen die ganze Erde mit tausend Freuden und Wonnen, und dann läßt er sie herrschen über die Seligkeit aller Himmel von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der Manitou der Rothen aber gibt den Seinigen nur die wilde Savanne und die öden Berge, die Thiere des Waldes sammt einem immerwährenden Tödten und Morden, und sodann verheißt er ihnen nach dem Tode die finsteren Jagdgründe, in denen der Mord von Neuem beginnt. Die rothen Krieger glauben ihren Medizinmännern, welche sagen, daß in den ewigen Jagdgründen die Indianer alle Seelen der Weißen tödten werden. Wenn nun mein Bruder in diesen blutigen Gründen einst seinem Freunde Schar-lih begegnete, würde er ihn tödten?“

„Uff!“ rief da der Apache laut und eifrig. „Winnetou -

„Winnetou würde die Seele seines guten Bruders vertheidigen gegen alle rothen Männer. Howgh!“

„So überlege mein Bruder, ob die Medizinmänner nicht eine Lüge sagen!“

Er schwieg nachdenklich, und ich hütete mich sehr, die Wirkung meiner Worte durch weitere Bemerkungen zu beeinträchtigen.

Wir kannten uns seit vielen Jahren; ich war mit ihm viele Monate lang in der Wildniß´umhergeschweift. Wir hatten Leid und Freud redlich mit einander getheilt und uns in jeder Gefahr und Noth mit todesmuthiger Aufopferung beigestanden. Aber niemals war zwischen uns ein Wort über den Glauben gesprochen worden; niemals hatte ich auch nur mit einer Silbe versucht, zerstörend in seine religiösen Anschauungen einzudringen. Ich wußte, daß er grad dieses mir sehr hoch anrechnete, und darum mußten meine jetzigen Vorstellungen von doppelter Wirkung auf ihn sein.

Nach einer Weile fragte er:

„Warum sind nicht alle weißen Männer wie mein Bruder Schar-lih? Wären sie so wie er, so würde Winnetou ihren Priestern glauben!“

„Warum sind nicht alle rothen Männer so wie mein Bruder Winnetou?“ antwortete ich. „Es gibt Gute und Böse unter den weißen und unter den rothen Männern. Die Erde ist weit über tausend Tagereisen lang, und eben so groß ist auch ihre Breite. Mein Freund kennt nur einen ganz kleinen Theil von ihr.

Ueberall herrschen die Weißen, aber grad da, wo mein Bruder lebt, in der wilden Savanne, verstecken sich die Bösen der Bleichgesichter, welche vor den Gesetzen der Guten haben fliehen müssen. Darum denkt Winnetou, daß es so viele schlimme Bleichgesichter gibt. Mein Bruder wandert einsam durch die Berge; er jagt den Bison und tödtet seine Feinde. Worüber kann er sich freuen? Lauert nicht der Tod hinter jedem Baum und Strauch auf ihn? Hat er einmal einem Rothen sein ganzes Vertrauen und seine ganze Liebe schenken können? Ist sein Leben nicht blos Arbeit, Sorge, Wachsamkeit und Täuschung gewesen? Findet er Ruhe, Frieden, Trost und Erquickung für seine ermüdete Seele etwa unter den häßlichen Skalpen des Wigwams oder auf dem verrätherischen Lager der Wildniß? Der Heiland der weißen Männer aber sagt: „Kommt her zu mir Alle, die Ihr mühselig und beladen seid, ich will Euch erquicken!“ Ich bin dem Heilande nachgegangen und habe den Frieden des Herzens gefunden. Warum will mein Bruder nicht auch zu ihm gehen?“

„Winnetou kennt diesen Heiland nicht!“ sagte er.

„Soll ich meinem Freunde von ihm erzählen?“

Er senkte den Kopf und meinte erst nach einer längeren Pause:

„Mein Bruder Schar-lih hat recht gesprochen. Winnetou hat keinen Menschen geliebt als ihn allein; Winnetou hat keinem Menschen vertraut als nur seinem Freunde, der ein Bleichgesicht ist und ein Christ.

Winnetou glaubt keinem Menschen als nur ihm allein. Mein Bruder kennt die Länder der Erde und ihre Bewohner; er kennt alle Bücher der Weißen; er ist verwegen im Kampfe, weise am Berathungsfeuer und mild gegen die Feinde. Er liebt die rothen Männer und meint es gut mit ihnen. Er hat seinen Bruder Winnetou niemals getäuscht und wird ihm auch heut die Wahrheit sagen. Das Wort meines Bruders gilt mehr als das Wort aller Medizinmänner und als die Worte aller weißen Lehrer. Die rothen Männer brüllen und schreien; die weißen Männer aber haben eine Musik, die vom Himmel kommt und im Herzen des Apachen weiterklingt. Mein Bruder mag mir verdolmetschen die Worte, welche die Männer dieser Niederlassung heut gesungen haben!“

Ich begann mit der Uebersetzung und Erklärung des Ave Maria. Ich erzählte ihm von dem Glauben der Bleichgesichter, ich suchte ihm das Verhalten derselben gegen die Indianer in einem freundlichen Lichte darzustellen, und ich that dies nicht durch den Vortrag gelehrter Dogmen und spitzfindiger Sophismen, sondern ich sprach in einfachen, schmucklosen Worten, ich redete zu ihm in jenem milden, überzeugungsvollen Tone, welcher zum Herzen dringt, jedes Besserseinwollen vermeidet und den Hörer gefangen nimmt, obgleich er diesen denken läßt, daß er sich aus eigenem Willen und Entschließen ergeben habe.

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(19. Fortsetzung.)

Winnetou hörte lautlos zu. Es war ein liebevolles Netzauswerfen nach einer Seele, die werth war, aus den Banden der Finsternis erlöst zu werden. Als ich geendet hatte, saß er noch lange da, in tiefes Schweigen versunken. Ich störte die Nachwirkung meiner Worte durch keinen Laut, bis er sich langsam erhob und mir die Hand entgegenstreckte.

„Mein Bruder Schar-lih hat Worte gesprochen, welche nicht sterben können,“ sagte er tief aufathmend. „Winnetou wird nicht vergessen den großen, gütigen Manitou der Weißen, den Sohn des Schöpfers, der am Kreuz gestorben ist, und die Jungfrau, welche im Himmel wohnt und den Gesang der Settler hört. Der Glaube der rothen Männer lehrt Haß und Tod; der Glaube der weißen Männer lehrt Liebe und Leben. Winnetou wird nachdenken, was er erwählen soll, den Tod oder das Leben. Mein Bruder habe Dank. Howgh!“

Wir kehrten nach dem Blockhause zurück, wo man um uns beinahe besorgt geworden war. Man hatte sich von den Railtroublers und Ogellallahs unterhalten. Ich bemerkte den Leuten, daß sie ihr Settlement als

einen so weit vorgeschobenen Posten eigentlich hätten befestigen sollen. Sie sahen dies ein und beschlossen, das Versäumte baldigst nachzuholen. Es war klar, daß ihre Niederlassung nur wegen ihrer außerordentlich abgeschiedenen Lage den Späherblicken der Wilden bisher entgangen war. Kam ein einziger Indianer in die Nähe, so war es um ihre Sicherheit geschehen. Die vierzehn Männer des Settlements waren zwar mit guten Waffen und hinreichender Munition versehen, und auch die Frauen und größeren Kinder besaßen Muth und Uebung genug, ein Gewehr abzuschießen; aber was war das gegen eine Horde wilder Gesellen, die zu Hunderten erscheinen konnten! An Stelle dieser Leute hätte ich die Blockhäuser nicht an ihrer gegenwärtigen, exponirten Stelle, sondern hart am Ufer des Sees errichtet, so daß dieselben nur von der Landseite angegriffen werden konnten.

Die Richtung, welche die Railtroublers einschlagen wollten, führte jedenfalls in weiter Entfernung von hier vorüber, dennoch aber bat ich die Settler, auf ihrer Hut zu sein und besonders ihre noch mangelhaften Fenze (Umzäunungen) zu verstärken.

Es war spät, als wir nach Entfernung der übrigen Gäste uns zur Ruhe legten. Wir ruhten in den weichen Betten Hillmanns, die uns gastfreundlich überlassen worden waren, und schieden am anderen Morgen mit herzlichem Danke gegen die braven Leute,

die uns noch eine Strecke begleiteten und denen wir versprechen mußten, wieder bei ihnen einzukehren, falls uns unser Weg wieder in die Nähe führe.

Ehe sie Abschied nahmen, traten die acht Sänger nochmals zusammen, um dem Apachen das Ave Maria zu singen. Als sie geendet hatten, reichte er Allen die Hand und sagte:

„Winnetou wird die Töne seiner weißen Freunde nie vergessen. Er hat geschworen, von jetzt an nie mehr den Scalp eines Weißen zu nehmen, denn die Weißen sind die Söhne des guten Manitou, der auch die rothen Männer liebt!“

Dieser Entschluß war die erste Frucht unserer gestrigen Unterredung, und nun hatte ich die Ueberzeugung, daß meine Worte auch noch weiter wirken würden. Das Wort Gottes ist das Senfkorn, dessen Keimen im Verborgenen vor sich geht; hat es aber einmal die harte Kruste durchdrungen, so wächst es im Lichte schnell und fröhlich weiter.

Unsere Pferde hatten sich von dem gestrigen angestrengten Ritte vollständig wieder erholt; sie griffen so aus, daß es eine Freude war. Die Bewohner von Helldorf-Settlement, welches seinen Namen nach dem bayerischen Dorfe führte, aus welchem diese Leute stammten, waren öfters in Echo-Cannon gewesen und hatten uns den kürzesten Weg genau beschrieben, so daß wir bei der Schnelligkeit unserer Pferde hoffen

konnten, den Ort bis heute Abend noch zu erreichen.

Winnetou war während des ganzen Tages noch einsilbiger als gewöhnlich, und manchmal, wenn er eine Strecke vor uns ritt und uns also außer Hörweite wähnte, war es mir, als hörte ich ihn mit leisem Summen die Melodie des Ave Maria wiederholen, eine Bemerkung, welche mich um so mehr frappiren mußte, als die Indianer fast durchgängig ohne musikalisches Gehör sind.

Am Nachmittage wurden die Umrisse der Berge kühner, mächtiger und steiler. Wir geriethen in ein Labyrinth wundervoller enger und verwickelter Schluchten, bis wir endlich gegen Abend von einer steilen Höhe aus das Ziel unter uns liegen sahen — Echo-Cannon mit dem Schienengeleise und dem friedlichen Arbeiter-Camp, den wir vom Untergange retten woll­ten. — —

III. Am Hancockberg.

Unter Cannon versteht der Amerikaner eine tiefe Felsenschlucht. Das gibt sofort ein Bild des Ortes, den wir jetzt erreicht hatten. Die Bahn führte schon längst durch Echo-Cannon, aber der Schienenbau war nur ein provisorischer, und es gab bei Fertigstellung der Bahn so viele Schwierigkeiten zu überwinden, daß eine bedeutende Anzahl Arbeiter nöthig war, diese zu überwältigen.

Eine kleine Seitenschlucht bot uns Gelegenheit, hinabzukommen, und als wir die Tiefe erreichten, trafen wir auch bereits auf die ersten Arbeiter, welche beschäftigt waren, einen Felsen zu sprengen. Sie blickten

uns mit Verwunderung entgegen. Zwei fremde, bis an die Zähne bewaffnete Weiße mit einem Indianer an der Spitze, welcher die Kriegsfarben trug, war für sie ein so besorgnißerregender Anblick, daß sie die Werkzeuge weglegten und zu den Waffen griffen.

Ich winkte ihnen mit der Hand, ohne Furcht zu sein, und ritt im Galopp auf sie zu.

„Good day!“ grüßte ich. „Legt die Büchsen weg. Wir sind Freunde!“

„Wer seid ihr?“ fragte Einer.

„Wir sind Jäger und kommen mit einer sehr wichtigen Botschaft zu Euch. Wer führt hier in Echo-Cannon den Befehl?“

„Eigentlich Ingenieur Oberst Rudge. Weil dieser aber nicht da ist, so müßt Ihr Euch an Master Ohlers, den Zahlmeister, wenden.“

„Wo ist Kolonel Rudge?“

„Er ist ausgezogen, einer Bande Railtroublers nach, welche einen großen Zug vernichtet hat.“

„Ah, also doch! Wo ist Master Ohlers zu finden?“

„Da vorn im Kamp, in der größten Hütte.“

Wir ritten in der angedeuteten Richtung davon, und sie blickten uns wißbegierig nach. Nachdem wir fünf Minuten lang die Strecke verfolgt hatten, kamen wir an das Lager. Es bestand aus verschiedenen Blockhäusern und zwei aus rohen Steinen schnell und nothdürftig aufgemauerten, lang gestreckten Häusern. Um das Ganze war eine Mauer gezogen, die nur aus lose über einander gelegten Steinen bestand, trotzdem aber ziemlich fest war und eine Höhe von vielleicht fünf Fuß

erreichte. Der Eingang, welcher aus einem stark gezimmerten Thore bestand, war offen.

Da ich keine Hütte bemerkte, so fragte ich einen der an der Schutzmauer beschäftigten Arbeiter nach dem Zahlmeister und wurde nach dem einen der steinernen Gebäude gewiesen. Es waren gar nicht viele Leute zu sehen, und diejenigen, welche ich bemerkte, waren beschäftigt, einen Transportwagen voller Schienen abzuladen.

Wir stiegen von den Pferden und traten in das Gebäude. Sein Inneres bestand in einem einzigen Raume, in welchem zahlreiche Kisten, Fässer und Säcke standen, zum Zeichen, daß dies hier wohl die Proviant-Niederlage sei. Es war eine einzige Person anwesend, ein kleines, dürres Männchen, welches sich bei unserem Eintritte von einer der Kisten erhob.

„Was wollt Ihr?“ frug der Mann, mich erblickend, mit scharfer, dünner Stimme. Da aber sah er Winnetou und fuhr erschrocken zurück. „Ein Indsman! Alle guten Geister!“

„Fürchtet Euch nicht, Sir!“ sagte ich. „Wir suchen Mr. Ohlers, den Zahlmeister.“

„Der bin ich,“ antwortete er mit einem furchtsamen Blicke hinter seiner großen Stahlbrille hervor.

„Eigentlich gilt unser Besuch dem Kolonel Rudge; da dieser aber nicht anwesend ist und Ihr seine Stelle vertretet, Sir, so erlaubt, daß wir Euch unser Anliegen mittheilen.“

„Redet!“ sagte er mit einem sehnsüchtigen Blicke nach der Thür. (Forts. folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(20. Fortsetzung.)

„Der Kolonel ist einer Schaar von Railtroublern nach?“

„Ja.“

„Wie viele Leute hat er mit?“

„Müßt Ihr das wissen?“

„Nun, nothwendig ist es nicht. Wie viele Männer habt Ihr noch hier?“

„Müßt Ihr das auch wissen?“

Während dieser Frage rückte er immer mehr zur Seite.

„Jetzt noch nicht, eigentlich,“ antwortete ich. „Wann ist der Oberst fort?“

„Müßt Ihr auch dieses wissen?“ frug er immer ängstlicher.

„Nun, ich werde Euch erklären, warum — —“

Ich hielt inne, denn ich hatte Niemand mehr, zu dem ich sprechen konnte. Der kleine Master Ohlers war nämlich mit einigen ganz unbeschreiblichen Angstsprüngen an uns vorüber und zum Eingange hinaus geflogen. Im nächsten Augenblicke warf er die Thür zu; die langen Eisenstangen klirrten; der Riegel in dem mächtigsten Vorlegeschlosse schrillte — wir waren gefangen.

Ich drehte mich um und blickte die beiden Gefährten an. Der ernste Winnetou zeigte seine prachtvollen Elfenbeinzähne; der dicke Fred zog ein Gesicht, als ob er Zucker und Alaun verschluckt, und ich — lachte laut und herzlich auf über die nette Ueberraschung.

„Gefangen, aber nicht Isolirhaft!“ rief Walker. „Das Männchen hält uns für Spitzbuben, hihihi!“

Draußen erscholl der laute Ton einer Signalpfeife, und als ich an die schießschartenartige Fensteröffnung trat, sah ich die draußen beschäftigten Arbeiter zum Thore hereinspringen, welches sogleich geschlossen wurde. Ich zählte sechzehn Mann. Sie standen mit dem Zahlmeister draußen an der Umfassungsmauer und schienen ihre Instruktionen zu erhalten; dann zerstreuten sie sich in den einzelnen Blockhütten, jedenfalls, um ihre Gewehre zu holen.

„Die Exekution wird bald beginnen,“ meldete ich den Andern. „Was thun wir bis dahin?“

„Wir stecken uns eine Cigarre an,“ meinte Fred.

Er langte nach einem geöffneten Cigarrenkistchen, welches auf einem der Ballen stand, nahm eine Cigarre heraus und brannte sie an. Ich folgte seinem Beispiele; Winnetou aber that es nicht.

Bald darauf wurde die Thür vorsichtig geöffnet, und die dünne Stimme des Zahlmeisters ermahnte uns bereits von draußen:

„Schießt nicht, Ihr Hallunken, sonst erschießen wir Euch!“

Er trat an der Spitze seiner Leute ein, welche mit bereit gehaltenen Gewehren an der Thür postirt blieben, während er sich hinter ein mächtiges Faß stellte und von diesem verschanzten Lager aus uns drohend seine lange Vogelflinte zeigte.

„Wer seid Ihr?“ fragte er mit zuversichtlicher Stimme, da er sich unter dem Schutze seiner Leute und des Fasses für unangreifbar hielt.

„Dummheit!“ lachte Walker. „Vorhin nanntet Ihr uns Hallunken, und jetzt fragt Ihr uns, wer wir sind. Geht hinter Eurem Fasse hervor, dann werden wir mit Euch reden!“

„Fällt mir nicht ein! Also, wer seid ihr?“

„Prairiejäger.“

Da Walker die Antworten übernehmen zu wollen schien, so hielt ich mich schweigend.

Der Zahlmeister frug weiter:

„Wie ist Euer Name?“

„Thut nichts zur Sache!“

„Also renitent! Ich werde Euch noch die Zunge lösen; darauf könnt Ihr Euch verlassen! Was wollt Ihr hier in Echo-Cannon?“

„Euch warnen.“

„Warnen? Ah! Vor wem?“

„Vor den Indsmen und Railtroublers, welche Echo-Cannon überfallen wollen.“

Pshaw, macht euch nicht lächerlich! Ihr gehört zu den Railtroublers und wollt uns überlisten. Aber da kommt ihr an die Rechten!“ Und sich an seine Leute wendend, befahl er: „Nehmt sie gefangen und bindet sie!“

„Wartet noch ein Weilchen!“ meinte Fred.

Er langte in die Tasche. Ich ahnte, daß er sein Legitimationszeichen als Detektive vorzeigen wolle, und sagte zu ihm:

„Das ist nicht nothwendig, Fred. Laßt das Ding stecken! Wir wollen doch einmal sehen, ob siebzehn Railroader es wagen werden, drei richtige Westmänner anzugreifen. Wer nur einen Finger gegen uns zuckt, der ist eine Leiche.“

Ich machte die grimmigste Miene, die mir möglich war, warf die Büchse über den Rücken, nahm in jede Hand einen Revolver und schritt dem Eingange zu. Winnetou und Walker folgten. Einen Augenblick nach dieser Demonstration war der tapfere Zahlmeister verschwunden; er hatte sich so tief wie möglich hinter dem Fasse niedergeduckt, und nur der gegen das Dach emporragende Lauf seiner Flinte gab den Ort an, wo Master Ohlers unter Umständen anzutreffen sei.

Was die Eisenbahner betraf, so schienen sie nicht die mindeste Lust zu haben, das Vorbild ihres Herrn und Meisters zu mißachten. Sie bildeten Spalier und ließen uns ganz ungehindert passiren.

Das also waren die Leute, welche den Ogellallah und Railtroublers widerstehen sollten! Das gab eine schlechte Perspektive auf die nächsten Tage.

Ich wandte mich jetzt um und sagte zu den Railroadern:

„Jetzt könnten wir euch einschließen, Meschschurs, aber wir wollen es nicht thun. Bringt den tapfern Master Ohlers heraus, damit wir es zu einer verständigen Rede bringen. Das ist nothwendig, wenn Ihr nicht von den Sioux ausgelöscht ) werden wollt!“

Nach einiger Anstrengung gelang es ihnen, den Kleinen an das Tageslicht zu expediren, und nun erzählte ich ihnen Alles, was geschehen war. Als ich geendet hatte, saß der Zahlmeister vor Angst kreideweiß auf dem Quadersteine, auf welchem er Platz genommen hatte, und sagte mit unsicherer Stimme:

„Sir, jetzt glaube ich Euch, denn es wurde uns erzählt, daß dort am Unglücksplatze zwei Männer ausgestiegen sind, um eine Lerche todt zu schießen. Also dieser Gentleman ist Master Winnetou? Habe die Ehre, Sir!“ Dabei machte er dem Apachen eine tiefe Verneigung. „Und der andere Gentleman ist Master Walker, den sie den dicken Walker nennen? Habe die Ehre, Sir! Und nun möchte ich auch Ihren Namen wissen!“

Ich nannte ihm denselben.

(Fortsetzung folgt.)

) Trapperausdruck für „tödten“.

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(21. Fortsetzung.)

„Habe die Ehre, Sir,“ sagte er, ebenfalls mit einer Verbeugung gegen mich. Dann fuhr er fort: „Also Ihr glaubt, daß der Colonel den Zettel gesehen hat und schleunigst kommen wird.“

„Ich vermuthe es.“

„Das würde mir lieb sein, außerordentlich lieb; Ihr könnt es mir glauben!“

Ich glaubte ihm auch ohne Versicherung und Schwur. Er aber erklärte uns:

„Ich habe nur vierzig Mann zur Verfügung, von denen die Meisten jetzt draußen auf der Strecke beschäftigt sind. Würde es nicht am Besten sein, Echo-Cannon sofort vollständig zu räumen und uns auf die nächste Station zurückzuziehen?“

„Wo denkt Ihr hin, Sir! Seid Ihr ein Hase? Was sollen Eure Vorgesetzten von Euch denken! Es wäre ja sofort um Eure Stellung geschehen!“

„Wißt Ihr was, Sir? Mein Leben ist mir lieber als meine Stellung. Verstanden!“

„Ich glaube es Euch! Wie viele Leute hat der Oberst bei sich?“

„Gerade hundert und zwar die tapfersten.“

„Das merke ich!“

„Und wie viele Indsmen waren es?“

„Ueber zweihundert mit den Railtroublers.“

„O weh! Sie schießen uns in Grund und Boden! Ich kenne keine andere Hilfe als die Flucht!“

Pshaw! Welches ist die bevölkertste Station von hier?“

„Promontory. Es werden dort jetzt gegen dreihundert Arbeiter sein.“

„So telegraphirt hin und laßt Euch hundert bewaffnete Männer schicken!“

Er sperrte den Mund auf und starrte mich an; dann sprang er empor, schlug die Hände freudig zusammen und rief:

„Wahrhaftig, daran hätte ich nicht gedacht!“

„Ja, Ihr seid ein ganz gewaltiges, strategisches Genie, wie es scheint! Die Leute mögen Proviant und Munition mitbringen, wenn es Euch daran fehlen sollte. Und merkt Euch die Hauptsache: es muß Alles so geheim wie möglich gehen, da sonst die rothen Späher merken, daß sie verrathen sind. Telegraphirt das mit! Wie weit ist es denn von hier bis Promontory?“

„Einundneunzig Meilen.“

„Wird eine Maschine mit Wagen dort sein?“

„Stets.“

„Gut, so können, wenn Ihr jetzt telegraphirt, die Hilfsmannschaften bereits morgen vor Tagesanbruch

hier eintreffen. Morgen abend werden wohl die Späher kommen; bis dahin haben wir Zeit, den Camp noch mehr zu befestigen. Laßt jetzt Eure vierzig Mann zusammengreifen, um die Verfassungsmauer um drei Fuß zu erhöhen! Die Leute von Promontory werden morgen mithelfen. Sie muß so hoch werden, damit die Indsmen nicht hereinsehen und bemerken können, wie viele Männer hier anwesend sind.“

„Sie werden es vom Berge aus sehen, Sir!“

„Sie werden es nicht sehen. Ich werde den Spionen der Ogellallah entgegenziehen und Euch, sobald ich sie bemerke, ein Zeichen geben. Dann verstecken sich Eure Leute in die Blockhäuser, und die Indsmen werden glauben, daß sie es nur mit Wenigen zu thun haben. Noch heut schlagen wir rundum an der Innenseite der Umfassungsmauer Pfähle in die Erde und nageln Bretter oder Bohlen darauf. So entstehen Bänke, auf welche sich beim Ueberfalle unsere Leute stellen, um über die Mauer hinausschießen zu können. Wenn ich richtig vermuthe, so ist der Colonel bereits morgen um die Mittagszeit hier. Dann sind wir mit den Leuten von Promontory über zweihundertvierzig gegen zweihundert Feinde. Wir stehen hinter den Mauern gedeckt; die Rothen aber haben keine Deckung und erwarten keine Gegenwehr; es wäre also eine Unglaublichkeit, wenn wir sie nicht gleich mit der ersten Salve so heimschicken, daß sie das Wiederkommen vergessen.“

„Und dann verfolgen wir sie!“ jubelte der kleine Mann ganz begeistert, denn meine Anordnungen hatten ihm ungeheure Courage gemacht.

„Das wird sich finden! Jetzt aber sputet Euch! Ihr habt Dreierlei zu thun: uns einen Imbiß nebst Nachtlager zu versorgen, nach Promontory zu telegraphiren und Eure Leute zum Bau der Mauer anzustellen.“

„Soll geschehen, Sir, sofort! Es wird mir gar nicht einfallen, vor den Rothen auszureißen. Und was Euch betrifft, so sollt Ihr ein Souper haben, ein Abendessen, mit dem Ihr zufrieden seid. Ich bin nämlich selbst Koch gewesen. Verstanden?“

Es läßt sich in Kurzem sagen, daß Alles so geschah, wie ich es vorgeschlagen hatte. Unsere Pferde bekamen ein gutes Futter und wir ein gutes Essen. Master Ohlers schien wirklich mit dem Küchenlöffel bewanderter zu sein, als mit der Vogelflinte. Die Leute arbeiteten wie die Riesen an der Erhöhung der Mauer. Sie gönnten sich selbst während der Nacht keine Ruhe, und als ich am frühen Morgen vom Schlaf erwachte und nach der Arbeit sah, erstaunte ich über den Fortschritt, den sie gemacht hatte.

Ohlers hatte mit dem hier anhaltenden Nachtzuge mündliche Nachrichten nach Promontory geschickt, doch war schon seine Depesche berücksichtigt worden, denn zwar nicht bereits während der Nacht, sondern am frühen Vormittage noch traf ein Zug ein, welcher die verlangten hundert Männer brachte und mit ihnen Alles, was an Waffen, Munition und Proviant nothwendig war.

Diese Leute machten sich sogleich an die Arbeit, so daß die Mauer bereits am Mittag vollendet war. Auf meine Anregung wurden auch sämmtliche vorhandenen leeren Fässer mit Wasser gefüllt und hinter die Einfassung geschafft. So viele Leute wollten trinken, und man konnte ja nicht wissen, ob man nicht eine kleine Belagerung auszuhalten oder ein Feuer zu löschen haben würde.

Die Nachbarstationen waren benachrichtigt worden, doch sollten die Züge wie gewöhnlich expedirt werden, um die Feinde nicht aufmerksam zu machen.

Nach dem Mittagessen verließen wir Drei, Winnetou, Walker und ich, den Cannon, um nach den Spähern auszublicken. Wir hatten diesen Dienst übernommen, weil wir uns am liebsten auf uns selbst

verließen; auch hatte sich von den Railroadern Keiner zu dem gefahrvollen Gange gemeldet. Es wurde ausgemacht, daß im Cannon ein Sprengschuß gethan werden solle, sobald einer von uns Dreien mit der Meldung zurückkehre, daß er die Spione gesehen habe.

Wir mußten uns nämlich theilen. Die Indsmen kamen jedenfalls von Norden, und da gab es nach der Aussage des Zahlmeisters drei Richtungen, aus denen sie sich nähern konnten. Ich hatte die westlichste Partie übernommen, Winnetou die mittlere und Walker die östlichste, so daß er denselben Weg zu überwachen hatte, auf welchem wir selbst nach Cannon gekommen waren.

Ich klomm die steilen Felswände empor, trat oben in den Urwald ein und hielt mich dann am Rande einer Seitenschlucht immer nach Norden zu. Nach ungefähr dreiviertel Stunden erreichte ich einen Ort, der für mein Vorhaben wie geschaffen schien. Auf der Kuppe des Urwaldes stand eine riesige Steineiche und neben ihr eine schlanke Tanne. Ich kletterte an der Letzteren empor und gelangte dadurch auf einen starken Ast der Eiche, hier war deren Stamm dünn genug zum Klettern, und ich turnte mich nun an ihr so weit empor, als es möglich war. (Forts. folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(22. Fortsetzung.)

Das frische, volle Laub der Krone verbarg mich so vollständig, daß ich von unten gar nicht bemerkt werden konnte; vor meinem Blicke aber lag die Gegend so klar und offen da, daß ich alle offenen Grasstellen und das Gipfelmeer des Waldes weithin übersehen konnte. Ich machte es mir so bequem wie möglich und hielt dann scharfe Wacht.

Stundenlang saß ich da oben, ohne etwas Auffälliges zu bemerken, aber das durfte meine Wachsamkeit nicht ermüden. Endlich, da sah ich im Norden von mir eine Schaar Rabenkrähen sich von den Baumwipfeln erheben. Das konnte aus Zufall geschehen sein; aber die Vögel erhoben sich nicht in geschlossener Schaar, um sofort einer bestimmten Richtung zuzufliegen, sondern sie „streuten“ in die Lüfte empor, kreisten einige Minuten wie rathlos über den Wipfeln und ließen sich dann eine Strecke davon vorsichtig auf die Bäume wieder nieder. Sie mußten aufgestört worden sein.

In kurzer Zeit wiederholte sich dasselbe Spiel und dann zum dritten- und vierten Male. Es war klar:

es kam irgend ein Wesen, vor dem die Krähen sich fürchteten, von Norden her durch den Wald geschlichen, und zwar so ziemlich in gerader Richtung auf meinen Standort zu. Ich kletterte so eilig wie möglich nieder und pürschte mich vorsichtig auf die Gegend zu, vorsichtig immer meine Fährte zerstörend.

Dabei erreichte ich ein ganz undurchdringlich scheinendes Buchendickicht, in welches ich mich hineinarbeitete. Hier legte ich mich zur Erde nieder und wartete. Nicht lange, so kam es geschlichen, nicht hörbar, sondern lautlos wie Gespenster: ein, zwei, drei, fünf, sechs Indianer schritten an meinem Versteck vorüber, Einer nach dem Andern. Ihre Füße berührten nicht den kleinsten Theil eines abgebrochenen und zu Boden gefallenen Aestchens; es war als ob ihre Füße die Erde gar nicht berührten.

Das waren die Späher. Sie trugen die Kriegsfarben.

Kaum waren sie vorüber, so huschte ich hervor. Es war klar, daß sie den dichtesten Wald aufsuchen würden; auch mußten sie jeden Schritt breit untersuchen, ehe sie vorwärts drangen. Das hielt sie auf. Ich aber konnte den geraden Weg einschlagen, die lichtesten Stellen benutzen und ohne Sorge vor Entdeckung heimkehren. Ich mußte ihnen also einen bedeutenden Vorsprung abgewinnen. Im eiligsten Laufe kehrte ich

zurück, und es war kaum eine Viertelstunde vergangen, so glitt ich die steile Wand des Cannons hinab und auf das Lager zu.

Da unten herrschte ein regeres Leben als vorher, und ich bemerkte sofort, daß neue Leute angekommen waren. Eben schritt ich über die Schienenstrecke, als ich zu meinem größten Erstaunen Winnetou bemerkte, welcher von der Höhe herabgeklettert kam. Ich erwartete ihn und frug, als er herangekommen war:

„Mein rother Bruder kommt zu gleicher Zeit mit mir! Hat er Etwas gesehen?“

„Winnetou kommt, weil er nicht mehr zu warten braucht,“ antwortete er. „Mein Bruder Schar-lih hat ja die Späher entdeckt!“

„Ah! Woher weiß dies Winnetou?“

„Winnetou saß auf einem Baume und nahm sein Rohr zur Hand. Da erblickte er weit im Westen einen andern Baum. Das war die Gegend meines Bruders, und weil mein Bruder klug ist, so wußte Winnetou, daß er diesen Baum ersteigen werde. Dann nach langer Zeit erblickte Winnetou viele Punkte am Himmel. Das waren Vögel, welche vor den Spähern flohen. Mein Bruder muß dies auch bemerken und nun die Späher beobachten. Darum kehrte der Häuptling der Apachen zum Lager zurück, denn die Späher sind da.“

Das war wieder einmal ein Beispiel von dem Scharfsinne dieses Indianers.

Bereits bevor wir den Camp betraten, kam uns ein Mann entgegen, den ich vorher hier noch nicht gesehen hatte.

„Ah, Sir, Ihr kehrt von der Suche zurück?“ frug er. „Meine Leute sahen Euch vom Felsen steigen und meldeten es mir. Meinen Namen kennt Ihr bereits. Ich bin Colonel Rudge und habe Euch einen großen Dank abzustatten.“

„Dazu hat es Zeit, Colonel,“ antwortete ich. „Jetzt ist es vorerst nothwendig, den Sprengschuß zu lösen, damit mein Kamerad gewarnt werde. Gebt dann auch Befehl, daß sich die Leute verbergen, denn bereits in einer Viertelstunde werden die Spione der Ogellallah von da oben herab das Lager beobachten.“

Well, soll geschehen! Geht einstweilen herein; ich werde mich gleich wieder einstellen.“

Einige Augenblicke später erdröhnte der Schuß, der so stark war, daß Walker ihn jedenfalls hören mußte. Dann zogen sich die Arbeiter in die Blockhäuser und die andern Räumlichkeiten zurück, so daß

nur einige wenige Leute zu bemerken waren, die sich scheinbar mit der gewöhnlichen Streckenarbeit beschäftigten.

Rudge suchte uns darauf im Vorrathsraume auf.

„Nun, vor allen Dingen, was habt Ihr jetzt bemerkt, Sir?“ frug er mich.

„Sechs Ogellallah, welche die Spione sind.“

Well! Wir werden dafür sorgen, daß sie sich täuschen! Hört, wir Alle hier sind Euch den größten Dank schuldig, Sir, Euch und Euren Gefährten. Sagt auf welche Weise wir Euch dankbar sein können!“

„Dadurch, daß Ihr gar nicht vom Danke redet, Sir. Habt Ihr meinen Zettel gefunden?“

„Allerdings.“

„Und seid auch meiner Warnung gefolgt?“

„Wir sind sogleich umgekehrt, sonst könnten wir ja noch nicht hier sein. Aber es scheint, als ob wir grad zur rechten Zeit hier angekommen seien. Wann denkt Ihr wohl, daß die Herren Ogellallah und Railtroublers kommen werden?“

„Sie werden uns in der morgenden Nacht angreifen.“

„So haben wir ja genugsam Muße, uns vorher richtig kennen zu lernen, Sir,“ lachte er. „Kommt, bringt Euren rothen Freund mit. Ihr sollt mir liebe Gäste sein!“

Er führte mich und Winnetou nach dem andern Steingebäude, welches in mehrere Abtheilungen zerfiel. Die eine derselben bildete seine Wohnung, welche Raum genug für uns hatte. Oberst Rudge war eine kernhafte Natur, dem ich es zutraute, daß er sich vor den Indsmen nicht fürchtete. Wir hatten sehr bald Vertrauen zu einander gewonnen, und auch Winnetou, dessen Name dem Obersten übrigens schon längst bekannt war, schien Wohlgefallen an dem Letzteren zu finden.

„Kommt, Mesch’schurs, wir wollen einer guten Flasche den Hals brechen, da wir es mit den Rothen doch noch nicht thun können,“ meinte der Ingenieur. „Macht es Euch bequem, und denkt, daß Ihr bei einem Schuldner wohnt. Wenn Euer Kamerad, der dicke Walker, kommt, soll er uns Gesellschaft leisten.“

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(23. Fortsetzung.)

Wir waren von jetzt an überzeugt, daß wir von dem Felsen herab beobachtet wurden und verhielten uns danach. Bald kehrte auch Fred zurück; er hatte nichts gesehen, aber den Signalschuß deutlich vernommen.

So lange es noch am Tag war, gab es Nichts zu thun, doch wurde uns die Zeit nicht lang. Rudge hatte viel erlebt und war ein guter Erzähler. Als dann der Abend hereinbrach und die Indsmen also nichts mehr sehen konnten, wurden die Befestigungen vollendet, und es freute mich dabei, daß der Colonel meinen Anordnungen seinen Beifall gegeben hatte.

So verging die Nacht, und so verging auch der nächste Tag. Es war Neumond, und der Abend senkte sich vollständig dunkel in die Schlucht herab. Dann aber begannen die Sterne zu glänzen und verbreiteten eine solche Helle, daß man einen ziemlich breiten Ring des sich um die Einfassungsmauer ziehenden Terrains leidlich überblicken konnte.

Ein jeder der vorhandenen Männer war mit einer Büchse und einem Messer versehen. Viele besaßen auch Revolver oder Terzerole. Da die Indianer ihre Angriffe -

Angriffe gewöhnlich nach Mitternacht, kurz vor dem Morgengrauen unternehmen, so standen nur die nöthigen Posten auf den Bänken, und die Andern lagen, sich leise unterhaltend, im Grase umher. Draußen regte sich kein Lüftchen; aber das war eine trügerische Ruhe, und als die Mitternacht gekommen war, erhoben sich die Ruhenden, griffen zu ihren Gewehren und nahmen die ihnen angewiesenen Plätze auf den Bänken ein. Ich stand mit Winnetou am Thore, den Henrystutzen in der Hand. Die Büchse hatte ich in der Wohnung gelassen, da der Stutzen hier besser am Platze war.

Wir hatten uns auf alle vier Seiten der Einfassung gleichmäßig vertheilt, zweihundert und zehn Mann stark, denn dreißig Mann waren nach einem verborgenen Theile detachirt worden, um die dort in Sicherheit gebrachten Pferde zu beschützen.

Die Zeit schlich, wie von Schnecken getragen. Mancher mochte bereits denken, daß alle unsere Befürchtung vergeblich gewesen sei, da aber, horch! Da erklang es, als sei ein Steinchen an eine der Eisenschienen gestoßen worden. Gleich darauf bemerkte ich jenes fast unhörbare Geräusch, welches ein Ungeübter für das Wehen eines ganz, ganz leisen Lüftchens halten würde — sie kamen!

„Aufgepaßt!“ flüsterte ich meinem Nebenmanne zu.

Dieser gab das Wort leise weiter, so daß es im Verlaufe einer Minute die Runde machte. Unendlich

flüchtige, geisterhafte Schatten huschten durch die Nacht, nach rechts, nach links, ohne daß dabei der geringste Laut zu hören war. Es bildete sich uns gegenüber eine Fronte, welche sich ausbreitete und nach und nach um das ganze Lager dehnte. Im nächsten Augenblicke mußte es beginnen.

Die Schatten näherten sich. Sie waren nur noch fünfzehn — zwölf — zehn — acht — sechs Schritte von der Mauer entfernt. Da erscholl eine laute, sonore Stimme durch die Nacht:

„Selkhi Ogellallah! Ntsagé sisi Winnetou natan Apaches! Shne ko — Tod den Ogellallah! Hier steht Winnetou, der Häuptling der Apachen! Gebt Feuer!“

Er erhob seine silberbeschlagene Büchse, und bei ihrem Blitze leuchtete es rund um den ganzen Camp auf. Es waren an einem einzigen Augenblicke über zweihundert Schüsse gefallen. Nur ich allein hatte nicht geschossen; ich wollte die Wirkung unserer Salve abwarten, welche wie ein Gericht vom Himmel so plötzlich, so tödtlich über die Feinde hereinbrach. Eine ganze, lange Minute herrschte die tiefste Stille, dann aber brach es los, jenes furchtbare Geheul, welches die Nerven zu zerreißen und die Knochen zu zermalmen droht. Das Unerwartete unserer Salve hatte den Wilden geradezu die Sprache geraubt, jetzt aber klang es wie aus den Mäulern von tausend Teufeln durch den Cannon.

„Nochmals Feuer!“ kommandirte die Stimme des Obersten, welche man selbst durch dieses diabolische Geheul hindurch vernehmen konnte.

Eine zweite Salve krachte und dann rief Rudge:

„Hinaus, und mit den Kolben drauf!“

Im Nu waren die Männer über die Mauer hinaus. Wer von ihnen vorher ja noch bange gewesen war, der fühlte jetzt den Muth des Löwen in sich. Kein einziger Indsman hatte einen Versuch machen können, die Mauer zu ersteigen.

Ich blieb auf meinem Posten. Draußen entwickelte sich ein Rachekampf, der nicht lange anhalten konnte, denn die Reihen der Gegner waren so fürchterlich gelichtet, daß sie ihr Heil nur in der Flucht suchen konnten. Ich sah sie vorüberhuschen, die dunklen Gestalten — ah, das war ein Weißer! Wieder Einer! Die Railtroublers hatten auf der andern Seite gestanden und flohen jetzt an mir vorüber.

Jetzt erst legte ich meinen Stutzen an. Fünfundzwanzigmal schießen zu können, ohne laden zu müssen, das war mir jetzt vom Vortheile. Acht Schüsse gab ich ab, dann fand ich keine Ziele mehr. Die unverletzten Feinde waren geflohen; die Andern lagen am Boden oder versuchten, sich fortzuschleppen, aber es gelang ihnen nicht, denn sie wurden umstellt, und wer sich nicht ergab, der wurde niedergemacht. Es ergab sich aber — kein Einziger!

Kurze Zeit später brannten zahlreiche Feuer draußen vor der Mauer, und man konnte die schauerliche Ernte

sehen, welche der Tod in so kurzer Zeit gehalten hatte. Ich mochte nichts sehen, gar nichts. Ich wandte mich ab und ging nach der Wohnung des Kolonels. Kaum hatte ich mich dort niedergesetzt, so trat auch Winnetou ein. Ich blickte ihm erstaunt entgegen.

„Mein rother Bruder kommt?“ fragte ich. „Wo hat er die Scalpe seiner Feinde, der Sioux-Ogellallah?“

„Winnetou wird keinen Scalp mehr nehmen,“ antwortete er. „Seit er die Musik vom Berge herab gehört hat, tödtet er den Feind, aber läßt ihm die Haarlocke seines Hauptes. Howgh!“

„Wie viele hat der Apache getödtet?“

„Winnetou zählt nicht wieder die Häupter der Gefallenen. Warum soll er zählen, da sein weißer Bruder Keinen tödtet!“

„Woher weißt du das?“

„Warum schwieg das Gewehr meines Freundes Schar-lih, bis die weißen Mörder an ihm vorüberflohen? Und warum schoß er diese nur in das Bein? Nur diese allein hat Winnetou gezählt. Es sind ihrer Acht. Sie liegen draußen und sind gefangen, denn sie konnten nicht entkommen.“

Diese Zahl stimmte; ich hatte also gut getroffen und meinen Zweck erreicht, einige der Railtroublers in unsere Hand zu bekommen. Vielleicht war Williams dabei. Vom Uebrigen mochte ich nichts sehen, denn ich war ja ein Mensch und ein — — Christ!

Es dauerte nicht lange, so trat Walker herein.

„Charles, Winnetou, kommt heraus! Wir haben ihn!“ rief er.

„Wen?“ fragte ich.

„Williams.“

„Ah! Wer hat ihn gefangen?“

„Niemand. Er war verwundet und konnte nicht weiter. Es ist wunderbar! Es sind acht Railtroublers verwundet worden, und alle acht an derselben Stelle, nämlich am Beckenknochen, so daß sie sofort stürzten und liegen blieben.“

„Das ist allerdings eigenthümlich, Fred!“

„Es hat sich nicht ein einziger verwundeter Ogellallah ergeben, aber diese acht Weiße haben um Pardon gebeten.“

„Sind ihre Wunden lebensgefährlich?“

„Man weiß es nicht; man hat noch keine Zeit zur Untersuchung gehabt. Warum sitzt Ihr hier? Kommt heraus! Es sind im allerhöchsten Falle nur achtzig Feinde entkommen!“

Das war fürchterlich! Aber hatten sie es besser verdient? Diese Menschen hatten heut eine Lehre erhalten, von welcher sicherlich noch in später Zeit erzählt wurde. Es gab Scenen, welche jeder Feder spotten, und als ich am frühen Morgen die Leichen hoch gethürmt über einander geschichtet sah, da mußte ich mich fröstelnd abwenden, Ich mußte unwillkürlich an das Wort eines neueren Gelehrten denken, daß der Mensch das größte Raubthier sei.

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(24. Fortsetzung.)

Erst am Nachmittage kam per Bahn ein Arzt, welcher die Verwundeten untersuchte. Ich hörte, daß Williams nicht zu retten sei. Er selbst hatte bei der Erklärung, daß seine Wunde tödlich sei, nicht die mindeste Reue gezeigt. Walker war zugegen gewesen. Er kam zu mir hereingestürzt und rief mir mit erschrockenem Gesichte zu:

„Charles, auf! Wir müssen fort!“

„Wohin?“

„Nach Helldorf-Settlement.“

Dieses Wort erschreckte mich.

„Warum?“ fragte ich.

„Weil es von den Ogellallah überfallen wird.“

„Mein Gott! Ist’s möglich! Woher wißt Ihr das, Fred?“

„Dieser Williams hat es gesagt. Ich saß bei ihm und sprach mit dem Kolonel. Dabei erwähnte ich den Abend, welchen wir auf Helldorf-Settlement verlebten. Williams lachte höhnisch auf und meinte, daß wir einen solchen Abend dort wohl nicht wieder erleben würden. Und als ich in ihn drang, erfuhr ich, daß die Niederlassung überfallen werden soll.“

„Herr des Himmels, wenn dies wahr wäre! Fred, holt rasch Winnetou, und laßt unsere Pferde kommen. Ich will selbst zu Williams.“

Ich hatte diesen Menschen noch nicht wiedergesehen. Als ich in das Blockhaus trat, in welchem die verwundeten Gefangenen lagen, stand gerade der Kolonel bei ihm. Er lag todesbleich auf einer blutigen Decke und stierte mich mit trotzigen Augen an.

„Ihr seid Rollins oder Williams?“ frug ich ihn.

„Was geht Euch das an!“ antwortete er.

„Mehr als Ihr denkt!“ meinte ich.

Ich konnte mir denken, daß ich auf eine direkte Erkundigung keine Auskunft erhalten werde; ich mußte es anders anfangen.

„Ich wüßte nicht! Packt Euch fort!“ rief er.

„Es hat Keiner ein so großes Recht, Euch zu besuchen,“ sagte ich. „Die Kugel, die Euch im Leben sitzt, ist von mir.“

Da wurden seine Augen größer; das Blut schoß ihm in das Gesicht, so daß die Narbe anschwoll, und er schrie:

„Hund, sagst Du die Wahrheit?“

„Ja.“

Das, was er jetzt förmlich brüllte, ist nicht wiederzugeben, ich aber blieb scheinbar ruhig und sagte:

„Ich wollte Euch nur verwunden, und als ich hörte, daß Ihr sterben müßt, bedauerte ich Euch und

machte mir Vorwürfe. Nun ich aber sehe, welch ein Bösewicht Ihr seid, kann ich ruhig sein. Ich habe der Welt einen Segen erwiesen, indem ich Euch verwundete. Ihr und Eure Ogellallah werden keinen Schaden mehr anrichten!“

„Meinst Du?“ frug er, indem er mir seine langen Zähne wie ein gefangenes Raubthier entgegenfletschte. „Gehe doch einmal nach Helldorf-Settlement, he!“

Pshaw! Das liegt sicher!“

„Sicher? Da gibt es keinen Stein mehr auf dem andern. Ich selbst habe diesen guten Ort ausgekundschaftet, und es war ausgemacht, daß erst Echo-Cannon und dann Helldorf-Settlement genommen werden soll. Hier ist es uns nicht gelungen, dort aber wird es desto besser gelingen, und die Settler werden mit tausend Martern büßen müssen, was Ihr hier an den Meinen und den Ogellallah verschuldet habt!“

„Gut, das wollte ich wissen! Williams, Ihr seid ein verstockter, aber auch ein sehr alberner Sünder. Wir werden jetzt nach Helldorf reiten, um zu retten, was zu retten ist. Und wenn die Settler von den Ogellallah vielleicht fortgeschleppt worden sind, so werden wir sie wieder holen. Dies hätten wir aber nicht gekonnt, wenn Ihr verschwiegen gewesen wäret.“

„Den Henker werdet Ihr wieder holen, aber keine Gefangenen!“ rief er erbost.

Da hob sein Nachbar, ein Kamerad von ihm, der mich unausgesetzt angestiert hatte, den Kopf und sagte:

„Rollins, glaube es. Dieser wird sie wieder holen. Ich kenne ihn. Es ist Old Shatterhand!“

„Old Shatterhand!“ rief der Angeredete. „All devils, also darum acht solche Schüsse! Nun, so will ich wün­schen — — —“

Ich wandte mich schnell ab und ging; die Flüche dieses Bösewichtes mochte ich nicht hören. Der Colonel folgte mir und sagte ganz erstaunt:

„Ists wahr, Sir, daß Ihr Old Shatterhand seid?“

„Ja. Dieser Mann hat mich wohl einmal auf einem meiner Jagdzüge getroffen. Aber wißt Ihr, Colonel, Ihr müßt mir Leute geben. Ich muß fort nach Helldorf-Settlement.“

„Hm, mein werther Sir, das geht nicht. Ich ginge gleich mit und nähme auch alle meine Leute mit; aber ich bin Bahnbeamter und habe meine Pflichten zu erfüllen.“

„Aber, Sir, sollen diese armen Settlers umkommen? Ihr könnt das bei Gott niemals verantworten!“

„Hört mich an, Sir! Ich darf meinen Posten nicht verlassen, außer dann, wenn es gilt, im Interesse desselben zu handeln. Ich darf auch meine Leute nicht kommandiren, Euch zu begleiten. Aber Eins kann und will ich von Herzen gern thun: ich gebe Euch die Erlaubnis, mit meinen Leuten zu sprechen. Wer von ihnen aus der Arbeit treten und mit Euch gehen will, den werde ich nicht halten. Ein Pferd, Waffen und Munition nebst etwas Proviant soll er auch haben

unter der Bedingung, daß ich die Pferde und Waffen später wieder erhalte.“

„Gut, ich danke Euch, Sir! Ich bin überzeugt, daß dies alles Mögliche ist, was Ihr thun könnt. Nehmt es mir nicht übel, wenn ich jetzt keine Komplimente mache. Ich habe Eile. Kehren wir zurück, so soll alles Versäumte nachgeholt werden!“

Zwei Stunden später jagte ich mit Winnetou und Walker an der Spitze von einigen vierzig wohl bewaffneten Männern den Weg zurück, den wir vor so kurzer Zeit von Helldorf-Settlement her gekommen waren.

Winnetou sprach kein Wort, aber das Licht, welches in seinen Augen glühte, sagte mehr als alle Worte. War diese junge Niederlassung wirklich überfallen worden, dann wehe den Thätern!

Es gab kein Aufhalten, selbst nicht während der Nacht; wir kannten ja den Weg. Ich glaube nicht, daß ich während des ganzen Rittes hundert Worte gesprochen habe.

Es war am andern Nachmittage, als wir auf dampfenden Pferden am Rande des Thalkessels anlangten, in welchem Helldorf-Settlement gestanden hatte. Sogleich der erste Blick belehrte uns, daß Williams uns nicht belogen hatte und daß wir zu spät kamen. Die Blockhäuser bildeten nur noch rauchende Trümmerhaufen.

„Uff!“ rief Winnetou und deutete nach der Höhe.

„Der Sohn des guten Manitou ist fort. Ich werde diese Wölfe von Ogellallah zerreißen!“

Wahrhaftig, auch das Kapellchen war zerstört und

verbrannt, und das Kreuz mit dem Bilde des Erlösers hatte man von der Höhe herabgestürzt! Wir stürmten auf die Trümmer zu und sprangen von den Pferden. Hier hielt ich die Railroaders zurück, damit mir keine Fährte verdorben würde. Es war trotz alles Suchens nicht eine einzige Spur eines lebenden Wesens zu entdecken. Nun rief ich die Leute herbei. Sie mußten mir helfen, den rauchenden Schutt auseinander zu stöbern. Wir fanden keine menschlichen Ueberreste, und das war ein großer Trost.

Winnetou hatte, sobald er vom Pferde gestiegen war, sogleich den Abhang erklettert und kehrte jetzt zurück. Er trug das Glöckchen in der Hand.

„Der Häuptling der Apachen hat gefunden die Stimme aus der Höhe,“ sagte er. „Er wird sie hier vergraben, bis er als Sieger zurückkehrt.“

Unterdessen suchte ich mit Walker in aller Eile die Ufer des Sees ab, um zu sehen, ob man die Settlers vielleicht ertränkt habe, fand aber, daß dies nicht geschehen sei. Eine genaue Forschung ergab, daß die Niederlassung mitten in der Nacht überfallen worden war; ein Kampf hatte wohl gar nicht stattgefunden; dann waren die Sieger mit ihrem Raube und den Gefangenen in der Richtung nach der Grenze von Idaho und Wyoming abgezogen.

„Hört, Männer, wir dürfen keinen Augenblick verlieren! Wir können jetzt nicht ruhen; wir müssen der Fährte folgen, so lange wir sie erkennen können, und dann erst, wenn es Abend ist, werden wir Lager machen. Vorwärts!“

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(25. Fortsetzung.)

Mit diesen Worten bestieg ich den Schwarzschimmel wieder. Die Andern folgten. Der Apache ritt an der Spitze und verwendete keinen Blick von den Spuren der Verfolgten. Man hätte ihn wohl tödten, nicht aber von dieser Fährte abbringen können, eine solche Erbitterung hatte sich unser Aller bemächtigt. Wir waren vierzig gegen achtzig Mann, aber in einer solchen Stimmung zählt man die Gegner nicht.

Wir hatten noch volle drei Stunden Tageslicht und legten während dieser Zeit eine so große Strecke zurück, daß wir mit den ungewöhnlichen Leistungen unserer Pferde höchst zufrieden sein konnten. Dann gönnten wir ihnen die so wohlverdiente Ruhe.

Am andern Tage zeigte es sich, daß wir die Ogellallah drei Viertel einer Tagreise vor uns hatten, und später bemerkten wir, daß sie ihren Ritt während der ganzen Nacht fortgesetzt hatten. Der Grund zu dieser Eile ließ sich errathen. Winnetou hatte beim Ueberfalle seinen Namen in die finstere Nacht hinausgerufen; sie wußten, daß man sie verfolgen werde; sie wußten den Apachen hinter sich, und das war Grund, eilig zu sein.

Da unsere Pferde bis jetzt das beinahe Unmögliche geleistet hatten, so durften wir sie nicht gar zu sehr anstrengen; es kam ja Alles darauf an, sie bei Kräften zu erhalten. Daher kam es, daß wir in den ersten beiden Tagen den Verfolgten nicht näher kamen.

„Die Zeit vergeht,“ sagte Walker, „und wir werden zu spät kommen.“

„Wir kommen nicht zu spät,“ antwortete ich ihm. „Die Gefangenen sind für den Marterpfahl aufgehoben, und dieses Schicksal werden sie erst dann haben, wenn die Ogellallah in ihren Dörfern angekommen sind.

„Wo befinden sich diese Dörfer jetzt?“

„Die Dörfer der Ogellallah sind jetzt droben im Quackingasp-Ridge,“ antwortete Winnetou, „und wir werden diese Räuber noch viel eher erreichen.“

Am dritten Tage stießen wir auf ein ganz bedeutendes Hinderniß: es theilte sich die Fährte. Die eine Hälfte lief grad nach Norden fort, und die andere ging nach dem Westen ab. Die Erstere war die bedeutendere.

„Sie wollen uns aufhalten!“ meinte Fred.

„Die weißen Männer mögen halten,“ gebot Winnetou. „Die Spur darf von keinem Fuße berührt werden.“

Darauf gab er mir einen Wink, den ich sofort verstand. Ich sollte die grad fortlaufende, und er wollte die links abgehende Fährte beobachten. Wir ritten also

Beide in den angegebenen Richtungen weiter; die Andern mußten warten.

Ich ritt wohl eine Viertelstunde weit. Die Zahl der Pferde, welche hier gegangen waren, war schwer zu bestimmen, da die einzelnen Thiere hinter einander her geschritten waren; aber aus der Tiefe und der Form der gemeinschaftlichen Hufeindrücke konnte ich schließen, daß es nicht viel über zwanzig gewesen seien. Während dieser Untersuchung bemerkte ich im Sande einige dunkle, kleine, runde Flecken, daneben zu beiden Seiten eine eigenthümliche Schichtung der trockenen Sandkörner, und vor diesen Zeichen sah die Stelle aus, als sei mit einem breiten Gegenstande auf dem Sande hin und her gerieben worden. Ich kehrte sofort im Galopp um und fand Winnetou bereits meiner wartend.

„Was hat mein Bruder gesehen?“ fragte ich ihn.

„Nichts als die Fährte von Reitern.“

„Vorwärts!“

Mit diesen Worten wandte ich mich wieder um und eilte voran.

„Uff!“ rief der Apache.

Er wunderte sich über meine Sicherheit und merkte aus derselben, daß ich einen untrüglichen Beweis gefunden haben müsse, daß die Gefangenen in dieser Richtung fortgeschleppt worden seien. Als ich die Stelle erreichte, hielt ich an und fragte den Dicken:

„Master Walker, Ihr seid ein guter Westmann.

Seht Euch einmal diese Spur an, und sagt mir, was sie zu bedeuten hat!“

„Spur?“ fragte er. „Wo?“

„Hier!“

„Ah! Was soll denn das für eine Spur sein! Hier ist der Wind über den Sand gegangen!“

„Schön! Er wird auch wohl noch öfters darüber gehen! Ich wette mit Euch um was Ihr wollt, daß Winnetou von diesen beinahe ganz unsichtbaren Zeichen ganz dieselbe Ansicht haben wird wie ich. Mein rother Bruder möge sie sich betrachten!“

Der Apache stieg ab, bückte sich, warf einen langen, forschenden Blick auf die Stelle und sagte:

„Mein Bruder Schar-lih hat den richtigen Weg gewählt, denn hier sind die Gefangenen geritten.“

„Woher will man dies sehen?“ fragte Fred halb ungläubig und halb ärgerlich darüber, daß er nicht scharfsinnig genug war, das Richtige zu treffen.

„Mein Bruder blicke genau her!“ sagte Winnetou. „Diese Tropfen sind Blut; rechts und links davon lagen die Hände und nach vorn der Leib eines Kin­des — — —“

„Welches,“ fiel ich ein, „vom Pferde fiel, so daß ihm die Nase blutete!“

„Ah!“ rief der Dicke.

„O, das ist nicht so schwer zu sehen! Aber ich wette, es kommt noch etwas Anderes, was uns viel größere Mühe machen wird. Vorwärts!“

Ich hatte Recht. Wir hatten den Weg kaum zehn Minuten fortgesetzt, so kamen wir an eine felsige Stelle, und von da an hörten alle Spuren auf.

Die Andern mußten halten bleiben, um uns

das Suchen nicht zu erschweren, und es dauerte gar nicht lange, so stieß der Apache einen freudigen Ruf aus und brachte mir einen starken gelb gefärbten Faden.

„Was sagt Ihr dazu, Fred?“ fragte ich.

„Dieser Faden stammt aus einer Decke.“

„Richtig! Seht Euch die scharfen Enden desselben an! Man hat die Decken zerschnitten und die Theile derselben den Pferden um die Hufe gewickelt, damit sie keine Spur hinterlassen sollen. Wir müssen uns auf das Aeußerste anstrengen!“

Wir suchten weiter, und richtig! einige dreißig Schritte davon bemerkte ich im Grase, welches auf nun wieder sandigem Boden wuchs, die schlecht ausgelöschte Spur eines indianischen Moccassin. Die Stellung des Fußes gab uns die Richtung an, in welcher der Weg fortgesetzt worden war.

In dieser Richtung fanden wir bald weitere Anhaltepunkte, und endlich erkannten wir, daß die Leute hier ganz außerordentlich langsam vorwärts gekommen waren. Nach langer Zeit wurden die Spuren wieder deutlicher. Man hatte die Pferdehufe von der Umhüllung befreit und schließlich sahen wir ganz deutlich, daß neben den Pferden Indianer zu Fuße gegangen waren.

Das war wunderbar und gab mir zu denken, bis Winnetou plötzlich sein Pferd anhielt, in die Ferne blickte und eine Geberde machte, als ob er sich auf Etwas besinne.

„Uff!“ rief er. „Die Höhle des Berges, welchen die Weißen Hancock nennen!“

„Was ist’s mit ihr?“ fragte ich.

„Winnetou weiß jetzt Alles! In dieser Höhle opfern die Sioux ihre Gefangenen dem großen Geiste. Diese Ogellallah haben sich getheilt. Der große Theil reitet nach links, um die zerstreuten Truppen seines Stammes herbei zu rufen, und der kleine Theil bringt die Gefangenen zur Höhle. Man hat Mehrere auf ein Pferd geladen, und die Ogellallah laufen nebenher.“

„Wie weit ist dieser Berg von hier?“

„Meine Brüder werden ihn des Abends erreichen.“

„Unmöglich! der Berg Hancock liegt ja zwischen dem oberen Snake- und dem oberen Yellowstone-River!“

„Mein weißer Bruder mag bedenken, daß es zwei Berge Hancock gibt!“

„Kennt Winnetou den richtigen?“

„Ja.“

„Und auch die Höhle?“

„Ja. Winnetou hat mit dem Vater von Ko-itse in dieser Höhle einen Bund geschlossen, den dieser Ogellallah dann brach. Meine Brüder werden mit mir diese Fährte verlassen und sich dem Häuptling der Apachen anvertrauen!“

Er gab, als sei er seiner Sache ganz gewiß, seinem Pferde die Sporen und sprengte im Galopp davon, wir ihm nach. Es ging eine geraume Zeit durch Thäler und Schluchten, bis plötzlich die Berge auseinander traten und eine ebene Grasfläche vor uns lag, welche nur am fernen Horizonte von Höhen eingefaßt zu sein schien.

„Das ist J-akom akono, die „Prairie des Blutes“

in der Sprache der Tehua,“ erklärte Winnetou, ohne in seinem schnellen Ritte anzuhalten.

Das war also die fürchterliche Prairie des Blutes, von der ich so viel gehört hatte! Hierher hatten die vereinigten Stämme der Dakota ihre Gefangenen gebracht, losgelassen und zu Tode gehetzt. Hier waren Tausende von unschuldigen Schlachtopfern den Tod des Pfahles, des Feuers, des Messers, des Eingrabens gestorben. Hierher wagte sich kein fremder Indianer oder gar Weißer, und wir ritten über diese Ebene des Fluches so unbesorgt, als ob wir uns auf dem friedlichsten Boden befänden. Unser Führer dabei konnte nur ein Winnetou sein!

Schon begannen unsere Pferde vom Jagen zu ermüden. Da hob sich vor uns langsam eine isolirte Höhe empor, welche aus mehreren zusammengeschobenen Bergen zu bestehen schien. Wir erreichten den mit Wald und Buschwerk besetzten Fuß derselben und ließen dort die Pferde rasten.

„Das ist der Berg Hancock,“ bemerkte Winnetou.

„Und die Höhle?“ fragte ich.

„Sie ist auf der andern Seite des Berges. In einer Stunde wird sie mein Bruder sehen. Er folge mir, lasse aber seine Gewehre zurück.“

„Ich allein?“

„Ja. Wir sind hier am Orte des Todes. Nur ein fester Mann wird bestehen. Unsere Brüder mögen sich unter den Bäumen verbergen und warten!“

Der Berg, an dessen Fuße wir uns befanden, war ein vulkanisches Gebilde von der Breite von vielleicht dreiviertel Stunden. Ich legte die Büchse und den Stutzen ab und folgte Winnetou, welcher an der westlichen -

westlichen Seite des Berges emporzusteigen begann. Er hielt in kurzen Schlangenlinien nach dem Gipfel zu. Es war ein sehr beschwerlicher Weg, und mein Führer legte ihn mit einer Vorsicht zurück, als ob er hinter jedem Strauche einen Feind zu erwarten habe. So dauerte es wirklich eine Stunde, bis wir ganz oben an der Spitze anlangten.

„Mein Bruder sei ganz still und unhörbar!“ flüsterte er, indem er sich auf den Bauch legte und zwischen zwei Büschen langsam hindurchkroch.

Ich folgte ihm und — wäre beinahe ganz erschrocken zurückgewichen, denn kaum hatte ich den Kopf durch die Zweige gesteckt, so erblickte ich grad vor meinem Gesichte den trichterförmigen, steilen Abgrund eines Kraters, dessen Rand ich mit der Hand erreichen konnte. Dieser Abgrund war nur mit einzelnen Sträuchern bestanden und wohl an die hundertundfünfzig Fuß tief. Unten bildete er eine vielleicht vierzig Fuß im Durchmesser haltende Fläche, und da lagen — die von uns gesuchten Bewohner von Helldorf-Settlement, an Händen und Füßen gebunden. Ich besiegte meine Ueberraschung und zählte die Leute. Es fehlte Keiner; aber bei ihnen befand sich eine zahlreiche Ogellallah-Wache.

Ich untersuchte jeden Fußbreit dieses ausgebrannten Kraters, ob man von hier hinunterkönne. Ja, es ging, wenn man kühn war, ein tüchtiges Seil besaß und ein Mittel fand, die Wache zu entfernen. Es befanden sich mehrere Felsenvorsprünge da, welche man als Anhalte- und Ruhepunkte benutzen konnte.

(Fortsetzung folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(26. Fortsetzung.)

Jetzt zog sich Winnetou zurück, und ich that desgleichen.

„Das ist die Höhle des Berges?“ fragte ich.

„Ja.“

„Wo ist der eigentliche Eingang?“

„An der Seite, die gegen Osten liegt. Aber kein Mensch kann ihn erzwingen.“

„So steigen wir hier hinab. Wir haben Lassos, und unsere Bahnarbeiter sind mit Pferdestricken reichlich versehen.“

Er nickte und wir begannen den Abstieg. Es war mir völlig unbegreiflich, warum die Indianer die westliche Seite des Berges nicht bewachten. Eine unbemerkte Annäherung wäre uns dann unmöglich gewesen.

Als wir unten wieder ankamen, tauchte die Sonne hinter dem Horizont hinab, und wir begannen unsere Vorbereitungen. Es wurden alle vorhandenen Stricke gesammelt und zu einem längeren Seile verbunden. Winnetou las sich zwanzig der gewandtesten Männer aus; die Andern sollten die Pferde bewachen. Zwei

von diesen aber sollten sich dreiviertel Stunden nach unserm Fortgange auf die Pferde werfen und in einem Bogen um den Berg herum nach Osten reiten, um weit draußen einige Feuer anzuzünden, doch so, daß die Prairie nicht anbrannte; dann aber sollten sie schleunigst zurückkehren.

Als es vollständig dunkel geworden war, traten wir die beschwerliche Wanderung an. Wir brauchten länger als eine Stunde, bis wir den Rand des Kraters erreichten. Unter brannte ein mächtiges Feuer, und bei dem Scheine desselben sahen wir die Gefangenen und ihre Wächter liegen. Kein Wort, kein Laut drang herauf zu uns.

Wir befestigten zunächst das Seil, welches lang genug war, an einen Steinblock und warteten dann auf das Erscheinen der Feuer. Es dauerte nicht lange, so erschienen dort im Osten nacheinander drei, vier, fünf Flammen, welche den Feuern eines Lagers ganz ähnlich sahen. Jetzt blickten und horchten wir gespannt nach dem Kessel hinab. Wir sollten uns nicht getäuscht haben, denn bereits nach kurzer Zeit sahen wir einen Wilden aus einer Spalte erscheinen, der den Andern einige Worte sagte. Diese erhoben sich sofort und verschwanden mit ihm durch die Spalte.

Jetzt war es Zeit für uns. Ich ergriff den Anfang -

Anfang des Seiles, um den Ersten zu machen, jedoch Winnetou nahm ihn mir aus der Hand.

„Der Häuptling der Apachen ist der Führer,“ sagte er. „Mein Bruder komme hinter ihm.“

Es war ausgemacht worden, daß die Unsrigen uns in solchen Zwischenräumen folgen sollten, daß, nachdem das Seil den Boden erreicht hatte, sich nur je Vier auf einmal an demselben befanden. Winnetou trat an. Ich ließ ihn bis zum ersten Vorsprunge kommen und folgte dann. Mir folgte Fred. Es ging viel schneller bergab, als wir gedacht hatten, da wir uns kaum erhalten konnten. Zum Glücke hielt das Seil, welches von oben langsam herab- und uns nachgelassen wurde.

Natürlich rissen wir eine Menge Steine und Geröll zur Tiefe hinab; es war ja so dunkel, daß wir dies gar nicht vermeiden konnten. Einer dieser Steine mußte ein Kind getroffen haben, denn es begann zu schreien. Sofort erschien der Kopf eines Indianers in der vom Feuer erleuchteten Spalte. Er hörte und sah das Niederprasseln des Gerölls, blickte in die Höhe und stieß einen lauten Warnungsruf aus.

„Vorwärts, Winnetou!“ rief ich. „Es ist sonst Alles verloren!“

Die Männer oben merkten, was unten vorging, und ließen das Seil schnell laufen. Eine halbe Minute

später hatten wir den Boden erreicht, zu gleicher Zeit aber blitzten uns aus der Spalte einige Schüsse entgegen. Winnetou stürzte zu Boden.

Ich blieb vor Schreck am Boden kleben.

„Winnetou, mein Freund,“ rief ich, „hat eine Kugel getroffen?“

„Winnetou wird sterben,“ antwortete er.

Da erfaßte mich eine Wuth, welcher ich nicht zu widerstehen vermochte. Soeben langte Walker hinter mir an.

„Winnetou stirbt!“ rief ich ihm zu. „Drauf!“

Ich nahm mir nicht erst Zeit, den Stutzen vom Rücken zu reißen oder ein Messer oder einen Revolver zu ergreifen. Mit hoch erhobenen Fäusten stürzte ich mich auf die fünf Indianer, welche bereits aus der Spalte gedrungen waren. Der Vorderste unter ihnen war der Häuptling; ich erkannte ihn sogleich.

„Ko-itse, fahre nieder,“ rief ich ihm zu.

Ein Faustschlag traf ihn an die Schläfen; er brach zusammen wie ein Holzklotz. Der neben ihm haltende Wilde hatte bereits den Tomahawk gegen mich zum Schlage erhoben; da fiel der Schein der Flamme hell

auf mein Gesicht, und er ließ erschreckt das Schlachtbeil niedersinken.

„Ká-ut-skamasti — Schmetterhand!“ rief er laut.

„Ja, hier ist Old Shatterhand. — Fahre dahin!“ rief ich.

Ich kannte mich nicht. Der zweite Hieb traf den Mann, so daß er niedersank.

„Ká-ut-skamasti!“ riefen die Indsmen zaudernd.

„Old Shatterhand,“ rief auch Walker. „Das seid Ihr, Charles? O, da begreife ich Alles. Jetzt haben wir gewonnen. Drauf!“

Ich erhielt einen Messerstich in die Schulter, aber das fühlte ich gar nicht. Zwei der Wilden fielen von den Schüssen Fred´s, und den Dritten schlug ich noch nieder. Mittlerweile kamen immer mehrere der Unserigen herab; ihnen konnte ich die Indsmen überlassen. Ich wandte mich zu Winnetou und kniete neben ihm am Boden nieder.

„Wo ist mein Bruder getroffen?“ fragte ich.

„Ntságe tche — hier in der Brust,“ antwortete er leise, die Linke auf die rechte Seite der Brust legend, welche sich von seinem Blute röthete.

(Schluß folgt.)

„Ave Maria.“

Reiseerlebnisse aus dem „wilden Westen“ Nordamerikas von Carl May.

(Schluß.)

Ich riß das Messer heraus und schnitt ihm die Santillo-Decke, welche sich heraufgeschoben hatte, kurzweg herunter. Ja, die Kugel war ihm in die Lunge gedrungen. Mich erfaßte ein Schmerz, wie ich ihn in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt hatte.

„Noch wird Hoffnung sein, mein Bruder,“ tröstete ich.

„Mein Freund lege mich in seinen Schooß, daß ich den Kampf erkenne!“ bat er.

Ich that es, und nun konnte er sehen, daß alle Indsmen, sobald sie sich in der Spalte sehen ließen, sofort der Reihe nach in Empfang genommen wurden. Unsere Leute kamen nach und nach alle herab. Die Gefangenen wurden von den Fesseln befreit und erhoben laute Rufe der Freude und Dankbarkeit. Ich beachtete das Alles nicht; ich sah nur den sterbenden Freund, dessen Wunde aufhörte zu bluten. Ich ahnte, daß er sich innerlich verbluten werde.

„Hat mein Bruder noch einen Wunsch?“ fragte ich ihn.

Er hielt die Augen geschlossen und antwortete nicht; ich aber hielt seinen Kopf in meinen Armen und wagte nicht die geringste Bewegung.

Der alte Hillmann und die anderen von ihren Banden befreiten Settlers griffen nach den umherliegenden Waffen und drangen in die Spalte ein. Auch das beachtete ich nicht. Später trat Walker zu mir, welcher auch blutete, und meldete:

„Sie sind Alle ausgelöscht!“

„Dieser wird auch auslöschen!“ antwortete ich. „Sie alle sind nichts gegen diesen Einen!“

Noch immer lag der Apache bewegungslos. Die braven Railroaders, welche sich so gut gehalten hatten, und die Settlers mit den Ihrigen bildeten um uns einen stummen, tief ergriffenen Kreis. Da endlich schlug Winnetou die Augen auf.

„Hat mein guter Bruder noch einen Wunsch?“ wiederholte ich.

Er nickte und sagte leise:

„Mein Bruder Schar-lih führe diese Männer in die Gros Ventre Berge. Am Metsur-Flüßchen liegt viel Gold. Sie haben es verdient!“

„Was noch, Winnetou?“

„Mein Bruder vergesse den Apachen nicht. Er bete für ihn zum großen, guten Manitou! Können diese Gefangenen mit ihren wunden Gliedern stehen?“

„Ja,“ antwortete ich, obgleich ich sah, wie die Hände und Füße der Settlers unter den schneidenden Fesseln gelitten hatten.

„Winnetou bittet sie, ihm das Lied von der Königin des Himmels zu singen!“

Sie hörten diese Worte. Ohne erst meine Bitte abzuwarten, winkte der alte Hillmann. Sie erklimmten einen Felsenabsatz, der zu Häupten Winnetou´s hervorragte, um den letzten Wunsch des Sterbenden zu erfüllen. Seine Augen folgten ihnen und schlossen sich dann, als sie oben standen. Er ergriff meine beiden Hände und hörte nun das Ave Maria beginnen:

„Es will das Licht des Tages scheiden;

Nun bricht die stille Nacht herein.

Ach, könnte doch des Herzens Leiden

So, wie der Tag vergangen sein!

Ich leg’ mein Flehen Dir zu Füßen;

O trag’s empor zu Gottes Thron,

Und laß, Madonna, laß Dich grüßen

Mit des Gebetes frommem Ton:

Ave, ave Maria!“

Als nun die zweite Strophe begann, öffneten sich langsam seine Augen und richteten sich mit mildem, lächelndem Ausdrucke zu den Sternen empor. Dann drückte er mir die Hände und flüsterte:

„Char-Iih, nicht wahr, nun kommen die Worte vom Sterben?“

Ich nickte weinend, und die dritte Strophe begann:

„Es will das Licht des Tages scheiden;

Nun bricht des Todes Nacht herein.

Die Seele will die Schwingen breiten;

Es muß, es muß gestorben sein.

Madonna, ach, in Deine Hände

Leg ich mein letztes, heißes Flehn:

Erbitte mir ein ruhig Ende

Und dann ein selig Auferstehn!

Ave, ave Maria!“

Als der letzte Ton verklungen war, wollte er sprechen — es ging nicht mehr. Ich brachte mein Ohr ganz nahe an seinen Mund, und mit der letzten Anstrengung der schwindenden Kräfte flüsterte er:

„Schar-lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!“

Es ging ein konvulsivisches Zittern durch seinen Körper; ein Blutstrom quoll aus seinem Munde; der Häuptling der Apachen drückte nochmals meine Hände und streckte seine Glieder. Dann lösten sich seine Finger langsam von den meinigen — er war todt!

Was soll ich weiter erzählen? Die wahre Trauer liebt die Worte nicht! Käme doch bald die Zeit, in der man solche blutige Geschichten nur noch als alte Sagen kennt!

Die Settlers waren wirklich bestimmt gewesen, durch ihren Martertod den Tod der in Echo-Cannon gefallenen Ogellallah zu sühnen. Glücklicher Weise kam es nicht dazu.

Am andern Morgen verließen wir diesen traurigen Ort, da wir jeden Augenblick das Eintreffen der Wilden erwarten konnten. Der Leichnam des Apachen wurde in Decken gehüllt und auf ein Pferd befestigt. Von hier bis in die Gros Ventre Berge war es nur zwei Tagereisen; dorthin richteten wir unseren Weg, und zwar so vorsichtig, daß kein Indianer unsere Spur aufzufinden vermochte.

Am Abend des zweiten Tages erreichten wir das Thal des Metsur-Flüßchens. Dort haben wir den Indianer begraben, unter christlichen Gebeten und mit den Ehren, die einem so großen Häuptlinge bewiesen werden müssen: Er sitzt mit seinen sämmtlichen Waffen und seinem vollständigen Kriegsschmucke aufrecht auf seinem deshalb erschossenen Pferd im Innern des Erdhügels, welchen wir um ihn wölbten. Auf diesem Hügel wehen nicht die Skalpe erschlagener Feinde, wie man es auf dem Grabe eines Häuptlings zu sehen gewohnt ist, sondern es sind drei Kreuze darauf errichtet worden.

Im Sande des Thales fanden sich Goldstaub genug, um die Railroaders für den Verfolgungsritt zu entschädigten. Eine Anzahl von ihnen entschloß sich, mit den Settlers hier eine Ansiedelung zu gründen, welche wieder den Namen Helldorf führt. Die Andern kehrten nach Echo-Cannon zurück, wo sie erfuhren, daß der Railtroubler Williams an seiner Wunde gestorben sei. Seine Mitgefangenen wurden bestraft.

Das Glöckchen, welches Winnetou vergraben hatte, ist nach der neuen Ansiedelung geholt worden, wo die Settlers wieder ein Kapellchen errichtet haben. Wenn nun seine helle Stimme erschallt und die frommen Ansiedler ihr Ave Maria ertönen lassen, so denken sie stets an den Häuptling der Apachen und sind überzeugt, daß ihm erfüllt worden ist, was er sterbend durch ihre Lippen betete:

„Madonna, ach, in Deine Hände

Leg ich mein letztes, heißes Flehn:

Erbitte mir ein gläubig Ende

Und dann ein selig Auferstehn!

Ave, ave Maria!“