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Christus oder Muhammed.

Reise-Erlebnis von Karl May.

Erstes Kapitel.

Illustration1

Wenn der Marseillaner Gelegenheit findet, über die Vorzüge und Schönheiten seiner Vaterstadt zu sprechen, so pflegt er zu sagen: „Wenn Paris eine Cannebière hätte, so wäre es ein kleines Marseille.“ Dieser Vergleich ist übertrieben, doch gewiß nicht ohne Berechtigung. Die Cannebière ist die größte und, wenigstens früher, schönste Straße von Marseille, welche die ganze Stadt durchschneidet und auf den Hafen mündet. Der Bewohner der größten Stadt Südfrankreichs besitzt ein volles Recht, auf dieselbe stolz zu sein. Sie hat ein mildes, ein herrliches Klima, ägyptisch klare Nächte und trotz ihrer südlichen Lage eine Luft, welche von ewig gleicher Frische ist. Hier strömen alle Nationen der Erde zusammen, der zugeknöpfte, ernste Inglishman, der feurige Italiener, der smarte Yankee, der listige Grieche, der verschmitzte Armenier, der dickblütige Türke, der wortkarge Araber, der schmächtige Hindu, der zopftragende Chinese und der in allen Farben vom schmutzigen Dunkelbraun bis zum tiefsten Schwarz spielende Bewohner Innerafrika’s.

In dem bunten Gemisch von Rassen, Farben, Trachten und Sprachen herrscht hier der orientalische Typus vor; er erteilt Marseille jenes asiatisch-afrikanische Gepräge, welches man in einer andern Hafenstadt Frankreichs vergebens suchen würde. Wer hinüber nach Algier oder Tunis will, der findet hier die beste Gelegenheit, sein Auge auf die Farben und sein Ohr auf die Klänge des andern Erdteiles vorzubereiten.

Was mich betrifft, so hatte ich noch vor Kurzem nicht geahnt, daß ich mich so bald am Mittelmeere befinden würde. Mein Freund, der Kapitän Frick Turnerstick, welcher vielen Lesern des „Deutschen Hausschatzes“ 1) als tüchtiger Seemann und universelles Sprachgenie bekannt sein wird, hatte mich durch folgendes aus Harwich an mich gerichtete Schreiben aus meiner häuslichen Ruhe gestört:

„Liewer Charley! Hier liegge ich vor Anker und werde heut übber quinze jours to weigh anchor, um nach Antwerpen zu seggeln und Euch dort bey Grootvader Leidekker abzuhohlen. Ich faahre übber Marseille ins Thunis und würdte Euch rundum verachten, wenn Ihr at home bliept und nicht would be willing, als meyn Gast an Bord zu mounten. Lebt wohl, und kommt! Ich expecte Euch mit security.

Your old Frick Turnerstick.“

1) Jahrgang VII. „Der Kiang-lu“.

Was sollte ich thun? Zu Hause bleiben und mich „rundum verachten“ lassen? Nein! Es war mir Herzensbedürfnis, den braven Gefährten wiederzusehen, und eine Fahrt nach Tunis und vielleicht noch weiter versprach so viel des Interessanten. Ich beschloß also, der Einladung zu folgen, packte meine Sachen und traf noch vor der angegebenen Zeit in Antwerpen ein. Dort brauchte ich zwei Tage, um den „Grootvader Leidekker“ zu erfragen. Er wohnte im nahen Burgerhout und war der Besitzer eines kleinen aber altrenommirten Gasthauses, in welchem meist nur Seekapitäns zu verkehren pflegten. Am dritten Tage trag Turnerstick dort ein. Seine Freude darüber, daß ich seinen Wunsch erfüllt hatte, war ebenso groß wie aufrichtig; es wurde in Eile ein Willkommen getrunken, und dann zog er mich fort, um mir sein neues Barkschiff „the courser“ zu zeigen. Er hatte es sich nach seinen eigenen Angaben auf dem weltberühmten Klipperplatze von Baltimore bauen lassen und floß des Lobes über, indem er es als den schnellsten Segler der Handelsmarinen aller Nationen bezeichnete. Die Ladung bestand in Waffen und englischen Web- und Eisenwaaren, mit denen er in Tunis ein gutes Geschäft zu machen gedachte. In Antwerpen wollte er noch Spitzen, Zwirn und Gold- und Silbertressen aufnehmen, Artikel, welche von den Mauren und Berbern stets gesucht werden. In Marseille sollten Seidenzeuge, Gerbereiartikel, Bijouterien, Quincaillerien, Seifen und Kerzen dazu kommen. Die schon vorher bestellte Fracht war bald an Bord genommen; dann ging es die Wester-Schelde hinab, in die Nordsee hinein und dem Kanale entgegen.

Turnerstick hatte seinen „Courser“ mit vollstem Rechte gelobt. Die Bark war im Verhältnisse von 1 zu 8 gebaut und zeigte Linien, welche die Bewunderung jedes Sachverständigen erregen mußten. Der Bau des Schiffes bekundete die Geschicklichkeit des Architekten; die Ausrüstung und Einrichtung war bei aller Zweckmäßigkeit so nett, so gefällig, daß der Kapitän wohl stolz darauf sein konnte, der Schöpfer derselben zu sein. Wir hatten ununterbrochen guten Wind, machten eine außerordentlich schnelle Fahrt und legten zwei volle Tage früher, als Turnerstick vorhergesagt hatte, am Port de la Joliette von Marseille an.

Während der Kapitän sich hier zunächst seinen Pflichten zu widmen hatte, wanderte ich in der Stadt umher, um die Sehenswürdigkeiten derselben in Augenschein zu nehmen, die neue, prächtige Kathedrale, die gotische Michaeliskirche, das Hôtel-Dieu und vor allen Dingen die reichhaltige Bibliothek, welche sich in dem herrlichen Gebäude der Ecole des beaux Arts befindet. Dann, als Turnerstick Zeit gewonnen hatte, besuchten wir mit einander denjenigen Ort, für welchen er sich am meisten interessirte, nämlich den zoologischen Garten, welcher hinter dem prächtigsten Bauwerke Marseilles, dem Château d’Eau oder Palais de Longchamp, liegt.

Als wir denselben in seiner ganzen Länge und Breite durchschritten und alle Abteilungen in Augenschein genommen hatten, fühlten wir uns ermüdet und suchten eine Bank, um uns auszuruhen. Wir fanden eine solche unter einer Platane, welche sich an der schmalen Zunge eines dichten, länglichen Bosquets erhob. An der andern Seite desselben erhob sich über den Zweigen des niedrigen Gebüsches ein hölzernes Kreuz mit dem Bilde des Heilandes. Die Inschrift einer daran befestigten Tafel sagte, daß an dieser Stelle einer der Wärter von einem ausgebrochenen Panther zerrissen worden sei; hieran war die Bitte geschlossen, für den Verunglückten zu beten. Wir kamen entblößten Hauptes derselben nach und nahmen dann jenseits des Buschwerkes auf der Bank Platz.

Da wir nicht Sonn-, sondern Wochentag hatten, so war der Besuch des Gartens kein bedeutender, und es kam nur selten jemand an dieser abgelegenen Stelle vorüber. Turnerstick erzählte mir seine neueren Erlebnisse und machte nur einmal eine längere Pause, als er mir eine Zigarre gab und auch sich eine nahm. Während wir dieselben ansteckten, hörten wir infolge der eingetretenen Stille deutlich die Schritte zweier Personen, welche sich hinter dem Gebüsche näherten und bei dem Krucifixe stehen blieben.

„Allah vernichte dieses Land!“ hörte ich den einen in arabischer Sprache sagen. „Überall stehen diese Götzenbilder,

welche dem wahren Gläubigen ein Greuel sind, und vor denen diese Christenhunde die Würde ihrer Häupter entweihen.“

„Vergiß nicht, daß auch ich ein Christ bin!“ antwortete der andere in derselben Sprache, aber so gebrochen, daß zu vermuten stand, er sei gewöhnt, sich der Lingua franca zu bedienen.

„O,“ lautete die Entgegnung, „Du besitzest Klugheit genug, diese Abgötterei für verderblich zu halten. Du bist ein Rumi 1) und magst von dem Baba 2) nichts wissen, welcher in Roma auf seinem falschen Throne sitzt. Die Lehre des Propheten ist die allein richtige. Er hat alles Bildwerk verboten, und wohin der Islam gedrungen ist, hat er die Bilder und Figuren verbrannt und ausgerottet. Kannst Du mit sagen, was unter diesem Kreuze zu lesen steht?“

„Ja. Ein Panther ist aus dem Käfig gebrochen und hat hier an dieser Stelle einen Beamten des Gartens zerrissen. Darum hat man dieses Kreuz errichtet, damit man für den Toten bete.“

Der Sprecher hatte, obgleich Christ, diese Erklärung in lachendem Tone gegeben. Der Moslem meinte in verächtlichem Tone:

„O Allah, was für Dummköpfe diese Christen sind! Sie verdienen, angespieen zu werden. Hat Euer Christ den Mann retten können? Nein! Und nachdem derselbe zerrissen worden ist, setzt man ein Kreuz hierher. Das Gebet kommt zu spät; was kann es nützen!“

„Es ist für das Heil seiner Seele.“

„Laß Dich nicht auslachen! Für die Seele eines toten Christen gibt es kein Heil, denn alle Anhänger dieser Götzendienerei müssen in die Hölle wandern. Wäre ich an der Stelle des Getödteten gewesen, so hätte ich den Namen des Propheten angerufen, und der Panther wäre voller Schreck entwichen. Vor dem Gebete eines Christen aber fürchtet sich keine Katze. Wie machtlos Euer Jesus mit samt Euern Kreuzen ist, werde ich Dir sofort zeigen. Ich will sehen, ob er mich straft, wenn ihm das, was ich jetzt thue, nicht gefällt.“

Er stieß noch einige Lästerungen aus, welche ganz unmöglich zu Papier zu bringen sind, und dabei hörte ich ein Prasseln und Knacken, daß ich annahm, er wolle das Kreuz umstürzen. Ich wollte aufspringen, um ihn zu hindern; aber Turnerstick, welcher die Worte nicht verstanden hatte, hielt mich zurück, um eine leise Erklärung derselben zu erhalten. Ich gab sie ihm kurz und schnell und erhob mich dann, aber zu spät; der in der Erde steckende Teil des Schaftes war angefault; er zerbrach, und das starke und wohl fünf Ellen hohe Krucifix stürzte derart nach unserer Seite herüber, daß es den Kapitän am Kopfe traf. Dieser stieß einen Schrei des Schmerzes und des Ärgers aus, sprang auf und folgte mir schnell um die Ecke des Bosquets nach der andern Seite, wo die beiden Männer standen.

In dem einen erkannte ich infolge seiner Habichtsnase und anderweiten Gesichtsbildung sofort den Armenier. Er trug eine Schaffellmütze, kurze Jacke, weite Hosen und hohe Schaftstiefel; im Gürtel hatte er ein Messer stecken. Der andere war, wie es schien, ein Beduine. Ich schätzte sein Alter gegen fünfzig Jahre. Die lange, starkknochige Gestalt war in einen weissen Burnus gehüllt. Auf dem Kopfe saß der rote Fez, um welchen ein Turbantuch von derselben Farbe gewickelt war. Das hagere Gesicht war dasjenige eines starr und blind gläubigen Muhammedaners. Er zeigte sich über unser Erscheinen gar nicht war erschrocken, sondern blickte uns mit seinen dunkeln, stechenden Augen beinahe höhnisch entgegen.

„Was fällt Euch ein!“ rief der zornige Kapitän in seinem amerikanischen Englisch. „Wie könnt Ihr es wagen, dieses Kreuz um- und auf mich zu werfen!“

„Was will dieser Mann?“ fragte der Moslem, indem er sich an seinen Begleiter wendete, welchen er wohl als Dolmetscher bei sich hatte. An Stelle desselben antwortete ich:

„Du hast soeben etwas gethan, was hier zu Lande streng bestraft wird. Du hast das Bild des Gekreuzigten geschändet, und wenn wir Dich bei der Obrigkeit anklagen, wird man Dich in das Gefängnis werden.“

Er maß mich mit einem vernichtend sein sollenden Blicke vom Kopfe bis zu den Füßen und fragte:

1) Griechisch-schismatisch.  2) Heiliger Vater.

„Wer bist Du, daß Du es wagst, in dieser Weise mit mir zu sprechen?“

„Ein Christ bin ich, und als solcher habe ich die Verpflichtung, eine That, wie die Deinige ist, dem Richter anzuzeigen.“

„Ein Christ bist Du? Und doch sprichst Du die Sprache der Gläubigen wie ein echter Moslem? Dann gleichst Du der Schlange, deren Zunge zwei Spitzen hat und giftig ist. Du kennst mich nicht und wirst auch nie die Gnade erfahren, daß mein Name an Deine Ohren klingt; aber ich sage Dir so viel, daß ich ein Mann bin, welcher gewohnt ist, verächtlich auszuspucken, wenn ein räudiger Christenhund ihn anbellt.“

Er spuckte dreimal vor mit aus, und zwar so, daß er mich beim dritten Male traf. Nun, ich bin ein sehr ruhiger Mensch und pflege mich nicht vom Zorne fortreißen zu lassen; wenn ich einer Beleidigung eine ebenso schnelle, wie kräftige Antwort folgen lasse, so geschieht dies nicht in jäher Aufregung, sondern aus Selbstachtung. Hier nun war nicht bloß ich beleidigt, sondern der Mann hatte des Heiligste, was ein Christ in sich trägt, verhöhnt, und die Art und Weise seines Angriffes ließ keine feine Abwehr, etwa in zierlich gesetzten Worten, zu. Kaum hatte sein Geifer meinen Rock berührt, so saß ihm meine Faust im Gesichte, und er stürzte zu Boden. Er raffte sich schnell auf und griff nach mir, doch schnell hatte Turnerstick ihn beim Nacken, drückte ihn wieder nieder und rief mir zu:

„Charley, holt Polizei! Ich beschlagseisinge indessen dem Kerl die Segel so fest, daß er binnen einer Stunde nicht um einen halben Zoll vorwärts kommen soll.“

Der Dolmetscher war so perplex, daß er sich nicht rührte. Ich zauderte, der Mahnung des Kapitäns Folge zu leisten. Vielleicht hätte ich den Moslem mit der bisherigen Lehre entkommen lassen; aber da näherte sich, gerade wir gerufen, ein Gartenintendant, welcher, als er die ungewöhnliche Gruppe bemerkte, rasch herbeikam und sich nach der Veranlassung erkundigte. Indem Turnerstick mit seinen Seemannsfäusten den Überthäter noch immer fest am Boden hielt, erzählte ich, was geschehen war. Der Dolmetscher versuchte, zu beschönigen, hatte aber angesichts des umgestürzten Kreuzes keinen Erfolg. Das Ergebnis war, daß wir dem Beamten zum Direktor folgen mußten. Dieser nahm meine und des Kapitäns Aussage entgegen und entließ uns dankend; die beiden andern behielt er bei sich, um sie, wie er sagte, streng zu bestrafen.

Wir befanden uns in der Nähe des Ausganges des Gartens, wo es ein Restaurant gab. Dort setzten wir uns im Freien an einen leeren Tisch, um ein Glas Wein zu trinken. Nach ungefähr einer Viertelstunde sahen wir zu unserm Erstaunen die beiden Schuldigen kommen, frei, mit dem Ausdrucke der Befriedigung in den Gesichtern. Sie erblickten uns. Der Muselmann kam herbei, blieb, doch in vorsichtiger Entfernung, vor mir stehen und zischte mich grimmig an:

„Zwanzig Franken Strafe, die schenke ich Frankreich gern; Dir aber ist nichts geschenkt! Du hast einen Moslem geschlagen, und kein christliches Kreuz soll Dich vor meiner Rache schützen!“

Ich that, als ob er gar nicht vorhanden sei, und er entfernte sich in stolzer Haltung und mit so würdevollen Schritten, als ob er als Sieger aus dem Konflikte hervorgegangen sei. Als ich Turnerstick die Drohung übersetzt hatte, meinte er:

„Hätte er das mir gesagt, so hätte ich ihn auf der Stelle niedergesegelt. Nun dampft er, stolz wie eine Panzerfregatte, von dannen, und meint wunder, wie wir uns vor ihm fürchten!“

„Nun, Furcht fühle ich nicht; aber vorsichtig müssen wir sein. Wir befinden uns zwar nicht in einem arabischen Duar 1), sondern hier in Marseille, doch so einem Beduinen ist es zuzutrauen, daß er in seinem Grimme darauf keine Rücksicht nimmt. Nach seiner Anschauung ist ein Faustschlag in das Gesicht nur mit Blut abzuwaschen.“

Nach kurzer Zeit brachen wir auf, um uns nach dem Hafen und auf das Schiff zu begeben. Da sahen wir unsere beiden Feinde in einem Durchgange stehen. Sie ließen uns vorüber und folgten uns dann. Wir machten verschiedene Schwenkungen und Umwege, doch es gelang uns nicht, sie von unserer Spur abzubringen. Sie sollten unsern Aufenthalt nicht erfahren. Turnerstick schlug als Mittel zu diesem Zwecke

1) Zeltdorf.

vor, nach Schloß If zu rudern. Er hatte zur See in unbeschäftigten Stunden den „Graf von Monte Christo“ von Dumas gelesen und wünschte, das unterirdische Gefängnis des Helden dieses Romanes zu sehen. Es befindet sich auf Schloß If und wird jedermann gegen ein geringes Entgelt gezeigt. Ich mag Dumas’ Romane nicht, aber da sich dort auch das Zimmer befindet, in welchem Mirabeau im Jahre 1774 gefangen saß, so willigte ich ein. Wir nahmen also ein kleines Boot, um den Vorschlag des Kapitäns auszuführen und dadurch die beiden Verfolger von uns abzubringen.

Turnerstick interessierte sich so für seinen unmöglichen Grafen von Monte Christo, daß er nur schwer aus dem angeblichen Kerker desselben fortzubringen war. Und der Mann, welcher uns das Loch zeigte, wußte so viel zu erzählen, daß es fast dunkel geworden war, als wir wieder von der Insel du château d’If abstießen. Der Kapitän führte das Steuer; der Besitzer des Bootes und ich, wir ruderten.

Zu bemerken ist, daß die Insel If zwei Kilometer von der Küste liegt, die Entfernung bis zu unserm Schiffe im Port de la Joliette aber das Doppelte betrug. In der Stadt brannten schon die Laternen; wir sahen ein weitgestrecktes Lichtmeer vor uns liegen. Die See war ruhig; es war die Zeit zwischen Ebbe und Flut; dennoch war in unserer Nähe kein Boot zu sehen. Aber bald brummte der Kapitän:

„Warum weicht uns der Kerl nicht aus? Er liegt grad in unserm Kurse und rührt sich nicht von der Stelle.“

Er, der vorwärts gerichtet saß, mußte also ein Boot vor uns gesehen haben. Wir beiden andern saßen rückwärts. Er legte das Steuer etwas über, um vorbei zu kommen, rief aber schon nach wenigen Ruderstrichen dem andern Boote zornig zu:

„Was ist das? Bist Du blind? Halte Dich mehr backbord, sonst rennen wir zusammen!“

Jetzt schaute ich mich um. Ich sah ein Boot kleinster Größe, in welchem nur ein Mann saß; er war dunkel gekleidet. Wir kamen so dicht an ihm vorbei, daß ich sein Boot hätte mit der Hand erlangen können. Als er sich weit herüber bog, glaubte ich das Gesicht des Muselmannes zu erkennen; aber dieser hatte ja einen weißen Burnus angehabt! Er lenkte nun schnell um und ruderte uns aus Leibeskräften nach. Das war höchst verdächtig. Warum hatte er wie wartend auf unserm Kurse gehalten und sich dann so weit nach uns über Bord gebogen? Hatte er etwa sehen wollen, wo ich saß? Jetzt hatte er uns erreicht. Er zog das rechte Ruder ein, griff neben sich nieder und hob dann den Arm, um denselben grad gegen mich zu richten. Ich warf mich blitzschnell von meinem Sitze auf den Boden des Bootes, und da krachte auch schon ein Schuß, welchem augenblicklich ein zweiter folgte.

„Hollah, was ist das!“ rief Turnerstick. „Hier wird geschossen?“

„Der Moslem ists,“ antwortete ich. „Nehmen wir ihn fest! Er hat zwei Schüsse abgegeben und also keine Kugel mehr.“

Well! Werden dafür sorgen, daß er überhaupt nicht mehr schießt. Legt Euch ins Zeug; alle Kraft aufs Ruder!“

Dadurch, daß ich mich niedergeworfen und also die Riemen losgelassen hatte, waren wir aus der Fahrt gekommen und hatten halb gewendet; ich sah, daß der Attentäter sich außerordentlich ins Zeug legte, um davon zu kommen. Unser Bootsmann war in Folge der Schüsse vor Schreck sprach- und bewegungslos gewesen; jetzt aber arbeitete er, als gelte es, einem Teifun zu entgehen. Ich strengte mich ebenso an, und so schoß unser Fahrzeug dem Flüchtigen pfeilschnell nach. Ich konnte den letzteren, eben weil ich rückwärts saß, nicht sehen, doch bemerkte ich so viel, daß Turnerstick nicht in gerader Richtung steuerte, sondern einen Bogen beschrieb.

„Rudert der Mensch denn im Kreise?“ fragte ich ihn. „Oder macht Ihr aus irgend einem Grunde einen Umweg?“

„Werdet den Grund gleich sehen, hören und auch fühlen,“ antwortete er. „Arbeitet nur so weiter; sehr Euch nicht um, und fallt nicht von den Bänken!“

„Von den Bänken? Also ein Zusammenstoß? Ihr wollt ihn in die See werfen? Soll er ertrinken? Das dulde ich auf keinen — — —“

Ich kam nicht weiter, denn der Kapitän unterbrach mich, indem er das Steuer noch fester in die Hand nahm und dem Boote eine kurze Wendung gab.

„Halloh! Nicht muxen, sondern rudern! Wir haben ihn. Drauf, drauf!“

„Allah kerihm, Allah kerihm!“ erklang vor uns die Stimme des Verfolgten.

Er wollte ein drittes Allah rufen, doch gab es in demselben Augenblicke einen Krach, und unser Boot hob sich vorn, so daß wir beinahe von unsern Sitzen fielen.

„Ruder einziehen!“ kommandierte Turnerstick. „Und aufpassen, wenn sein Kopf erscheint!“

Er hatte seinen Zweck erreicht; wir waren dem Boote des Muselmannes in die Seite gefahren und hatten es umgestürzt; es schwamm kieloben neben dem unserigen. Wir paßten auf, wo der in das Wasser Gestürzte erscheinen werde — vergeblich. Einmal war es mir, als ob in der Ferne ein runder Gegenstand, wie ein Menschenkopf, auf der Oberfläche erscheine, aber das mußte eine Täuschung sein. So weit von der Unglücksstelle konnte nur ein ausgezeichneter Schwimmer sich, ohne Atem zu holen, unter dem Wasser entfernen.

„Vielleicht steckt er unter seinem Boote,“ meinte Turnerstick. „Wollen es umwenden.“

Wir brachten dies unschwer fertig. Der Verschwundene war nicht zu sehen. Aber sein Obergewand, welches er abgelegt gehabt hatte, war an der Riemengabel hängen geblieben; als wir es untersuchten, sahen wir, daß es ein weißer Burnus war. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, daß wir es wirklich mit dem Moslem zu thun gehabt hatten. Er war uns gefolgt und hatte beobachtet, daß wir nach dem Schlosse If gefahren waren. Dies hatte ihn auf den Gedanken gebracht, uns während der Rückfahrt aufzulauern und mir eine Kugel zu geben. Um dabei keinen Zeugen zu haben, hatte er den Dolmetscher nicht mitgenommen. Da er auf ein Mißlingen gefaßt gewesen sein mußte, so ließ sich mit Bestimmtheit sagen, daß er nicht nur ein verwegener Mensch, sondern auch ein sehr guter Schwimmer sei. Vielleicht war der runde Gegenstand, den ich gesehen hatte, doch sein Kopf gewesen.

Wir blieben wohl eine halbe Stunde auf derselben Stelle. Wir ruderten hin und her, ohne eine Spur von ihm zu finden. Ich hatte gesehen, daß sein Kopf unbedeckt gewesen war. Wo hatte der Mann seinen Turban gelassen? Jedenfalls hatte derselbe mit dem Burnus im Boote gelegen und war untergesunken. Mit diesem Ausgange des Abenteuers unzufrieden, konnte ich gegen Turnerstick den Vorwurf nicht unterdrücken:

„Warum mußtet Ihr ihn anrammen? Gab es denn keine andere Weise, sich seiner zu bemächtigen?“

„O doch! Aber wer Pistolen bei sich führt, der hat wahrscheinlich auch ein Messer. Hätten wir nach ihm gegriffen, so wäre er im Stande gewesen, nach uns zu stechen. Warf ich ihn aber in das Wasser, so mußte er froh sein, durch unsere Hände herausgezogen zu werden.“

„Wir brauchten sein Messer nicht zu fürchten. Wäre er von uns an das Ufer getrieben worden, so hätte es dort Polizei und auch sonst hunderte von Händen gegeben, um ihn festzuhalten.

„Das ist richtig; daran habe ich nicht gedacht. Vielleicht bin ich zum Mörder geworden. Das ist keineswegs ein angenehmes Gefühl. Aber wenn ich bedenke, daß er Euch Rache geschworen und dann auf Euch geschossen hat, so meine ich, daß ich mir keine schweren Vorwürfe zu machen brauche. Der Kerl ist in seine eigene Grube gefallen und drin ertrunken.“

Messieurs,“ ließ sich jetzt der Bootsmann vernehmen, „es ist am besten, wir gehen ans Land und begraben diese Angelegenheit in tiefes Schweigen. Das ist der Rat, den ich Ihnen, auch um meinetwillen, geben muß.“

Er hatte Recht, und wir führten seinen Vorschlag aus. Als wir dann den Port de la Joliette erreichten und die Reihe der hier neben einander liegenden Schiffe passierten, kamen wir an einer Brigg vorüber, an deren Seite das Fallreep niederhing. Daran stieg soeben ein langer, barhäuptiger Mann empor, dessen dunkle Hose und Jacke sich vor Nässe eng an seinen Leib gelegt hatten.

„Sollte das unser Mann sein?“ fragte Turnerstick. „Ich habe diese Brigg gestern betrachtet; sie hat zwei Namen, nämlich einen französischen, „Le vent“, und einen, den ich wegen der fremden Schrift nicht lesen konnte. Morgen früh wollen wir uns einmal genauer unterrichten.“

Aber am andern Morgen war die Brigg in See gegangen. Wir erkundigten uns und erfuhren, daß sie ein tunesisches Schiff sei. Die fremde Schrift hatte arabisch „El Hawa“ gelautet, was ganz dasselbe wie das französische „Le vent“, nämlich „der Wind“ bedeutet. — — —

Zweites Kapitel.

Illustration2

Goldene See! Kein anderer Teil des Weltmeeres verdient diese Bezeichnung in dem Grade wie das mittelländische — wenn es nicht, vom Sturme aufgewühlt, seine Wogenkämme auf die nahen Küsten schleudert. Steht die Königin des Tages hoch am Himmel, so liegt die Flut wie reines Himmelblau vor, hinter und neben dem Kiele und ist doch so durchsichtig, daß man bei einem vorüber segelnden Schiffe die neue Kupferung emporleuchten sieht. Wenn dann die Sonne sich senkt, so nehmen die Wasser immer hellere, goldenere Töne an, bis bei Sonnenuntergang mächtige mit purpurnen Lichtern vermischte Strahlenbündel, so weit das trunkene Auge reicht, über die leicht gekräuselten Wellen schießen. Dazu ist die Luft so rein, so mild und erfrischend, daß die Lunge tiefer atmet und die Brust des Menschen in einem seltenen Wohlgefühle schwillt.

Das hatte ich früher beobachtet und beobachtete es auch jetzt wieder. Ich saß unter dem Deckzelte und verzichtete stundenlang auf die anderorts unvermeidliche Cigarre, nur um die herrliche Seeluft rein und unvermischt zu atmen.

Nicht so guter Laune war der Kapitän. Er kümmerte sich nicht um das Wohlgefühl einer Landratte, wie ich war, sondern er ging mit zusammengezogenen Brauen auf und ab, betrachtete bald die See und bald den Himmel und murmelte halblaute Worte vor sich hin. Der Mann am Steuer machte ein ebenso griesgrämliches Gesicht, und die Deckhands lagen hier und dort gähnend auf den Planken, schoben ihre Priemchen aus einer Backe in die andere und warfen einander gelangweilte oder gar bedenkliche Blicke zu.

„Was gibt es denn? Was ist los, Kapt’n?“ fragte ich Turnerstick. „Ihr kaut an einer Sache, welche Euch nicht schmeckt.“

„Was los ist?“ antwortete er, indem er zu mir unter das Zelt trat. „Nichts ist los, leider, leider; aber es kann leicht etwas losgehen.“

„Was denn? Etwa ein Sturm? Es scheint ja alles ganz vortrefflich und gut zu sein.“

„Es scheint, ja, das ist richtig; aber es scheint auch nur. Ein ewig lächelndes Gesicht ist ein falsches, ein heimtückisches Gesicht. So ists auch mit dieser alten See. Wenn die Matrone nur immer lacht und lacht, so kann man darauf schwören,

daß sie ganz plötzlich tüchtig zu keifen beginnt. Als wir Frankreich hinter uns ließen, hatten wir Nordwest; gut, das ist ein schöner Wind, um von Marseille aus in See zu gehen. Aber Nordwest und stets Nordwest, das ist hier, wo die Winde häufig wechseln, bedenklich.“

„Aber es ist ja grad der Wind, den wir für unsern Kurs brauchen!“

„Sehr richtig! Wir machen eine ausgezeichnete Fahrt und könnten fast mit einem Steamer um die Wette gehen; jedoch mir wäre es weit lieber, wenn dieser Wind ein wenig schraalen wollte. Das ists, was mir und meinen Jungens die Laune verdirbt. Dazu kommt die Geschichte mit diesem verteufelten Muselmanne. Ich werde den Gedanken nicht los, daß ich sein Mörder bin.“

„Auch ich mache mir Vorwürfe. Wie schon gesagt, wir hätten ihn nicht rammen, sondern an das Land treiben sollen.“

„Besser wäre das gewesen, viel besser. Nun haben wir zwar seinen geretteten Burnus an Bord, ihn aber frassen wahrscheinlich die Fische. Ich gäbe einen Finger, oder auch zwei, meiner Hand darum, wenn diese Geschichte nicht geschehen wäre. Sogar des Nachts im Träume erscheint mir dieser Mensch, nur um mich um mein gutes Gewissen zu bringen. Vielleicht wird es am Lande anders; an Bord ists so einsam.“

„Wann denkt Ihr, daß wir Tunis erreichen?“

„Morgen Abend, wenn der Wind so stehen bleibt. Wollen hoffen, daß er uns nicht betrügt.“

Er verließ das Zelt, schritt wieder einige Male hin und her und blieb dann stehen, um den Horizont zum tausendsten Male zu mustern. Dabei gab er seinem Kopfe plötzlich einen Ruck in die Höhe, hielt die Hand über die Augen, sah scharf nach Westen und sagte dann zu mir:

„Da haben wir es! Ich werde wohl Recht bekommen. Da hinten braut sich etwas zusammen, was uns keinen Spaß machen wird.“

Ich trat ins Freie und blickte in die angegebene Richtung. Dort gab es an dem sonst völlig ungetrübten Himmel ein kleines, lichtes Wölkchen von der scheinbaren Größe einer Wallnuß. So wenig Seemann ich war, ich hatte doch erfahren, daß ein so winziges Gebilde im stande ist, in kürzester Zeit den ganzen Himmel in Finsternis zu hüllen.

„Ja, ja; das ists,“ nickte Turnerstick. „In einer Stunde geht es los, wenn nicht noch früher. Wir wollen unsere Vorbereitungen treffen, und ich hoffe, daß mein „Courser“ die Probe leicht bestehen wird.“

Das Zelt wurde unter Deck gebracht und alles Bewegliche fest gemacht. Noch ließ er das Schiff unter voller Leinwand gehen; aber als nach einer Viertelstunde das ursprüngliche Wölkchen sich wie eine schwarze Wand über den ganzen westlichen Horizont ausgebreitet hatte, gab er den Befehl, zu reffen. Das Unwetter kam doch nicht so schnell, als er vermutet hatte. Es dauerte noch eine Stunde, ehe die Wolkenwand den dritten Teil des Himmels einnahm. Jetzt wurden die großen Segel beschlagen und der Brigg nur diejenige Leinwand gelassen, welche sie brauchte, um dem Steuer gehorchen zu können.

Es war gegen Abend, eine bedenkliche Zeit. Auf einem so eng begrenzten Meere ist ein Sturm des Nachts weit gefährlicher als am Tage. Das wußte selbst ich. Doch hatte ich keine Sorge, denn die Bark war ein Prachtschiff und Turnerstick ein Seemann, dem man sich recht wohl anvertrauen konnte.

Jetzt verdunkelte sich der Himmel schneller, und nun kamen Mutter Kareys Küchlein gehüpft. So nennt der Seemann diejenigen kurzen Wellen, welche einer vom Sturme aufgeregten See vorangehen. Diesen Küchlein folgten hohe Wellen; der Wind nahm an Stärke zu, und aus den Wellen wurden Wogen — der Sturm war da.

Er fegte über das Deck, daß man sich sehr fest anhalten mußte, um nicht fortgerissen zu werden. Die Bark flog unter ihrer kleinen Leinwand vor ihm her, bald hoch oben, bald unten in der Tiefe des Wellenthales. Es war so dunkel geworden, daß man kaum fünf oder sechs Schritte weit zu sehen vermochte.

„Charley, geht in die Kajüte!“ riet mir der Kapitän während einer Pause, in welcher der Sturm Atem holte.

„Ich bleibe oben,“ antwortete ich.

„Ihr werdet weggespült!“

„Ich binde mich am Maste fest.“

„Unsinn! Ich befehle es Euch, und Ihr habt zu gehorchen. Marsch fort, hinab!“

Da nahmen mich zwei Matrosen, einer rechts und der andere links. Jede ihrer Hände hatte einen Durchmesser wie meine beiden in Summa. Sie führten mich zur Treppe, stopften mich hinab und warfen die Luke über mir zu. Gegenwehr wäre da vergeblich, ja lächerlich gewesen. Nun saß ich, da alle Mann an Deck beordert waren, ganz allein da unten und hörte die Wut der Elemente sich an den dünnen Wänden brechen. Das war ein Pfauchen und Zischen, ein Sausen und Brausen, ein Heulen und Toben, von dem nur derjenige eine Ahnung hat, der zur See gewesen ist. Das Schiff krachte in allen Fugen. Der Donner schlug, prasselte und rollte unaufhörlich, und die Blitze schienen ein wahres Haschen um das Schiff zu halten.

Die Minuten wurden mir zu Wochen und die Viertelstunden zu Jahren. Ich glaubte, diese Einsamkeit in dem engen Raume nicht ertragen zu können, und mußte doch aushalten. Nach drei oder vier Stunden schien das Tosen ein wenig nachzulassen, und da kam Turnerstick herab. Er war fadennaß und sah aus, als ob er direkt aus der Tiefe des Meeres komme, doch sein Gesicht strahlte förmlich vor Vergnügen.

„Alles vortrefflich,“ lachte er mir zu. „Mein „Courser“ macht seinem Namen Ehre und geht wie ein richtiges Rennpferd durch die Wogen.“

„So ist nichts zu befürchten?“

„Gar nichts. Wir haben einige Sturzseen bekommen; das ist alles. Es ist nur ein kleines Stürmchen gewesen. Freilich muß ich vorsichtig sein, da die Abtrift nicht zu vermeiden war. Wir befinden uns zwischen Kap Teulada und Cap de Fer und können leicht auf die Untiefen von Galita getrieben werden. Der Wind hat sich gedreht; er bläst aus Südsüdwest, und so werde ich beilegen, um möglichst Kurs zu halten. Der Sturm hat keine Dauer; es war nur eine längere Donnerbö, welche wenig Wasser brachte. In zwei Stunden bin ich wieder da, um einen Grog zu trinken, den Ihr mir und Euch brauen könnt.“

Er ging wieder nach oben. Ein kleines Stürmchen! Der Mann drückte sich ja recht bescheiden aus. Aber er behielt Recht. Als die angegebene Zeit vorüber war, hörte das wilde Toben der Elemente auf; der Donner schwieg, und der Wind blies steif und ohne Intervalle aus einem Punkte. Turnerstick kehrte zurück, um seinen Grog zu trinken, und gab mir die Erlaubnis, wieder nach oben zu gehen.

Da sah es freilich ganz anders aus als während der vergangenen Nächte. Noch war der Himmel wolkenschwarz; ebenso schwarz stiegen die Wogen am Schiffe empor, um phosphorescirenden Gischt aufs Deck zu spritzen. Ja, der Sturm, die Bö war vorüber, aber die See tobte noch fort. Die Hälfte der Mannschaft durfte hinab; die andern blieben oben; alle aber bekamen als Belohnung für die Anstrengung eine Doppelration Rum. Der pflichtgetreue Turnerstick blieb auch oben; ich konnte nichts nützen und ging also nach einiger Zeit wieder hinab, um mich niederzulegen.

Als ich geweckt wurde, glaubte ich, kaum eine Stunde geschlafen zu haben; aber der Tag war da, und als ich an Deck kam, sah ich über mir den frischen, unbewölkten Morgenhimmel und rund umher eine fast ganz beruhigte See.

„Es ist glücklich überwunden, und wir befinden uns wieder in voller, richtiger Fahrt,“ meinte Turnerstick. „Ob aber alle Schiffe so glücklich wie wir gewesen sind, das bezweifle ich. Darum halte ich jetzt auf Galita und Fratelli zu, um zu sehen, ob sich vielleicht Einer auf den dortigen Felsen festgefahren hat.“

Wie glücklich dieser sein humaner Gedanke war, das sollte sich schon nach kaum zwei Stunden zeigen. Um diese Zeit nämlich meldete der Mann am Ausguck ein Wrack in Sicht. Wir richteten die Rohre auf dasselbe, und zugleich gab der Kapitän den Befehl, beizudrehen und das Lot auszuwerfen. Das Lot ergab neunzig Faden, so daß es gefährlich erschien, sich dem Wrack noch mehr zu nähern. Dieses ragte als dunkler, dreieckig erscheinender Körper aus dem Wasser. Von Masten war nichts zu sehen; auch waren wir zu weit entfernt, als daß wir selbst durch das Rohr einen Menschen hätten entdecken können. Turnerstick ließ dessenungeachtet das

große Boot nieder; es wurde mit den nötigen Ruderern unter dem Befehle des Steuermannes bemannt, und ich erhielt die Erlaubnis, mitzugehen.

Je näher wird dem Wracke kamen, desto deutlicher sahen wir es. Nun erkannten wir es als das Vorderteil eines Schiffes, dessen Mittel- und Hinterteil ganz unter Wasser lag. Die Masten waren mit der ganzen Tackelung über Bord gegangen; auch der Klüverbaum war abgebrochen.

„Was für ein Fahrzeug mag das gewesen sein?“ fragte ich den Steuermann.

„Das kann niemand sagen,“ antwortete er. „Man sieht ja nur den halben Bug und das Spriet. Werden es aber bald erfahren, denn, wie mit scheint, gibt es Menschen darauf.“

Ja, es gab Menschen; ich konnte sie durch das Rohr zählen; es waren ihrer nur drei. Sie sahen uns kommen und winkten unausgesetzt mit den Händen. Der Bug des Fahrzeuges ragte so weit aus dem Wasser, daß der daran befindliche Name zu sehen war. Wie erstaunte ich, als ich einen doppelten Namen las, nämlich in großer Firmenschrift „Le vent“ und in arabischer Schrift „El Hawa“. Das war also die tunesische Brigg, welche Marseille für uns zu früh verlassen hatte. Und bald verwandelte sich mein Erstaunen in Freude; mein Herz wurde leicht, denn in dem einen Manne, welcher, um zuerst gesehen zu werden, auf dem Bugspriete ritt, erkannte ich unsern totgeglaubten Muselmann und Pistolenattentäter. In diesem Augenblicke war ihm Alles vergeben, denn wir waren nun keine Mörder und konnten uns mit ruhigen Gewissen schlafen legen.

Glücklicher Weise gab es keine starke Brandung; es gelang uns unschwer, das Boot an das Wrack zu bringen. Das Wasser stand bis zur Kistlucke nach vorn; darum war es vollständig unmöglich, in das Schiffsinnere zu dringen, um von dort etwas zu bergen. Wir mußten uns auf die Erlösung der drei Männer beschränken.

Was in dem Innern des Muselmannes vorging, das konnte ich nicht sehen. Er that, als ob er mich nicht kenne; ja, er that, als ob ich gar nicht vorhanden sei. So, wie er jetzt im Boote vor mir saß, mit durchnäßter Hose und Jacke, glich er genau der Person, welche am Fallreep der Brigg emporgestiegen war. Er wechselte einige leise Worte mit den beiden andern, worauf mich diese verstohlen aber forschend betrachteten. Der Steuermann legte ihnen unterwegs einige Fragen vor, erhielt aber eine murmelnde Antwort, welche selbst ich nicht verstehen konnte. Was mich betrifft, so beschloß ich, für jetzt zu schweigen, um zu sehen, wie der Mann sich benehmen werde.

Man kann sich die Freude Turnerstick’s denken, als er sah, wen wir brachten.

„Charley,“ rief er mir entzückt zu, „nun ist alles gut. Der Kerl wird, da ich ihn am Tage sehe, mir nun nicht mehr des Nachts im Traume erscheinen. Ists sein Prophet, dem wir den Schiffbruch zu verdanken haben, so will ich ihn loben. Allah il Allah, allüberall Allah!“

Natürlich mußten die Geretteten ausgefragt werden. Turnerstick that dies in seiner Art und Weise, erhielt aber nur die stete Antwort „non comprendre“ und „no capire“. Er war also gezwungen, die Erkundigung mir zu überlassen. Die zwei Matrosen gaben sich für Tunesier aus, sprachen aber so verkehrt arabisch, daß ich sie für Griechen und nebenbei für Schurken hielt, welche allen Grund hatten oder wenigstens von dem Moslem beredet worden waren, die Wahrheit zu verschweigen. Sie nannten mir den Namen des Rheders in Tunis, welchem das Schiff gehört hatte, und erzählten mir auch, wie dasselbe auf den Grund geraten war. Ihrem Bericht nach schien der Kapitän ein unfähiger Mensch gewesen zu sein; ich aber hatte große Lust, ganz andere Gedanken zu haben. Es handelte sich vielmehr wohl um einen freiwilligen Schiffbruch zur Erreichung der hohen Versicherungssumme; der plötzlich eingetretene Sturm aber hatte Ernst gemacht und außer den von uns geretteten Dreien der ganzen Bemannung das Leben gekostet.

„Und wer ist dieser Mann, von welchem Ihr bis jetzt noch gar nicht gesprochen habt?“ fragte ich die Zwei, indem ich auf den Moslem deutete.

„Wir wissen es nicht,“ war die Antwort.

„Ihr müßt es wissen, da er mit Euch gefahren ist!“

„Nein. Wir kennen ihn nicht, denn er war Passagier und hat nur mit dem Kapitän gesprochen.“

„Aber Ihr habt gehört, wie er von dem letzteren genannt wurde?“

„Er sagte stets nur Sahib 1) zu ihm.“

Nun wendete ich mich an den Betreffenden direkt, indem ich ihn nach seinem Namen fragte. Sein Anzug bestand nur aus dem Hemde, der Hose und der Jacke; alles Übrige hatte er während des Schiffbruches im Sturme verloren; seine Füße waren nackt und sein geschorenes Haupt entbehrte der Bedeckung, ohne welche der Moslem sich vor keinem Menschen sehen läßt. Dennoch hatte er sich seitwärts von uns niedergesetzt und eine Haltung angenommen, als ob er der Gebieter unseres Schiffes sei. Ich mußte meine Frage wiederholen, ehe er antwortete:

„Ist es bei den Franken Sitte, den Gast sofort nach seinem Namen zu fragen? Wie sehr entbehren diese Christen doch der Höflichkeit!“

„Meine Frage war im höflichsten Tone ausgesprochen. Das Gesetz hat mich gezwungen, sie zu thun. Alles, was an Bord geschieht, muß in die Schiffsbücher eingetragen werden.“

„Sofort?“

„Ja.“

„Auch mein Name?“

„Gewiß.“

„So schreibe Ibrahim.“

„Wie noch?“

„Weiter nichts.“

„Dein Stand und Deine Heimat?“

„Ich lebe von dem, was ich besitze, und wohne in Tunis.“

„Das wird genügen.“

„So laß mich nun in Ruhe!“

Er sagte das in strengem, abweisendstem Tone; ich fuhr ruhig fort:

„Deine Güte wird mir erlauben, noch eine Erkundigung einzuziehen. Du warst in Marseille?“

„Ja.“

„Hast Du da den Tiergarten besucht?“

„Nein.“

„Bist Du nicht zwischen Schoß If und dem Port de la Joliette mit dem Kahne verunglückt?“

„Ich weiß nichts davon.“

„Erinnerst Du Dich auch nicht, mich dort gesehen zu haben?“

„Ich sah Dich noch nie; ich kenne Dich nicht und habe auch nicht Lust, mit einem Christen Bekanntschaft zu machen.“

„Das hättest Du früher sagen sollen; dann hätten wir Dich auf dem Wrack zurückgelassen.“

„Allah wird mit die Berührung mit den Ungläubigen verzeihen; er ist groß, und Muhammed ist sein Prophet. Habt Ihr mich nach Tunis gebracht, so werde ich nach dem heiligen Keruan pilgern, um wieder rein zu werden.“

Keruan oder Kairwan ist eine tunesische Stadt, welche kein Nichtmuhammedaner betreten darf. Die dortige Okba-Moschee ist die heiligste in den Berberstaaten, und in ihr liegt El Waid, Muhammeds Busenfreund und Gefährte, begraben.

Schon wollte ich mich von dem Moslem abwenden, da fügte er hinzu:

„Du wirst mir die Kajüte überlassen, und mir Fleisch, Mehl, Datteln und Wasser geben, welches kein Ungläubiger berührt hat. Ich will abgeschieden wohnen, um Euern Augen zu entgehen, denn die Blicke der Christen verunreinigen den Leib des Gerechten.“

Sollte ich diesen Menschen auslachen oder ihm meine Hand abermals zu fühlen geben? Keins von beiden. Zum Lachen ärgerte ich mich zu sehr, und zum Schlagen war mir meine Hand denn doch zu wert. Darum antwortete ich ihm sehr freundlich:

„Willst Du nicht in die See geworfen werden, so begnüge Dich mit dem Platze, auf welchem Du jetzt sitzest. Du hast ihn ja selbst gewählt. Das Essen und Trinken wirst Du mit den Matrosen bekommen, welchen Du Dein Leben zu verdanken hast. Der Gerettete darf sich nicht besser und höher dünken, als derjenige, der ihn gerettet hat.“

1) Freund, Herr.

Da flammte sein Auge auf, und als ob ich ein Hund sei, schnauzte er mich an:

„Wer hat mich gerettet? Sage es! Als ich über den Wassern hing, habe ich gerufen: „Sa’id’ni ja nebi, ja Muhammed!“ 1) Da sandte er Euch, um Euch zu begnadigen, mir die Hand zu reichen.“

„Warum sandte er Dir keine Muslim?“

„Weil keine in der Nähe waren.“

„So ist unser Jesus, den Du gelästert hast, mächtiger als er, denn er führte uns in Deine Nähe. Wir sind fertig mit einander, und zwar, hoffe ich, für immer!“

„Noch nicht. Du gehst nach Tunis, und ich wohne dort. Wir treffen uns noch! Jetzt aber wirst Du mir etwas geben, um die Blöße meines Hauptes und meiner Füße zu bedecken!“

Das war geradezu frech. In demselben Atem, in welchem er mich beleidigte und mir drohte, verlangte er Gefälligkeiten, und zwar in welchem Tone! Daher lautete mein Bescheid:

„Das kann ich nicht, da Du behauptest, daß alles, was aus der Hand eines Christen kommt, Dich beschmutze.“

„Willst Du, daß ich mit unbedecktem Schädel in Tunis aussteige!“

„Nein. Ich will barmherzig sein und Deinen Glauben achten, welcher Dir verbietet, den nackten Kopf sehen zu lassen. Du sollst eine Hülle haben; diese hier; sie ist ja Dein Eigentum.“

Ich hatte gesehen, daß Turnerstick nach dem weißen Burnus geschickt hatte; diesen gab ich dem Moslem hin. Er nahm ihn, ohne daß ein Zug seines Gesichtes sich veränderte, und sagte:

„Das ist das Gewand eines Gläubigen; ich darf es nehmen. Schuhe wird mir einer der beiden Matrosen leihen. Deine Seele und Dein Leben aber sei wie der Rauch des Feuers, welcher entweicht, ohne zurückzukehren!“

Dem Kapitän erging es ebenso wie mir. Als ich ihm alles Gesprochene übersetzte, wußte er nicht, ob er diesen Menschen über Bord werfen lassen oder einfach auslachen solle. Er war mit dem, was ich bestimmt hatte, vollständig einverstanden. Der unverschämte Patron mußte auf die Kajüte verzichten; aber er begehrte auch kein Essen und kein Wasser. Er hatte den Burnus zerrissen und die Hälfte desselben sich um den Kopf gewickelt. An die Füße steckte er die geborgten, niedergetretenen Schuhe, welche kaum mehr Pantoffel genannt werden konnten. So saß er steif und unbeweglich auf seinem Platze und starrte in das Weite, scheinbar unbekümmert um alles, was um ihn vorging.

Von dem Augenblicke an, in welchem die Geretteten an Bord kamen, waren wir wieder mit vollen Segeln gegangen. Kurz nach Mittag doublierten wir das Vorgebirge Sihdi Ali, und wenig vor Abend hatten wir das Kap Karthago hinter und den Hafen von Goletta, dem Vororte von Tunis, vor uns. Bald darauf ließen wir im Handelshafen, welcher sich an der Südseite des Kriegshafens befindet, die Anker fallen. Nun bewegte sich der Moslem zum ersten Male. Er trat zu Turnerstick und mir und befahl, indem er auf seine beiden Matrosen zeigte:

„Ihr werdet sofort mit diesen Leuten zu Eurem Consul gehen und bestätigen, daß die Brigg untergegangen ist! Der Consul wird seine Unterschrift geben.“

Da legte ich ihm die Hand auf die Schulter und antwortete:

„Und was wirst Du inzwischen thun?“

„Ich gehe ans Land.“

„Meinst Du, daß wir es Dir erlauben?“

„Erlauben? Ihr habt mir nichts zu erlauben und nichts zu verbieten. Ihr seid hier fremd, und ich bin Herr.“

„Umgekehrt! Du befindest Dich auf diesem Schiffe; da bist Du fremd und wir sind die Herren. Wir haben das vollste Recht, Dich als einen Mörder hier zurückzuhalten, bis unsere Consuln ihre Verfügung treffen. Oder bist Du noch immer so feig, zu leugnen, daß Du auf mich geschossen hast?“

Es war ein unbeschreiblich stolzes und hochmütiges Lächeln, welches über sein Gesicht glitt, als er antwortete:

„Ich feig? Ihr Würmer! Ja, ich habe auf Dich geschossen und werde es wieder thun, sobald Du es wagest, mir zu begegnen. Nun behalte mich zurück! Ich sage Dir, ich brauche nur meine Stimme zu erheben, so sind hundert Männer -

1) Rette mich, o Prophet, o Muhammed!

Männer da, um mich mit Ehren von hier abzuholen. Noch weißt Du nicht, wer ich bin, und wehe Dir, wenn Du mich kennen lernst!“

„Pah! Ich kenne Dich. Daß Du mir nicht Deinen wahren Namen und Stand genannt hast, das habe ich sofort gewußt. Sei, wer Du willst, wir fürchten Dich nicht. Wenn wir Dich festhalten wollten, so würden Deine Hundert uns nicht hindern können. Wir haben noch ganz andere Männer, als Du bist, vor uns gehabt und ihnen Achtung eingeflößt. Aber wir sind Christen, und unser Glaube gebietet uns, selbst unsern Feinden wohlzuthun. Darum wollen wir Dir den Mordanschlag verzeihen und Dich in Frieden ziehen lassen. Du kannst gehen!“

„Ja, Ihr seid Christen,“ lachte er höhnisch, „Christen, welche erst dann für einen Menschen beten, wenn er von dem Panther zerrissen worden ist. Eure Lehre ist lächerlich und Euer Glaube eitel. Eure Priester verkünden die Unwahrheit, und Ihr glaubt, was sie Euch sagen. Ich verachte Euch und werde Euch zertreten, wenn Ihr es wagt, mir wieder vor die Augen zu treten!“

Den rechten Arm wie zum Schwure erhebend, ging er mit dieser Drohung von Bord. — —

Drittes Kapitel.

Illustration3

Die Zeiten verändern sich und die Menschen und Völker mit ihnen. Die Wahrheit dieses Wortes erkennt man sofort, wenn man den Fuß auf die Erde Nordafrikas setzt. Noch ists nicht lange her, so zitterten die schifffahrenden Völker Europa’s vor den Raubfeluken der Barbareskenstaaten. Die Angehörigen civilisirter Nationen wurden ohne Erbarmen ausgeraubt und getötet oder in lebenslängliche Sklaverei geschleppt. Da gab es keine Hilfe, als nur diejenige des Loskaufes um sehr hohe Summen, um teures Geld. Da trotzte der Halbmond dem Kreuze, und der Bey oder Dey eines kleinen Räuberländchens spottete der mächtigen Fürsten und Könige, welche Armeen aus der Erde stampften, um — — sich unter einander zu bekämpfen.

Wie ganz anders heute, nach verhältnismäßig so kurzer Zeit! Marokko krankt an innerer Verzehrung. Von Tripolis wird nicht einmal gesprochen. Algerien wurde „ausgeräuchert“ und nun hat Frankreich seine Hand auch auf Tunesien gelegt. Dort schreitet die französische Civilisation mit Riesenschritten vorwärts. Hat man doch sogar Eisenschienen gelegt, so daß der schrille Pfiff der Lokomotive den Mueddin unterbricht, wenn er vom hohen Minareh herab die Gläubigen zum Gebete ruft.

Und doch ist Tunis immer noch orientalischer als Algier und selbst Kairo. Das bemerkt man erst, wenn man in das Innere der Stadt gelangt. Vor der Stadt, am Hafen, wird

der Reisende zunächst von den Zollbeamten empfangen, welche nicht allzu strenge sind, sondern beim Anblicke eines oder einiger Frankenstücke sich eines menschlichen Rührens nicht zu erwehren vermögen. Der Europäer mag sich dann vor den Lastträgern, welche gern mit samt dem Gepäck echappieren, in acht nehmen und sich so schnell wie möglich nach dem Hôtel d’Orient oder Hôtel de France bringen lassen, wo er zwar selten gutes Essen und reine Wäsche, aber zu jeder Zeit gutwillige Aufklärung findet, wenn er weiß, was — das Wort Bakschisch, Trinkgeld, im Oriente zu bedeuten hat.

Von der Stadt selbst läßt sich wenig sagen. Sie gleicht den anderen orientalischen Städten, ohne irgend welchen Vorzug vor ihnen zu haben. Der Moslem freilich hat eine so gute Meinung von ihr, daß er sie die Stadt der Glückseligkeit nennt. Dem pflichtet der Europäer bei, wenn er von dem Ölbaumhügel, Belvedère genannt, im Licht der sinkenden Sonne die schlanken Minarehs und platten Dächer, auf deren Weiße goldene Tinten flimmern, liegen sieht. Doch wird er, wenn er das Innere der Stadt betritt, diese Meinung sicher ändern. Die Gassen sind krumm und eng; überall liegt Schutt, Geröll und übelriechender Schmutz. Oft treten die Häuserreihen so nahe an einander, daß man mit einem kurzen Schritte von einem Dache der diesseitigen Straßenseite auf ein Dach der jenseitigen gelangen kann. Baufällige Gebäude werden nicht repariert; man läßt sie zerfallen und baut, da es nicht an Platz gebricht, ein neues Haus nebenan. So stehen Ruinen, wohlgepflegte Gebäude, improvisierte Zelte, ja Grabkapellen neben einander, die Geschichte und Entwicklung der Stadt von der ältesten bis auf die neueste Zeit vertretend. Kaiser Karl V. ließ nach dem Siege von Keleah eine Zwingburg bauen, zu welcher die Bewohner die Quadern des karthagischen Aquäduktes abbrechen und herbeischaffen, auch aus den Marmorsäulen Karthago’s Kalk brennen mußten. Diese Burg liegt heute auch in Trümmern. Das einzige erwähnenswerte Haus ist der Palast des Beys am Kasbahplatze, welcher aber nur sehr selten benutzt wird.

Früher waren die Bewohner äußerst streng nach der Rasse und dem Glauben von einander gesondert. Dies ist jetzt nicht mehr der Fall, dennoch nehmen den untern Stadtteil und die Vorstädte vorzugsweise die Christen und Juden ein; der obere Teil wird von den sogenannten Kulugli, den Nachkommen der Türken, bewohnt, und in dem Mittelteile hausen die Mauren, welche meist Nachkommen der aus Spanien vertriebenen Moriskos sind. Zu erwähnen wäre noch, daß des Abends bei Dunkelheit jedermann verpflichtet ist, eine Laterne zu tragen.

Der Bey wohnt in seinem Schlosse Bardo, welches in westlicher Richtung eine Stunde von der Stadt entfernt liegt. Um dorthin zu gelangen, passiert man einen Bogen des imposanten Aquäduktes, welcher einst Karthago mit Wasser versorgte. Dieser Bardo ist eine Zusammenstellung von verschiedenen Gebäuden, in denen nicht nur der Bey residirt, sondern auch viele hohe Würdenträger, Beamte und Bedienstete wohnen.

Was die Ruinenfelder von Karthago betrifft, so führt der Weg dorthin über das Schlachtfeld von Gama, auf welchem Scipio Africanus Hannibal besiegte. Die meisten Ruinen stammen aus späterer Zeit; als die wirklichen Überreste des alten Karthago hat man wohl nur jenes Wasserwerk, welches aus achtzehn großartigen Zisternen besteht, zu betrachten.

Mit diesen Sehenswürdigkeiten ist der Fremde sehr bald fertig. Ich hielt es mit der Gegenwart; das Leben und Treiben der jetzigen Bevölkerung interessierte mich mehr als das hier übrigens verbotene Suchen und Graben nach Altertümern. Darum trennte ich mich von Turnerstick, welcher geschäftlich sehr in Anspruch genommen war, und mietete mir eine Wohnung in der Mittelstadt. Das Haus gehörte einem Barbier und bestand aus einer großartigen Reihe von zwei feinen Salons, welche durch einen die ganze Breite und Höhe des Gebäudes einnehmenden Vorhang von einander getrennt waren. Dieser ganze Palast war acht Schritte lang und sechs Schritte breit; das Dach bestand nur aus Stroh, die Mauer aber aus Lehm und Stroh. Um die Thüre zu ersparen, hatte man auf der einen Seite die Mauer lieber gleich ganz weggelassen. Der Vorhang war sehr pfiffig aus Papierstücken aller Sorten, Größen und Farben zusammengeklebt. Den Boden bildete die freundliche Mutter Erde. Da saß ich dann auf meinem Divan, d. h. auf meinem

Reisesacke, welcher das ganze Meublement bildete, in der Ecke und blickte durch eins der vielen Vorhanglöcher hinüber in den andern Salon, in welchem der alte Barbier sein Wesen trieb, nicht allein etwa, sondern mit seinem Harem, einer vielleicht siebzigjährigen Medusa, deren einzige Beschäftigung im Braten von Zwiebeln zu bestehen schien. Sein Salon wurde niemals leer. Er hatte eine sehr bedeutende Kundschaft, doch habe ich keinen von ihnen allen bezahlen sehen. Es war ein wahres Gaudium, ihn bei der Ausführung seiner Kunst zu beobachten. Besonders ergriff und rührte mich die Treue, mit welcher er den von den Gesichtern und Schädeln gekratzten Seifenschaum sammelte, um mit ihm liebevoll wieder andere Schädel und Gesichter zu labsalben.

Dieses mein Logis kostete pro Monat vier Franken, pro Woche also achtzig Pfennige, die ich pränumerando zu bezahlen hatte. Als ich dem Alten zwei Franken gab und dabei erklärte, daß ich nur eine Woche bleiben könne, hielt er mich für einen Prinzen aus tausend und eine Nacht und erbot sich, mich umsonst zu rasieren, worauf ich aber weislich verzichtete.

Natürlich hatte ich mich hier nur eingemietet, um täglich für eine oder zwei Stunden das Treiben einer tunesischen Barbierstube beobachten zu können; die übrige Zeit verbrachte ich mit Spaziergängen in der Umgegend oder durch die Stadt, und das Nachts schlief ich draußen auf dem Schiffe.

Eine Begegnung mit dem feindseligen Moslem fand während der ersten fünf Tage nicht statt. Wenn er ja nach mir fahndete, so suchte er mich jedenfalls im Frankenviertel und nicht da, wo ich mich befand und bewegte. Am sechsten Tage aber sollte ich mit ihm auf eine höchst unerwartete Weise zusammentreffen. Nämlich als ich am vorherigen Abende an Bord kam, teilte Turnerstick mir voller Freude mit:

„Charley, ich habe heute Glück gehabt, ein großes Glück. Ich werde einen Harem zu sehen bekommen.“

„Pah! Den sehe ich alle Tage.“

„Wo denn?“

„Bei meinem Barbier.“

„Redet keine Unsinn! Um diese Urgroßtante eines Seifenschlägers beneide ich Euch nicht. Übrigens, da wir von Seife sprechen, ich habe die meinige verkauft; auch die andern Waaren finden Absatz, und was man hier nicht nimmt, das werde ich nach Sfaks bringen, wo ich einen guten Markt finde. Ich will, um mich vorher genau zu erkundigen, einmal hin. Geht Ihr mit?“

„Natürlich! Können wir nicht die Linie der Societa Rubattino benutzen?“

„Ja. Übermorgen Abend geht ein Dampfer von hier ab. Macht Euch bis dahin fertig!“

„Ich bin zu jeder Stunde bereit. Aber Ihr wolltet von einem Harem sprechen?“

„Nicht nur von einem Harem, sondern von einem Hause überhaupt. Ich war begierig, einmal das Innere eines tunesischen Hauses zu sehen. Die Handelsherren, mit denen ich verkehre, sind alle auf fränkische Weise eingerichtet. Nun hat einer dieser Herren einen maurischen Buchhalter, welcher bei seinem Schwager, dem Manne seiner verheirateten Schwester, wohnt. Dieser Schwager besitzt ein schönes, orientalisch eingerichtetes Haus, welches mir der Buchhalter morgen Vormittags zeigen will.“

„Wie heißt der Schwager?“

„Abd el Fadl.“

„Das heißt zu deutsch Diener der Güte, ein schöner Name, der etwas Gutes erwarten läßt. Ist er mit dem Besuche seines Hauses einverstanden?“

„Doch jedenfalls.“

„Und was ist der Mann?“

„Ich weiß es nicht. Ihr kennt es ja selbst, daß man sich hier nach den Verhältnissen eines Verwandten nicht erkundigen kann, ohne Anstoß zu erregen. Der Buchhalter holt uns hier vom Schiffe ab.“

„Nun, und der Harem?“

„Den soll ich auch sehen, nämlich nur die Zimmer, da es der Dame verboten ist, sich zu zeigen.“

„Was habt Ihr davon, eine Wohnung ohne die Inhaberin zu sehen?“

„Was habt denn Ihr davon, die Kunden des Barbiers anzugucken? Meine Kenntnisse will ich bereichern, gerade so, wie Ihr die Eurigen. Also, geht Ihr mit?“

„Ja, aber nur um Euretwillen.“

„Wie so?“

„Es könnte eine Falle sein, und da muß ich helfen, Euch herauszubeißen.“

„Pah! Dieser junge Buchhalter ist ein ehrlicher Mensch. Von einer Falle kann gar keine Rede sein, und übrigens ist der Kapitän Frick Turnerstick nicht der Mann, sich fangen zu lassen.“

Damit war die Sache abgemacht. Ich hatte orientalische Häuser genug gesehen, und es bewog mich wirklich nur die Sorge um die Sicherheit des Freundes, denselben zu begleiten.

Am andern Morgen kam der Buchhalter an Bord, ein junger Maure, dessen Erscheinung allerdings ganz vertrauenerweckend war. Er zeigte sich sehr höflich und bescheiden und erklärte, daß sein Schwager von dieser Besichtigung des Hauses allerdings nichts wisse, da er verreist sei, aber bei seiner Anwesenheit jedenfalls seine Zustimmung gern gegeben hätte. Diese Versicherung wurde mit solcher Überzeugung ausgesprochen, daß sie mich beruhigte. Wir gingen, doch steckte ich vorher einen Revolver zu mir.

Unser Weg führte uns in eine Gasse, welche auf den Kasbahplatz mündete. Dort stand das Haus, dessen Straßenseite eine hohe Mauer bildete, deren einzige Öffnung die Thüre war. Der Buchhalter bewegte den Klopfer, und gleich darauf wurden wir von einem Neger eingelassen. Ich sah, was ich erwartet hatte, das Innere eines Hauses, wie man es bei allen besseren orientalischen Häusern gerade so oder ähnlich findet.

Diese Gebäude bestehen fast alle aus einem offenen, rundum von Stuben und anderen Räumen eingefaßten Hofe, in dessen Mitte ein Brunnen steht. Der Unterschied besteht in der größeren oder geringeren Kostbarkeit der Einrichtung, in dem mehr oder weniger sichtbaren Verfalle der Gebäude, der Typus aber bleibt ein und derselbe.

So auch hier. Die Thüren des Gebäudeviereckes öffneten sich alle nach dem offenen Hofe, dessen Brunnen Wasser gab, was höchst selten ist, da die Fontainen meist aus irgend einem Grunde nicht mehr thätig sind. Die Möblierung der Stuben bestand aus Teppich und Sitzkissen; mehr verlangt der Orientale nicht. Da man rundum aus einem Zimmer in das andere gelangen konnte, so war es sehr leicht möglich, uns auch in die Wohnung der Frau den Zutritt zu ermöglichen; diese brauchte sich nur durch die nächste Thüre zu entfernen, um uns während des ganzen Rundganges vollständig unsichtbar zu sein. Eine Treppe hoch gab es nur einige kleine Gelasse, welche von der Dienerschaft bewohnt wurden.

Wir gingen also aus einer Stube in die andere und betraten endlich auch den Harem. Auch hier gab es, außer dem Teppich, dem Divan und einigen Ruhekissen nichts, was von Bedeutung gewesen wäre. Eine Stube war wie die andere; nur in den Farben zeigte sich die einzige Verschiedenheit. Aus der letzten Haremstube gelangten wir wieder in das Gemach, welches wir zuerst betreten hatten; wir waren rundum gekommen. Turnerstick wollte vollständig sein; er bat, auch nach oben gehen zu dürfen; und unser Führer willigte ein. Mir lag gar nichts daran, einige von Schwarzen bewohnte Kammern zu sehen; darum zögerte ich einen Augenblick, den Beiden zu folgen. Da hörte ich hinter mir das Öffnen einer Thüre, und eine Kinderstimme sagte:

„Nusrani, Nusrani!“

Das heißt: ein Christ, ein Christ. Ich drehte mich um und sah unter dem jetzt offenen Eingange einen kleinen allerliebsten, ungefähr sechsjährigen Knaben stehen. Seine dunklen Augen blitzten mich förmlich an; seine Wangen waren gerötet, und um seine Lippen spielte ein unsagbar liebliches, schalkhaftes Lächeln. Welch ein Unterschied gegen die indolenten, trägen Kinder, welche man gewöhnlich im Oriente sieht.

„Karrib, ta’a lahaun — komm näher, komm hierher!“ flüsterte er mir mit ausdrucksvollem Mienenspiel zu, als ob er mir die größte Wichtigkeit der Welt zu zeigen oder zu sagen habe. Dabei krümmte er den kleinen Zeigefinger und winkte mit den kleinen Quatschhändchen immer auf sich zu:

„Komm’ Du zu mir!“ forderte ich ihn auf, da er sich noch im letzten Zimmer des Harems befand.

„Darf ich denn?“ fragte er, eifrig mit dem Kopfe nickend.

„Natürlich darfst du.“

Da kam er herbeigehüpft, schlang beide Ärmchen um meine Knie und rief wieder:

„Nusrani, Nusrani — ein Christ, ein Christ!“

Ich liebkoste ihn und erkundigte mich:

„Weißt Du denn, daß ich ein Christ bin?“

„Ja.“

„Von wem?“

„Von Kalada.“

„Wer ist das?“

„Mutter; sie hat Euch gesehen.“

„Hat sie Dich zu mir geschickt?“

„Nein; ich bin selbst gegangen, und sie ist fort. Komm’, setz’ Dich neben mich; ich will Dir viel erzählen!“

Er zog mich nach dem Wanddivan. Warum sollte ich dem allerliebsten Kerlchen nicht den Gefallen thun? Ich befand mich ja nicht mehr im Harem und konnte hier ebenso gut wie draußen auf dem Hofe die Rückkehr Turnersticks und seines Begleiters erwarten. Ich setzte mich also nieder. Der Kleine nahm auf meinem Schoße Platz und begann, sich mit sehr löblicher Beherztheit mit meinem Barte zu beschäftigen.

„Wie heißest Du?“ fragte er.

„Nusrani,“ antwortete ich. „Und Du?“

„Asmar.“

Dieser Name bedeutet der Brünette und paßte sehr gut auf den Knaben. Der orientalische Schnitt seines Gesichtes und der leicht angedunkelte Teint brachten mir die Worte der heiligen Schrift, mit denen sie den späteren König David beschreibt, in Erinnerung „ein Knabe, bräunlich und schön.“

„Du mußt mich so nennen!“ fügte er hinzu. „Sage es!“

Ich nannte ihn beim Namen und hob sein Gesicht zu mir empor, worauf er seine Lippen mit meinem Schnurrbarte in jene streichende Berührung brachte, welche man beim Schärfen eines Rasirmessers beobachten kann, was jedenfalls einen Kuß bedeuten sollte. Leider wurde ich um den vollen Genuß desselben gebracht, denn ich hörte den Schrei einer Frauenstimme, und als ich aufblickte, stand dort an der Thüre, welche nach dem nächsten, aber nicht nach dem Haremszimmer führte, ein junges, schönes Weib, die Augen halb erschrocken und halb in froher Überraschung auf uns gerichtet. Ihr Gesicht war unverhüllt; der Schleier hing über dem Hinterkopfe herab. Die Haltung, welche sie jetzt zeigte, war diejenige einer Person, welche nicht weiß, ob sie fliehen oder sich nähern soll. Sie that keins von beiden. Sie zog den dichten Schleier nach vorn, so daß ihre Züge nicht mehr zu erkennen waren, hob den Zeigefinger winkend empor und sagte:

„Asmar, bete!“

Der Knabe machte sich von mir los, stand auf, faltete die Hände und betete:

„Ja abana ’Iledsi fi’ s-semevati jetz haddeso ’smoka — —“

Welche eine Überraschung! Das war ja das Vater unser! War diese Frau eine Christin? Ich erhob mich auch vom Divan. Sie mochte mir die Frage vom Gesicht ablasen, denn als der Kleine geendet hatte, sagte sie, als ob ich sie gefragt hätte:

„Ich bin keine Nusrana. Ich möchte es gern werden; aber ich darf nicht.“

„Wer verbietet es Dir?“

„Mein Gebieter.“

„Ist er ein Moslem?“

„Der strengste, den es geben kann.“

„Wo hast Du dieses Gebet, welches Du Deinem Kinde lehrtest, gelernt?“

„Oben auf dem Dache. Es stößt mit demjenigen des Nachbarhauses zusammen, und dort wohnte eine Frankin, welche Nusrana war. Mit ihr habe ich täglich gesprochen, und sie erzählte mir alles, was sie aus der heiligen Schrift wußte.“

„Und Du hast es geglaubt?“

„Warum sollte ich nicht?“

„So ist es recht. Die einzige und ewige Wahrheit liegt im Worte Gottes, nicht aber im Kuran und in den Schriften Eurer Ausleger.“

„Ich weiß es, Herr, ich weiß es. Ihr Christen seid so ganz, ganz anders als — —“

Sie hielt inne, als ob sie etwas Unrechtes, Verbotenes habe sagen wollen, und fuhr dann fort:

„Nach längerer Zeit wollte ich meinem Gebieter diese heiligen Erzählungen kennen lehren; seitdem durfte ich nicht wieder zu meiner Freundin auf das Dach, und der Gemahl derselben mußte Tunis verlassen.“

„Wer zwang ihn dazu?“

„Mein Herr.“

„Hatte er die Macht dazu?“

„Ja. Was mein Gebieter will, dem stimmt der Herrscher von Tunis bei.“

Nach diesen Worten mußte Abd el Fadl, ihr Mann, ein Minister oder sonstiger hoher Ratgeber des Bey sein. Ich hätte es gar zu gern gewußt, doch scheute ich mich, sie zu fragen. Welch ein Unterschied! Sie nannte ihren Mann Herr und Gebieter, während sie denjenigen ihrer christlichen Freundin als Gemahl bezeichnete. Das charakterisiert die Stellung des christlichen und muhammedanischen Weibes auf das Vortrefflichste. Wie aber kam es, daß diese Frau trotz der strengen Haremsregeln es wagte, bei mir zu verweilen und mit mir zu sprechen? Es war, als ob sie meine Gedanken zu erraten verstehe, denn sie traf wieder das Richtige, als sie nun bat:

„Verzeihe, Herr, daß ich nicht geflohen bin! Als ich den Knaben an Deinem Herzen sah, konnte ich nicht fort. Und ich blieb auch aus einem andern Grunde. Ich habe eine christliche Frau gehört und ihr geglaubt; ein Weib aber ist keine Gelehrte oder Lehrerin; ein Mann weiß besser, was falsch oder richtig ist. Du bist ein Christ und ein Mann. Sage mir um des Himmels willen, wer Recht hat, Christus oder Muhammed!“

„Christus, denn er ist wahrer Gott, von Ewigkeit geboren; Muhammed aber war ein sündiger Mensch. Muhammer hat Haschisch gegessen und seine Suren erträumt; Christus aber ist am Kreuze gestorben, um die Sünden aller Welt auf sich zu nehmen. Wer an ihn glaubt, wird selig.“

Da schlug sie die Hände zusammen und rief nach einem tiefen Atemzuge und mit einer Stimme, der ich die Thränen anhörte:

„So bleibe ich Christo treu, und wenn mein Gebieter mich töten sollte. Er liebt mich sehr, und unser Knabe ist sein Leben; aber den Namen des Heilandes darf ich nicht über meine Lippen bringen.“

„Ist er so grausam?“

„Er ist die Peinigung anderer gewöhnt, denn er ist der Dschellad unsers Bey. Seine Seele gehört mir, aber die meinige soll auch nur ihm und nicht Christo gehören, weil — — fort, fort! Herr, lebe wohl; ich danke Dir!“

Sie hatte schnell den Knaben ergriffen und verschwand mit ihm im Harem, denn draußen waren Schritte zu hören.

Nun war mir alles klar. Dschellad ist so viel wie Henker, Gerichtsvollzieher, Vollstrecker der Befehle des Herrschers. Das Amt eines Dschellad ist im Oriente ein Ehrenamt, und der Träger desselben hat oft mehr Macht als der Wesir. Auch die geistige Frische, Lebhaftigkeit und Anschmiegsamkeit des Knaben war mir jetzt erklärlich; er war ja das Kind einer christlich gesinnten Mutter, welche ihm die zärtliche Aufmerksamkeit und wahre Liebe widmete.

Jetzt wurde ich von Turnerstick und dem Buchhalter abgeholt. Der letztere führte uns noch einmal in den Hof, weil dort die nach Trinkgeld lüsterne Dienerschaft versammelt war. Wir verteilten einige Münzen unter sie und standen nun im Begriffe, zu gehen, als es vorn an der Eingangsthüre klopfte. Der Schwarze eilte fort, um zu öffnen, und wir trafen mit dem Manne, welchen er eingelassen hatte, noch in der Ecke des Hofes zusammen; es war — — unser Feind, der Moslem, welcher auf mich geschossen hatte.

Als er uns erblickte, stand er erst einige Sekunden lang wie vor Betroffenheit erstarrt; dann aber brach der Grimm los. Er stieg einen unartikulierten Schrei der Wut aus, faßte mich mit der Linken an der Gurgel, zog mit der Rechten die Pistole, richtete sie auf meine Brust und drückte ab — — freilich, ohne zu treffen, denn ich schlug sie ihm im letzten Momente aus der Hand und machte mich von ihm los.

Turnerstick wollte mir zu Hilfe kommen, aber die Diener, welche soeben erst sein Trinkgeld eingesteckt hatten, fielen über ihn her, so daß er, der kräftige Seemann, sich ihrer kaum zu

erwehren vermochte. Mein Gegner zog das Messer und wollte wieder auf mich eindringen; da wurde eine aus dem Harem auf den Hof führende Thüre aufgerissen, und die Frau, welche den Schuß gehört hatte, trat heraus. Sie sah, daß er sein Messer auf mich zückte, und schrie entsetzt:

„Ja issai-jidi, ja Jesuji, ja Mesihji, wakkif, wakkif — o heilige Jungfrau, o mein Jesus, o mein Messias, halt ein, halt ein!“

Sie streckte ihre Hände flehend aus. Er ließ das Messer fallen. Sein Weib erschien, wenn auch verschleiert, vor uns Fremden; sie nahm sich unser an, und sie bediente sich dabei der Namen, welche ihr streng verboten waren. Er starrte eine Weile wie abwesend nach ihr hin; dann befahl er:

„Hinein, hinein, sofort!“

„Nein, nein,“ antwortete sie. „Laß erst diese Männer fort; es soll kein Mord geschehen!“

Er machte eine Bewegung, als ob er auf sie losspringen wolle; da ergriff ich seine beiden Oberarme, drückte sie ihm fest gegen die Brust und fragte:

„Du, also Du bist der Henker des Bey, Du?“

„Ja, ich bin der Dschellad. Ihr müßt sterben,“ antwortete er, indem er sich loszumachen versuchte.

„Töte uns, wenn Du es fertig bringst!“ meinte ich, indem ich ihn freigab und den Revolver zog. „Dein Leben gegen das unserige!“

In seinen Zügen waren die Spuren eines gewaltigen, inneren Kampfes zu bemerken; dann deutete er nach dem Eingange und rief:

„Fort, fort, Ihr Hunde, Ihr Hundesöhne! Erst muß ich erfahren, was Ihr hier zu suchen hattet, und dann werde ich Euch richten. Euch wäre besser, wenn Ihr nie geboren wäret!“

Wir gingen. — —

Viertel Kapitel.

Illustration4

Unserm Vorsatze treu, waren wir mit dem Dampfer der Società Rubattino von Tunis nach Sfaks gefahren, und Turnerstick hatte gefunden, daß er hier ein reiches Feld abernten könne. Er konnte nicht nur den Rest seiner Waren, welcher unter der Aufsicht des Steuermannes zurückgelassen worden war, verkaufen, sondern auch neue Ladung einnehmen. Er war ebenso schlau und umsichtig im Handel wie tüchtig zur See und befand sich infolge seiner Erfolge in der rosigsten Laune, machte Besuche über Besuche, hielt Conferenzen und war für mich nur des Abends zu sprechen. Darum beschloß ich, mich anderweit zu unterhalten und zu diesem Zwecke die nahen, hoch interessanten Karkehna-Inseln zu besuchen. Mandi, der bedeutendste Handelsmann der Stadt,

ein Maltheser, bei welchem wir uns gern befanden, stellte mir sein Segelboot und einige Leute zur Verfügung. Ich blieb vier volle Tage dort und kehrte erst gegen Abend des fünften zurück. Nach einer Stunde, welche ich mit der Aufbesserung meines etwas angegriffenen Anzuges verbracht hatte, ging ich zu Mandi, um ihm zu danken. Der Tag war indessen vergangen, aber der frühe Mond stand schon am Himmel. Ein Diener, den ich nach seinem Herrn frug, sagte mir, daß derselbe vor einiger Zeit in den Garten gegangen sei, und infolge dessen begab ich mich in den letzteren, in welchem ich schon einige Male gewesen war.

Zu erwähnen ist, daß Sfaks sehr schöne Blumen-, Obst- und Südfruchtgärten besitzt; es leben viele Europäer hier, besonders Franzosen, Italiener und Maltheser, und das hat dem geselligen Leben einen mehr französischen Anstrich gegeben.

Der Garten lag einsam, auf der einen Seite von dem Hause und auf den andern drei von hohen Mauern umgeben. Ich forschte vergeblich nach Mandi und hatte nur noch die hinterste Ecke zu durchsuchen. Um dorthin zu gelangen, mußte ich über einen kleinen, freien Platz gehen, welcher vom Monde hell beschienen wurde. Kaum war sein Licht auf mich gefallen, so hörte ich eine helle Kinderstimme rufen: „El Nusrani, el nusrani — der Christ, der Christ!“

War das etwa der kleine Asmar, der Sohn des Henkers? Ich blieb gar nicht lange darüber im Zweifel, denn das Kerlchen kam gesprungen und nahm mich bei der Hand. Er war es wirklich.

„Wo ist Dein Vater?“ fragte ich ihn.

„Dort,“ antwortete er, nach dem Hause deutend.

„Und Kalada, Deine Mutter?“

„Komm, ich werde Dich führen.“

„Wer ist bei ihr?“

„Niemand. Sie ist allein.“

Nun trug ich kein Bedenken, die arme, bedauernswerte Frau aufzusuchen. Sie saß in tiefem Schatten von Jasmin auf einem Steine. Ich grüßte; sie dankte nicht; die Angst, mit mir entdeckt zu werden, raubte ihr die Sprache.

„Verzeihe mir, daß ich der Stimme Deines Kindes folge!“ bat ich sie. „Soll es nur Zufall sein, daß wir uns so unerwartet und unbeobachtet hier wieder treffen? Ich werde nur so lange bleiben, wie nötig ist, das zu erfahren, was ich wissen muß. Was waren bei Dir die Folgen unsers Besuches?“

„Ich habe nicht gesagt, daß ich mit Dir gesprochen habe,“ antwortete sie zagend. „Der Zorn meines Gebieters hat meinen Bruder getroffen, der Euch in das Haus gebracht hat, doch wurde mir deshalb ein großer Zorn, daß ich in meiner Herzensangst die Namen Jesu und der heiligen Jungfrau ausgerufen hatte. Darum reist er jetzt mit mir und dem Kinde nach Keruan, wo ich diese Schuld durch das Abbeten der Reinigungssuren auslöschen soll. Der Knabe soll mir, weil er schon das heilige Vaterunser betet, genommen werden und in Keruan bleiben, um ein frommer Marabut zu werden.“

„Warum geht Dein Mann nicht direkt von Tunis nach Keruan? Warum hat er diesen Umweg zu Schiffe über Sfaks gemacht?“

„Weil er eine Botschaft des Bey an den Befehlshaber der hiesigen Truppen zu überbringen hatte. Mein Gebieter wohnt stets bei Mandi; darum sind wir auch heute hier.“

„Wann reist Ihr ab?“

„Morgen früh, auf Kameelen und mit drei Dienern.“

„Weiß Dein Mann, daß ich mich mit meinem Freunde hier in Sfaks befinde?“

„Nein; er ahnt es nicht.“

„So weiß ich genug; ich danke Dir! Vertraue auf den Herrn, der Dein Glück und dasjenige Deines Kindes ebenso sicher lenkt, wie er die Sterne leitet. Lebe wohl! Vielleicht sehen wir uns wieder.“

Der Diener, welcher mich in den Garten gewiesen hatte, stand noch an der Thüre. Ich sagte ihm, daß ich seinen Herrn nicht gefunden hätte, und befahl ihm, demselben mitzuteilen, daß Abd el Fadl von unserer Anwesenheit nichts wissen dürfe. Dann begab ich mich in meine Wohnung zurück, die ich mit Turnerstick teilte. Vorhin war er nicht daheim gewesen; jetzt saß er da. Bei meinem Anblicke sprang er auf und empfing mich mit den Worten:

„Willkommen zur Heimkehr, Charley! Gut, daß Ihr zurück seid! Ich habe ein prächtiges Unternehmen. Meine Geschäfte

sind fast beendet, und nun will ich einen Ausflug machen, zwanzig Stunden weit zu Pferde. Macht Ihr mit?“

„Wohin?“

„Großartige Ruine, riesiges Amphitheater, Löwen-, Tiger- und Elefantenkämpfe wie zur Römerzeit!“

„Meint Ihr el Dschem?“

„Was? Ihr kennt das Dings?“

„Leidlich.“

„Sodann eine Riesenhöhle, leider jetzt verschüttet, aber immer noch des Ansehens wert.“

„Meint Ihr die Marahra er rad, die Höhle des Donners?“

„Auch diese kennt Ihr?“

„Bin schon drin gewesen, damals, als ich von dem Khrumirlande aus nach Süden ritt. Vielleicht weiß ich, warum diese große Höhle plötzlich eingestürzt ist. Es gab da einen verborgenen Wasserfall, dessen Geräusch die Beduinen für Donner hielten; daher der Name der Höhle.“

„Prächtig, daß Ihr das so kennt! Da brauchen wir keinen Führer. Wir beide allein, gut bewaffnet, zwanzig Stunden weit durch die Stämme der Beduinen! Ihr macht also mit?“

Natürlich sagte ich ja. Es lag wie eine Ahnung in mir. Wie gern hätte ich Kalada Hilfe gebracht! Ich hatte sie auf Gottes Güte verweisen müssen. Und nun kam dieser Vorschlag des Kapitäns. Wollten wir die Höhle und die berühmten Ruinen besuchen, so hatten wir ganz denselben Weg, den der Henker reiten mußte. Sollte das auch Zufall sein?

Turnerstick war über meine Zusage so erfreut, daß er sofort ging, um zwei gute Pferde und Proviant zu besorgen. Am nächsten Morgen waren wir zeitig reisefertig, durften aber nicht in den Sattel steigen, weil es in meiner Absicht lag, dem Henker einen Vorsprung zu lassen. Wir hörten, daß er mit Tagesanbruch fortgeritten sei, und brachen drei Stunden später auf.

Der gute Kapitän hatte sich den Ritt viel interessanter vorgestellt, als er in Wirklichkeit war. Sobald man Sfaks hinter sich hat, wird die Gegend flach, sandig und unfruchtbar. Nur selten gibt es ein fließendes Wässerchen, welches aber nach kurzem Laufe wieder im Sande verschwindet. An solchen Stellen wächst ein Gras, und es stellen sich Beduinen ein, um dasselbe abweiden zu lassen. Zwischen dem Bah seitun und dem Bah Merai ziehen sich Höhen hin, welche den Beduinen vom Stamme der Metelit gehören. Bei ihnen hielten wir an, und erfuhren da, daß der Henker soeben erst mit seiner Begleitung vorübergekommen sei. Bald bekamen wir ihn in Sicht. Er hatte für sich und seine Frau mit dem Kinde zwei Kameele, die Diener gingen zu Fuß. Nun machten wir, im Galopp reitend, einen weiten Umweg, um unserm Feinde voranzukommen. Dabei trafen wir auf einige arme Selass-Beduinen, welche uns klagten, daß sie fortziehen müßten, da ein starker Panther ihre Heerden dezimiere.

Nach einiger Zeit kam mir die Luft so eigentümlich schwer vor; es war, als ob man sie in die Luftwege hinabfallen fühle. Ich kannte das und wurde besorgt. Im Südwest begann der Himmel sich zu färben; es lag da eine Luftschicht, welche oben eine fahlgelbe und unten eine silberglänzende Farbe hatte.

„Das ist die Zaubaa el milh, der Salzsturm!“ rief ich aus. „Gebt Euerm Pferd die Sporen; dann sind wir in einer Viertelstunde in der Höhle.“

Turnerstick hatte noch nie etwas von einem Salzsturme gehört. Das ist der Wüstenwind, welcher über die Schotts streicht, seeartige Wasserbecken mit einer Salzkruste. Wird das Salz durch irgend welche Einflüsse zerstäubt und vom Samum mit fortgenommen, so entsteht der Salzsturm, welcher höchst gefährlich ist. Das Salz dringt in die Augen und Ohren, in alle Öffnungen und Poren des Körpers; es sticht sich wie Nadelspitzen in die Haut und verursacht ein Brennen und Beißen, welches selbst den Löwen und Panther toll zu machen vermag. So einen Sturm sah ich kommen; die silberglänzende Luftschicht war salzhaltig, und die gelbfahle darüber bestand aus leichterem Wüstenstaube.

Noch hatten wir die Höhle nicht erreicht, so brach das Wetter los. Das war kein Orkan mit Heulen und Toben, sondern ein steter, gleichmäßiger Sturm, welcher mit schwerem Sausen über die Sahel strich. Im Nu hatten wir den Mund und die Nase voller Salz. Wir mußten niesen und husten. Den Pferden erging es ebenso; sie wollten durchgehen. Man konnte

kaum zehn Schritte weit sehen; doch kannte ich die Lage der Höhle genau. Nach fünf Minuten hatten wir sie erreicht.

Ihr Eingang war schmal, bald aber erweiterte sie sich zu einem wohl fünfzig Fuß ins Geviert messenden Raume, um sich dann so zu verengen, daß derjenige, der sie nicht genau untersuchte, leicht glauben konnte, daß sie nicht weiterführe. Aber es gab da einen Spalt, durch welchen sich sogar ein Pferd zu drängen vermochte; wer da hindurch war, befand sich in einer hohen, domartigen Wölbung. Dort drangen wir ein, da wir so weit hinten ganz sicher vor dem Salze waren.

Kaum hatten wir es uns bequem gemacht, so sahen wir andere Geschöpfe kommen, welche hier ebenso Rettung suchten, nämlich einige Schakale. Es kamen nach und nach noch mehrere, sogar zwei Hyänen. Die Angst hatte sie friedfertig gemacht; sie vertrugen sich. Durch unsere Spalte blickend, sahen wir das Salz in dicken Schwaden vor dem Eingange vorüberstreichen. Wehe dem, der gezwungen war, das Ende des Sturmes abzuwarten!

Da war es mir, als ob ich inmitten des ununterbrochenen Sausens den Schrei einer Kinderstimme gehört hätte. Ja, wirklich, jetzt wieder! Es kam näher. Jetzt hielten draußen zwei Kameele, welche von drei Männern gehalten wurden. Erst stieg der Henker ab und dann seine Frau mit dem weinenden Kinde. Alle flüchteten sich herein, sogar die Kameele. Die Schakale und zwei Hyänen aber schossen furchtsam in das Unwetter hinaus.

Die Gesellschaft nahm in der vordern Höhle Platz; von dem Dasein einer zweiten schien keiner etwas zu wissen. Wir verhielten uns still, da wir gern beobachten wollten.

Das Kind weinte noch immer; die Mutter suchte es zu beruhigen. Der Mann meinte höhnisch: „Nun, so bete doch zu Deinem Jesus, daß er dem Salze verbiete, sich zu erheben! Wird er helfen können. Dein Glaube ist — — —“

Das Wort blieb ihm im Munde stecken, und auch mit schlug in diesem Augenblicke das Herz, denn vor dem Eingange erschien wieder ein Tier, welches Schutz in der Höhle suchte, nämlich ein riesiger schwarzer Panther. Die Zunge hing ihm weit aus dem Halse, so war er gehetzt worden. Vielleicht war er das Tier, von welchem die Selass-Beduinen erzählt hatten, und vielleicht kannte er die Höhle. Er trat furchtlos herein, hustend und pfauchend. Kaum waren ihm die Augen frei vom Salz geworden, so that er einen Sprung auf das eine Kameel, zerschlug ihm mit der Pranke den Halswirbel und riß ihm die Gurgel auf. Dann begann er, sich um die anwesenden Menschen gar nicht bekümmernd, seinen Raub zu verzehren. Das Knacken und Prasseln der Knochen klang entsetzlich zu uns herüber.

„Schießen wir?“ fragte Turnerstick leise.

„Nein,“ antwortete ich. „Ein Fehlschuß würde viel Blut kosten. Warten wir es ab!“

Die fünf Menschen da vorn saßen lautlos und unbeweglich vor Angst. Die Mutter hielt ihr Kind in den Armen. Der Henker machte der Versuch, seinen Platz zu verlassen, aber sofort erhob das Tier den Kopf und brüllte zornig; er blieb sitzen. Die Leute waren gefangen und konnten sich nicht wehren. Die drei Diener hatten keine Gewehre, und dasjenige des Henkers lag weit zur Seite.

Jetzt legte ich mich auf den linken Ellbogen nieder und versuchte, zu zielen. Es war eine schwere Sache, denn es dunkelte hier in der Tiefe, und das Tier mußte unbedingt in das Auge getroffen werden.

Eine Hyäne kam hereingeschossen; sie stürzte beinahe über den Panther weg und flog sofort wieder hinaus. Darob erzürnt, ließ das gewaltige Tier ein Gebrüll ertönen, daß die Wände zu zittern schienen. Das war für die Nerven Kalada’s zu viel. Sie öffnete unwillkürlich die Arme, um sich die Ohren zuzuhalten — das Kind rollte von ihrem Schoße herab und zu dem Panther hin. Ein vielfacher Schrei erscholl, sogar auch mit von meinen Lippen.

Die nun folgende Szene läßt sich nicht beschreiben. Zum größten Glücke war der Knabe vor Entsetzen ohnmächtig geworden.

„Allah, o Allah, hilf, hilf!“ stöhnte der Vater. Es schien, daß das Sprechen dem Panther gar nicht störend sei.

Die Mutter hatte ihr Gesicht in die Hände gehüllt. Der Vater saß leichenblaß, ein Bild der entsetzlichen Ratlosigkeit da. „O Allah, Allah, hilf! O Muhammed, du Glänzender,

sende Rettung! O Ihr heiligen Khalifen, tröstet mich!“ so hörte man ihn wimmern. Die Diener verhielten sich ganz still; ihnen war es nur um das eigene Leben zu thun.

Jetzt machte Kalada noch einen Versuch, ob das Tier sich das Kind nehmen lassen werde. Sie streckte, ohne sich zu erheben, den Arm nach demselben aus; der Panther aber knurrte und zog mit der Vorderpranke den Knaben näher zu sich heran. Er schien ihn als sein Eigentum zu betrachten. Das trieb die Angst der Eltern auf den höchsten Punkt.

„O Muhammed, o Prophet der Propheten, rette, hilf, erbarme Dich!“ rief der Henker. „Jesus, Du Heiland der Welt, erbarme Dich!“ betete Kalada. „Heilige Mutter des Erlösers, bitte für mein Kind!“

„O Muhammed, o Muhammed!“ wiederholte der Vater. „O Abubekr, o Ali, Ihr großen Khalifen! O Muhammed, rette, wenn Du kannst!“

„Er kann es nicht!“ weinte die bebende Frau.

„Etwa Isa, Dein Christ?“ fragte er halb höhnisch und halb hoffnungsvoll.

„Ja, der kann es!“

„So laß uns sehen! Ich werde an den glauben, welcher Rettung bringt.“

Es war gar nicht anders zu denken, als daß meine Kugel die Entscheidung bringen mußte. Nur fragte es sich, in welchem Augenblicke das Ungetüm sich aufrichten werde, denn nur dann war ich meiner Kugel sicher. Ich hatte den Löwen und auch den schwarzen Panther schon des nachts erlegt, war meines Gewehres vollständig sicher und glaubte, keinen Fehlschuß zu thun.

„O Muhammed, Du Herr der Propheten, höre mich!“ bat der Henker mit zitternder Stimme. Er hatte sein Kind wirklich lieb, und es war mir, als ob ich seine Zähne klappern hörte. „Gib mir meinen Sohn, oder Deine ganze Lehre ist eitel!“

Er wartete eine Weile, und als nichts erfolgte, forderte er seine Frau auf:

„Sage mir die Worte vor!“

„Bete folgendermaßen!“ antwortete sie, indem sie ihm die Worte auf die Zunge legte.

Grad jetzt war das Kind aus seiner Betäubung erwacht; es hörte die Mutter sagen: Bete folgendermaßen! Diese Aufforderung hatte es oft vernommen und befolgt, und so begann es sein „Ja abana Iledsi,“ das Vater unser, laut herzusagen. Also beteten drei Stimmen. Der Panther war noch immer mit Fressen beschäftigt; die Stimmen der andern hatten ihn nicht gestört; als er aber neben sich die feine, klare Stimme des Knäbleins hörte, hob er sich vorn in sitzende Stellung empor und begann, mit geschlossenen Augen zu heulen. Mein Gewehr lag an; kaum öffnete er das Auge und ich erblickte die grüngelbe Glut desselben, so krachte mein Schuß, den das Gewölbe hundertfach wiedergab. Das Tier flog, als hätte es einen schweren Schlag vor den Kopf erhalten, zur Seite, von dem Kinde weg. Im Nu stürzten Vater und Mutter hin und rissen den Knaben, welcher vollständig unverletzt war, an sich. Der Panther wälzte sich noch zwei-, dreimal hin und her, streckte dann die Glieder und verendete.

Welch ein Jubel brach nun los! Niemand dachte daran, daß ein Schuß gefallen war, daß dieser nur aus einem Gewehre hatte kommen können und daß dasselbe einen Besitzer haben müsse. Die Mutter war die erste, welche darauf zu sprechen kam; der Vater untersuchte das Raubtier und fand, daß die Kugel in das rechte Auge gedrungen war.

„Aber, wer hat geschossen?“ fragte er.

„Ich weiß, ich weiß; ich ahne es!“ rief sie. „Der fremde Effendi ists gewesen, denn er wollte mir helfen.“

„Welcher Effendi?“

„Ich werde ihn Dir zeigen. Die Kugel kann nur von da hinten gekommen sein, und dort muß er sich befinden. Ich suche ihn!“

Nun, Frick Turnerstick sorgte schon dafür, daß wir leicht gefunden wurden. Wie betroffen aber war der Henker! Er wußte nicht, was er sagen sollte. Ich nahm ihn beim Arme und fragte:

„Wirst Du mir jetzt auch noch nach dem Leben trachten?“

„Nein, nein, bei Allah, nein!“ stammelte er. „Ich wollte Dich töten, und Du errettetest mein Kind! Wie soll ich Dir danken!“

„Danke nicht mir, sondern Gott, und frage Dich, ob ein Moslem ebenso schnell vergibt, wie ein Christ. Wird Dein Weib nun beten dürfen, wie ihr Herz es ihr befiehlt?“

„Ja, sie darf, und ich — — ich bete mit, denn unser Prophet hat meine Stimme nicht hören wollen.“

Der erst so abstoßende Mann umarmte mich; sein Weib reichte mir die Hand, ohne daß er finster dazu blickte, und der kleine Asmar mußte mir das Mäulchen zum Kusse geben.

Der Eindruck, den die Errettung seines Kindes auf den Henker gemacht hatte, schien ein nachhaltiger zu sein, denn er erklärte, auf die Reise nach Keruan verzichten und lieber nach Schaks [Sfaks] umkehren zu wollen, worüber niemand mehr als Kalada sich freute.

Wir brachen auf und gelangten gegen Abend nach Schaks [Sfaks] zurück, wo Mandi nicht wenig erstaunt war, den Henker mit Weib und Kind schon wieder zu sehen.

„Ich bin umgekehrt,“ erklärte dieser, „denn ich mag nichts mehr von dieser heiligen Stadt wissen. Ich habe heut erfahren, daß Allah dem Propheten und dem Khalifen nicht die mindeste Macht gegeben hat. Wer zu ihnen betet, bleibt ohne Erhörung; aber Isa, der Christ, besitzt alle Macht im Himmel und auf Erden, und wer sich im Vertrauen an ihn wendet, wird Erhörung finden. Ich habe es erlebt und werde von nun an an ihn glauben.“

Er hat dieses Wort wahr gemacht; aus dem Saulus ist ein Paulus geworden, eine Folge der in der Höhle ausgestandenen Angst, welche in seinem Herzen noch lange nachgezittert hat. Er kehrte mit mir und Turnerstick auf dessen Schiff nach Tunis zurück, und ich beobachtete während der Überfahrt, daß er sein Weib mit einer Zartheit und Aufmerksamkeit behandelte, welche seinem frühern Wesen fern gelegen hatte.

Turnerstick nahm in Tunis neue Ladung ein. Während der Zeit, welche das Laden in Anspruch nahm, wohnten wir bei dem Henker, mit dessen Frau wir wie mit einer Europäerin verkehren durften. Ich schenkte ihm eine in arabischer Sprache gedruckte Bibel, aus welcher ich ihm vorlesen mußte. Er lauschte meinen Erklärungen mit demselben Eifer wir Kalada. Es fiel mir nicht ein, ihn offen und direkt zum Übertritte aufzufordern, aber ich that mein Möglichstes, der Gnade den Boden zu bereiten.

Als wir dann am Tage unserer Abreise von Kalada und Asmar Abschied genommen hatten, begleitete er uns bis an Bord, reichte mir sein Notizbuch und bat:

„Effendi, schreibe mir hier Deine Adresse auf! Vielleicht habe ich Dir später etwas mitzuteilen, worüber Du Dich freuen wirst.

Er hat Wort gehalten und mir geschrieben. Sein Brief liegt da vor mir, und ich schreibe ihn, natürlich in deutscher Übersetzung wörtlich ab.

Tunis ifrikija, am 12ten Kaum ittani. Abd el Fadl, der Bekehrte, an seinen Freund Mauwatti el Pars-Effendi. 1)

Gruß und Heil! Gruß auch von Kalada, dem Weibe, und Asmar, dem Sohne, die Dich lieben. Ich sitze auf dem Felle des Panthers, um Dir zu schreiben. Nochmals Heil! Der Herrscher hat mich aus dem Dienste entlassen, denn ich wurde Christ. Fromme Männer haben mich unterrichtet, und ich bestand die Fragen des Priesters. In drei Tagen empfange ich den Ritas el Mukaddas 2) und werde dann Jussuf (Josef) genannt. Mein Weib heißt Marryam und mein Sohn Karal (Karl), weil dies Dein Name ist, welcher in meinem Hause hoch in Ehren steht. Meine bisherigen Freunde verachten mich, weil ich ein Giaur geworden bin, aber meine Seele ist froh, den richtigen Weg gefunden zu haben. Die Ernte war hier reich und gut. Wie trugen in Deinem Lande die Datteln? Auch die Füllen sind munter, und in den Dörfern wachsen die Herden — — die Deinigen ebenso? Abermals Heil! Ist Dir Dein Herrscher wohlgesinnt? Hoffentlich gönnt er Deinen Kameelen genugsam Futter! Möge das Feuer Deines Zeltes nie verlöschen und Dein Kessel stets voller Kuskussu 3) sein. Bald blühen die Orangen. Besuche mich bald! Meine Grüße stehen hier! Saure Milch erquickt der erhitzten Körper; sie mangele Dir nimmer! Ich liebe Dich und gedenke Deiner. Sei gesegnet! Wiederum Heil!“ — — —

1) Panthertöter-Effendi.  2) Heilige Taufe.  3) Mehlbrei.
Zierleiste