MobileMenuKarl-May-Gesellschaft → Primärliteratur
(61)

Nûr es Semâ. — Himmelslicht.

Reiseerlebnis von Karl May.

Illustration1
„Bindet diese beiden Männer augenblicklich los und gebt sie frei, sonst sterben nicht sie, sondern Ihr fahrt zur Dschehenna!“

I. Nûr esch Schems.

Es war Mitte Dezember. Wir kamen von Bagdad herauf und wollten meinen Freund Amad el Ghandur, den Scheik der Haddedihn, Araber vom großen Stamme der Schammar besuchen. Wenn ich sage „wir“, so ist damit außer mir nur noch mein kleiner, wackerer und treuer Diener Hadschi Halef Omar gemeint. Wir waren vor Jahren bei den Haddedihn gewesen, hatten ein gutes Andenken zurückgelassen und wußten, daß sie uns mit großer Freude bewillkommnen würden.

Es war eigentlich ein kleines Wagnis, daß wir zwei es unternahmen, fast das ganze Mesopotamien so allein der Länge nach zu durchreiten. Die freien Ebenen, welche zwischen dem Euphrat und Tigris liegen, sind von vielen Araberstämmen bewohnt, welche nicht nur sich gegenseitig immerfort befehden, sondern auch mit der türkischen Obrigkeit in stetem Hader liegen und jeden fremden Reisenden und sein Eigentum als gute Beute betrachten. Aber es war uns trotzdem nicht bange. Wir hatten grad in dieser Beziehung reiche Erfahrungen gemacht, kannten das Land und seine Bewohner genau und wußten, daß wir uns in jeder Beziehung und Gefahr auf einander verlassen konnten. Besser war es immer allein zu reisen, als unter dem sogenannten Schutze eines türkischen Soldaten, dessen Gegenwart uns nicht nur nichts nützen, sondern im Gegenteile nur schaden konnte. Wir hatten das erlebt.

Der kürzeste Weg hätte uns am Flusse hinaufgeführt; da sich aber die Beduinenherden, welche wir vermeiden wollten, grad in dessen Nähe zu ziehen pflegen, so waren wir erst dem Wasser des kleinen Dijala gefolgt und ritten nun den Adhem entlang, um in der Nähe des Dschebel Hamrin nach Wester umzubiegen und bei Tekrit über den Tigris zu setzen.

Was unsere Ausrüstung betraf, so besaßen wir zwei gute Pferde und vortreffliche Waffen. Mein amerikanischer Henrystutzen hatte schon manchen Gegner in Schach gehalten. Dazu als Proviant mehrere Beutel voll Mehl und Datteln, für unsere Pferde das saftige Grün der Dschesireh, welcher es in der jetzigen Jahreszeit nicht an Regen mangelte — was brauchten wir mehr!

Es war am Vormittage; die Mündung des Adhem lag weit hinter uns, und schon gegen Abend hofften wir die Höhen des

Dschebel Hamrin zu sehen. Die Steppe, welche in der tropischen Glut des Sommers eine Wüste bildet, glich einem Gras- und Blumengarten, dessen Blütenstaub die Beine unserer Pferde gelb färbte. Sie bildete hier in dieser Gegend keine vollständige Ebene; es gab Bodenerhebungen genug, wenn dieselben auch nicht bedeutend waren, und dazwischen zahlreiche Einsenkungen, welche oft eine beträchtliche Tiefe und Breite besaßen. Diese Rinnen mit den eingefallenen Wänden waren die Überreste des einstigen Bewässerungssystems, welches die Dschesireh unter persischer Herrschaft zum fruchtbarsten Land des Reiches gemacht hatte. Auch kamen wir durch einige größere Thalmulden, welche wohl selbst noch zur Khalifenzeit als große Wasserreservoirs gedient haben mochten. Etliche von ihnen waren so tief, daß wir auf ihrem Grunde wie zwischen Bergeshöhen hinritten.

Mitte Dezember, und doch gab es eine Wärme wie in Deutschland im Juli und August! Die Pferde begannen allmählich unter derselben zu leiden, und wir machten gegen Mittag Halt, um sie ausruhen zu lassen. Am Rande eines der erwähnten einstigen Bewässerungsgräben setzten wir uns in das Gras und zogen unsere Tschibuks hervor, um von dem aus Bagdad mitgebrachten Tabak eine Pfeife zu rauchen. Während wir dies thaten, deutete Halef nach Osten und sagte:

„Schau, Sihdi (Herr)! Sind das nicht Reiter, welche sich dort bewegen?“

Ich saß mit dem Gesichte westwärts gerichtet, drehte mich um, blickte in die angedeutete Gegend und antwortete:

„Ja, es sind, wie es scheint, zwei Reiter, welche ein Lastpferd

(62)

bei sich haben. Deutlich kann man es nicht erkennen, weil die Entfernung zu groß ist.“

„Wer werden sie sein?“

„Das werden wir erfahren. Sie haben gleiche Richtung mit uns, und da sie langsam reiten, werden wir sie nachher bald einholen. Da ihre Anzahl nicht größer ist, haben wir von ihnen nichts zu befürchten.“

Nach ungefähr zwei Stunden ritten wir weiter und trafen bald auf die Fährte derer, die wir gesehen hatten. Sie schienen später schneller geritten zu sein, wie wir an ihren Spuren sahen. Wir beeilten uns nicht, denn wir hatten keinen Grund, sie einzuholen, blieben aber in ihren Stapfen, da sie wirklich unsere Richtung eingehalten hatten. Wie vermutet, sahen wir gegen Abend den Dschebel Hamrin, welcher seine Höhen nach Nordwesten zog, und gelangten in eines der vorhin erwähnten Thäler, in welchem wir die Nacht zuzubringen beschlossen, weil ein kleines Wässerchen durch dasselbe floß. Wir konnten trinken und auch die Pferde trinken lassen.

Das Thal beschrieb einen Bogen; darum konnten wir es nicht bis ans Ende übersehen. Wir lagerten uns am Eingange desselben. Die hohen Wände schützten uns vor dem stets kühlen Winde der Nacht.

Es war meinem Halef nicht eingefallen, unterwegs anzuhalten und abzusteigen, um die vom Islam vorgeschriebenen Gebete zu verrichten, und auch jetzt betete er weder das Mogreb noch das Aschiah, die Gebete bei Sonnenuntergang und eine Stunde nach demselben. Er war ein sehr eifriger Mohammedaner gewesen, durch sein Zusammenleben mit mir aber, obgleich er sich noch einen Mohammedaner nannte, innerlich ein Christ geworden. Wir rührten in dem mitgebrachten Becher Mehl und Wasser zusammen, aßen dies und einige Datteln dazu, banden den Pferden die Vorderbeine so zusammen, daß sie zwar grasen, aber sich nicht weit entfernen konnten, und legten uns dann schlafen.

Da wir so zeitig zur Ruhe gegangen waren, wachten wir am andern Morgen sehr früh auf; der Tag begann zu grauen. Wir aßen einige Datteln, sattelten die Pferde und ritten weiter. Wir kamen an den Bogen, den das Thal macht, und wollten eben um die innere Ecke desselben biegen, als wir jenseits derselben eine laute Stimme rufen hörten:

„Haï álas-salah ia mu’minin! Allah akbar; allahu akbar — Auf zum Gebete, Ihr Gläubigen! Gott ist groß; Gott ist groß!“

Wir ritten sofort ein Stück zurück, stiegen ab und gingen dann vorsichtig wieder vor, um, hinter der Krümmung versteckt, nach vorn zu sehen, was für Leute wir vor uns hatten.

Was wir da erblickten, war keineswegs erfreulich. Es lagerte da ein Trupp von gegen zwanzig sehr gut bewaffneten Männern mit ihren Tieren. Wir zählten sechzehn Reit- und acht Lastkamele, dazu sieben Pferde. Wie konnte das stimmen? Da waren doch wenigstens drei Pferde zu viel! Diese Männer knieten jetzt auf ihren Gebetsteppichen und beteten das Fegr, das Gebet bei der Morgenröte. Ihre Tiere waren alle abgesattelt und grasten. Die Sättel lagen auf einem Haufen beisammen; daneben standen die Gegenstände, welche die Lastkamele getragen hatten — sechzehn hölzerne Särge, je zwei für ein Kamel. Wir hatten eine sogenannte Karwan el Amwat, eine Karawane der Toten vor uns. Und da, hinter diesen Särgen, sahen wir zwei Menschen liegen, welche an Händen und Füßen gefesselt waren. Das erklärte das Rätsel der überflüssigen Pferde. Nämlich die zwei Reiter, welche wir gestern gesehen hatten, waren hier auf die Karawane gestoßen und von den Leuten derselben ergriffen worden.

Diese letzteren waren keine Sunniten, sondern Schiiten. Die Sunniten, welche man die orthodoxen Mohammedaner nennen könnte, erkennen Abu Bekr, Omar und Othman als Khalifen an, während die Schiiten diese drei verwerfen und nur Ali und dessen Nachfolger für rechtmäßig erklären. Zwischen beiden herrscht ein grimmiger Haß, welcher besonders zur Zeit der schiitischen Wallfahrten in hellen Flammen auflodert. Dieser Haß ist eine Folge der Leiden, welche die Söhne Alis auszustehen hatten. Der Jüngere von ihnen, Hussein, wurde ermordet und in Kerbela begraben; darum ist diese Stadt der heiligste Wallfahrtsort der Schiiten, welche ihre Toten von weither bringen, um sie dort zu begraben. Diese Leichen werden bis zu einer passenden Gelegenheit aufbewahrt, um dann in größeren oder kleineren Karawanenzügen -

Karawanenzügen nach Kerbela geschafft zu werden. Während dieser Totenzüge befinden sich die Beteiligten in einer religiösen Aufregung, welche an Wahnsinn grenzt und sie zu allen Unthaten gegen Andersgläubige fähig macht; den Beweis dazu hatten wir jetzt vor uns liegen.

„Siham Allah fi ada ed din — Allah möge die Feinde der Religion durchbohren!“ flüsterte mir Halef zu. „Das sind ja verdammte Schiiten! Die haben die beiden Reiter überfallen und werden das auch mit uns thun wollen, wenn sie uns sehen. Sihdi, was werden wir beginnen?“

„Schnell fliehen,“ antwortete ich, um ihn auf die Probe zu stellen.

Was ist vermutet hatte, das geschah: Der kleine wackere Mann antwortete zornig:

„Fliehen? Zwei solche Männer, wie wir sind? Vor diesen gemeinen Totengräbern? Ja, es wäre klüger, sie zu meiden; aber sollen wir den Gefangenen nicht beistehen? Das wäre feig! Wer weiß, was sie mit ihnen vorhaben. Diese tollen Bekenner der Schia sind im stande, sie qualvoll zu töten. Wir müssen die armen Teufel retten, und ich hoffe, Sihdi, daß Du damit einverstanden bist!“

„Allerdings, aber da dürfen wir nicht hier bleiben; wir müssen uns einen Punkt aussuchen, welcher ihr Lager besser beherrscht und unsern Leibern Sicherheit bietet. Komm!“

Wir stiegen wieder auf, ritten bis an den Ausgang des Thales zurück und bogen dann außerhalb desselben scharf ein, um an seinem Rande empor zu reiten, bis wir uns grad über der Karawane befanden. Da stiegen wir wieder ab, trieben unsere Pferde eine Strecke fort, damit sie nicht von unter gesehen werden konnten, legten uns auf die Erde nieder und krochen vorsichtig bis an den Rand, um in das Thal hinabzublicken.

Wir befanden uns auf einer vielleicht zwanzig Ellen hohen und ziemlich steilen Böschung, grad über dem Mittelpunkt des Lagers. Dieses hatte eine so geringe Ausdehnung, daß ich mit meinem Henrystutzen die zehnfache Länge hätte bestreichen können. Das Gebet war vorüber; man hatte den Gefangenen die Fesseln an den Füßen gelöst und einen Kreis um sie gebildet, in dessen Mitte sie standen, und beriet sich unter wüstem Geschrei, welches Schicksal sie erleiden sollten.

Eben zuckte der erste Strahl der aufgehenden Sonne über das Thal; da erhob der eine der Gefangenen die gefesselten Hände und rief:

„Ia schems, ia schems! Ia schems, il hamdulilla — O Sonne! o Sonne! O Sonne, Gott sei Dank! Du wirst uns retten vom gräßlichen Tode, der uns droht, denn wir stehen in Nur esch Schems, unter deinem Licht und Schutze! Laß uns nicht schon jetzt über die Brücke Tschinevad ins Jenseits schreiten, sondern vertreib mit deinen Strahlen die bösen Geister Ahrimans und sende uns Ormuzds reine Engel zu Hilfe!“

Ein schallendes Hohngelächter antwortete ihm, und das Brüllen und Schreien begann von neuem in einer Weise, daß wir die einzelnen Worte und Ausrufe nicht unterscheiden und verstehen konnten. Aus seinen Worten hatte wir gehört, daß er ein Parsi war, also einer der Anhänger der zoroasterschen Lehre, welche die Sonne und das Feuer als Sinnbilder ihres guten Gottes Ormuzd anbeten. Als eine Pause in dem Geschrei entstand, rief er wieder mit erhobenen Armen:

„Ia schems, is ilaha, ia nefisa, ia challasa — O Sonne, o Göttliche, o Herrliche, o Retterin! Du mußt und wirst uns retten, denn ich trage ja dein Tilsim (Talisman) auf meinem Herzen!“

Wieder wurde mit Gelächter geantwortet, und dann gebot einer, welcher der Anführer war:

„Macht es kurz mit den ungläubigen Hunden; Ihnen geschehe, wie ich schon gestern abend geboten habe. Wir haben hier ja Platz zur Runde!“

Was für eine Runde sollte das sein? Was meinte er mit diesem Worte? Wir sollten es gleich sehen. Es wurden mehrere Stricke zusammengeknüpft und mit dem einen Ende an den Nasenriemen eines Pferdes befestigt; das andere nahm einer der Kerle in die Hand. Dann schlang man den Gefangenen kürzere Stricke um die Handgelenke und band dieselben rechts und links an den Bauchgurt des Pferdes.

(63)

„O Allah! Man will sie zu Tode schleifen! Siehst Du es, Sihdi?“ fragte Halef.

Natürlich sah ich es! Das Pferd sollte an dem langen Stricke, welcher als Longe diente, im Kreise herum getrieben werden und die beiden armen Menschen hinter sich her schleppen, bis sie tot waren. Wir durften nicht länger zögern, denn schon machten sich mehrere Schiiten mit ihren langen Lanzen bereit, das Pferd mit den Spitzen derselben anzutreiben.

„Fangt an!“ gebot der Anführer. „Was zögert Ihr lange!“

Da erhob ich mich mit Alef [Halef] und rief hinab:

„Halt, bei Allah, haltet ein, wenn Ihr nicht selbst verderben wollt!“

Sie fuhren alle herum und blickten vor Überraschung sprachlos zu uns herauf.

„Bindet diese beiden Männer augenblicklich los, und gebt sie frei, sonst sterben nicht sie, sondern Ihr fahrt zur Dschehenna (Hölle)!“

Die Leute schwiegen noch immer, so betroffen waren sie; dann fragte der Anführer:

„Wer seid Ihr denn, daß Ihr es wagt, uns stören zu wollen?“

„Wir sind Retter in der Not, denen niemand widerstehen kann. Mein Gewehr allein reicht hin, Euch alle in einer Minute zu töten. Paßt auf; ich werde es Euch beweisen! Da drüben steckt eine Lanze in der Erde; ich werde, ohne zu laden, sechs Löcher in dieselbe schießen.“

Ich hatte dieses Experiment mit meinem Stutzen oft gemacht, und stets war es mir gelungen, die Betreffenden dadurch einzuschüchtern. Vielleicht war es mir auch jetzt möglich, die Gefangenen durch dasselbe zu befreien und Blutvergießen zu verhüten. Ich legte also den Stutzen an, zielte und drückte sechs Mal schnell hinter einander ab. Sie eilten nach dem letzten Schusse hin, die Lanze zu betrachten, wodurch ich Zeit gewann, die sechs verschossenen Patronen unbemerkt von ihnen zu ersetzen. Es ertönten laute Ausrufe der Verwunderung; den Anführer hörten wir sagen:

„Allah bewahre uns! Das ist ein Dschiht es Sihr, ein Zaubergewehr, welches man nicht zu laden braucht und dennoch ganz genau die Ziele trifft.“

„Du hast recht gesprochen,“ antwortete ich. „Eine Minute genügt, Euch alle mit dieser Zauberflinte tot ins Gras zu strecken; es schießt so schnell und sicher, daß keiner von Euch Zeit zur Flucht finden würde. Gebt also die Gefangenen frei, sonst schieße ich!“

„Seid nur Ihr zwei da oben?“ fragte er.

„Zwei oder hundert, das ist ganz gleich; mein Gewehr allein genügt.“

„Wie schießen auch!“

„Versucht’s einmal! Eure Flinten liegen dort bei den Särgen. Wer Miene macht, die seinige zu holen, der bekommt meine erste Kugel, und dann hält das Zaubergewehr nicht eher mit Schießen ein, als bis Ihr alle getroffen seid.“

„Du bist der Schetan (Teufel) selbst, sonst hättest Du keine solche Flinte und könntest uns nicht so furchtlos drohen!“

„Wenn Du das meinst, so beeile Dich! Ich gebe Euch nur so viel Zeit, als nötig ist, dreimal die Fathha zu beten; dann schieße ich!“

„El kuwwe a’leija — die Gewalt ist gegen mich. Gott verbrenne Dich! Ich werde mich mit meinen Leuten beraten!“

„Und ich bete indessen dreimal die Fathha. Wenn ich zu Ende bin, trifft meine erste Kugel das Pferd, an welchem die beiden hängen, in den Kopf, und die zweite Dich!“

Das Tier that mir leid; aber ich sah voraus, daß ich es opfern mußte, um den Schiiten Schreck einzujagen und dadurch Blutvergießen zu vermeiden. Sie berieten sich wild gestikulierend halblaut mit einander, ich wartete vielleicht zwei Minuten und rief dann hinab:

„Die Frist ist zu Ende, es geht los!“ Hierauf zielte ich nach dem Pferde und drückte ab. Es wankte einige Male herüber und hinüber und fiel dann nieder, um noch kurze Zeit mit den Beinen um sich zu schlagen. Dann richtete ich mein Gewehr auf den Anführer.

„Battil — halt ein!“ schrie er, als er dies sah. „Wir werden diese Hunde freigeben!“

„Augenblicklich?“

Illustration2
Erst als sie uns ganz nahe waren, hielten wir an.

„Sofort!“

„Mit ihren Pferden und allem, was Ihr ihnen genommen habt!“

„Verlangst Du auch das?“

„Ja, wenn ihnen das Geringste fehlt, hört Ihr kein Wort mehr von mir, desto mehr aber Schüsse!“

„Jil’an daknak, addak el hemm — verflucht sei dein Bart, und Unheil treffe Dich!“

„Fluche nicht, sondern beeile Dich, sonst schieße ich doch! Die beiden Männer mögen dann ihren Weg schnell fortsetzen!“

Was so ein Repetiergewehr bei solchen unwissenden und abergläubischen Menschen thut! Sie banden die Gefangenen los und gaben ihnen ihre Pferde. Wegen der übrigen Gegenstände gab es freilich ein längeres Gezänk, da dieselben schon verteilt worden waren; doch war nach meiner letzten Drohung höchstens eine Viertelstunde vergangen, so hatten sie alles beisammen und konnten weiter reiten. Ehe sie ihre drei Pferde in Bewegung setzten, rief der eine zu uns herauf:

„Ia sejjid, ia weli en niam, Allah jebarik fik; Allah jesellimak — o Herr, o Wohlthäter, Allah segne Dich, Allah erhalte Dich!“

„Reitet fort; wir sehen uns wieder!“ rief ich ihnen noch zu. Dann machten sie sich froh davon, und zwar im schnellsten Galoppe, der ihren Pferden möglich war.

Als wir glaubten, daß die beiden Geretteten, weit genug fort seine, stiegen auch wir in unsere Sättel und ritten ihnen nach. Verfolgt wurden wir von den Schiiten nicht, und hätten sie es gethan, so wären wir im stande gewesen, sie mit unsern Gewehren, welche viel weiter trugen als die ihrigen, von uns fern zu halten.

Die beiden Geretteten waren noch nicht am Horizonte verschwunden; wir galoppierten hinter ihnen her. Als sie uns bemerkten, hielten sie an, uns zu erwarten. Der eine von ihnen, welcher vorhin zu uns gesprochen hatte, war besser gekleidet als der andere; er rief uns, noch ehe wir sie erreicht hatten, entgegen:

„Ihr kommt uns nach? Darüber ist mein Herz erfreut, denn nun ist es mir möglich, Euch besser Dank zu sagen, als es vorhin möglich war.“

„Danke Gott und nicht uns!“ antwortete ich ihm. „Er war es, der uns zur rechten Zeit zu Euch führte. Was wir gethan haben, war nichts als unsere Pflicht, und für die Erfüllung einer Pflicht hat niemand Dank zu fordern.“

„Das ist wahr; aber Euer Pflichtgefühl brachte Euch selbst in eine so große Gefahr, daß hundert andere sich vor derselben

(64)

gefürchtet hätten. Nimm also meine Hand, Sihdi, und sage mir, wie ich Dir wieder dienen kann!“

„Deine Hand ist mir willkommen; hier ist die meinige. Hattet Ihr denn diese Perser beleidigt?“

„Nein. Sie sind keine Perser, sondern aus der Gegend von Suleimania, welches noch diesseits der Grenze liegt. Wir trafen auf sie, grad als sie, die uns entgegenkamen, lagern wollten. Wir grüßten und wollten an ihnen vorüber; da hielten sie uns an, weil sie glaubten, daß wir Sunniten seien. Als ich ihnen sagte, daß ich ein Parsi bin, wurde ihr Haß noch größer als vorher, und sie bemächtigten sich unser, um uns für den Tod ihres Hussein sterben zu lassen.“

Wo kommt Ihr her?“

„Aus Bagdad. Mein Vater ist der Parsikaufmann Wikrama, und ich heiße Alam. Wir wollen zu den Anezeh-Arabern, um meinen Vater aus der Gefangenschaft derselben zu befreien.“

„Wie? Er ist Gefangener der räuberischen Anezeh? Wie konnte er, ein Bagdader Kaufmann, in die Hände dieser Leute fallen?“

„Er reiste nach Mossul, um einem Geschäftsfreunde eine große Summe Geldes zu bringen, wurde aber von ihnen überfallen und ausgeraubt. Sie sind mit dieser Summe nicht zufrieden und verlangen noch ein hohes Lösegeld. Ist dasselbe nicht zur bestimmten Zeit bezahlt, so werden sie ihn töten.“

„Du willst das Geld zu ihnen bringen?“

„Ja, aber nicht die ganze Summe, welche sie verlangt haben, denn es war mir unmöglich, dieselbe aufzubringen. Durch den Verlust, den er erlitten hat, sind wir arm geworden, denn was die Anezeh ihm abgenommen haben, war fast unser ganzes Vermögen. Ich habe geborgt, soviel ich konnte, und doch kaum die Hälfte der Summe zusammen, welche die Beduinen verlangt haben, doch hoffe ich, daß sie damit zufrieden sein werden. Sollte dies nicht der Fall sein, so wende ich mich an den berühmten Einsiedler auf dem Felsen von Wahsija, von dem ich hörte, daß er große Macht über sie habe.“

„Welch eine Unvorsichtigkeit, hier von diesem Gelde zu erzählen! Wie nun, wenn wir auch Räuber wären und Euch dasselbe abforderten?“

„Ihr würdet es nicht finden, wie es die Schiiten auch nicht gefunden haben. Es ist gut versteckt. Übrigens seid Ihr unsere Retter, denen ich vertrauen darf, und auf alle Fälle habe ich zwei Talasim bei mir, welche mich aus jeder Gefahr retten werden.“

„Vertraue keinem Talisman und keinem Amulett, o Jüngling! Gott allein ist der Retter. Das Gebet vermag mehr als alle Talasim der Welt.“

„Meine Talasim sind eben Gebete. Sobald ich meine rechte Hand an die Stelle lege, an welcher sie sich befinden, ist die Rettung da. Als ich vorhin die Sonne anrief und die gefesselten Hände auf die Brust legte, auf welcher meine Talasim ruhen, sandte sie Euch sofort, uns zu befreien. Wo kommt Ihr her, und wo wollt Ihr hin, o Sihdi?“

„Wir kommen von Bagdad und wollen zu den Haddedihn-Beduinen, um deren Scheik, welcher unser Freund ist, zu besuchen. Ich werde Kara Ben Nemsi genannt, und hier ist Hadschi Halef Omar, mein Begleiter.“

„Zu den Haddedihn? So müßt Ihr wohl auch nach Tekrit und über den Tigris hinüber?“

„Ja. Dann werden wir am Thatharflusse hinaufreiten.“

„Das ist ja auch unser Weg! Sihdi, erlaubst Du, daß wir mit Euch reiten?“

Es lag mir gar nicht viel daran, diese beiden jungen und jedenfalls unerfahrenen Menschen bei mir zu haben; sie konnten uns nichts nützen; dennoch antwortete ich:

„Wenn Ihr Euch in unsere Art und Weise fügt, werdet Ihr uns willkommen sein. Also vorwärts nach Tekrit, damit wir keine Zeit verlieren!“

Ich setzte mein Pferd in Bewegung; er hielt sich sogleich an meine Seite und sagte:

„Du wirst es nicht bereuen, uns bei Dir zu haben. Wir kommen durch Gegenden, in denen es viele Gefahren giebt. Aber meine Talismane werden uns beschützen und auch Dir zu gute kommen. Der eine ist ein Talisman der Sonne; ich befinde mich im Nur esch Schems, im Lichte und Schutze der Sonne, welche wir verehren, und kein Feind wird uns etwas anhaben können.“

„Sie ist ein Werk des allmächtigen Schöpfers, ohne den sie nichts wäre. Wer in seinem Lichte wandelt, der steht unter dem mächtigsten Schutze, den es im Himmel und auf Erden giebt!“

2. Nûr el Hilal.

Es war einige Tage später. Wir hatten Tekrit, diese jetzt so klein und unbedeutend gewordene Ortschaft, hinter uns, waren auf Schilfflößen über den Tigris gegangen, noch eine Strecke westlich in die Steppe hineingeritten und befanden uns nun an dem kleinen Flusse Tharthar, an dessen Ufer wir aufwärts ritten. Hier hatten wir Wasser, so viel wir brauchten, Weide die Fülle und konnten uns, falls uns eine feindliche Begegnung drohte, frei nach allen Richtungen wenden, was nicht möglich gewesen wäre, wenn wir uns an das Ufer des Tigris gehalten hätten.

Und eine solche Begegnung lag keineswegs außerhalb des Bereiches der Möglichkeit. Wir hatten nämlich zu unserm Leidwesen in Tekrit erfahren, daß Feindseligkeiten zwischen den Stämmen der dortigen Beduinen ausgebrochen seien. Der erste Grund dazu war eine Räuberei der Abu Hammed gegen die Alabeïde gewesen; diese beiden Stämme hatten befreundete Abteilungen an sich gezogen und machten nun mit ihren gegenseitigen Plänkelzügen die ganze Gegend unsicher.

Halef und ich hatten uns ganz besonders vor den Abu Hammed zu hüten, denn wir waren vor Jahren mit dabei gewesen, als sie von den Haddedihn besiegt und tief gedemütigt worden waren. Wenn wir ihnen in die Hände gerieten, hatten wir nichts Gutes zu erwarten. Darum hielten wir die Augen offen.

Was unsern Begleiter, den Parsi Alam betrifft, so war ich mit seiner Anwesenheit ausgesöhnt; er war zwar jung, unerfahren und wohl auch unvorsichtig, dabei aber für mich eine sehr interessante Persönlichkeit. Er hatte einen Parsi zum Vater und war in Bagdad von einer mohammedanischen Mutter geboren worden; infolge dessen bekannte er sich äußerlich zum Glauben seines Vaters und hielt es doch innerlich mit demjenigen seiner Mutter. Halb Sonnen- und Feueranbeter und halb Moslem, war er doch keins von beiden; dabei besaß er eine durstige Seele, rang nach Licht und Wahrheit und hatte doch weder das eine noch das andere zu finden vermocht. Er fühlte die Fesseln des Aberglaubens, unter welchem er stand, wollte gern frei von ihnen sein und konnte doch nicht loskommen.

Es war gar kein Wunder, daß er in dieser innern Bedrängnis das Gespräch auf die Religion brachte. Er hatte mich für einen Moslem gehalten; als er dann hörte, daß ich Christ sei, wurde er noch offener, als er vorher gewesen war und legte mir eine Menge Fragen vor, welche ich alle beantworten sollte. Es fiel mir nicht ein, mich nun sofort als Missionär zu gebärden; das wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen; ich erwähnte meinen Glauben und seine Lehren mit keinem Worte, sondern schlug den wenn auch indirekten aber um so sichereren Weg ein, ihm durch kurze, klare und überzeugende Bemerkungen zu beweisen, daß der seinige haltlos sei.

Vom Morgen bis zum Abende sprachen wir von fast nichts anderem; er wurde nachdenklicher und immer nachdenklicher, so daß ich überzeugt war, daß meine Worte fest in seinem Innern hafteten. Auf diese Weise hatte ich auch meinen Halef bekehrt, der mich partout zum Mohammedaner hatte machen wollen. Der kleine, treue Mann hörte unsern Wechselreden schweigend zu, konnte sich aber, als ich gelegentlich einmal neben ihm ritt, nicht enthalten, heimlich zu mir zu sagen:

„Sihdi, erinnerst Du Dich noch daran, daß ich Dich damals zum Islam bekehren wollte, Du mochtest wollen oder nicht?“

„Ja.“

„Und nun ist mir Dein Glaube lieber als der unserige, obgleich ich dies noch niemand sagen mag. Ich bemerke, daß dieser Parsi eines Tages ebenso denken wird wie ich, trotz der Talismane, welche er bei sich trägt.“

Er hatte also an Alam ganz dieselbe Beobachtung wie ich gemacht. Nebenbei mag hier bemerkt werden, daß der Begleiter des Parsi ein junger Mann war, welcher jetzt in seinem Dienste stand und früher eine Art Hausierhandel unter den Beduinen getrieben hatte, die Gegend und deren Bewohner also einigermaßen kannte und darum als jetziger Begleiter nicht schlecht

(65)

gewählt worden war. Für mich freilich konnte dieser einfache und vollständig harmlose Mann nicht die mindeste Bedeutung haben. Er ritt auch immer sehr bescheiden hinter uns her.

Der Tharthar hat im Sommer wenig oder fast gar kein Wasser; dann giebt es nur an seinen Ufern etwas Grün; in der Steppe aber sind die Pflanzen vollständig abgestorben, und die Beduinen halten sich mit ihren Herden in der Nähe des Tigris oder suchen den westwärtsfließenden Euphrat auf. Jetzt gab es Wasser in dem Flüßchen, doch nicht so viel, daß uns der Übergang schwer geworden wäre. Wir konnten, wenn es notwendig war, in jedem Augenblicke hinüber und wieder herüber, ganz wie es unsere Sicherheit erforderte.

Bis jetzt hatten wir keine Begegnung gehabt; heut aber, als die Sonne vielleicht drei Viertel ihres Laufes vollendet hatte, sahen wir vier Reiter, welche südwestlich aus der Steppe kamen und auf den Fluß zuhielten, an welchem sie mit uns zusammentreffen mußten. Als sie uns bemerkten, hielten sie für kurze Zeit an, um sich zu besprechen; dann setzten sie ihre Pferde in Galopp und kamen auf uns zu. Wir ritten unsern Schritt weiter, da wir vier Männer jedenfalls nicht zu fürchten hatten. Erst als sie uns ganz nahe waren, hielten wir, wie uns die Höflichkeit gebot, an. Sie sahen grad so aus wie alle Beduinen; es gab nichts an ihnen, was uns hätte mißtrauisch machen können. Sie grüßten uns höflich, und wir dankten ihnen. Sie waren jung; der älteste von ihnen konnte fünfundzwanzig Jahre zählen. Er fragte uns, zu welchem Stamme wir gehörten.

„Wir sind fremd,“ antwortete ich unbestimmt. „Unsere Väter haben nicht in der Wüste, sondern in Städten gewohnt.“

„Wohin wollt Ihr?“

„Zu dem frommen Einsiedler auf dem Felsen von Wahsija. Du siehst, daß unsere Reise eine sehr friedliche ist.“

Ich mußte in dieser Weise antworten, weil ich noch nicht wußte, zu welchem Stamme diese Leute gehörten.

„Habt Ihr ein Gelübde gethan, daß Ihr zu dem Einsiedler wollt?“ fragte er weiter.

„Nein. Wir wollen ihm nur ein Geschenk und eine Bitte bringen. Bei welchem Stamme stehen Euere Zelte?“

„Wir gehören zum mächtigen Stamme der Alabeïde.“

„Der Alabeïde?“ rief Halef erfreut aus. „Wo befindet sich derselbe?“

„Nicht weit von hier am Flusse. Wir werden unser Lager noch vor Abend erreichen,“ antwortete der Mann dem kleinen, unvorsichtigen Frager.

„Dann reiten wir mit Euch, denn wir sind alte Bekannte und Freunde Eueres Stammes.“

„Ihr? Wieso?“

Halef deutete auf mich und antwortete stolz:

„Hier seht Ihr den berühmten Emir Kara Ben Nemsi. Kennt Ihr seinen Namen? Und ich bin Hadschi Halef Omar, sein Freund und Gefährte. Ihr seid jung und also damals nicht dabei gewesen; aber wir haben im Thale der Stufen mit Euch und den Haddedihn gegen die Abu Hammed, Dschowari und Obeïde gekämpft. Das war ein sehr großer Sieg, und Ihr wißt gewiß, daß Ihr denselben diesem Emir Kara Ben Nemsi zu verdanken hattet.“

Bei der Nennung meines Namens hatte die vier Reiter laute Rufe der Überraschung ausgestoßen. Sie sahen einander

Illustration2
„Die liegen sicher; von ihnen kann keiner fort,“ lautete das Resultat dieser Inspektion.

mit einem Ausdrucke an, welcher auf freudige Bestürzung deutete später erfuhren wir freilich, daß es etwas ganz anderes gewesen war. Als Halef seine hochtrabende Rede geendet hatte, antwortete der vermeintliche Alabeïde in jubelndem Tone: „Hamdulillah! Preis sei Allah, der uns Euch hier begegnen ließ! Ja, wir gehörten damals noch nicht zu den Kriegern, aber wir haben Eueren großen Ruhm vernommen. Unsere Stämme verdankten Euch jenen Sieg. Ihr seid uns willkommen, hoch willkommen. Wie werden sich die Unserigen freuen, wenn wir ihnen verkünden, welche Gäste wir ihnen bringen! Emir Kara Ben Nemsi, nimm hier meine Hand! Sei unser Gast für viele, viele Tage! Willst Du uns die Wonne Deiner Gegenwart bereiten?“

Ich sah seine Augen und diejenigen seiner Gefährten leuchten, ergriff seine Hand und sagte zu. Ich nahm dieses Augenleuchten als ein Zeichen der Freude; Das war es auch, aber einer ganz andern Freude, als wir annahmen. Wir unvorsichtigen Menschen gingen ganz vertrauensselig in eine Falle, die uns noch dazu von so jungen Menschen gestellt worden war!

Wir ritten weiter und unterhielten uns über die damaligen Kriegserlebnisse. Ganz besonders freuten sich die vermeintlichen Alabeïde darüber, daß wir damals die Abu Hammed so gezüchtigt hatten. Ich war Gefangener dieses Stammes gewesen, ihm aber entkommen; sein Scheik Zedar Ben Huli wurde dann von einem meiner Gefährten erschossen; die Abu Hammed mußten sich den Haddedihn und Alabeïde unterwerfen und den besten Teil ihrer Herden als Tribut zahlen. Dabei gaben sich die vier in einer Weise, daß bei uns kein Argwohn entstehen konnte. Sie hielten ihre Worte und Gebärden unter einer außerordentlichen Beherrschung.

Später trennte sich einer von uns, um voranzureiten und die Ankunft so hoch willkommener Gäste zu verkündigen. Es war vielleicht eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang, als wir die schwarzen Zelte des Stammes liegen sahen. Herden weideten, von einzelnen Hirten beaufsichtigt, rund um das Lager. Es war ein Bild des Friedens. Eine große Anzahl von Frauen und Mädchen kam uns entgegen und bewillkommnete uns mit einem vielstimmigen und oft wiederholten „Marhaba!“ Hinter diesen hielten die Jünglinge, um diesen Ruf zu wiederholen. Bei ihnen befanden sich nur wenig erwachsene Männer. Wir hatten gehört, daß die Krieger auf einem Zuge gegen die feindlichen Abu Hammed abwesend seien, aber hoffentlich übermorgen schon wiederkommen würden. Das war ein ganz außerordentliches Freudengeschrei, welches man nur bei der Ankunft von sehr lieben Gästen zuhören pflegt! Wir wurden förmlich von den Pferden gehoben und im Triumphe zu den Zeltreihen geführt. Da plötzlich sah ich, daß einer der alten Krieger meinem Halef das Gewehr aus der Hand riß; im nächsten Augenblicke, ehe ich nur eine Bewegung der Abwehr machen konnte, schlug er mir den Kolben desselben so gegen die Stirn, daß mir die Gedanken vergingen; noch ein solcher Hieb, ich stürzte zu Boden und verlor die Besinnung.

Wie lange ich ohnmächtig gewesen war, weiß ich nicht; als ich erwachte, umgab mich tiefe Dunkelheit; im Kopfe hatte ich eine Empfindung, als ob derselbe ein hohler Kürbis sei, in welchem Millionen Fliegen summten. Durch dieses Summen tönten wie aus weiter Ferne menschliche Stimmen. Ich lag, an Händen und Füßen gebunden, an der Erde. Als ich mein Gehör anstrengte, -

(66)

anstrengte, wurden die Stimmen nach einiger Zeit deutlicher; ich glaubte diejenige meines Hales zu erkennen.

Da wurde es licht. Einige Männer erschienen, von denen einer eine thönerne Öllampe in der Hand hatte. Sie traten zu mir. Als sie sahen, daß ich die Augen offen hatte, sagte der Lampenträger:

„Allah sei Dank; der Hundesohn lebt; ich habe ihn also nicht erschlagen!“ Und sich zu mir wendend fuhr er fort: „ Du bist Kara Ben Nemsi, der uns damals im Thale der Stufen überlistet hat; heut haben wir Dich übertölpelt. Wir gehören nicht zu den Alabeïden, welche Allah verbrennen möge, sondern wir sind Abu Hammed, denen Du damals so großen Schaden zugefügt hast. Du wurdest zu uns gelockt, und Dein Hirn war schwach genug, zu glauben, daß wir Alabeïde seien. Ihr habt damals unsern Scheik Zedar Ben Huli getötet; nun bleibt Ihr hier liegen, bis unsere Krieger kommen, welche um der Blutrache willen Eure Seele von Euch nehmen werden!“

Er versetzte mir einen Fußtritt und entfernte sich dann mit den andern. Im Scheine des kleinen Lichtes hatte ich gesehen, daß ich mit meinen Gefährten im Innern eines Zeltes lag; sie waren ebenso gefesselt wie ich; sie hatten vorhin mit einander gesprochen, und infolge der beiden Hiebe, durch welche ich niedergeworfen worden war, hatte ich ihre Stimmen wie aus weiter Ferne gehört.

Als wir wieder allein waren, erkundigte ich mich nach den Verhältnissen. Mich hatte man für den Gefährlichsten gehalten und also niedergeschlagen; die andern waren niedergerissen und bewältigt worden. Als wir dann gebunden worden waren, hatte man unter Geschrei und Geheul einen Freudentanz um uns aufgeführt, uns mit Händen und Füßen geschlagen und gestoßen, angespuckt und dann in dieses Zelt geschleift, vor welchem jetzt zwei Wächter saßen.

„Daran bin ich schuld, Sihdi,“ gestand Halef. „Ich hätte nicht so schnell sagen sollen, wer wir sind!“

„Das ist wahr; aber Vorwürfe nützen zu nichts. Ich bin ebenso unvorsichtig gewesen wie Du. Man hat uns natürlich ausgeraubt?“

„Nein. Als einige Miene machten, uns die Taschen zu leeren, verbot es der Stellvertreter des Scheiks. Er meinte, dies dürfe erst geschehen, wenn die Krieger zurückkehren.“

„Er hat gewußt, daß alles bald verschwinden würde, während nur der Scheik den Raub zu verteilen hat. Das ist gut für uns. Aber unsere Waffen?“

„Die hat man uns freilich abgenommen und in das Zelt des Scheiks geschafft.“

„Weißt Du, welches Zelt dies ist?“

„Nein. Ich hörte aber sagen, daß sie dort aufbewahrt werden sollten.“

„Hm! Du liegst neben mir. Wie sind Dir deine Hände gebunden?“

„Vorn.“

„Ich habe die meinigen auf dem Rücken. Kannst Du Deine Finger bewegen?“

„Ja.“

„So rutsche näher, und versuche einmal, ob Du mir die Knoten aufknüpfen kannst! Man merkt es, daß wir es mit unerfahrenen Leuten zu thun haben. Hätten sie uns einzeln eingesperrt, so könnten wir einander nicht helfen.“

Halef folgte meiner Aufforderung; es ging schwer und langsam, aber nach einer halben Stunde hatte ich die Hände frei.

„Nun binde auch mich und die andern los!“ forderte er mich auf.

„Fälle mir nicht ein! Das wäre die größte Thorheit, die ich begehen könnte! Binde mir vielmehr die Hände wieder zusammen. Es war einstweilen ein Versuch. Hörst Du den Lärm da draußen! Man ist noch viel zu munter. Später werde ich sehen, ob und wie wir fortkönnen. Jedenfalls aber gehe ich nicht, ohne mein Gewehr wieder zu haben.

„Und meinen Packsattel!“ flüsterte der Parsi angelegentlich.

„Warum diesen?“

„Weil mein Geld im Polster desselben versteckt ist. Sag mir, o Sihdi, würden diese Abu Hammed uns töten?“

„Ohne Gnade und Barmherzigkeit!“

„Du meinst aber, daß wir fliehen können?“

„Ich hoffe es.“

„Allah sei gepriesen! Daran sind nur meine beiden Talismane schuld. Ich habe es Dir gesagt, daß sie uns aus jeder Not erretten werden!“

Ich schwieg. Er kannte meine Meinung bereits. Was hätte ich nur noch sagen sollen?

Wir warteten. Die Zeit verging. Draußen wurde es still und stiller. Die Männer, welche vorhin dagewesen waren, kamen wieder, um nach uns zu sehen. Wir lagen wir vorher. Sie glaubten uns fest zu haben und gingen wieder. Draußen geboten sie den neuen Wächtern, ja recht gut aufzupassen. Dann hörte ich zuweilen leise Schritte, welche um unser Zelt gingen; das waren die Wächter, welche vor dem Eingange saßen. Von Zeit zu Zeit unternahm einer von ihnen einen Rundgang.

Nun wurde es Zeit. Halef mußte mich wieder losbinden, was jetzt schneller ging als vorher. Ich hatte die Hände frei und konnte mir nun den Strick von den Fußgelenken knüpfen.

„Sihdi, wohin willst Du draußen?“ fragte der Parsi.

„Das Zelt des Scheik suchen.“

„Such’ auch meinen Packsattel! Ich werde die Hand auf meinen Talisman der Sonne legen, den ich auf der rechten Brust trage. Er wird Dich beschützen. Ormuzd mag Dir seine reinen Geister zur Begleitung senden!“

Ich kroch leise an die Hinterwand des Zeltes und zog einen der Pflöcke aus der Erde. Nun konnte ich die Leinwand heben und unter derselben hindurchkriechen. Der Himmel hatte sich mit Wolken umzogen, als ob es regnen wolle; es war so dunkel, daß man nicht sehr weit sehen konnte. Das war mir lieb, obgleich es mir dadurch schwer wurde, unser Zelt wiederzufinden. Ich schob mich also hinaus und schnellte mich dann gleich mehrere Ellen weit fort, um aus der Nähe der Wächter zu kommen. Dann legte ich mich zu Boden und kroch weiter. Ich mußte durch das ganze Lager, war aber überzeugt, daß das Zelt des Scheiks sich durch irgend etwas vor den andern auszeichnen werde.

Weiter aufwärts brannte ein Feuer, an welchem mehrere Männer saßen, gewiß die spätere Ablösung für unsere Wächter. Ich mußte mich so halten, daß der Schein dieses Feuers nicht auf mich fiel und kroch im Dunkel der andern Seite weiter, jedes Zelt, an dem ich vorüberkam, so weit die Dunkelheit es zuließ, genau betrachtend. Da stand eins, welches größer als die andern war; zwei mit Palmfaserbüscheln verzierte Lanzenspitzen ragten über demselben hoch empor. Sollte dies das gesuchte sein?

Eben wollte ich mich vorsichtig nach der vorderen Seite desselben schieben, da hörte ich ein Geräusch. Ein Mann kam um das Zelt herum; ich befand mich grad vor seinen Füßen und hatte keine Zeit, ihm auszuweichen. Noch ein Schritt, er stolperte über mich weg und stürzte. In demselben Augenblicke kugelte ich mich so weit wie möglich fort, eilte auf Händen und Füßen fort, erhob mich dann und huschte, so schnell ich konnte, den Weg zurück, den ich gekommen war.

„Wacht auf, Ihr Männer!“ rief eine laute Stimme, welche durch das ganze Lager klang. „Es war ein Mensch am Zelte des Scheiks!“

Es wurde augenblicklich in den Zelten und außerhalb derselben lebendig. Jetzt war es Hauptsache für mich, schnell in das unserige zu kommen. Ich befand mich schon in der Nähe desselben, auf der hintern Seite der Zeltreihe, legte mich wieder nieder und kroch hin. Zum Glück für mich fiel es den Wächtern nicht ein, hierher zu sehen, oder gar zu kommen. Sie waren aufgestanden und einige Schritte nach der Richtung gegangen, in welcher das Zelt des Scheiks lag. Ich schob mich unter der Leinwand hindurch und steckte den Pflock wieder in die Erde. Dann band ich mir den Strick um die Füße, und Halef mußte mir die Hände auf den Rücken fesseln. Kaum war dies geschehen und ich lag an meinem frühern Platze, so kamen mehrere Beduinen mit der Lampe und leuchteten uns einen nach dem andern an.

„Die liegen sicher; von ihnen kann keiner fort,“ lautete das Resultat dieser Inspektion. „Es ist kein Mensch, sondern einer unserer Herdenhunde gewesen.“

Sie gingen fort, und es wurde nach und nach wieder ruhiger im Lager. Ich erzählte den Gefährten mit leiser Stimme, was geschehen war.

„Mein Tilsim der Sonne hat sich nicht bewährt,“ meinte der Parsi. „Mein zweites Tilsim ist ein Tilsim el Hilal, ein Talisman

(67)

des Halbmondes, für Moslimin gemacht. Ich stehe also auch unter dem Nur el Hilal, im Lichte und Schutze des Halbmondes. Wagst Du Dich wieder fort, o Sihdi?“

„Ja. Wir müssen unser Leben an die Freiheit wagen und zwar noch in dieser Nacht; morgen ist’s wahrscheinlich schon zu spät.“

„So werde ich, wenn Du gehst, die Hand auf diesen zweiten Talisman legen, den ich auf der linken Seite der Brust trage.“

Ich wartete, bis unsere Wächter abgelöst worden waren, machte mich wieder frei und legte ganz denselben Weg in derselben Weise wie vorhin zurück. Ich wußte nun wirklich, daß es das Zelt des Scheiks gewesen war. Diesmal hatte ich mehr Glück. Es bestand bloß aus dem Selamlak (Empfangszelt); die Abteilung für die Familie bildete ein eigenes, danebenstehendes Zelt. Leider saß ein Wächter davor, jedenfalls weil sich unsere Sachen in demselben befanden. Dieser Mann war vorhin über mich weggestürzt.

Ich zog auch hier einen Pflock aus der Erde; dann kroch ich hinein und tastete im Finstern um mich, so vorsichtig und leise, daß der Wächter nichts hörte. Da lagen unsere Sättel und und dabei alle unsere Waffen. Ich fühlte meinen Stutzen, nahm ihn und kroch wieder hinaus.

Jetzt war wenigstens ich auf alle Fälle gerettet. Das Gewehr in meiner Hand gab mir das Gefühl vollständiger Sicherheit. Ich kehrte in unser Zelt zurück und band die andern los. Sie mußten mir folgen. Da sie außer Halef das Anschleichen nicht geübt hatten, krochen wir nur langsam vorwärts. Am Zelte angekommen, schob ich mich zunächst allein hinein; die andern mußten warten. Ich kroch leise, leise quer durch den kleinen Raum bis vor zum Eingange und schob das Tuch, welches die Thür bildete, ein wenig zur Seite. Da saß der Wächter, welcher stumm gemacht werden mußte, mir grad handgerecht so nahe, wie ich es nur wünschen konnte. Ich nahm ihn von hinten mit der Linken bei der Kehle, drückte dieselbe fest zusammen und schlug ihm die rechte Faust zwei-, dreimal so gegen die Schläfe, daß er sich streckte. Er war besinnungslos. Dieser Indianerhieb hat stets dieselbe Wirkung gehabt.

Nun konnten die andern herein. Wir banden den Wächter und zwangen ihm einen Zipfel seines Kopftuches als Knebel in den Mund. Dann nahmen wir unsere Sachen, wobei wir uns durch den Tastsinn leiten lassen mußten. Jetzt wurde sehr einfach die hintere Zeltwand von oben bis unten zerschnitten, damit wir mit den Sätteln leicht hinauskonnten. Der Parsi und sein Begleiter hatten freilich viel zu tragen, drei Sättel und einige Pakete Waren, welche sie auf dem Saumpferde mit sich geführt hatten, um, da Alam das Lösegeld nicht ganz besaß, die Anezeh vielleicht mit diesen Handelsgegenständen zu befriedigen. Das erschwerte unser Fortkommen, doch halfen ich und Halef mittragen, und so kamen wir glücklich und unbemerkt zum Lager hinaus.

Nun aber Pferde. Es war gar nicht notwendig, daß wird grad die unserigen bekamen. Heut gegen Abend, als wir uns dem Zeltlager näherten, hatten wir gesehen, auf welcher Seite desselben die Pferde weideten. Dorthin trugen wir unsere Sachen, legten sie ins Gras, und dann ging ich zunächst rekognoscieren.

Die Hunde hatte ich nicht zu fürchten, da dieselben bei den Schafen und Ziegen zu sein pflegen. Ich kam an den Kamelen vorüber; dann sah ich Pferde im Grase liegen. Auf dem Bauche kriechend, bewegte ich mich weiter. Da lag ein Hirte, den Ellbogen auf die Erde gestemmt und den Kopf in die Hand gelegt. Ich machte einen Bogen, um von hinten an ihn zu kommen und nahm ihn dann beim Halse. Der junge Mensch war schon vor Schreck halbtot. Ich setzte ihm das Messer auf die Brust, ließ ihm Luft, leise reden zu können, und sagte:

„Sprich um Allahs willen nicht laut, sonst ersteche ich Dich! Sagst Du eine Lüge, so bekommst Du auch das Messer! Wieviel Hirten sind hier bei den Pferden?“

„Nur ich,“ stieß er zitternd hervor.

„Steh auf, und komm mit mir! Wenn Du still bist, wird Dir nichts geschehen.“

Er gehorchte. Ich hielt ihn fest und brachte ihn zu den Gefährten, wo er mit seinem eigenen Gürtel gebunden wurde. Der Parsi und dessen Diener mußten ihn bewachen; ich aber ging mit Halef, fünf Pferde holen. Das war in kurzer Zeit

geschehen. Wir sattelten und zäumten sie auf, knebelten den Hirten, so daß er nicht gleich nach unserer Entfernung rufen konnte, stiegen auf und ritten so schnell davon, wie die Dunkelheit es gestattete.

Zunächst sagte keiner ein Wort; aber als wir uns weit genug entfernt hatten, rief Halef im Tone der Erleichterung aus:

„Lob und Preis sei Allah, der uns errettet hat! Sihdi, wir waren dem Tode verfallen, denn die Krieger der Abu Hammed hätten uns nach ihrer Rückkehr ganz gewiß ermordet.“

„Nein, es war keine Gefahr vorhanden,“ behauptete sonderbarer Weise der Parsi.

„Nicht?“ fragte der kleine Hadschi ganz erstaunt.

„Nein, denn ich habe meine beiden Talismane bei mir. Zwar hat sich der Talisman esch Schems, der Sonne, diesmal nicht bewährt, dafür aber hat der andere, der Talisman el Hilal, des Halbmondes, um so besser seine Pflicht gethan. Ich stehe im Nur sch Schems und im Nur es Hilal, im Lichte und Schutze der Sonne und im Lichte und Schirme des Halbmondes; mir kann also nichts geschehen und Euch auch nicht, weil Ihr Euch bei mir befindet.“

„Wenn aber hier mein Sihdi nicht gewesen wäre, so hätte es für uns keine Rettung gegeben,“ wendete Halef eifrig ein. „Und meinst Du, daß er sich von Deiner Sonne oder von Deinem Halbmonde kommandieren läßt? Er ist ein Christ und lebt in einem andern Lichte, als das Deinige ist. Es ist auch das meinige geworden; Allah und dem Propheten sei Dank dafür!“

Er dankte also ‚dem Propheten’ dafür, daß er innerlich ein Christ geworden war! Das durfte man aber dem kleinen wackern Kerlchen nicht übelnehmen.

3. Nûr es Semâ.

Die Anezeh sind einer der ältesten arabischen Nomadenstämme. Man sagt, sie seien Nachkommen des großen Stammes der Rebija, der schon vor Mohammed im südlichen Nedschd wohnte. Einige Zweige sind im nördlichen Nedschd verblieben; andere wohnen im Hedschaz, und außerdem haben mehrere Abteilungen ihre Weiden in der Nähe des Dschebel Schammar. Diese letzteren sind sehr raubsüchtig und dehnen ihre Beutezüge oft bis weit hinein nach Mesopotamien aus. Ihnen war Wikrama, der Vater unsers Parsi Alam in die Hände gefallen.

Ich war der Überzeugung, daß es dem Sohne nicht gelungen wäre, seinen Vater zu befreien, selbst wenn er das ganze verlangte Lösegeld und nicht nur einen Teil desselben besessen hätte. Diese habsüchtigen Leute pflegen zwar das Lösegeld zu nehmen, aber, anstatt dann den Betreffenden frei zu geben, eine neue Forderung zu stellen. Alam war überhaupt nicht der Mann dazu, mit diesen Beduinen in der Weise zu verkehren, wie es nötig gewesen wäre, wenn er seinen Zweck erreichen wollte.

Von einem Einsiedler auf dem Wahsija-Felsen hatte ich bei meinem früheren Hiersein nichts gehört. Dieser einsame Felsen liegt südwärts von den Sindscharbergen. In den Ortschaften der letzteren giebt es auch Christen. War es vielleicht ein christlicher Einsiedler? Kaum möglich, denn ein solcher wäre doch nicht, noch dazu in so wenigen Jahren, bei der mohammedanischen Bevölkerung bis hinab nach Bagdad so berühmt geworden. Und da er eine solche Macht selbst über die diebischen Anezeh, die doch Moslimin sind, ausüben sollte, so war er jedenfalls Moslem, wahrscheinlich einer jener frommen Asceten, welche im nordwestlichen Afrika Marabus genannt werden.

Nach unserm Zusammentreffen mit den Abu Hammed waren einige Tage vergangen. Wir befanden uns im Gebiete von Mossul, freilich in der Steppe, dem Aufenthalte der Beduinen, wohin die Macht des Mukessarif von Mossul kaum zu dringen vermag. Wir hatten gestern zwei Obeïde-Araber getroffen, welche jetzt mit den Haddedihn befreundet waren, und von diesen erfahren, wo die letzteren zu suchen seien. Heut nun näherten wir uns den Weiden derer, welche wir besuchen wollten.

Schon gegen Mittag sahen wir die Steppe wie abgemäht, ein Zeichen, daß die Haddedihn mit ihren Herden erst vor ganz kurzem hier gewesen und, wie die Spuren zeigten, langsam nach Norden gezogen waren. Dann, kurz nach Mittag, bemerkten wir die ersten Personen, zwei Reiter, welche am nördlichen Horizonte -

(68)

Horizonte ihre jungen Pferde tummelten. Sie sahen uns und kamen auf uns zugesprengt.

Ja, das waren Haddedihn; das sah man schon von weitem, die besten Reiter weit und breit! Ventre à terre kamen sie mit eingelegten Lanzen auf uns zugeflogen und parierten mitten im Galoppe ihre Pferde so nahe vor uns, daß die Spitzen ihrer Lanzen fast meine und Halefs Brust berührten. Das ist ein höchst gefährliches Experiment; aber man darf dabei kein Augenlid bewegen, wenn man nicht für einen Feigling gelten will.

Es waren zwei alte Krieger; ich kannte sie genau, denn ich hatte manchen Abend mit ihnen am Lagerfeuer gesessen. Welche Überraschung, als sie mich und Halef erkannten! Sie warfen sich sofort von den Pferden, ergriffen meine Steigbügel und küßten mir die Stiefelspitzen, bei dem ausgeprägten Stolze dieser Leute ein unerhörter Beweis, wie sehr sie uns ins Herz geschlossen hatten. Dann stiegen sie wieder auf und jagten wie der Wind davon, um uns anzumelden.

„Sihdi,“ fragte der Parsi, „wirst Du lange bei diesen Leuten bleiben?“

„Gewiß, einige Wochen.“

„Ich denke, Du willst mich zu den Anezeh begleiten, weil Du denkst, daß ich allein meinen Vater nicht befreien kann?“

„Ich habe es Dir versprochen und halte mein Wort.“

„Aber dann kannst Du Dich kaum einen Tag bei den Haddedihn verweilen. Ich habe Dir gesagt, daß am fünften des Monats Ssafar die Frist zu Ende ist.“

„Ich reite mit und kehre dann zu ihnen zurück.“

„Der fünfte Tag im Ssafar nach Mondsmonaten, ist das heuer nicht der fünfundzwanzigste Tag im Kanun el Auwal (Dezember) nach Sonnenmonaten, Sihdi?“ fragte Halef.

„Ja.“

„Auf diesen Tag fällt doch das Id el Milad (Weihnachtsfest) der Christen!“

„Allerdings.“

Und Du willst dieses Dein großes Fest dadurch feiern, daß Du zu den feindlichen Anezeh gehst und bei ihnen Dein Leben wagst?“

„Es gilt die Erlösung eines Unglücklichen und die Verhinderung eines Mordes. Das ist die beste Feier eines christlichen Festes.“

„Wohlan, Sihdi, darf ich mit?“

„Ja, Du wirst sehen, daß wir ganz heil zurückkehren werden.“

Da erschien vor uns im Norden eine große, dichte Wolke von Reitern, welche schreiend, jauchzend und ihre Gewehre abschießend auf uns losstürmten. Die Wolke teilte sich, als sie in unsere Nähe kam; die Reiter umritten uns und bildeten, als sie hielten, einen Kreis, in welchem nur einer von ihnen auf uns zusprengte — Amad el Ghandur, der heldenhafte Scheik, welcher sich ebenso wie ich vom Pferde warf. Wir umarmten und küßten uns, wobei alle andern unaufhörlich „Marhababak“, Gruß, Heil! riefen.

Er war das jüngere Ebenbild meines einstigen Freundes, seines Vaters Mohammed Emin, grad so hoch und breit von Gestalt, mit denselben ernsten, edeln Zügen und, bei einem Beduinen eine große Seltenheit, einem schönen, dunklen Barte, welcher ihm bis über die Brust herunterging. Der Bart seines Vaters war ebenso dicht und lang, aber silberweiß gewesen.

Was soll ich die rührenden Scenen schildern, welche nun folgten! Jeder wollte einen Händedruck, ein Wort von mir, und es dauerte lange, ehe sie umwendeten, um uns im Triumphe in ihr Lager zu führen. Man schildere diese Leute immerhin als halbwild, roh, unzuverlässig, treulos und so weiter! Wer sie genau kennt, der weiß, daß sie es nicht sind. Sie sind Freund dem Freunde, Feind dem Feinde und zwar das dann auch in jeder Beziehung und mit dem ganzen Herzen. Freilich, wer zu ihnen kommt, ohne die Berechtigung ihrer Eigenart gelten lassen zu wollen, wer da glaubt, von der hohen Plattform seiner Bildung aus auf sie herabblicken, sie als pfiffiger Händler aussaugen oder ihnen beweisen zu können, daß Mohammed kein Prophet, sondern ein sich selbst betrügender Phantast gewesen ist, der hat sich in ihnen geirrt und wird ihre guten Seiten niemals kennen lernen.

Und welche Aufregung erst im Duar, im Zeltdorfe, als wir in dasselbe gelangten! Die Männer waren uns entgegen gekommen; nun kamen die Frauen alt und jung, die Knaben und

die Mädchen! Der Scheik wollte, um mich von ihnen zu befreien, mich in sein Zelt drängen; aber das ging nicht an; ich wurde von zehn, von zwanzig Händen in den Schwarm hineingezogen und nicht eher freigegeben, bis auch der kleinste Nacktfrosch wenigstens einen freundlichen Klaps von meiner Hand bekommen hatte. Erst dann konnte Amad el Ghandur mich als seinen Gast betrachten.

Und nun ging das Schlachten los. Es gab Festtag, und gar mancher arme, fette Hammel mußte meine Ankunft mit seinem edlen Leben bezahlen. Aber so ist der Lauf der Welt: Die Freude des einen ist des andern Schmerz! Dann saßen wir vier Gäste mit dem Scheik beim leckern Mahle, wobei nach alt ehrwürdiger Vätersitte die fünf Finger als Löffel und Gabel benutzt wurden; sie rosten nicht, obgleich sie meist ungeputzt bleiben.

Und nun konnte die Rede auch auf das Woher, Wohin und Warum kommen. Ich erzählte Amad von dem Parsi und seinem Vater. Als er den Fall angehört hatte, sagte er:

„Es ist gut, daß Du, Freund meiner Seele, nicht sofort zu den Anezeh gegangen, sondern vorher zu mir gekommen bist. Es wäre Dein Tod gewesen, denn sie sind ergrimmt auf alles, was nicht Beduine heißt. Der Mukessarif hat seine Soldaten zu ihnen gesandt, um die Kopfsteuer mit Gewalt einzutreiben; er hat ihnen die schönsten und besten Tiere ihrer Herden fortführen lassen; nun drohen sie jedem Fremden mit dem Tode, denn jeder Fremde gilt bei ihnen als Türke. Dieser Wikrama, den Ihr loskaufen wollt, wird nicht frei gegeben, selbst wenn Ihr das ganze und sogar das doppelte Lösegeld bezahlt. Wenn sie ihn noch nicht getötet haben, werden sie das Geld nehmen und ihn dennoch ermorden und Euch dazu. Aber, Kara Ben Nemsi, Du bist mein Bruder, und so werde ich Euch beistehen. Weißt Du schon, daß wir mit ihnen in Fehde leben?“

„Nein.“

„Sie ist angesagt, aber noch nicht ausgebrochen. Die Anezeh haben, weil man ihnen so viele Tiere genommen hat, sich an den unsern vergriffen und wollen sie nicht herausgeben. Wir sind viel stärker und mächtiger als sie und werden sie uns wiederholen. Wann ist die Frist des Gefangenen abgelaufen?“

„Am fünften Tage des Ssafar.“

„So bald? Da müssen wir uns beeilen! Ich werde noch heut Boten aussenden, um die Krieger aller Haddedihn-Abteilungen schnell zusammenrufen zu lassen. Dann brechen wir nach dem Felsen Wahsija auf.“

„Lagern die Anezeh an diesem Orte?“

„Ja.“

„Ich hörte von einem berühmten Einsiedler, den es dort geben soll. Kennst Du ihn?“

„Ich war noch nie bei ihm, ich habe ihn noch nie gesehen. Es hat ihn überhaupt noch niemand gesehen außer den beiden Knaben, deren Mutter am Fuß des Felsens wohnt. Diese steigen täglich zweimal, des Morgens und kurz vor Abend, zu ihm hinauf, um die heiligen Worte zu vernehmen, welche sie den Gläubigen, die unten darauf warten, bringen sollen. Es kommen Pilger aus allen Gegenden, welche ihm ihre Anliegen durch die Knaben anvertrauen und dann seine Antwort erhalten. Niemand, selbst kein Räuber und kein Bösewicht wagt es, gegen die Weisungen zu handeln, welche er von dem Einsiedler erhält. Du wirst seine Zelle von weitem sehen, aber hinauf zu ihm steigen und ihn sehen darfst Du nicht. Wir hätten mit der Bestrafung der Anezeh noch einige Zeit gewartet; da aber Du gekommen bist, so werden wir gleich zwei Gazellen mit einem Schusse erlegen, nämlich diese Räuber züchtigen und diesen Wikrama befreien. Meinst Du, daß wir Kundschafter aussenden?“

„Ja. Wir müssen erfahren, ob sie sich auch wirklich am Felsen Wahsija befinden, und sie, wenn es möglich ist, einschließen. Auch müssen diese Kundschafter dafür sorgen, daß ihnen unser Anzug verborgen bleibt.“

„Sobald wir jetzt das Mahl beendet haben, werde ich Männer aussuchen, welche sich am besten dazu eignen, und ihnen unsere schnellsten Pferde geben.“

Schon nach einer Stunde ritten diese Kundschafter davon und mit ihnen die Boten, welche die Krieger der andern Abteilungen herbeiholen sollten. Niemand war froher über diese Eile als Alam, dem die Worte des Scheiks große Angst um das Leben seines Vaters eingeflößt hatten.

(69)

Schon am nächsten Abende brannten draußen vor dem Lager viele Feuer, um welche sich über sechshundert wohlbewaffnete Haddedihn versammelt hatten, und am darauffolgenden Morgen wurde der Zug angetreten. Am Mittag kam einer der Kundschafter zurück und meldete, daß die Anezeh ungefähr dreihundert erwachsene Männer stark mit ihren Frauen und Kindern, Zelten und Herden am Felsen lagerten und wahrscheinlich keine Ahnung davon hätten, daß die Haddedihn so schnell zur Rache aufgebrochen seien. Sie wurden von den andern Kundschaftern, natürlich ohne daß sich dieselben sehen ließen, von weitem beobachtet.

Aus dieser Mitteilung ging hervor, daß wir ihnen doppelt überlegen waren. Dazu kam, daß es bei uns nur Kombattanten, bei ihnen aber Frauen und Kinder gab, welche, wenn sie eingeschlossen wurden, eine außerordentlich störende Berücksichtigung erforderten.

Am nächsten Morgen waren wir so weit gelangt, daß wir anhalten mußten, denn der Parsi mußte vorangesandt werden, wenn sein Vater gerettet werden sollte. Thaten wir das nicht, so stand mit Sicherheit zu erwarten, daß sein Vater bei unserm Angriffe ermordet wurde. Es verstand sich ganz von selbst, daß ich mit ihm ging, denn ich hatte es ihm versprochen. Allein hätte er sich wohl kaum zu ihnen getraut. Mein wackerer, kleiner Halef ließ sich auch nicht zurückhalten; er begleitete uns. Den Führer des Parsi aber nahmen wir nicht mit; er konnte uns nichts nützen.

Amad el Ghandur sah es gar nicht gern, daß ich fortging; er mußte sich aber in meinen Willen fügen. Ich schloß mich übrigens dem Parsi nicht bloß wegen des Versprechens an, welches ich ihm gegeben hatte, sondern ich verfolgte noch eine andere Absicht dabei. Die Haddedihn wollten sich unbedingt rächen; sie waren zum Überfalle, zum Kampfe fest entschlossen; ich aber glaubte, wenn ich mich bei den Anezeh befand, auf irgend eine Weise das Vergießen von Menschenblut verhüten zu können.

Wir verließen also zu dreien den Ort, an welchem die Freunde lagerten, natürlich nicht, ohne daß ich mit Amad el Ghandur zuvor den Plan, welcher nach meiner Ansicht auszuführen war, genau besprochen hatte. Ich kannte die Gegend, in welcher der Felsen lag; wir konnten uns also nicht verirren.

Da wir beide uns bei ihm befanden, zeigte der Parsi ein getrostes Gesicht; ja, er äußerte sich sogar wieder einmal:

„Du hast doch keine Sorge, Sihdi? Ihr habt nichts zu fürchten, denn ich habe meine beiden Amuletts bei mir, wir befinden uns im Nur esch Schems und im Nur el Hilal; das Licht der Sonne und des Halbmondes wird uns beschützen.“

Ich hatte mich noch nicht darnach erkundigt; jetzt aber sprach ich die Frage aus:

„Wo hast Du denn die beiden Talismane her?“

„Du weißt,“ antwortete er, „daß zwischen Bagdad und Basra sieben türkische und zwei englische Dampfer hin- und herfahren. Auf dem einen englischen dient ein Nauti (Matrose), den ich sehr gut kenne. Er hat immer wunderthätige Amulettschriften bei sich, aus denen er Talismane macht, um sie zu verkaufen. Ich nahm zwei von ihm, um ganz sicher zu gehen, einen Talisman für Parsen und einen für Mohammedaner. Du hast erfahren, daß beide uns schon errettet haben.“

„Das glaubst Du, aber ich nicht. Es giebt keinen Talisman. Kann ich sie nicht einmal sehen?“

„Ich weiß nicht, ob ich sie Dir zeigen darf; aber beschreiben will ich sie Dir. Auf dem Parsitalisman ist Zerduscht, der Stifter unserer Religion abgebildet, als neugeborenes Kind, wie schon da die frommen Nachbarn kommen, um ihn anzubeten. Dabei ist eine Schrift, welche niemand lesen kann. Und auf dem moslemischen Talisman ist das kleine Kind Mohammed abgebildet, wie es von

Illustration3
„Wag’ einen einzigen Schritt, so bist Du eine Leiche!“

seiner Mutter Amina angebetet wird. Auch dabei ist eine Schrift, welche kein Mensch versteht. Ist Dir das genug?“

„Nein, nun nicht, denn ich glaube, Du bist von einem Schwindler betrogen worden.“

„Warum?“

„Weißt Du nicht, daß Mohammed verboten hat, Bilder zu machen? Und nun soll auf einem moslemischen Talisman gar das seinige und dasjenige seiner Mutter sein? Das ist Betrug? Zeig die Amulette einmal heraus!“

Ich mußte ihn wiederholt auffordern, ehe er mir den Willen that. Er zog unter seiner Kleidung an zwei Schnüren zwei weiße Papierpäckchen hervor. Auf das eine war eine Sonne und auf das andere ein Halbmond wie von Kinderhand mit Tinte gezeichnet. Ich öffnete sie. Was enthielten sie? Zu meinem Erstaunen zwei Illustrationen zu Gedichten aus einer deutschen Zeitschrift! Auf dem ‚mohammedanischen’ Talisman befand sich die Abbildung der heiligen Gottesmutter mit dem Jesuskinde. Der parsische Talisman bestand aus einem Vollbilde, ‚Die heilige Nacht’ von Prof. Seitz, zur Seite ein Weihnachtsgedicht. Diese Bilder stammten zweifelsohne aus einer deutschen Zeitschrift und gelangte auf irgend eine Weise auf den englischen Dampfer. Der Talismanfabrikant hatte sie besonders gern verwertet, weil hier in dieser Gegend gewiß kein Mensch die deutschen Worte lesen konnte.

„Nicht wahr, Sihdi, es ist kein Betrug?“ erkundigte sich der Parsi.

„Es ist einer, und doch ist der Inhalt dieser fremden Schrift ein Talisman im Leben und im Sterben. Hier ist von keinem Nur esch Schems und von keinem Nur el Hilal, von keinem Sonnen- oder Halbmondlichte die Rede, sondern von dem wahren Nur es Sema, von dem Himmelslichte, welches einst über Bethlehem aufgegangen ist und noch heut die Ganze Welt erleuchtet. Hier nimm die Bilder und betrachte sie genau! Ich werde sie Dir erklären und zu Dir von diesem Nur es Sema, diesem Himmelslichte sprechen. Morgen feiern wir ja Weihnachten, den Tag, an welchem es aufgegangen ist.“

Und nun endlich begann ich mit ihm über meinen Glauben zu sprechen, stundenlang, indem wir immer weiter ritten. Er hörte mir andächtig zu und unterbrach mich mit hundert Fragen, welche bewiesen, daß meine Worte Wurzel in seinem Herzen faßten. Da wurde es Abend, und wir mußten lagern.

Der Himmel stand voller Sterne, und im Innern meiner beider Zuhörer gingen auch Sterne auf, echte Himmelslichter. Wir wachten und sprachen bis um Mitternacht. Als ich mich dann zum Schlafe niederlegte, sagte der Parsi:

„Sihdi, Dein Glaube ist voller Liebe, so einfach und doch so wunderbar! Ja, wer ihn im Herzen trägt, der braucht kein Amulett und keinen Talisman, denn die ewige Güte und Liebe wacht stets über ihm. Ich bin betrogen worden, dennoch aber werde ich mir diese Blätter bis ans Ende meines Lebens aufbewahren, denn sie haben mich durch Dich zum wirklichen Nur es Sema, zum wahren Himmelslichte geführt!“

Halef sagte nicht; er drückte mir still die Hand; ich verstand ihn gar wohl. Dann schliefen wir ein. Am andern Morgen ging es weiter. Da erhob sich dann bald der Felsen Wahsija aus der Ebene; an seinem Fuße lagen die Zelte der Anezeh, und um dieselben weideten ihre Herden, zur Hälfte zusammengeraubt.

Der Wahsija (Einsame) war wirklich kein Berg, sondern nur ein Fels zu nennen; aber er hatte unten einen Umfang von sicher einer Viertelstunde und eine Höhe von wenigstens achtzig Ellen. In der Zeit von Jahrhunderten hatten sich Sträucher und sogar Bäume angesetzt, welche jetzt grünten; zwischen ihnen führte, von Absatz zu Absatz, ein spiralförmig sich rundum drehender Pfad

(70)

hinauf. Oben, nicht ganz auf der Höhe öffnete sich eine Art Höhle, vor welcher ein Nadelbaum, von welcher Art, das war von unten nicht zu erkennen. Da, wo der Weg auf die Ebene mündete, stand unten eine kleine Hütte, in welcher die schon erwähnte Witwe mit den beiden Knaben wohnte. Sie ernährte sich von den Gaben der Pilger, welche zu dem Einsiedler kamen.

Wir wurden von einigen Beduinen angeredet, welche uns in barschem Tone nach unserm Begehr fragten. Ich verlangte, zu dem Scheik geführt zu werden, und sie thaten es. Er saß in seinem Zelte, erwiderte unsern Gruß kaum und hieß uns auch nicht setzen. Ich aber nahm neben ihm Platz, winkte Halef und Alam, sich auch zu setzen und fragte:

„Du hast einen Mann bei Dir, welcher Wikrama heißt?“

„Was wollt Ihr von ihm?“ fragte er.

„Wir wollen das Lösegeld zahlen.“

„Das ist sein Glück, denn morgen ist der letzte Tag! Gebt es her!“

„Er befindet sich hier?“

„Ja. Gebt es her!“

„Wir sprechen ebenso kurz wie Du: Gieb ihn her!“

„Erst das Geld, und dann den Mann;“

„Erst den Mann, und dann das Geld! Man bezahlt nie eher, als bis man gesehen hat, was man kauft.“

„Ich bin kein Händler und kein Verkäufer, sondern der Scheik der Anezeh. Wer aber bist Du, und wie ist dein Name?“

„Man nennt mich Kara Ben Nemsi und ich ha­be — — —“

Er sprang rasch auf und unterbrach mich:

„Kara Ben Nemsi? Bist Du jener Christ, welcher für die Haddedihn die Schlacht im Thale der Stufen gewonnen hat?“

„Ja.“

„So verfluche Dich Allah tausendmal! Wir waren mit den Abu Hammed verbündet und kamen zu spät, sie zu retten; jetzt aber wirst Du dafür büßen müssen. Ihr seid gefangen und werdet nicht entkommen!“

Mit diesen Worten sprang er zum Zelte hinaus. Das war eine Wendung, die ich nicht erwartet hatte. Der Mensch war ganz des Teufels; ich hatte ihm ja gar nicht gethan! Draußen erscholl seine Stimme; er rief seine Leute zusammen. Halef, der Kleine aber Tapfere, fragte mutig:

„Sihdi, wollen wir zwanzig oder dreißig von ihnen niederschießen und dann fortreiten?“

„Um Allahs willen, nur das nicht!“ rief der Parsi ängstlich. „Wir sind alle verloren!“

„Hier würde Dir allerdings kein Amulett helfen,“ antwortete ich. „Aber sorge Dich nicht. Dir geschieht nichts!“

Ich schlug die Matte zurück und stellte mich mit Halef unter den Eingang des Zeltes. Die Anezeh waren alle beisammen; sie standen Kopf an Kopf, einige Schritte vor mir der Scheik. Es war laut zugegangen, aber als sie mich sahen, wurde es ruhig. Ich hatte den Stutzen in der Rechten und einen von meinen zwei Revolvern in der Linken und fragte mit lauter Stimme:

„Du betrachtest uns also als Deine Gefangenen, o Scheik der Anezeh?“

„Ja,“ antwortete er. „Wag’ einen einzigen Schritt, so bist Du eine Leiche!“

„Du scheinst von mir gehört zu haben; hat man Dir auch erzählt, daß ich mit dieser Zauberflinte stundenlang fortschießen kann, ohne daß ich zu laden brauche?“

„Wahajati, el Baruda el Dschehenem — bei meinem Leben, die Höllenflinte!“ rief er erschrocken aus, indem er zurückfuhr.

„Und hier mit diesen kleinen Pistolen schieße ich ebenso viele Male. Paß auf! Sechs Schüsse in den Knopf des Sattels, der da am Nebenzelte hängt!“

Ich gab die Schüsse, welche allgemeines Erstaunen erregten, ab und fuhr fort:

„Du siehst, ich könnte trotz Deines Verbotes gehen, denn ehe einer von Euch sein Gewehr gegen mich erhöbe, wäre er tot und zehn andere dazu. Und ich bin nicht allein; meine Gefährten schießen auch. Aber es fällt mir nicht ein, vor Euch zu fliehen. Ich bin gekommen, Wikrama zu holen, und ich werde mich nicht ohne ihn entfernen. Wir bleiben hier in Deinem Zelte, bis Du Dich besonnen hast. Doch merkt Euch dabei folgendes: Ich zähle langsam bis zwanzig. Wer dann noch sich weniger als fünfzig Schritte von diesem Zelte befindet, bekommt meine nie

fehlende Kugel in den Kopf. Ich schwöre es beim Barte Eures Propheten!“

Ich trat mit Halef in das Zelt zurück und ließ den Thürvorhang fallen. Draußen waren Stimmen und die Schritte der sich Entfernenden zu hören. Ich schnitt ein Loch in die rechte, Halef in die linke Zeltwand. Durch diese Löcher blickend, sahen wir, daß die Anezeh sich zwar zurückgezogen hatten, doch nicht so weit, wie es von mir bestimmt worden war. Da steckten wir die Läufe unserer Gewehre hinaus, und sofort begann ein allgemeiner Rückzug; der Scheik retirierte mit. Es war eine Lust für uns. Diese Anezeh hatten die so vielfach übertriebenen Gerüchte von meinem Repetiergewehr gehört und es noch nie mit einem mutigen Europäer zu thun gehabt. Jetzt rissen sie aus. Wir hätten ganz gut fliehen können, denn sich uns gefährlich zu nahen, wagten sie sicher nicht, und ihre sehr langen aber auch sehr schlechten Schießhölzer brauchten wir nicht zu fürchten, aber ich wollte mir als Christ und Nemsi, also Deutscher, nicht nachsagen lassen, daß ich vor diesen Söhnen Mohammeds davongelaufen sei. Wir wußten gewiß, daß um Mittag unsere Haddedihn von allen Seiten kommen würden, das Lager einzuschließen.

Dem Parsi war es himmelangst um seinen Vater, doch beruhigte ich ihn. Wie die Verhältnisse jetzt lagen, that dem Gefangenen sicher niemand etwas zu leide. Wir sahen, daß große Beratung gehalten wurde.

Das war am Tage vor dem heiligen Weihnachtsabende, doch vormittags. Kurz nach Mittag gab es draußen plötzlich ein Rennen und lautes Rufen. Wir sahen durch die Löcher; die Haddedihn kamen von allen Seiten. Sie hatten schon weit draußen, wo sie nicht gesehen werden konnten, einen Kreis um das Lager gebildet und zogen denselben enger, indem sie sich näherten. Jetzt war die Zeit gekommen, Blutvergießen zu verhüten. Ich nahm mein Gewehr, schlug den Zeltvorhang zurück und trat hinaus. Der Scheik stand lebhaft gestikulierend bei den Seinen. Ich rief ihn zu mir. Er kam eiligst näher und fragte schon von weitem:

„Kara Ben Nemsi, weißt Du, wer diese vielen Reiter sind?“

„Ja. Es sind sechshundert Haddedihn mit ebenso vielen guten Gewehren. Sie kommen, den Raub, welchen Ihr an ihren Herden begangen habt, an Euch zu rächen. Ihr seid von ihnen eingeschlossen und könnt nicht fliehen. Und uns, die wir ihre Verbündeten sind, habt Ihr mitten unter Euch. Wenn Du sie nicht um Gnade bittest, schlagen in fünf Minuten vielmal sechshundert Kugeln in die

Illustration4
Der Einsiedler feierte den heiligen Abend mit einem Weihnachtsbaume.
(71)

Scharen Euerer Weiber und Kinder. Aber ich will mich Eurer annehmen und einen Boten zu Amad el Ghandur senden, daß er den Angriff noch verschiebt. Dann kannst Du mit ihm unterhandeln.“

„Warte noch!“ antwortete er knirschend. Darauf eilte er fort, um seine Ältesten kurz um Rat zu fragen. Der Kreis zog sich aber so schnell und bedrohlich zusammen, und es war so klar, daß ein Widerstand vergeblich sein würde, daß er mir zurief:

„Schick’ den Boten, mach’ schnell!“

Halef war bereits instruiert; er nahm sein Gewehr und eilte fort, natürlich von keinem Anezeh angehalten. Ich blieb am Zelte stehen, um den Erfolg abzuwarten. Tiefe Stille herrschte rings umher. Da erklang droben auf dem Felsen der helle Ton eines Glöckchens; gleich darauf sah ich einen Knaben aus der Hütte kommen und den steilen Pfad ersteigen. Er verschwand droben in der Höhe und kam ohne langes Verweilen wieder herab, um zum Scheik zu gehen. Ich winkte beide zu mir und fragte:

„Was will der heilige Mann?“

„Er will wissen, welcher Kampf und warum er hier stattfinden soll,“ antwortete der Scheik.

„Er soll es von mir erfahren. Kannst Du lesen?“

„Ja.“

„So warte!“

Ich setzte mich nieder, riß ein Blatt aus meinem Notizbuche und schrieb die Antwort kurz und doch ausführlich mit Bleistift nieder. Als der Scheik sie gelesen hatte, mußte der Knabe das Blatt und den Bleistift zur Höhe tragen. Jetzt mußte es sich zeigen, ob der berühmte Mann wenigstens schreiben konnte. Ich hatte mit Kara Ben Nemsi unterzeichnet. Die Haddedihn standen fast in Schußweite, waren aber halten geblieben, weil sie das Glöcklein gehört und den Boten des Einsiedlers gesehen hatten. Dieser blieb jetzt länger aus als vorhin; dann brachte er das Blatt herunter. Unter meinen Zeilen stand zu meinem größten Erstaunen, natürlich in arabischer Sprache:

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen, welche guten Willens sind!“

Die Worte des Lobgesanges der Engel! Am heutigen Tage! Von diesem unter den Mohammedanern berühmten Einsiedler! Er mußte ein Christ ein, unbedingt ein Christ! Ich gab dem Scheik die Worte zu lesen; er ahnte nicht, daß sie aus der Bibel stammten, verstand aber ihren Sinn sogleich, denn er sagte:

„Der heilige Mann befiehlt, daß wir Frieden machen. Meinst Du, daß Amad el Ghandur sich billig finden lasen wird?“

„Ja. Und wenn er zu streng sein sollte, so werde ich für Euch sprechen.“

„So willst Du hin zu ihm?“

„Ich und Du?“

„Ich auch? Er wird mich gefangen nehmen!“

„Nein. Du stehst unter meinem Schutze. Ich verspreche Dir, daß Du zurückkehren kannst, sobald Du willst.“

Er traute nicht so recht, wagte es aber auf längeres Zureden doch, mir zu folgen. „Friede auf Erden!“ Diesem Gebote wurde folge geleistet. Die Verhandlungen dauerten zwar bis gegen Abend, doch wurde man schließlich einig. Wikrama wurde ohne Lösegeld freigegeben, und die Haddedihn bekamen die geraubten Tiere wieder, wofür Amad el Ghandur sein Wort gab, auf Rache zu verzichten. Darauf gab es eine Verbrüderung zwischen den bisherigen Feinden, welche sich zwar erst ein wenig gezwungen ausnahm, nach und nach aber freier und herzlicher wurde. Die Haddedihn kamen zum Lager. Es wurden Hammel geschlachtet und Feuer angezündet, sie daran zu braten.

Vorher aber geschah etwas, was niemand vermutet hatte. Als nämlich die Knaben kurz vor Nachts den Felsen erstiegen, hatte der Einsiedler sie ausgefragt. Sie kamen herab. Er ließ durch sie die Anezeh um Lichter bitten, wie die Beduinen sie aus Hammeltalg zu machen pflegen, und ich erhielt die Botschaft, morgen früh zu ihm auf den Felsen zu kommen. Es war, wie bereits erwähnt, außer den beiden Knaben noch nie jemand bei ihm oben gewesen. Ich war auf diesen Besuch natürlich außerordentlich gespannt. Zu erwähnen wäre noch die Freude der beiden Parsen, als sie einander wieder hatten, ohne daß ein Lösegeld zu bezahlen war. Selbstverständlich mußte Wikrama die Summe, die man ihm abgenommen hatte, wiederbekommen, wenigstens so weit sie noch vorhanden war.

Als wir dann abends bei den Feuern saßen und das Friedensmahl verzehrten, ertönte oben das Glöckchen wieder. Wir blickten hinauf. Da erschien auf der Höhe Licht um Licht an dem Nadelbaume. Der Einsiedler feierte den heiligen Abend mit einem Weihnachtsbaume. Welch ein Wunder hier im Oriente, mitten unter Beduinen! Und welch ein Anblick für mich, den Deutschen, der sich keine Weihnacht ohne Lichterbaum zu denken vermag! Die Araber genossen den ihnen fremden Anblick mit stummem Schweigen; Alam aber sagte mir:

„Sihdi, das ist der Baum, von welchem Du gestern erzählt hast. Wie schön er ist! Er spricht zu mir von dem Nur es Sema, welches in meinem Herzen aufgegangen ist!“

Und wen ich am andern Morgen da oben auf dem Felsen fand, und was ich von ihm erfuhr? Vielleicht erzähle ich es dem lieben Leser ein anderes Mal! — — —

Zierleiste