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Kalender1

Schamah.

Reiseerzählung aus dem Gelobten Lande von Karl May.

I.

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Jeder Besucher meines Hauses sieht sich, sobald er den Flur desselben betritt, mitten unter fremdartigen Reiseerinnerungen, von denen ihm zunächst ein arabischer Sattel auffällt, den ich, wie man sich auszudrücken pflegt, als den eigentlichen „intellektuellen Urheber“, der vorliegenden Erzählung zu bezeichnen habe. Er ist aus rotem, orientalischem Sammet gefertigt und mit reichen Goldstickereien verziert, ein sogenannter „Paschasattel“ mit bequemen Bügelschuhen und jener fürchterlichen Art von Kandare, mit der man den Widerstand selbst des stärksten Pferdes bezwingt.

Zu diesem Sattel kam ich durch meinen Freund, den reichen, judarabischen Händler Mustafa Bustani in Jerusalem, dessen Geschäft im Suk el Bizâr liegt, rechter Hand, wenn man nach dem heutigen Haram esch Scherif geht, wo früher der Tempel des Salomo gestanden hat. Unter Judaraber sind diejenigen Araber des Heiligen Landes zu verstehen, welche im Zusammenleben mit den Juden den überlieferten Haß gegen die Hebräer nach und nach aufgegeben haben und sich den streng alttestamentlichen -

alttestamentlichen Ansichten des „auserwählten Volkes Gottes“ mehr zuneigen als dem Christentum. Ein Christ zu werden, ist bei diesen Leuten keine geringere Schande als der Uebertritt zum Judentum. Doch betrifft dies nur die innere Anschauung; auf den Umgang, zumal den persönlichen oder gar geschäftlichen, hat diese Ansicht keinen Einfluß gehabt. So war ich Mustafa Bustanis Freund, trotz der religiösen Verschiedenheit, nur weil er mich gern hatte, und ich ihn auch. Ich kaufte so oft ich in Jerusalem war, wenn möglich, nur bei ihm, doch bevorzugte ich ihn nicht nur als Kaufmann, sondern viel mehr noch als Mensch. Er wußte das und vergalt es mir durch eine derartige freundschaftliche Zuneigung, daß ich mich im Besitze seines ganzen Vertrauens fühlte. Darum kehrte ich oft auch dann in seinem Laden ein, wann ich kein Bedürfnis zu kaufen hatte. Dann saßen wir stundenlang auf einer großen, breiten, mit einem Teppich belegten Kiste nebeneinander, tranken unaufhörlich Kaffee, den Bem, der Neger, bereitete, und unterhielten uns in einer Weise, als ob wir Brüder wären und keine Spur von Geheimnis voreinander zu haben brauchten. Dann waren es nur sehr vornehme Käufer, durch die er sich stören ließ; die gewöhnlichen fertigte der Gehilfe ab, auf den er sich ebenso wie auf

sich selbst verlassen konnte. Dieser Gehilfe hieß Habakek, war ein höchst gutmütiger Mensch und einer jener Hexenmeister und Passelfritzen, die alles machen können, was ihre Augen sehen.

Mustafa Bustani war ein großer Märchenfreund. Am liebsten aber hörte oder erzählte er jene Art von Märchen, in denen der Wunderglaube oder der Zusammenhang zwischen Verstorbenen und Lebenden eine Rolle spielt. Doch war er keineswegs das, was man abergläubisch im gewöhnlichen Sinne nennt, sondern ein gebildeter Mann, der außer arabisch auch noch türkisch und persisch sprach und sich mit Abendländern ganz leidlich französisch und englisch verständigen konnte. In Beziehung auf den Glauben zeigte er eine anerkennenswerte Duldsamkeit; früher aber schien das Gegenteil der Fall gewesen zu sein, denn er hatte einen Bruder gehabt, der von der Familie verstoßen worden war, weil er sich hatte taufen lassen, und Mustafa Bustani verheimlichte es nicht, daß er mit dieser Verstoßung damals vollständig einverstanden gewesen sei. Nun aber schien er hierüber doch anders zu denken. Ich erfuhr zwar weiter nichts, als daß dieser Bruder sich nach dem Ostjordanlande gewendet und dort eine Christin geheiratet habe, weshalb dann alle seine späteren Aussöhnungsversuche zurückgewiesen worden seien; hierauf war er verschollen; aber man weiß ja nur zu gut, daß Familienbande niemals ganz zerrissen werden können, und der „Harem“1) meines Freundes schien von weicheren Gesinnungen beseelt zu sein, denen er sich doch nicht hatte verschließen können.

Harem? Gewiß! Unsere gegenseitige Vertraulichkeit war nämlich so hoch gestiegen, daß wir uns nicht scheuten, ganz offen von seinem und meinem „Harem“ zu sprechen, was dem Mohammedaner doch eigentlich verboten ist. Unter meinem Harem war natürlich nur meine

1) = Frauenwohnung; hier tropisch statt „Frau“. (A. d. R.)
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Karl May.

Frau zu verstehen. Kinder habe ich nicht. Der seinige bestand auch nur aus einer Frau, einem elfjährigen Söhnchen und einer schwarzen Köchin. Die andere Dienerschaft wurde nicht zum Harem gerechnet. Der Sohn, welcher den kurzen, aber bedeutungsvollen Namen Thar hatte, war, was man in Bayern einen „feschen Bub“ zu nennen pflegt, also gar nicht so unfreudig, phlegmatisch, langsam und überernst, wie orientalische Kinder hier bei uns beschrieben werden. Der Bub kam sehr oft aus der Wohnung, die nicht in der innern Stadt lag, herein nach dem Laden, und wenn er mich da traf, so wurde er nicht müde, mir durch die unglaublichsten Fragen meine sämtlichen heimatlichen Verhältnisse rund über den Haufen zu werfen. Ich erfuhr von ihm jede Neuigkeit aus dem Harem seines Vaters, jeden zerbrochenen Topf und jede gefangene Maus; dafür aber hielt er mich im höchsten Grade verpflichtet, ihm nun auch aus dem meinigen alle Geheimnisse zu berichten, und weh mir, wenn er einmal glaubte annehmen zu müssen, daß es mir in dieser Beziehung an Vertrauen zu ihm fehle!

Dieses freundschaftliche Verhältnis zwischen Vater, Sohn und mir hatte zur Folge, daß ich als Gast geladen wurde und bei dieser Gelegenheit auch die Mutter zu sehen bekam. Das wiederholte sich. Ich brachte des öftern ganze Abende im Hause Mustafa Bustanis zu und mußte, als ich mich nach meiner letzten Anwesenheit verabschiedete, versprechen, meine Frau mitzubringen, sobald ich wiederkomme.

Nomen est omen.1) Es war in der Familie Mustafa Bustanis seit Menschengedenken Brauch gewesen, daß immer ein Angehöriger Thar geheißen hatte. Das stammte aus ihrer nun längst verflossenen Nomadenzeit. Der jetzige Träger dieses Namens nun war der Bub, und er war Tag und Nacht bemüht, demselben so

1) = Der Name hat seine Vorbedeutung. (A. d. Red.)

viel wie möglich Ehre zu machen. Thar heißt Vergeltung, Wiedervergeltung, Rache, Blutrache. Das ist das alte, fürchterliche Gesetz, welches die Forderung stellt: Blut um Blut, Auge um Auge, Zahn um Zahn! Das hatte im Altertum seine guten Gründe, mag sie bei gewissen wilden Völkern auch in der Gegenwart noch haben, ist aber unter zivilisierten Verhältnissen nicht nur verwerflich und sträflich, sondern einfach lächerlich. Der Bub aber befand sich, seit er auf die Bedeutung seines Namens aufmerksam geworden war, so ganz unter dem Einflusse der Vorstellung, die er sich davon machte, daß er immer auf irgend eine Rache sann, und wenn es keine gab, so machte er sich eine. Alles, was er hörte und was er sah, mußte ihm zur Konstruktion einer Wiedervergeltung dienen, doch fand er leider niemals die Anerkennung, die er erwartete. Das Schicksal verstand ihn falsch. Die Rache nahm zwar stets ihren köstlichen Verlauf, machte aber zum Schlusse meist eine dumme Wendung und fiel auf die falsche Stelle, nämlich auf ihn selbst, und zwar dorthin, wo die Vergeltung am deutlichsten empfunden wird, ohne daß sie dem übrigen Körper schadet. Das hinderte ihn aber nicht, seinem Namen und seiner Bestimmung treu zu bleiben und immer wieder von neuem zu beginnen.

Diesen notwendigen Vorbemerkungen füge ich hinzu, daß ich von Sumatra nach Ägypten gekommen war, um dort mit meiner Frau zusammenzutreffen. Ich hatte sie durch das Land der Pharaonen und durch die arabische Wüste geführt, und nun befanden wir uns im Gelobten Lande. Wir waren gestern von Jaffa aus in Jerusalem angekommen, wollten einige Wochen bleiben, um Ausflüge in die Umgebung bis zum Toten Meere zu machen, und dann nach Damaskus gehen. Hierzu waren zwei Sättel nötig, ein Herrn- und ein Damensattel, und da verstand es sich denn ganz von selbst, daß ich meinen Freund Mustafa Bustani aufsuchte, um diesen Bedarf bei keinem andern als nur bei ihm zu decken. Meine Frau begleitete mich. Er und die Seinen waren ihr aus meinen Berichten fast ebensogut bekannt, wie mir selbst; er, der nach orientalischen Begriffen hochgebildete, edle Mann, der nur

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in der Erziehung seines Söhnchens auf falschem Wege ging; seine Frau als ein außerordentlich lebhaftes, liebes, gütiges Wesen, in der Vergötterung ihres Kindes mit dem Vater zusammentreffend, und endlich der Bub selbst, der die Eigenschaften der Eltern derart in sich vereinigte, daß er die heitere, scherzhafte Mutter sehr ernst und den ernsten Vater sehr spaßhaft nahm und darum fast immer in der Lage war, ihn und sie und alle Welt zu vexieren.

Wir gingen durch das Jaffator nach dem Suk el Bizâr und fanden Mustafa Bustani anwesend. Er war damit beschäftigt, einen Kunden zu bedienen, der sich einen neuen Fez nebst Turbantuch kaufen wollte, und sah und beachtete uns darum nicht sogleich. In der Mitte des Ladens stand ein Kamel, welches aber eigentlich Habakek, der Gehilfe, war. Er hatte sich auf alle Viere niedergelassen und war genau wie ein zu einem Festzuge hergerichtetes Kamel geschmückt, nämlich die Kopfriemen mit Klingeln und Federbusch, die Vorderbeine mit Schellen behangen, die Seitenteile aus buntwollenen Netzen mit Glasperlentrotteln, und hinten herab ein ziegenlederner Wasserschlauch, damit man in der Wüste nicht zu verdursten brauche. Daneben stand Thar, der Bub, nur in das übliche blaue Hemd gekleidet, welches grade bis zum Knie und bis zum Ellbogen reichte, das Gesicht, die Arme und die Beine dunkelbraun angepinselt. Er rief soeben, als wir kamen, dem in der Kaffee-Ecke kauernden Neger Bem die Worte zu:

„Ich bin Beduinenscheik und füttere mein Kamel!“

Dabei schob er dem Gehilfen eine Handvoll Lattichsalat-Blätter, die von den Händlern draußen weggeworfen, von ihm aber wieder aufgelesen worden waren, in den gehorsam geöffneten Mund, und der kaute und verschlang das „Futter“ in so lauter und ergötzlicher Weise, daß man hätte glauben sollen, er sei wirklich nicht nur ein Dromedar, sondern sogar ein ganz ausgesprochenes baktrisches Kamel. Übrigens ergab sich nur aus dem folgenden, daß er der Gehilfe Habakek war; erkennen konnte man es nicht, denn sein Gesicht war derart mit allerlei

farbigen Kreuz- und Querstrichen bemalt, daß es vollständig unter ihnen verschwand. Deshalb fragte der Neger:

„Warum hast du ihn denn angestrichen?“

Da erklang die verwunderte Antwort:

„Das weißt du nicht? Das ist das Fell, was ich gemalt habe. Ein Kamel hat doch Haare im Gesicht!“

Noch ist zu bemerken, daß vor dem Nachbarladen ein reich geschmückter Esel stand. Sein Herr, jedenfalls kein gewöhnlicher Mann, war abgestiegen und dort eingetreten, um irgend etwas zu kaufen.

Da sah mich zuerst der Neger. Er war damit beschäftigt, Kaffeebohnen in einem Mörser zu Mehl zu zerstoßen, warf vor Überraschung Kaffee und Mörser weg und erhob vor Freude ein Geheul, als ob er gepfählt werden solle. Hierdurch wurden die andern auf mich aufmerksam. Mustafa Bustani war so verwundert, mich plötzlich vor sich zu sehen, daß er ganz still stand und nichts sagte. Um so mehr zeigte sich Thar der Situation gewachsen. Er tat einen Luftsprung, stieß

einen Jubelruf aus, deutete auf meine Frau und fragte:

„Ist das die, die du uns versprochen hast?“

„Sie ist es,“ antwortete ich.

Da verneigte er sich dreimal vor ihr, winkte nach dem Kamel und bat sie:

„Setze dich darauf; es ist für dich geschmückt!“

Da aber erhob sich das Dromedar auf die hintern Beine, wischte sich mit den Händen das „Fell“ aus dem Gesicht und sagte:

„Dazu habe ich keine Zeit, denn nun muß ich den Dienst des Ladens übernehmen!“

Er warf den Kamelschmuck von sich und widmete sich dem Käufer, den Mustafa Bustani nun seinem Schicksale überließ, um sich mir und meiner Frau zuzuwenden. Seine Freude war ebenso groß wie aufrichtig. Er begrüßte mich durch die üblichen Verneigungen, zog mich dann an sein Herz und sagte:

„Welch ein Heil widerfährt mir heut’! Allah sei Dank. Laß dich bei mir nieder, du Liebster meiner Freunde; du weißt, daß du mir hochwillkommen bist!“

Dann machte er meiner Frau dieselben drei Verbeugungen; aber als er zu ihr sprechen wollte, versagte ihm die Stimme, und es stürzten ihm Tränen aus den Augen. Er legte beide Hände auf das Gesicht und schluchzte leise. Da weinte Thar auch, griff in die Falten des weißen Reisekleides meiner Frau, wischte sich mit ihnen die Tränen ab und dann auch die braune Beduinenfarbe aus dem Gesichte und von den Armen und erklärte ihr:

„Er weint darüber, daß du nun da bist und sie dich doch nicht sehen kann.“

„Warum kann sie mich nicht sehen?“ fragte meine Frau, die natürlich erriet, daß er seine Mutter meinte.

„Sie ist gestorben. Weißt du das noch nicht?“ antwortete er.

Wir erschraken beide. Wir fanden nicht gleich Worte. Der Bub aber fuhr fort:

„Sie freute sich so sehr auf dich, denn dein Effendi, den wir alle so lieb haben, hatte dich stets nur gelobt und nie ein böses Wort über dich gesagt, was man doch eigentlich immer tut, so oft man von seinem Harem spricht. Er und der Vater aber haben das stets unterlassen. Da kam die Krankheit und schloß ihr die Augen; ich habe es selbst gesehen. Man trug sie fort. Nun weint der Vater stets, wenn er an sie denkt, und ich muß mir fast alle Tage eine neue Rache aussinnen, damit er wieder lacht. Aber er lacht nicht mehr und prügelt auch nicht mehr, und das ist beides falsch!“

Er ließ bei diesen Worten sein Auge durch den Laden schweifen. Es fiel auf den Käufer, der sein rundes Turbankäppchen vom Kopf genommen und zur Seite gelegt hatte, um sich einen passenden Fez aufzuprobieren, was nach morgenländischer Weise immer lange dauert und mit vielen Reden und Gegenreden verbunden ist. Sein Kopf war vollständig kahl und glänzend blank und glatt, wie poliert. Da zuckte ein schelmischer Gedanke über das dreiviertel ausgewischte Gesicht des Knaben, und er fügte hinzu:

„Da kommt mir gleich wieder eine Rache! Ich bitte euch, stört mich nicht, sondern schaut lieber dorthin, wo ich nicht bin!“

Er schlängelte sich nach der hintern Ecke, wo der Kochherd für den Kaffee stand und verschiedene Geräte allerlei Zweckes dabei. Dort

war auch der Platz des Negers, der ihn aber verlassen hatte, um auf einen Wink seines Herrn aus einigen weichen Warenballen und einem Teppichtuche einen Divan für meine Frau herzurichten. Mustafa Bustani half ihm dabei, um seiner Trauer Meister zu werden, und hatte also auf das, was sein Sohn zu uns sagte, nicht geachtet. Als der Divan fertig war, setzten wir uns. Ich bekam meinen von früher her gewohnten Platz auf der Kiste und einen Tschibuk dazu. Dann hätte die Unterhaltung begonnen, wenn uns nicht der Tod der Frau zu früh verraten worden wäre. Die Worte wollten nicht kommen. Glücklicherweise bot uns das Geschäft, welches uns herbeigeführt hatte, einen Notbehelf. Leider hatte Mustafa Bustani keine Sättel im Vorrat liegen, doch bat er uns, morgen wieder zu kommen, er werde inzwischen für die Befriedigung unserer Wünsche sorgen.

Hier störte uns der Käufer, ein Landbewohner aus Aïn Kahrim. Er hatte sein altes Käppchen nebst Kopftuch wieder aufgesetzt und zeigte die gewählten, neuen Sachen vor, einen Fez nebst buntem Turbantuch, deren Preis er wissen wollte. Im Oriente geht selbst ein so unbedeutender Handel nicht sehr schnell von statten; dieses Mal aber gab Mustafa Bustani, um den Mann nur los zu werden, so schnell und so viel im Preise nach, daß der Käufer schleunigst zahlte und sich dann entfernte.

Diese Unterbrechung hatte aber doch die Wirkung, daß das Gespräch nun jetzt mehr Leben gewann. Wir berichteten einander, was während der Zeit, in der wir einander nicht gesehen hatten, auf beiden Seiten geschehen war. Dabei ergriff er fast jede Gelegenheit, auf Thar zurückzukommen und irgendein Lob über ihn zu sagen. Wir sprachen nicht etwa leise, und so mußte der Bub das also hören. Der hockte beim Neger in der Ecke und schien irgend eine Art von Verwandlung mit sich vorzunehmen, die uns aber zunächst noch zu verborgen war. An Stoffen zu solchen Verwandlungen fehlte es im Laden nicht, wo fast alles nur Denkbares, sowohl Altes wie auch Neues, zu kaufen war. Als er das große Werk mit Hilfe des Negers vollendet hatte, kam er aus der Ecke herbeigeschritten, langsam, stolz und würdevoll, um sich uns vorzustellen. Er hatte

sich als Held gekleidet, um also höchst wahrscheinlich wieder eine Blutrache auszuüben. Sein Helm bestand aus einem halben tönernen Wasserkrug, wahrscheinlich ausgegraben und dabei zerbrochen. Den Brustpanzer bildete ein blecherner Lampenschirm von der Sorte, die man vertikal vor das Licht zu stellen pflegt. An die nackten Waden hatte er sich zwei alte, riesige Rittersporen gebunden, die sehr wahrscheinlich aus der Zeit der Kreuzzüge stammten. In einem Stricke, welcher den Gürtel bildete, steckten die fürchterlichsten Waffen, die man sich denken kann, nämlich drei Messer, zwei Scheren, zwei Korkzieher und vier Lichtputzen, die rund um den Leib geordnet waren. Außerdem hatte er sich eine Mausfalle und einen Köcher mit Pfeilen und Bogen umgehängt, und die übrige Armatur, die er in den Händen trug, bestand aus einer Sichel, einer Säbelscheide und einem Flintenlauf. Die hierzu gehörige Kriegsbemalung zeigte zwar nur zwei Farben, machte aber ganz genau den Eindruck, auf den sie berechnet war. Der rechte Arm und das linke Bein waren grün bemalt, der linke Arm und das rechte Bein aber blau. Blau waren auch die beiden Backen und die Schnurrbartgegend, das

Kinn aber grasgrün. Da konnte man unmöglich ernst bleiben. Wir lachten, und Mustafa Bustani lachte mit.

„Wer bist du denn?“ fragte er den Gewappneten.

„Ich bin Gideon, der Held,“ antwortete dieser in martialischem Tone, indem er mit allen Waffen rasselte.

„Er nimmt seine Helden stets nur aus dem Alten Testamente,“ erklärte uns sein Vater. Und zum Sohn gewendet, fuhr er fort:

„Was hast du als Gideon heute vor?“

„Ich habe die Baalspfaffen zu erschlagen und die Midianiter umzubringen!“

Neues, noch stärkeres Rasseln! Leider aber war es unmöglich, über diese kühnen Absichten etwas Weiteres zu erfahren, denn die Szene wurde von dem Manne aus Aïn Kahrim unterbrochen, der in diesem Augenblicke nach dem Laden zurückgelaufen kam, und zwar in einer Aufregung, wie sie die Folge nur des höchsten Zornes ist. Er sprach so schnell und so empört, daß man ihn zunächst gar nicht verstand. Man unterschied nur die Worte Fez — Turban — Barbier — Kopf — blau — Seife — Wasser — Scham und Schande! Als wir aber baten,

sich zu beruhigen und langsam zu erzählen, tat er es, und so erfuhren wir, daß er von uns aus zum Barbier gegangen war, um wie stets, wenn er sich in der Stadt befinde, nach Haupt und Bart sehen zu lassen, denn diese Reinlichkeit des Hauptes sei von dem Propheten vorgeschrieben. Als er dabei sein Haupt entblößt habe, was eigentlich nur vor dem Barbier, vor keinem andern Menschen geschehen dürfe, haben alle Anwesenden vor Lachen laut aufgebrüllt, denn das Haupt seines Alters sei nicht mehr weiß wie immer, sondern blau wie der Himmel gewesen, und es habe sich herausgestellt, daß diese Bläue aus der Kopfbedeckung stamme, die er hier abgenommen habe und worein die Farbe von irgend jemand heimlich geschüttet worden sei. Der Barbier habe zwar versucht sie ihm vom Kopf zu waschen, wodurch die Sache aber nur noch schlimmer geworden sei, denn das Blau des Himmels habe sich durch das Wasser aufgelöst und nur noch tiefer und fester in den Schädel eingefressen; Allah erbarme sich!

„Hier, seht mich an!“ rief er zum Schluß, indem er Käppchen und Tuch vom Kopfe nahm. „Der Verbrecher trete vor, daß ich ihn bestrafen lasse!“

Ein vollständig haarloser Schädel, von glänzend -

glänzend himmelblauer Farbe? Dazu der Gedanke, daß der Mann nicht etwa den neuen Fez, sondern grade die alte, abfärbende Kappe wieder aufgesetzt hatte! Man brauchte den übrigen Anblick und das im Zorne unbehilfliche Gebaren gar nicht hinzuzufügen, um dem Lachreiz nicht widerstehen zu können. Meine Frau brach zuerst los. Es war ihr unmöglich, sich zu beherrschen. Der Neger folgte, dann Habakek, hierauf ich und schließlich auch Mustafa Bustani. Es gab ein schallendes, aufrichtiges Gelächter, welches aber die sonderbare Wirkung hatte, daß es den Mann aus Kahrim nicht zorniger, sondern kleinlaut zu machen schien, wahrscheinlich durch das Eigengefühl seiner Lächerlichkeit. Nur einer lachte nicht, nämlich der Bub. In seinem Gesicht rührte sich kein Zug. Er trat auf ihn zu und sagte laut und ernst:

„Ich bin es gewesen, ich!“

„Du?“ fragte der Mann erstaunt. „Wie kann ein Kind es wagen, das entblößte Haupt eines Moslem zu beschimpfen!“

„So entblöße es nicht! Ich tat es aus Rache, denn ich heiße Thar; daß du es weißt.“

„Thar?“ fragte der andere verständnislos.

„Ja, Thar! Hast du nicht selbst gesagt, daß der Gläubige sein Haupt nur dem Barbier entblößen-

entblößen darf? Du hast es aber auch hier, auch uns gezeigt! Darum habe ich dich bestraft, indem ich dir die blaue Vergeltung in die abgenommene Hülle deines Kopfes schüttete!“

„Ist so etwas denn möglich?“ fragte der Blauköpfige, im höchsten Grade erstaunt. „Dieser Knabe spricht davon, daß ich zu bestrafen sei, nicht er! Was sagt sein Vater dazu?“

Diese Frage wurde an Mustafa Bustani gerichtet, doch ehe dieser antworten konnte, tat es der Bub:

„Brauchst du hier einen Vater, so hole deinen; den meinen borge ich dir nicht! Ich bin Gideon, der Held aus Manasse. Leb’ wohl!“

Er nickte ihm würdevoll zu, ging stolzen Schrittes zum Laden hinaus, stieg so, wie er war, in seiner ganzen Waffenrüstung, auf den draußen stehenden, fremden Esel und ritt im Trabe davon. Man weiß ja, daß orientalische Knaben von frühester Jugend an den Rücken eines Esels als besten Spielplatz betrachten. Man findet nur selten einen, der den Mut nicht besitzt zu reiten.

Der Mann aus Kahrim wußte jetzt wirklich nicht, was er denken sollte.

Sein Mund stand offen. Er schaute hinter dem Knaben drein, ohne ein Wort zu sagen.

„Ist so etwas möglich?“ fragte meine Frau, aber deutsch, noch immer lachend.

Ich hatte keine Zeit, ihr zu antworten. Die Szene verwickelte sich. Der Besitzer des Esels war nämlich auf die Entfernung seines Esels aufmerksam geworden. Er hatte sich erkundigt, wer der sonderbar ausgerüstete Knabe sei, und kam nun aus dem Nachbarladen heraus

und zu uns herüber, um der Sache entweder zivilrechtlich oder strafrechtlich näherzutreten, je nachdem!

„Wer von euch ist Mustafa Bustani?“ erkundigte er sich.

„Ich,“ antwortete mein Freund, indem er von der Kiste herabrutschte und sich tief verneigte.

„Kennst du mich?“

„Ja. Wer sollte dich nicht kennen! Du bist Osman Achyr, der Ferik-Pascha des Großherrn. Allah segne ihn!“

„Dein Sohn hat meinen Esel gestohlen!“

„Er hat ihn nicht gestohlen, sondern nur geliehen. Er bringt ihn sicher wieder!“

„Bin ich etwa ein Eselverleiher? Und wäre ich einer, so hätte man mich erst zu fragen!“

„So verzeih!“

Der Mann aus Kahrim war beim Nahen des Generals, dem man seine Vornehmheit ansah, obwohl er Zivilkleidung, nicht Uniform trug, bescheiden zur Seite getreten. Jetzt, da es sich um einen zweiten Beschädigten handelte, bekam er Mut seine Stimme von neuem zu erheben.

„Nein, verzeih’ es nicht!“ sagte er. „Der Knabe hat dich bestohlen und mich geschändet. Ich fordere, daß er bestraft werde!“

Da drehte sich der Pascha zu ihm um und fragte:

„Wer bist du? Was hat er dir — — —“

Er sah den Mann, den blauen Schädel, hielt mitten im Satze inne und machte Augen, die immer größer und immer glänzender wurden. Das hielt der Blaue für den geeigneten Augenblick loszubrechen und die Missetat nochmals zu berichten. Aber er kam nicht weit damit, denn die Himmelsbläue wirkte auf den General genau so, wie sie auf uns gewirkt hatte; er konnte sich nicht halten und begann zu lachen, und zwar so zu lachen, daß wir andern alle wieder mit einstimmten. Und mitten in dieses Gelächter hinein, was geschah — — —? Da kam der Bub zurückgeritten, ein ganzes Schock von Kindern hinter ihm her. Die Erwachsenen kannten ihn schon; die kümmerten sich schon längst nicht mehr um seine sonderbaren Streiche.

Er hielt den Esel genau an derselben Stelle an, auf der er vorher gestanden hatte, stieg ab und kehrte mit demselben Ernste und derselben hoheitsvollen Würde zu uns zurück, wie er uns vorhin verlassen hatte. Das machte einen so unwiderstehlichen Eindruck auf uns alle, daß das Lachen einen Augenblick schwieg, dann aber in doppelter Stärke wieder losbrach und gar nicht enden zu wollen schien. Sogar der Blaue lachte mit, und als er einmal drin war, blieb er am längsten drin; er war der letzte, der zum Aufhören kam. Thar kannte den General auch. Er stellte sich grade vor ihn hin, richtete sich stramm auf und machte genauso ein Honneur, wie er bei Soldaten gesehen hatte, die einem Offizier begegnen. Da fragte ihn der Pascha:

„Du weißt, wer ich bin?“

„Ja,“ antwortete der Gefragte.

„Nun, wer?“

„Du bist Benaja, der Feldhauptmann des Königs Salomo!“

„Brav!“ lachte der Offizier. „Du bleibst in deiner Rolle! Was aber sind das für Waffen?“

Er deutete dabei auf die Scheren, Korkzieher und Lichtputzen. Aber der Bub war nicht aus der Fassung zu bringen. Er hatte unzählige Male dem Munde der Geschichte, der Sage und der Märchens gelauscht und kannte die Vergangenheit Jerusalems besser wie ein deutscher Knabe die Chronik seiner Vaterstadt. Auch war er sich der symbolischen Bedeutung seiner Waffen sehr wohl bewußt. Er antwortete also schnell und ohne sich zu besinnen:

„Das sind die „Skorpione“, mit denen der König von Juda seine Leute in die Ohren kniff, wenn sie nicht gehorchen wollten. Und ich bin Gideon, der Held aus dem Stamme Manasse. Ich habe mir dein Streitroß geborgt, weil ich eine Blutrache gegen die Midianiter habe; aber es ist zu dick und hat keinen Atem; darum bin ich wieder umgekehrt, um es dir zurückzubringen. Ich danke dir, aber es ist wirklich nicht zu gebrauchen!“

Er wiederholte das Honneur. Da lachte der Pascha, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Er schien überhaupt ein sehr leutseliger Herr zu sein.(Fortsetzung folgt.)

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Schamah.

Reiseerzählung aus dem Gelobten Lande von Karl May. (Fortsetzung.)

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Mustafa beeilte sich, diese gute Stimmung für die Straflosigkeit seines Knaben auszunützen.

Er sprach die Bitte aus:

„Verzeih’ ihm, was er tat! Er ist so außerordentlich klug, und so hochbegabt!“

Er erreichte genau das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte. Das Gesicht des Pascha wurde im Nu wieder ernst, fast drohend.

„Von Straflosigkeit kann keine Rede sein,“ sagte er; „dein Sohn hat doppelt gesündigt, an mir und an diesem da.“ Dabei deutete er auf den Mann aus Aïn Kahrim. Dann fuhr er fort: „Und damit er nicht etwa Lohn statt Strafe erntet, werde ich die Züchtigung in meine eigenen Hände nehmen. Ist ein Stock vorhanden, der sich für solche Zwecke eignet?“

Der Neger, der diese Frage hörte, brachte aus seiner Ecke ein dünnes, knotiges Spazierstöckchen herbei, welches allerdings sehr gut zu jenen erzieherischen Prozeduren zu verwenden war, von denen die Jugend lieber zu schweigen, statt zu reden pflegt. Der General nahm das Rohr, schwippte es zur Probe einige Male hin und her und auf und ab, nickte befriedigt mit dem Kopfe, blinzelte den Blauen verschmitzt von der Seite an und fragte ihn:

„Du bist doch damit einverstanden, daß der Sünder verurteilt wird?“

„Ja,“ nickte und antwortete der Gefragte schnell.

„Soll ich das Urteil auch gleich in deinem Namen mitsprechen?“

„Ja.“

„Und in deinem Namen auch gleich mit ausführen?“

„Ja.“

„Wohlan, so soll er zehn Streiche erhalten, fünf für mich und fünf für dich, und zwar von meiner eigenen Hand!“

„Ist das nicht zuwenig?“ fragte der Mann enttäuscht.

„Nein, es ist nicht zuwenig, sondern grad viel genug!“ antwortete der Bub.

„Du hast zu schweigen!“ fuhr ihn der Blaue an.

„Wer bekommt die Prügel? Ich oder du?“

„Du!“

„So kannst doch du nicht fühlen, ob es zu wenig ist oder zu viel!“ Und sich an den Pascha wendend, fügte er die Frage hinzu: „Ist es dein Ernst, das mit den zehn Streichen?“

„Ja,“ bestätigte dieser. „Für einen Gideon ist es eigentlich keine große Ehre, mit dem Stocke gezüchtigt zu werden!“

„Das meine ich auch!“ stimmte der Knabe bei. „Aber ich habe nun einmal das Unglück, die Rache nicht bloß auszugeben, sondern, auch wieder einzunehmen! So bitte ich dich wenigstens um die Erlaubnis, erst mein Heldentum ablegen zu dürfen!“

Das wurde ihm gestattet. Er ging in die Kaffee-Ecke, entledigte sich dort seiner kriegerischen Ausrüstung und kehrte dann zurück, um sich der improvisierten Strafrechtspflege zur Verfügung zu stellen.

„Halte ihn!“ befahl der Pascha dem Vater.

Dieser gehorchte. Er bog sich nach vorn, schob das linke Knie vor und legte den Inhaber der Blutrache quer darüber, in jener uns allen sehr wohl bekannten Weise, in der die Rückseite des Empfängers nach oben kommt. Thar ließ es mit sich geschehen, ohne sich zu sträuben und ohne ein Wort zu sagen. Der Pascha postierte sich quer dazu, holte aus und zählte die Hiebe, die er gab:

„Eins — — — zwei — — — —!“

Er kam nicht weiter, denn jetzt stand meine Frau von ihrem Sitze auf, stellte sich mitten zwischen die Akteurs hinein, so daß die Exekution unterbrochen wurde, und bat um Gnade. Der Pascha fragte, wer sie sei. Sie sagte es. Er besann sich einen Augenblick, verbeugte sich dann und antwortete, daß er ihre Bitte zwar mit Vergnügen erfülle, aber ganz unmöglich von der Zahl zehn, die er diktiert habe, abgehen könne, denn er pflege unter allen Umständen Wort zu halten. Die zwei bereits gegebenen Streiche freilich könne er nicht mildern, aber die noch ausstehenden acht möge nun sie verabreichen, und zwar ganz so, wie es ihr Herzensbedürfnis sei. Dabei reichte er ihr den Stock, trat zurück und winkte fortzufahren. Sie tat es, und zwar so, daß wir alle, den Delinquenten mit eingeschlossen, wohl zufrieden waren. Als sie sich dann nach dem Pascha umwendete, sah sie ihn nicht mehr. Er war inzwischen in den nebenanliegenden Laden zurückgekehrt. Der Mann aus Aïn Kahrim schickte sich zwar an, Einspruch zu erheben, doch Mustafa Bustani forderte ihn auf, in einer Stunde wieder zu kommen und sich ein Geschenk zu holen.

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Es fielen nur noch einige kurze Worte hin und her, dann ging der Landmann einstweilen befriedigt fort. Inzwischen flüsterte, da sein Vater es nicht hörte, der Bub uns beiden zu:

„Er hat gelacht, aber sehr gelacht! Habt ihr es gesehen? Wie mich das freut!“

Seine lieben, guten Augen leuchteten. Dann küßte er meiner Frau die Hand und sagte:

„Ich danke dir für die acht, die du mir gegeben hast! Sie waren zart und mild wie Zuckergebackenes, in dem kein Pfeffer ist. Ich werde dir das nie vergessen. Du weißt, ich bin ein Held. Ich bitte dich, in jeder Not auf mich zu rechnen!“

Hierauf zog er sich wieder in die Kaffee-Ecke zurück, um unter Beihilfe des Negers irgend eine neue Veränderung mit sich auszuführen. Sein Vater nahm wieder auf der Kiste Platz, um unsere unterbrochene Unterhaltung von neuem aufzunehmen. Den Schelmenstreich seines Lieblings tat er mit den lächelnden Worten ab:

„Er war der „Auserwählte“ seiner Mutter. Die sah ihm alles nach! Und übrigens ist er wirklich sehr hochbegabt; der Pascha mag es glauben oder nicht!“

„Wie ist er nur zu dieser sonderbaren Liebe zur Farbe gekommen?“ erkundigte ich mich. „Oder war das früher schon?“

„Nein,“ antwortete er. „Mein Kaffeeneger hier und meine schwarze Köchin sind Eheleute. Die haben einen Jungen, der seit einiger Zeit zu einem Tüncher in die Lehre geht. Daher das lebhafte Interesse meines Knaben für das bunte Reich der Farben. Mir scheint, er ist zum Künstler geboren. Natürlich sind vorerst nur die Anfänge zu sehen, aber die verraten schon so viel, daß ich denke, mein schönes liebes einträgliches Geschäft wird einst in fremde Hände übergehen müssen. Der Islam ist zwar der Ab- oder Nachbildung des menschlichen Körpers nicht zugeneigt, doch bietet die übrige Schöpfung so sehr viel des Großen und Schönen, daß für Thar und seine Kunst genug vorhanden ist, geehrt und berühmt zu werden. Alle meine Bekannten sind der Meinung, daß Bedeutendes in ihm steckt. Ist es

da nicht meine Pflicht, ihn zum großen Mann zu machen?“

Er sprach nicht etwa leise; der Knabe hörte jedes Wort. Infolgedessen kam er aus der Ecke zu uns hervor und sagte zu mir:

„Du mußt das richtig erfahren, Effendi; der Vater teilt es dir nicht vollständig mit. Es ist nämlich so: Der Vater sagt: Er ist der „Auserwählte“ der Mutter; die sieht ihm alles nach; aber er hat Talent zum Künstler und wird ein großer Mann. Die Mutter sagte immer: Er ist der „Auserwählte“ des Vaters; der sieht ihm alles nach; aber er hat Talent zum tapferen Helden und wird ein großer Mann. Und der Lehrer, zu dem ich in den Unterricht gehe, der sagt stets: Er ist der „Auserwählte“ seines Vaters, seiner Mutter und seiner ganzen Verwandtschaft; die sehen ihm alles nach; aber er hat nicht das geringste Talent zu irgend etwas Großem und ist nur zum Handel und Schacher und zum Vexieren bestimmt. So, nun weißt du es, Effendi!“

Er sagte das sehr ernst, und es war auch ernst, und nicht nur das, sondern sogar wichtig, unendlich wichtig. Sein Vater ahnte nicht den tiefen Sinn, der in den ehrlichen Worten des Kindes lag. Meine Frau aber ahnte ihn, denn sie sah mich an und nickte mir bedeutungsvoll zu.

Der Bub hatte sich inzwischen äußerlich verändert, wenn auch nicht in den Farben, so doch in Beziehung auf ihre Anordnung. Was nämlich vorher grün gewesen war, das war nun blau, und was erst blau gewesen war, das war nun grün. Also grün waren jetzt das rechte Bein, der linke Arm und die beiden Backen, und blau waren das linke Bein, der rechte Arm und der Schnurrbart und der Knebelbart. Darum erkundigte ich mich zunächst:

„Wer bist du denn nun jetzt?“

Er antwortete prompt:

„Ich bin Judas Makkabäus und habe eine Blutrache gegen die Syrer. Aber das lasse ich einstweilen noch ruhen, weil ich gehört habe, was der Vater über mich sagte. Ich habe dir mitgeteilt, wie er über mich denkt, wie die Mutter über mich dachte, und wie der Lehrer über mich denkt. Nun möchte ich gern auch wissen, wie du über mich denkst, Effendi.“

„Sag’ mir vorerst deine Meinung darüber, wer recht hat, der Vater, die Mutter oder der Lehrer!“

Er errötete, warf auf den Vater einen um Verzeihung bittenden Blick und antwortete:

„Den Vater habe ich lieb, die Mutter habe ich lieb; aber sie haben beide unrecht. Den Lehrer habe ich nicht lieb, aber er hat recht.“

Da konnte ich nicht anders: Ich zog den

Jungen an mich und küßte ihn auf die frei von Farbe gebliebene Stirn. Das Herz wollte mir überquellen, und ich sah, daß auch meine Frau tief innerlich ergriffen war; ihre Augen feuchteten sich. Es war ein geradezu heiliger Augenblick. Und Mustafa Bustani saß neben mir, sah uns lächelnd an und hatte nicht die geringste Ahnung von der tiefen Reinheit, der keuschen Offenheit und dem packenden Zauber der Kindesseele, die uns soeben offenbart worden war.

„So gib mir eine Frist,“ bat ich Thar. „Wir sehen uns jetzt zum erstenmal wieder, und du bist anders geworden, als du früher warst. Ich sehe dich jetzt oft. Da mache ich mir eine Meinung über dich, und die sage ich dir, ehe ich Jerusalem verlasse.“

„Wirklich?“ fragte er bittend.

„Ja, wirklich,“ antwortete ich.

Da strich er mir mit der Hand leise und zärtlich über die Wange und beteuerte:

„Ich liebe auch dich; aber du wirst nicht unrecht haben, das weiß ich ganz bestimmt. Willst du einmal etwas sehen, was ich gemalt habe, wirklich gemalt?“

„Ja,“ antwortete ich.

„Wann kommst du wieder?“

„Morgen um dieselbe Zeit.“

„Also schon am Vormittag. Da muß ich die Bilder heut’ nachmittag beginnen und vollenden!“

Er sann einige Augenblicke nach. Ein schalkhaftes Lächeln zuckte über die grünen Backen und über die blaue Schnurrbartgegend. Dann fragte er seinen Vater:

„Darf ich dich bitten, mir für heut’ unser Gartenhaus zu überlassen?“

„Was willst du drin?“ erkundigte sich der Gefragte.

„Zwei Bilder malen und sie morgen dem Effendi zeigen.“

„Gut, du darfst.“

„Aber es darf mich niemand stören! Es ist keinem Menschen erlaubt, zu mir hereinzukommen, wenn ich nicht will!“

„Auch mir nicht?“

„Auch dir nicht!“

„Das ist ja interessant! Aber ich hoffe, daß es dir gelingen wird, dem Effendi etwas wirklich Gutes zu zeigen, und so habe ich nichts dagegen.“

„Allah sei Dank!“ rief der Bub. „Gleich geht es los!“

Er schlug vor Entzücken einen Purzelbaum und schoß dann zum Laden hinaus.

„Nun, was sagst du zu ihm?“ fragte Mustafa Bustani nach einer Minute des Schweigens. „Was für ein Knabe! Nicht wahr, ein Künstler?“

„Warten!“ antwortete ich. „Erst sehen! Solche Urteile wollen überlegt und wohlbetrachtet sein. Ich habe um Frist gebeten. Zunächst sehen wir uns ja schon morgen wieder.“

Das gab uns Veranlassung, uns zu verabschieden. Wir gingen. Das war gegen Mittag, wo die heißeste Zeit des Tages beginnt, die man am liebsten in der Kühle des Zimmers verbringt. Als sie vorüber war, wanderten wir nach dem Ölberge, um nach Bethanien hinauf zu spazieren und dann über die Stätte Bethphage und Kafr et Tur nach der Stadt zurückzukehren. Wir nahmen den photographischen Apparat mit, ohne den meine Frau fast nie verreist. Was aber mich betrifft, so mache ich meine Touren in der Weise, daß es mir unmöglich ist, mich mit solchen Dingen zu befassen, weil sie viel Zeit und Mühe in Anspruch nehmen und die persönliche Selbständigkeit und Beweglichkeit in hohem Grade beeinträchtigen. Meine Frau aber liebt es, Erinnerungsbilder mit nach Hause zu bringen und sich und andere später an ihnen zu erfreuen. So machte sie auch heute in Bethanien einige Aufnahmen, von denen ich eine beilege, weil sie die Eigenartigkeit der dortigen Stein- und Mauerreste zeigt. Dann stiegen wir zur vollen Höhe des Ölberges hinauf. Da gibt es Stellen, an denen man nicht nur die ostjordanischen Berge, sondern sogar einen Teil des Toten Meeres liegen sieht. Indem wir diese reiche Fernsicht genossen, sprachen wir über unsern heutigen Besuch bei Mustafa Bustani, und ich hob hervor, daß er gegen früher leidend aussehe und schnell und mehr gealtert sei, als die Jahre eigentlich mit sich brachten. Der Tod seiner Frau hatte ihn viel, viel tiefer ergriffen, als man einem Mohammedaner sonst zuzutrauen pflegt. Und hierzu kam noch ein zweites, fast ebenso tiefes Leid und eine innere seelische Aufregung, die wir noch nicht kannten, jetzt aber kennen lernen sollten. Denn nachdem wir

unsere Aufmerksamkeit bisher ausschließlich nach Osten gerichtet hatten, wendeten wir uns jetzt dem Westen zu, also der Stadt, die vor uns lag, und da gewahrten wir in abgeschiedener Gegend einen einsamen Mann, der in der Nähe eines Johannisbrotstrauches saß und, die Hände wie zum Gebet gefaltet, unbeweglich gegen Morgen starrte. Das war einige Zeit vor der Abenddämmerung. Wir mußten an ihm vorüber. Als wir näher kamen, erhob er sich. Es war Mustafa Bustani, unser Freund, von dem wir soeben erst gesprochen hatten. Wir sagten ihm das. Er aber schien über dies ganz unbeabsichtigte Zusamrnentreffen nicht ganz unverlegen zu sein. Es war, als ob er sich über etwas ertappt fühle, was niemand wissen solle. Seine Worte, die sich an die Begrüßung schlossen, klangen so, als ob er die Verpflichtung fühle sich entschuldigen zu müssen.

Er teilte uns mit, daß die Stelle, an der wir uns befanden, seit einiger Zeit sein Lieblingsplatz sei, den er fast täglich aufsuche, um gegen Osten hinzuschauen. Ich mußte dabei unwillkürlich an seinen verstoßenen Bruder denken, der ja gegen Osten hin verschwunden und verschollen war. Wir setzten uns bei ihm nieder und bemerkten bald, daß er sich in einer eigenartigen-

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Karl May zwischen Mauerresten in Bethanien. (Originalaufnahme.)

eigenartigen Stimmung befand, deren Grundton als eine außerordentlich weiche, seelische Hilflosigkeit herauszufühlen war. Ich suchte die Ursache hierzu nicht in der uns umgebenden, szenisch ergreifenden und geschichtlich gewaltigen Örtlichkeit, denn diese war er gewohnt, sondern in ihm selbst, in seiner Psyche. Und ich hatte recht. Denn er leitete das Gespräch sehr bald auf seinen schon erwähnten Lieblingsgegenstand, nämlich auf den Zusammenhang der sichtbaren mit der unsichtbaren Welt und auf die biblische Behauptung, daß es Wunder gebe. Hierauf gestand er uns, daß ihn ein Traum herauf an diese Stelle treibe, ein Traum, der so klar, bestimmt und deutlich gewesen sei, als ob er im Wachen, nicht aber im Schlafe stattgefunden habe. Diese Deutlichkeit sei so groß und so überzeugend gewesen, daß er sich den Tag des Traumes aufgeschrieben habe, den fünfzehnten Tag des Monats Adar. 1) Halb sich entschuldigend und halb fragend fügte er hinzu, daß er uns wohl nicht zumuten dürfe, uns mit seinen Träumen zu beschäftigen. Wir versicherten ihm, daß uns alles, was ihn und ganz besonders sein Seelenleben betreffe, im höchsten Grade interessiere, und so erzählte er:

1) März.

„Du weißt, Effendi, daß mein Bruder verstoßen wurde, weil er Christ geworden war, und daß wir alle seine Aussöhnungsversuche zurückwiesen, weil er sodann noch gar eine Christin zur Frau genommen hatte. Hierauf ist er verschollen. Niemand konnte erfahren, wohin er sich dann später gewendet hat. Aber du weißt nicht, daß die Verstoßung die vollständige Enterbung zur Folge hatte und daß er alles verlor, worauf zu rechnen er ein ebenso großes Recht besaß, wie ich selbst. Ich wurde der einzige Erbe; er aber war arm, arm wie ein Bettler!“

„Eine Folge eurer Gesetze und der herrschenden Familienrechte,“ versuchte ich zu entschuldigen.

„Du bist Christ und denkst also anders, als du mir zuliebe sprichst!“ wies er mich zurück. „Ich fühlte jahrelang keine Spur der Ungerechtigkeit, die wir gegen ihn begangen hatten. Besitz und Religion sind doch ganz verschiedene Dinge. Darf ich etwa aus der Reihe der Gläubigen gestoßen werden, wenn sich mein Reichtum in Armut verwandelt? Nein! Ebensowenig darf man mich aus dem Kreise der Besitzenden stoßen, weil ich nicht Moslem bleiben, sondern Christ werden will. Dieser Gedanke aber ist nicht von mir, sondern er kam von meinem Weibe. In ihrem Herzen wohnte eine Liebe und eine Güte, die es in dem meinigen nicht gab. Diese ihre Güte begann eine schwere, schwere Arbeit an mir, aber sie gelang. Meine Härte wurde weicher, immer weicher, und als sie starb, die Mutter meines Sohnes, starb sie als Siegerin. Ich versprach ihr meinen Bruder aufzusuchen und alles, was ich besitze, mit ihm zu teilen. Sie dankte mir, segnete mich, schloß die Augen und — — — und — — — und — — — verschied.“

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Er verhüllte das Gesicht mit den Händen und schwieg eine Weile, um seine Bewegung zu meistern; dann fuhr er fort:

„Ich suchte und ließ suchen, doch vergebens. Der Bruder war verschwunden. Ich dachte stets,

stets an ihn, fast ebenso oft wie an sie, deren Tod mir mehr genommen hat, als du, Effendi, wahrscheinlich denkst. Mir kam die Frage, ob mein Bruder wohl gar gestorben sei und ob er und sie sich jenseits dieses unseres Lebens finden, sehen und sprechen. In solchen Gedanken grübelte ich. Mit ihnen wachte ich, und mit ihnen schlief ich ein. Da, am fünfzehnten Tage des Monats Adar, träumte mir, daß ich in der Moschee knie und bete. Da öffnete sich die Kiblah 1) der Heiligkeit, und mein Bruder erschien und forderte mich auf, mir zu merken, was er mir sage. Und das lautete: „Ich bin gestorben, aber ich lebe. Nicht ihr habt mir, sondern ich habe euch zu verzeihen. Ich werde dir diese meine Verzeihung senden. Sie naht von Osten her. Schau’ täglich nach ihr aus und mach’ an ihr wieder gut, was ihr an mir verbrochen habt!“ So lauteten seine Worte. Dann verschwand er. Die Kiblah schloß sich wieder, und ich erwachte aus dem Traum. Der erschien mir so deutlich und so wahr, daß ich mein Lager verließ, um mir den Tag anzumerken. Seitdem treibt es mich fast täglich hier herauf, um gegen Osten auszuschauen, ob der Traum in Erfüllung geht. In Bethanien aber verweile ich stets für kurze Zeit, um das Grab des Lazarus zu besuchen; warum, das weiß ich nicht; aber es ist mir, als ob ich mit dem Boten meines Bruders grad dort zusammentreffen werde, an keiner andern Stelle. Was sagst du zu diesem Traum, Effendi?

„Nun, das, was du selbst über ihn sagst,“ antwortete ich. „Dein eigenes Gefühl leitet dich da richtiger als jede noch so klug erscheinende Auskunft, die ein anderer, also auch ich, dir geben kann.“

„So meinst du, daß ich meine täglichen Spaziergänge nach dieser Stelle hier herauf fortsetzen soll?“

„Werden sie dir durch irgend jemand oder durch irgend etwas verboten?“

„Nein.“

„So ist auch kein Grund vorhanden, sie zu unterlassen.“

„Ich danke dir! Erst wurde es mir schwer, zu euch von dieser Angelegenheit zu sprechen;

1) Gebetsrichtung nach Mekka.

nun ich es aber getan habe, fühle ich, daß mir das Herz davon leicht geworden ist. Doch kommt! Es beginnt bereits zu dämmern. Wir müssen gehen, sonst überrascht uns die Dunkelheit noch unterwegs.“

Er stand auf, und wir folgten diesem seinem Beispiele. Er hatte recht; der Abend senkte sich hernieder, und so beeilten wir uns heimzukommen. Hierbei teilte er uns im Gehen mit, daß er inzwischen geschäftlich für uns besorgt gewesen sei. Er wisse in El Chalil 1) einen köstlichen Paschasattel, der aus Arabien stamme und verkauft werden solle. Er werde einen Boten senden ihn holen zu lassen, und ihn mir dann zeigen.

„Ich muß ja selbst nach El Chalil,“ fiel ich da ein. „Ich will meiner Frau das Grab Abrahams, den Brunnen Abrahams und den berühmten Hain Mamre zeigen, wo die drei Engel dem Patriarchen erschienen sind.“

Da rief er fröhlich aus:

„So begleite ich euch, wenn ihr es erlaubt! Ich habe dort soviel Wichtiges und so viel Dringendes zu tun, daß ich, nun der Gedanke einmal da ist, am liebsten gleich morgen reisen möchte.“

„Das können wir ja! Uns ist jede Zeit recht, die dir paßt!“

„Wirklich? Auch morgen schon?“

„Ja.“

„Und darf ich Thar mitnehmen, meinen Sohn, für den es die größte aller Wonnen sein wird, mit euch und mir in einem schönen Wagen zu sitzen und in die unbekannte Welt hinauszufahren? Er ist nach dieser Richtung hin nicht weiter als nur bis Bethlehem gekommen.“

„Wenn es dir recht ist, so haben auch wir nichts dagegen, daß er uns begleite.“

„Gut, so sei es beschlossen, wir fahren; den Wagen besorge ich! Und da euch euer Weg jetzt an meinem Hause vorüberführt, so ersuche ich euch, für einige Augenblicke bei mir einzukehren. Ihr sollt die Freude sehen, die ihr dem Knaben durch diese eure Erlaubnis bereitet.“

Es wurde vollständig dunkel, ehe wir an dieses Ziel gelangten. Mustafa Bustani klopfte an das von innen verriegelte Tor. Schlürfende

1) Hebron.

Schritte nahten; die schwarze Köchin kam uns zu öffnen. Sie hatte eine orientalische Windlaterne in der Hand, bei deren Schein wir sahen, daß sie ihre ganze Gestalt in ein ursprünglich weißes Laken gehüllt hatte, welches jetzt aber so voll blauer, grüner, roter und gelber Wischflecke war, daß man den ursprünglichen Untergrund fast gar nicht mehr erkennen konnte.

„Maschallah! Wie siehst du aus?“ rief der Hausherr, als er das sah.

„Das ist die Kunst!“ antwortete sie stolz, indem ein höchst befriedigtes Grinsen ihr Gesicht fast um das Doppelte verbreiterte.

„Die Kunst? Wie so?“

„Wir malen!“

„Was?“

„Das Rote Meer. Wir haben gleich nach dem Mittagessen angefangen und sind noch nicht ganz fertig.“

„Du — — — du malst mit?“ fragte er, indem gewisse, nicht ganz frohe Ahnungen in ihm aufstiegen.

„Ja, ich!“ versicherte sie im Tone sehr hoch gestiegener Selbstzufriedenheit. „Der „Auserwählte“ malt nur das Wasser, die Luft und die Sonne; ich aber male das grüne Land; das bringt er nicht fertig.“

„Das grüne Land? Worauf malt er denn? Hoffentlich doch nur auf Papier?“

„Auf Papier? O nein! Das wäre doch viel zu klein. Wir malen auf die Wand.“

„Auf die Wand? Wo denn?“

„Im Gartenhaus!“

„Allah, Allah! Im Gartenhaus! An die Wand! Das ist ja fürchterlich! Was werde ich da sehen! Ich muß gleich hin, sofort, sofort!“

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Er eilte vom Tore weg, unter dem er bisher gestanden hatte. Daher sah uns die Köchin erst jetzt. Sie leuchtete uns an und erkannte mich.

„Der Effendi!“ rief sie aus. „Schon heut’! Der „Auserwählte“

sagte doch, daß du erst morgen kommen werdest! Eile und folge mir! Du darfst es sehen; das hat der „Auserwählte“ gesagt. Aber dem Herrn ist es noch verboten. Wir müssen ihm schnell nach. Er darf nicht hinein!“

Sie trabte mit ihrer Laterne von dannen. Wir folgten langsamer. Es war nicht weit, kaum zwanzig Schritte. Das Wohnhaus lag

in der Mitte des Gartens, das Gartenhaus aber an der Gartenmauer. Mustafa Bustani war nicht mehr einzuholen. Er hätte sich auch nicht abhalten lassen die Stätte, in der die „Kunst“ jetzt weilte, zu betreten. Ich kannte sie. Ich war oft in dem Häuschen gewesen. Es bildete ein Quadrat, die Türseite nach dem Garten, die andern drei Seiten ohne Fenster, also mit keinem Blick in die Außenwelt, elfenbeingelblichweiß gestrichen und mit goldenen Kur’ansprüchen verziert. Es hatte in dieser seiner Abgeschlossenheit, Sauberkeit und künstlerischen Ruhe und Bescheidenheit stets einen wohltuenden, besänftigenden Eindruck auf mich gemacht. Und jetzt?

Jetzt war die Tür weit aufgerissen. Vor ihr stand Mustafa Bustani. Er war noch nicht eingetreten, weil sein Sohn sich dagegen sträubte. Von der Decke hing eine Ampel, deren Lampe mit heller Flamme brannte. Im Innern sah man den Künstler, dessen Gestalt und Hemd nicht mehr in zwei, wie am Vormittage, sondern in vier Farben getaucht erschien, nämlich in azurnes Blau, in giftiges Grün, in leuchtendes Gelb und in glühendes Rot. So intensive, schreiende Farben regen auf, zumal wenn man künstlerisch zart besaitet ist. Was Wunder, daß da der Bub nicht grad bei ganz guter Laune war! Noch ehe wir das Gartenhaus erreicht hatten, hörten wir seine zornige Stimme, mit der er dem Vater zurief:

„Nein! Du hast es mir versprochen! Du

darfst nicht herein! Auch bin ich noch nicht fertig! Der Effendi ist der erste, der es sehen darf, nicht du!“

„Aber der ist ja da, der Effendi!“ antwortete Mustafa Bustani.

„Wo?“

„Hier!“ meldete ich mich, indem ich den Vater zur Seite schob und mich dem Sohne zeigte.

„Schon heut’?“ wunderte sich dieser. „Du wolltest doch erst morgen kommen! Aber es ist trotzdem schön, daß du schon jetzt da bist. Ich bin zwar noch nicht fertig, denn du siebst, daß die Haifische noch fehlen, aber die mache ich gelegentlich dazu; das geht sehr schnell. Tretet also ein, ihr beiden und — — —“

„Nun, und ich?“ unterbrach ihn sein Vater.

„Ich will so gütig sein und auch dir es erlauben, weil die beiden Hauptpersonen doch zugegen sind. Das tue ich aber nur, weil auch du zuweilen nachsichtig mit mir bist!“

„Leider, leider! Allah weiß, daß ich das bin!“

So schickten wir uns denn in nicht ganz harmonischer Stimmung und mit nicht ganz gewöhnlichen Gefühlen an, das Kunstwerk zu genießen, und ich muß allerdings der Wahrheit gemäß konstatieren, daß mir weder vorher noch nachher wieder etwas so hoch in der Tiefe Aufgefaßtes und so tief in der Höhe Ausgeführtes vor die Augen gekommen ist. Wir standen vor einer so großen, erstaunlichen und in ihrer Wirkung so beispiellosen Leistung, daß ich unbedingt wenigstens eine Situationszeichnung geben muß. Denn eine Beschreibung ist, genau so wie bei einem Rafael Santi oder einem Rembrandt van Ryn, absolut unmöglich.

Das Gartenhaus konnte also nur nach dem Garten hin geöffnet werden, dem orientalischen Gebrauch entsprechend, sich von der Außenwelt abzuschließen. Trat man durch die geöffnete Tür, so stand man vor drei geschlossenen Wänden, vor sich eine und je rechts und links eine. Diese Wände waren früher, wie bereits erwähnt, weißgelb, mit goldenen Kur’ansprüchen gewesen. Das gab es jetzt nicht mehr. Die Mittelwand war bis in Manneshöhe blutrot oder vielmehr glühend rot. Die beiden Seitenwände zeigten, auch bis in Manneshöhe, eine saftig grüne Farbe. Über diesem Rot und über diesem Grün war alles blau angestrichen.

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Der südöstliche Teil Jerusalems und das Tal Josaphat.

Und hoch oben an der Decke, da, wo die Ampelschnur befestigt war, saß ein großer, gelber Fleck, der erst wahrscheinlich rund gewesen, dieser Form aber nicht treu geblieben, sondern mit dem Blau zusammengelaufen war. Mitten in dem Grün zur rechten Seite stand ein weißes Haus; das hatte zwei Haustüren, ein Fenster und drei Schornsteine. Und mitten in dem Grün zur linken Seite stand ein

schwarzes Haus; das hatte drei Haustüren, gar kein Fenster und zwei Schornsteine. Ganz unten am Mittelfelde links, wo das Rot mit dem Grün zusammenstieß, sah man eine schwarze, menschliche Ferse, die bis zur halben Wade hinauf aus der roten Farbe schaute. Und ganz unten, am Mittelfelde rechts, wo das Grün mit dem Rot zusammenstieß, sah man eine weiße, menschliche Fußspitze, die bis zum halben Schienbeine hinauf aus der roten Farbe schaute. Daß noch Haifische hinzukommen sollten, war zwar bekanntgegeben worden, doch fand ich trotz aller Mühe auf keiner der drei Flächen auch nur den allergeringsten Platz, wo sich ein Haifisch hätte wohlfühlen können.

„Da steht ihr nun alle und staunt!“ sagte Thar, indem er seinen Blick in höchst überlegener Weise über uns gleiten ließ. „Wißt ihr, was das bedeutet? Weißt du, Effendi, was es ist?“

Da er sich so direkt an mich wendete, so sah ich mich gezwungen, der Sache wohl oder übel auf die verwischte Spur zu kommen. Ich war aber so diplomatisch, keinen Gegenstand zu nennen, den das Bild vielleicht hätte vorstellen können, denn ich wollte mir die Hochachtung des Künstlers auf alle Fälle erhalten. Darum antwortete ich nur so im allgemeinen, aber möglichst kunstbegeistert:

„Es ist das reine blaugrünrotgelbe Wunder!“

„Richtig!“ stimmte er mir bei. „Du sagst nie etwas falsch! Es hat uns auch Mühe und Farbe genug gekostet. Schau nur her!“

Er deutete auf den Boden nieder, wo halb- und ganz-leere Farbentöpfe standen und Pinsel bis zur äußersten Größe lagen, die Abreibe-, Wisch- und Scheuerlappen gar nicht gerechnet.

„Das haben wir vom Tüncher geholt,“ fuhr er fort. „Und weil die Zeit zu kurz war und ich nicht allein fertig werden konnte, hat mir die Köchin helfen müssen. Sie hat aber nur das Land gemalt; das ist leicht. Das übrige mußte ich selber machen; dazu hat sie kein Talent!“

Sein Vater befand sich im höchsten Zorne. Er gab sich alle Mühe ihn zu unterdrücken, und fragte:

„Wer hat dir denn erlaubt, diese Wände und die köstlichen Sprüche zu übermalen?“

„Doch du!“ antwortete der Sohn.

„Ich — — — —?“

„Ja, du selbst! Ich fragte dich, ob ich im Gartenhause zwei Bilder malen dürfe, und du hast es mir erlaubt.“

„Habe ich da etwa annehmen können, daß du sie an die Wände malst, anstatt auf Papier? Wir sprechen noch hierüber, mein Sohn!“ Er machte die Gebärde, als habe er einen Stock in der Hand, und fügte hinzu: „Übrigens sehe ich nur ein Bild, nicht zwei.“

„Ich habe mich anders besonnen; Es gibt noch mehr als zwei. Das hier ist das erste. Die andern kommen noch nach. Der Effendi will doch sehen, was ich kann, und da muß ich ihm soviel wie möglich zeigen.“

„Noch mehr Bilder? Derartige Bilder? Bist du toll? Welche denn?“

„Morgen malen wir im Harem.“

„Was?“

„Die Posaunen von Jericho und wie die Mauern einstürzen.“

„Allah erbarme sich! Und übermorgen?“

„Übermorgen malen wir im Schlafzimmer!“

„Aber was?“

„Den Untergang von Sodom und Gomorra, mit lauter Rauch und Feuer, Blitz und Donner. Die Farben sind schon bestellt!“

„Schon bestellt! Auch das noch! Im Schlafzimmer Blitz und Donner, Rauch und Feuer! Für deine Kunst scheint es nichts Unmögliches zu geben. Ich sehe ein, daß ich ihr Grenzen ziehen muß. Was stellt denn dies hier vor? Da ist doch keine Spur von Gedanken drin!“

Er hatte bei dem Worte „Grenzen“ eine Bewegung gemacht, als ob er ihn wieder, wie heut’ am Vormittag, über das Knie nehmen wolle. Trotz dieser Drohung mußte der Knabe lachen, als er jetzt antwortete:

„Keine Gedanken? Da steckt doch das ganze Volk Israel und der König Pharao mit allen seinen Ägyptern drin!“

„Wieso?“ erkundigte sich der Vater. „Ich sehe doch nichts von ihnen!“

„Weil sie eben im Wasser sind! Dieses Bild ist der Durchgang der Kinder Israel durch das Rote Meer. Siehst du es denn nicht, das Rote Meer, da grad vor dir? Und drüber ist die blaue Luft, und ganz oben, grad über dem Kopf, die gelbe Sonne, denn es ist genau Mittagszeit. Hier links, das grüne Land,

das ist Ägypten, und das Haus, das ist der Palast des Pharao. Und hier rechts, das grüne Land, das ist Palästina, und in dem Haus, welches drinsteht, wohnt der König der Jebusiter. Dazwischen liegt das Rote Meer. Die Kinder Israels waren Sklaven in Ägypten. Moses hat ihnen losgeholfen. Er floh mit ihnen in das Rote Meer. Jetzt eben stecken sie alle drin. Pharao eilte ihnen nach mit seinem ganzen Heere. Schau’ her! Soeben ist der letzte von ihnen verschwunden. Man sieht nur noch seine Ferse, die noch nicht im Wasser ist. Und drüben, auf der andern Seite, da kommen die Kinder Israels soeben wieder aus dem Wasser heraus. Man sieht schon die Fußzehen des ersten von ihnen, die außerhalb des Wassers sind. Sobald sie sich alle auf dem Trockenen befinden, male ich meine Haifische hinzu, und dann sollst du sehen, daß der Pharao mit seinen sämtlichen Soldaten aufgefressen wird und daß kein einziger von ihnen übrig bleibt! Sind das etwa keine Gedanken?“

Er stellte sich breit vor seinem Vater hin und sah ihm überlegen in das Gesicht. Und da erklang hinter uns die vorwurfsvolle Stimme der Negerköchin, die mit ihrer Windlaterne noch an der Tür stand und alles gehört hatte:

„Und das ganze, grüne Ägypten und das ganze, grüne Palästina, das stammt von mir. Morgen male ich Jericho!“

Da konnte sich der gute Mustafa Bustani nicht länger beherrschen. Sein ganzer Zorn brach los.

„Was du morgen malst, das wird sich finden!“ donnerte er sie an: „Marsch! Fort mit dir! Ins Haus!“

Da fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Sie ließ die Laterne fallen, daß sie

zerbrach und verlöschte, und rannte davon, so schnell ihre Füße sie trugen. Aber diese Wirkung seines Grimmes gab dem Händler sofort die über sich verlorne Gewalt zurück. Er wendete sich in entschuldigendem Tone an uns:

„Verzeiht! Der Zorn tut nie das Richtige. Erlaubt, daß ich euch begleite!“

Wir verstanden und begriffen ihn sehr wohl. Er führte uns nach dem Tore, durch welches wir gekommen waren. Es stand noch offen. Dort sagte er:

„Es bleibt bei unserer Fahrt, morgen früh. Ich hole euch ab, sieben Uhr nach europäischer Zeit. Ob ich den Knaben mitnehme, weiß ich noch nicht.“

„Wirst du ihn strafen? Etwa sehr?“ erkundigte sich meine Frau, die den Bub auch liebgewonnen hatte.

„Wer hier, in diesem Falle, die Strafe verdient, darüber werde ich nachdenken,“ antwortete er in ungewöhnlich ernstem Tone: „Es ist, als ob mir mit euch ein Licht gekommen sei. Mir scheint, ich habe seit heute vormittag ganz andere Augen und Ohren. Wie kam es, daß ihr, ohne allen sichtbaren Grund, genau denselben Weg nach der Höhe des Ölberges gegangen seid, den ich täglich einzuschlagen pflege? Und genau zu derselben Zeit?“

„Zufall!“ warf ich leicht hin.

„Das sagst du, ohne es selbst zu glauben! Ich weiß nur zu gut, daß du das Wort Zufall für eine Verlegenheitserfindung hältst. Doch das ist für jetzt nebensächlich. Hauptsache für heut’ abend ist mein Sohn. Ich habe nachzudenken. Ich habe allein zu sein. Und — — — euch

beiden kann ich sagen, ohne mich schämen zu müssen — — — ich habe zu beten! Mir ist der Gedanke gekommen, daß ich mich mit der Seele meines Kindes auf falschem Wege befinde. Nur Allah allein kennt die verborgenen Tiefen unseres Innern. Er wird mir zeigen, was recht ist und was falsch. Ich bitte, sorgt euch nicht um den Knaben! Er bekommt keine Strafe, die er nicht verdient. Gute Nacht!“

„Gute Nacht!“ sagten auch wir, reichten ihm die Hände und gingen, sehr gespannt darauf, wie sich die Angelegenheit für morgen entwickeln werde.(Fortsetzung folgt.)

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Schamah.

Reiseerzählung aus dem Gelobten Lande von Karl May. (Fortsetzung.)

II.

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Nach Hebron!

Welche Erinnerungen knüpfen sich an den Namen dieser alten, berühmten Königs- und Levitenstadt! Man sagt, sie sei die älteste der Städte des Gelobten Landes. Nach 4. Mos. 13, 23 bestand sie schon dreitausend Jahre vor Christi Geburt. Nach der Tradition des Mittelalters lag in ihrer Nähe die Stelle, an welcher Gott den Adam schuf. Sie hieß früher Kiriath Arba, wo mythenhafte Riesen wohnten, und war später die Hauptstadt der Hithiter, deren Fürsten da residierten. Nach der Eroberung von Kanaan durch die Kinder Israel fiel sie der Familie Kaleb zu. Später verlebte König David hier die ersten sieben Jahre seiner Regierungszeit. An ihren Toren wurde Abner von Joab ermordet. Und die Männer, die Isboseth, den Sohn Sauls, getötet hatten, wurden auf Davids Befehl hier aufgehängt. Von Hebron ging die Auflehnung Absaloms gegen seinen Vater aus. Die Stadt fiel während der babylonischen Gefangenschaft den Edomitern in die Hände, die aber von Judas Makkabäus wieder vertrieben wurden. Die Römer zerstörten sie und verkauften ihre Bewohner in die Sklaverei. Die Kreuzfahrer machten Hebron zur Bischofsstadt, die auch den Mohammedanern immer heilig gewesen ist, weil sie der Wohnsitz der Patriarchen war. Schon Abraham wohnte

da, und Jakobs Zug nach Ägypten begann von Hebron aus. Die Moslemin nennen Abraham Chalîl er Ramân, Freund des Barmherzigen, wovon Hebron seinen jetzigen arabischen Namen, El Chalîl, bekommen hat.

Hebron ist also in hohem Grade ehrwürdig, leider aber nicht freundlich gegen Fremde, zumal gegen Christen. Die Bevölkerung ist die bigotteste des ganzen Landes, ungefähr neuntausend Mohammedaner und fünfhundert Juden, die zwar vom Christen so viel wie möglich Geld verdienen wollen, ihn aber sonst als einen minderwertigen, wohl gar unreinen Feind betrachten, durch dessen Berührung man sich beschmutzt. Ein durch die Gassen Hebrons gehender Christ tut wohl daran, wenn er sich bemüht, die Augen der „wahren Gläubigen“ so wenig wie möglich auf sich zu ziehen, sonst kann es leicht kommen, daß wenigstens die Jugend hinter ihm herläuft, um ihn nicht nur mit Schimpfworten, sondern auch mit noch kompakteren Dingen zu bewerfen. Dieses feindselige Verhältnis spricht sich wohl am deutlichsten durch den Umstand aus, daß es in Hebron kein Gasthaus zur Aufnahme von Christen gibt, obgleich die Stadt durch eine recht gut fahrbare Straße mit Jerusalem verbunden ist. Es müßte jetzt anders sein; ich bin im Jahre 1900 zum letztenmal dort gewesen.

Wenn die Stadt mit dem freundlichen Namen und der unfreundlichen Bevölkerung trotzdem von Europäern besucht wird, wenn auch nicht allzu oft, so hat sie das nur der

christlichen Verehrung der Erzväter, besonders Abrahams zu verdanken. Als Sara starb, kaufte Abraham die Doppelhöhle Machpela von Ephron, dem Hethiter, und verwandelte sie in eine Begräbnisstelle. Man sagt, daß dort alle sechs begraben liegen, nämlich Abraham, Isaak und Jakob, Sara, Rebekka und Lea. Die von der heiligen Helena — andere sagen vom Kaiser Justinian — über dieser Stelle gegründete Kirche wurde von den Moslemin in eine Moschee verwandelt, die von Christen leider nicht besucht werden darf. Sie dürfen sich höchstens dem äußern Umfang des Heiligtums nähern. Um weitergehen zu dürfen, muß man eine hohe, fürstliche Person sein und einen besonderen Ferman des Großherrn besitzen. In der Nähe, auf Dêr el Arba’in, findet sich das Grab von Isai, König Davids Vater. Eine halbe Stunde von der Stadt steht die Eiche Abrahams, und man behauptet, daß dies die Stätte sei, wo einst der Hain Mamre gelegen habe. Fast jede besondere Stelle der Umgegend ist mit dem Gedächtnis des Patriarchen verknüpft, und darum ist es mir, so oft ich in Jerusalem war, stets Bedürfnis gewesen, auch Hebron zu besuchen. So auch jetzt.

Am nächsten Morgen, genau sieben Uhr, hielt ein wohlbespannter, bequemer, viersitziger Kutschwagen vor unserer Wohnung. Mustafa Bustani und Thar saßen drin.

„Also doch!“ sagte meine Frau, als sie das sah. „Er darf mit!“

Auch ich freute mich darüber. Der Knabe sprang aus dem Wagen und kam, uns abzuholen. Er war festlich gekleidet. Gelbe Schuhe, weiße Strümpfe, eine weiße Hose, darüber ein weißes Beduinenhemd und eine rote Weste mit gelben Husarenschnüren. Auf dem Kopfe ein roter Fez, um den ein weißseidenes Nackentuch

gebunden war. Der Bub sah heut’ außerordentlich reputierlich aus.

„Wir sind da,“ sagte er. „Der Vater läßt bitten, zu kommen!“

Das klang kräftig und offiziell. Leiser aber und in vertraulichem Tone fügte er die Frage hinzu: „Habt ihr gestern abend auch gedacht, daß ich Schläge bekommen werde?“

„Nein,“ antwortete ich.

„Nicht? Ich habe es sehr gedacht, sehr, sehr! Und ich wollte, er hätte mich geschlagen.“ Er sann einen Augenblick nach und wiederholte dann: „Ja, ja, ich wollte es!“

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Der Apostelbrunnen am Wege zwischen Jerusalem und Bethanien, an dem der Überlieferung nach Jesus mit seinen Jüngern rastete.

„Warum?

„Wenn die Strafe vorüber ist, dann ist er nicht mehr zornig und nicht mehr traurig, und es tut auch mir nicht mehr weh. Wenn ich sie aber noch zu erwarten habe, wie wahrscheinlich jetzt, so hat er immer so traurige Augen, und das verursacht mir doppelten Schmerz.“

„Wieso doppelten?“

„Nun, erstens über diese seine Augen und zweitens über die Hiebe, die noch kommen werden. Die fühle ich unaufhörlich voraus, aber ganz unnützerweise, denn gewöhnlich stellen sie sich dann nicht ein. So wird es vielleicht auch heut’. Trotzdem aber tun sie mir schon seit gestern abend weh. Er hat nämlich kein Wort gesagt, kein einziges. Und heut’ früh hat er mich selbst geweckt und auch selbst

angekleidet, und als er so still dabei war, da konnte ich es nicht länger aushalten, sondern ich bin ihm um den Hals gefallen, um ihn zu küssen, und habe ihn gebeten mich zu schlagen, aber tüchtig, tüchtig! Da hat er ganz leise gelächelt und nur den Kopf geschüttelt. Ich halte das für falsch. Oder meint ihr, daß es richtig ist?“

„Was der Vater tut, ist stets richtig. Das mußt du dir merken!“ belehrte ich ihn.

„Auch dann, wenn ich es für falsch halte?“

„Auch dann! Denn wenn du so alt sein wirst, wie er jetzt ist, wird dir die Erfahrung gekommen sein, daß er recht gehabt hat. Doch komm’! Er ist so pünktlich gewesen; so dürfen wir ihn nicht warten lassen.“

„Nur noch einen Augenblick!“ bat er. „Ich habe euch noch zu sagen, daß heut’ Freitag ist, also Feiertag. Da ist es mir verboten, mich schmutzig zu machen. Darum habe ich keine Farben mit. Aber ein Held bin ich trotzdem. Es ist nämlich nicht allemal notwendig, daß man sich anmalt, wenn man seine Feinde besiegen will. Es gibt auch Fälle, in de­nen — —“

„— — der Sieg ein wirklicher, kein angemalter ist,“ fiel meine Frau lachend ein. „Du sagtest aber doch gestern, daß du heut’ die Erstürmung von Jericho malen wollest. Hast du da nicht an den heutigen Freitag gedacht?“

„Nein. Aber es wird überhaupt aus Jericho nichts.“

„Warum?“

„Es fehlt mir der nötige Lärm dazu. Die Posaunen kann man malen, die Mauern auch; aber woher soll man den Lärm nehmen, wenn man keinen machen darf? Es ist wirklich schade, jammerschade! So, nun bin ich fertig. Wir können gehen.“

So brachen wir also auf und gingen zum Wagen. Eben, als wir einstiegen, ritt Osman Achyr, der Ferik-Pascha, auf seinem dicken Esel vorüber, um einen Morgenausflug zu unternehmen. Als er uns sah, zügelte er sein Tier für einen Augenblick, -

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Augenblick, grüßte freundlich nickend und fragte den Bub: „Was für ein Held bist du denn heut’?“

Der antwortete in gewohnter Geistesgegenwart sofort:

„Ich bin Josua, der Eroberer.“

„Wohin willst du?“

„In das Land der Kananiter, um ihnen zu zeigen, daß wir uns nicht vor ihnen fürchten.“

„Wo liegt denn dieses Land?“

„In Chalîl.“

„So nimm dich wohl in acht, mein Junge! Die Leute dort hauen zu, ohne erst um Erlaubnis zu fragen.“

Hierauf ritt er weiter. Mustafa Bustani versicherte uns, daß er für alles, was unterwegs nötig sei, gesorgt habe. Thar schwang sich neben den Kutscher auf den Bock, wo er sich jedenfalls freier und höher fühlte als bei uns tiefer im Wagen. Dann zogen die Pferde an.

Der Weg führt vom Jaffator ziemlich steil in das Hinnomtal hinab, am Birket es Sultan 1) vorüber und drüben wieder hinauf, zur Hochebene El Buckei’a, an deren Ende das Kloster Mar Eljâs liegt, von dem aus sich eine weite, hochinteressante Fernsicht bietet. Man bringt den Namen dieses Klosters mit dem Propheten Elias in Verbindung und behauptet, daß aus dem Brunnen, der in der Nähe liegt, die heilige Familie getrunken habe. Jenseits des Klosters kommt man an das Kubbet Rachil 2), wo Rahel, die Frau des Patriarchen Jakob, begraben wurde. Von diesem Orte steht 1 Mos. 35, 19-20 geschrieben: „Also starb Rahel und ward begraben an dem Weg gen Ephrat, welches nun Bethlehem ist. Und Jakob richtete ein Denkmal auf über ihrem Grabe; das ist das Grabmal der Rahel bis auf diesen Tag.“

An dieser Stelle teilt sich der Weg. Links führt er nach Bethlehem und geradeaus nach Hebron. Wir schlugen also die letztere Richtung ein und kamen nach drei Viertelstunden zu den drei „Salomonischen -

1) Sultansteich. — 2) Grabmal der Rahel. —

„Salomonischen Teichen“, welche in weit vorchristlicher Zeit angelegt wurden, um Jerusalem mit Wasser zu versorgen. So interessant diese Teiche und das in ihrer Nähe liegende Kastell in geschichtlicher und baulicher Beziehung sind, auf unsere Erzählung haben sie keinen Einfluß, und so fahren wir für jetzt an ihnen vorüber. Interessanter ist mir das breite Wadi el’ Arrûb, wo auf halbem Wege zwischen Jerusalem und Hebron ein „Café“ errichtet ist, damit Menschen und Tiere einen Platz finden sich auszuruhen. Man hat sich da nicht etwa ein europäisches Café vorzustellen, sondern ein enges, niedriges, steinernes Mauerwerk, in dem ein ziemlich schmutziger Kerl in einem schmutzigen Topfe aus schmutzigem Wasser eine schmutzige Brühe kocht, die er Kaffee nennt und an vorüberreisende Europäer zu sündhaften Preisen verkauft. Aber die Sünde besteht nicht etwa darin, daß er diese Preise fordert — o nein, dazu ist er zu pfiffig. Es könnte ihm dann infolge von

Beschwerden die Erlaubnis Kaffee zu schänken entzogen werden. Er fängt das klüger an. Von Einheimischen fordert er den denkbar niedrigsten Preis; zu Fremden aber sagt er stets: „Ich nehme, was du mir gibst!“ Hiervon ist er durch keine Bitte und durch keine Drohung abzubringen, und da der hier vorüberkommende Europäer fast stets wohlhabend und dabei noch extra in gehobener Stimmung ist und der Kaffeewirt einen sehr hilfsbedürftigen Eindruck macht, so werden ihm Preise bezahlt, die nicht mehr Preise, sondern Geschenke oder gar Tribute sind. Es kam vor, daß er für ein kleines, orientalisches Täßchen Kaffee, welches einen Inhalt von zwei bis drei Fingerhüten hat, die Hand so lange hinhielt, bis er nach deutschem Gelde eine Mark und noch mehr bekam, wo fünf Pfennige vollständig genügt hätten. Auch ich war immer „nobel“ gegen ihn gewesen, hatte aber, als ich das letzte Mal bei ihm war, gesehen, daß er, als ich dann weiterritt, hinter

mir herlachte, und das sollte er mir heute nun büßen.

Wir hielten, als wir das „Café“ erreichten, bei ihm an und stiegen aus. Er kam herausgeeilt und fragte nach unsern „Befehlen“, indem er sich mehr als demütig tief verneigte. Mustafa Bustani „befahl“ fünf Tassen Kaffee, dann nochmals fünf und hierauf sogar zum drittenmal fünf. Also fünfzehn Tassen! Das zog. Der Mann zerfloß in Unterwürfigkeit; aber er wußte, daß Mustafa Bustani, der geschäftlich oft nach Hebron reiste und hier einkehrte, kein Fremder war. Den konnte er also nicht als Europäer behandeln. Aber dann, als wir uns anschickten wieder einzusteigen, zog ich den Beutel. Da strahlte sein ganzes Gesicht. Ich fragte, was die fünfzehn Tassen kosteten.

„Gib, was du willst,“ sagte er.

„Ich gebe nur, was du verlangst!“ erklärte ich.

Das half mir aber nichts. Er stellte absolut keinen Preis. Und als ich ihm drohte gar nichts zu zahlen, wenn er nichts verlange, antwortete er einfach: „So schenke ich es dir!“ Dies war der Kniff, der ihm stets gelang. Er nahm an, daß kein Europäer sich von ihm etwas „schenken“ lassen werde. Da tat ich, als sei ich überwunden und gab ihm einen Franken. Der Frank ist nämlich in Palästina die beliebteste Silbermünze. Er sah ihn an, hielt ihn mir wieder hin und sagte: „Den schenk’ ich dir!“ Ich nahm das Geld zurück, gab ihm dafür erst zwei Frank, dann drei Frank. Er gab mir auch dies beides mit den Worten wieder: „Dies schenk’ ich dir!“ Ich kannte den Mann; ich wußte, wie weit ich gehen durfte. Seine Geldgier wuchs mit der Höhe der Gabe. Ich gab ihm vier und dann sogar fünf Franken. Bei der letzteren Summe schloß er allerdings die Hand und machte eine Bewegung, als ob er das Geld einstecken wolle. Dabei sah er mich forschend an. Ich machte mein gutmütigstes Gesicht und hob die Hand, als ob ich noch weiter in den Beutel greifen wolle. Das war zuviel für ihn; er konnte nicht widerstehen. Er hielt mir auch die fünf Franken wieder hin und sagte in einem Tone, als ob dies für ihn gar nichts sei: „Ich schenke dir auch das!“

Da nahm ich es zurück, tat es in den Beutel, aber recht hübsch langsam, um ihn nicht um den

kleinsten Teil des Genusses zu bringen, steckte den Beutel ein und antwortete:

„So weiche ich deiner Güte und nehme dein Geschenk an. Ich danke dir! Leb’ wohl! Allah segne dich und dein großmütiges Haus für alle ferneren Gäste!“

Hierauf stiegen wir ein, doch ohne uns zu beeilen, denn das Gesicht, welches er machte, war des größten Zögerns wert. Er hielt die Arme weit ausgestreckt, als ob er uns festhalten wolle. Der Mund stand ihm offen. Und auf dem Gesichte lag der Ausdruck einer Bestürzung, die fast an Entsetzen grenzte. Er war sprachlos, brachte kein Wort, keinen Laut hervor. Da zogen die Pferde an und fielen, um die verlorne Zeit einzubringen, sogleich in Trab. Als wir an der nächsten Biegung des Weges zurückschauten, stand der Mann noch immer starr auf demselben Flecke. Ein allgemeines, herzliches Lachen, in welches sogar der arabische Kutscher einstimmte, war die Folge. — Der weitere Weg bietet viel geschichtlich Interessantes, was aber nicht auch in anderer Beziehung interessant erscheint. In Aïn ed Dirwe gibt es eine schön mit Quadern gefaßte Quelle, wo nach Apostelgeschichte 8 der Apostel Philippus den Schatzkämmerer der Königin Candace von Äthiopien taufte. Später kommt man an den Ruinen von Beth Zur vorüber, welches Josua 15, 58 und Nehemia 3, 16 erwähnt wird und zur Zeit der Makkabäer von Bedeutung war. Nach etwa einer halben Stunde liegt links von der Straße, vielleicht 400 Schritte von ihr entfernt, ein großes Mauerwerk, Haram Ramet el Chalil 1) genannt, in dem sich eine Zisterne, der sogenannte „Brunnen Abrahams“ befindet. Mit diesem Platze haben wir uns noch eingehend zu beschäftigen. Darum gebe ich eine von meiner Frau aufgenommene Photographie von ihm. Ich sitze da in der Ecke, am Rande der Zisterne, arabisch gekleidet, doch unbedeckten Hauptes. Der Araber rechts vorn ist der Eselstreiber, den ich noch zu erwähnen haben werde.

Schon längst, ehe man an dieser Stelle vorüberkommt, kündigt sich die Nähe der Stadt durch Weinberge und Gärten an, deren Früchte schon im Altertum einen guten Ruf besaßen. So sagt man z. B., daß die Riesentraube, welche

1) Heiligtum Abrahams.

die Kundschafter dem Moses brachten, bei Hebron am Bache Eskol geschnitten worden sei. Zu fahren hat man von hier aus nach der Stadt nicht ganz eine halbe Stunde. Früher pflegte ich, so oft ich nach El Chalil kam, bei dem alten, ehrwürdigen und gegen Bekannte außerordentlich gefälligen Juden Eppstein einzukehren, welcher, weil er aus Deutschland stammt, der deutschen Sprache mächtig ist und sich jedes Deutschen annimmt, soviel es seinen, bei dem hiesigen Christenhaß allerdings nur schwachen Kräften möglich ist. Heute konnte ich das nicht, und zwar um Mustafa Bustanis willen, mit dem wir kamen. Er hätte sich durch die Einkehr bei einem Juden für immer um seinen ganzen guten Ruf gebracht. So fuhren wir denn zu einem seiner Geschäftsfreunde, der Platz genug besaß Pferde und Wagen unterzubringen. Ob aber auch uns, nämlich mich und meine Frau? Glücklicherweise war der Mann einer der wenigen Toleranten 1), die es hier in Hebron gab. Wir wurden nach einigem Zögern aufgenommen, aber von Mustafa und seinem Sohne getrennt und in einem kleinen viereckigen Raume untergebracht, -

1) = Duldsamen (gegen Andersgläubige).
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Haram Kamet el Chalil (= Heiligtum Abrahams) bei Hebron. (Originalaufnahme.)

untergebracht, der keine Fenster hatte. Um Licht zu haben, mußte man die Tür offen lassen, die nach einem stinkend schmutzigen Hof führte. Als einziges Möbel gab es eine Strohmatte, auf die man sich setzen konnte, wenn man so kühn war dies zu wagen. Als wir hier eine halbe Stunde zugebracht hatten, brachte man uns einen alten Krug voll übergestandenen Wassers, welches nicht zu trinken war. Auf unsere Fragen konnten wir weiter nichts erfahren, als daß dieses Wasser alles sei, was man uns bieten könne, denn wir seien ja Christen, aber doch keine Moslemin. Aus diesem Kruge werde nun niemand mehr trinken, weil er von uns verunreinigt worden sei. Das war die Gastfreundschaft eines „toleranten“ Moslems. Wie mochte es um diejenige eines intoleranten beschaffen sein?! Ich ließ Mustafa Bustani zu mir bitten. Er kam und brachte Thar mit. Er entschuldigte sich. Man hatte ihm mitgeteilt, daß man uns ganz standesgemäß untergebracht und für uns gesorgt habe. Wir teilten ihm mit, daß wir nun doch zum Juden Eppstein gehen würden, und Thar war sofort entschlossen uns zu begleiten. Sein Vater hatte nichts dagegen. Er konnte sich uns nicht so, wie er wünschte, widmen. Nun er einmal

da war, hatte sich die Notwendigkeit geschäftlicher Besprechungen und Besuche herausgestellt, die ihn ganz in Anspruch nahmen und bei denen ihn der Knabe nichts weiter als nur stören konnte. Er war uns also dankbar dafür, daß wir ihn mitnehmen wollten. Zunächst aber schlug er vor zu dem Araber zu gehen, der den Sattel zu verkaufen hatte. Die Reise sei dieses Sattels wegen unternommen worden, und darum verstehe es sich ganz von selbst, daß diese Angelegenheit zuerst erledigt werde. Da fragte meine Frau:

„Ist es denn heut’, am Freitag, erlaubt zu kaufen und zu verkaufen?“

„In diesem Falle ja,“ antwortete er. „Wir wohnen nicht hier, sondern wir sind Passanten und können nicht warten.“

„Aber wir sind doch auch in Beziehung auf die Gastlichkeit Passanten, die nicht warten können! Warum ist der Islam nachgiebig, wenn es sich um Geldverdienst handelt, aber rücksichtslos und hart, wenn es darauf ankommt, dem Nächsten Liebe und Güte zu erweisen?“

„Ich bitte, meinen Geschäftsfreund nicht mit dem Islam zu verwechseln!“ bat Mustafa Bustani. „Für den Islam gehört die Gastfreundschaft zu den Tugenden, die keinem Menschen erlassen sind.“

„Auch gegen Andersgläubige?“

„Auch gegen Christen, Juden und Heiden.“

„Wie es nur kommen mag, daß die Bewohner von Hebron die vom Islam vorgeschriebenen -

vorgeschriebenen Tugenden nicht üben und sich trotzdem oder vielmehr grad darum für tadellose Bekenner des Propheten halten?“

„Diese Frage kann wohl niemand beantworten.“

„O doch!“ fiel ich ein.

„Wer?“ erkundigte er sich.

„Unser Thar hat sie beantwortet.“

„Wann?“

„Heut’ früh, als er mit dem Ferik-Pascha sprach.“

Der Bub hatte uns zugehört. Als er jetzt erfuhr, daß er eine Frage beantwortet habe, von der sein Vater meinte, daß niemand sie beantworten könne, fühlte er sich in hohem Grade wichtig und rief bestätigend aus:

„Ja, das ist richtig! Ich weiß immer mehr als andere Leute! Darum werde ich von unserer Köchin und von ihrem Manne stets nur der „Auserwählte“ genannt. Was habe ich denn gesagt, Effendi?“

„Du hast die Bewohner von Hebron als Kananiter bezeichnet, zwar nur bildlich, aber doch nicht ohne wirklichen Grund.“

„O ja! Gründe habe ich stets!“

„Sie sind nämlich nur äußerlich Moslemin, innerlich aber noch immer Kananiter. Die Feinheiten des Mosaismus und des Islam sind an ihnen vorübergegangen und nur der Bodensatz blieb haften.“

„Das muß ich mir merken, Effendi, weil ich der erste bin, der es gesagt hat. Den Mosaismus, den vergesse ich nicht, und den Islam auch nicht. Aber wie hießen denn eigentlich die Kananiter alle?“

„Man versteht unter ihnen die Hethiter, die Jebusiter, die Girgasiter, die Heviter, die Amoniter, die Sidoniter, die Arkiter, die Zemariter, die Arvaditer, die Hamathiter und die Bewohner von Sidon. Diese Namen aber wirst du wohl nicht lange behalten.“

„So hast du hier mein Merkbuch. Bitte, schreib sie mir ein!“

Er zog ein kleines Notizbuch aus der Innentasche seiner Weste und gab es mir. Ich sah hinein. Was da stand, machte mir Freude. Ich sah, daß er ziemlich richtig schrieb und sich bisher nur ernste Dinge aufgezeichnet hatte. Ich fügte die elf Namen hinzu und gab es ihm dann zurück. Er begann sofort sie durchzulesen, um sie sich einzuprägen. Der Vater ging mittlerweile zum Wirt seinen Dank für die uns erwiesene Gastfreundschaft abzustatten, und kehrte dann zurück, um mit uns den Besitzer des Sattels aufzusuchen. Der Händler holte ihn und zeigte ihn vor. Er erklärte auch, daß er ihn verkaufen wolle und nannte unaufgefordert den Preis, den ich wohl ansehnlich, aber nicht übertrieben gefunden habe. Der Sattel war wirklich ein Prachtstück und das, was für ihn gefordert wurde, wert. Da beging Mustafa Bustani den Fehler, zu sagen, daß nicht er, sondern ich der Käufer sei, und sofort erklärte der Araber, daß er mit mir nichts zu tun haben wolle; er halte es für eine Sünde einen Sattel, auf dem ein mohammedanischer Pascha gesessen habe, an einen Christen zu verkaufen. Dabei blieb er, und wir mußten uns unverrichteter Dinge entfernen.

Mustafa Bustani war über diese Behandlung in hohem Grade aufgebracht, doch sahen wir uns gezwungen sie ruhig hinzunehmen. Er begleitete uns nach dem Begräbnisorte Abrahams, hatte damit aber auch kein Glück, denn überall in den engen und schmutzigen Gassen, durch die wir kamen, sah man uns mit feindseligen Augen an, und an Ort und Stelle selbst wurde uns einfach bedeutet sofort wieder umzukehren, wenn wir nicht Gefahr laufen wollten vom Volke mißhandelt zu werden. Mustafa Bustani aber solle sich als Moslem schämen, an einem so großen Tage, wie der heutige sei, christliche Personen an das Heiligtum zu führen! Eine solche Unduldsamkeit hatte ich selbst hier noch nicht erlebt, sondern ich war bisher immer bis an das eigentliche, innere Sanktuarium geführt

worden, wenn auch nicht hinein. Mustafa Bustani fragte, was für einen großen Tag man denn meine, und jetzt erfuhren wir, daß heute der Geburtstag und zugleich der Verstoßungstag Ismaels sei, denn Hagar sei grad am Geburtstag ihres Sohnes von Sarah in die Wüste getrieben worden. Nun war uns das Verhalten des ungastlichen Geschäftsfreundes, des bigotten Sattelbesitzers und der fanatischen Moscheebeamten erklärlich. Die Erinnerung an die Verstoßung des nationalen Ahnherrn verdoppelte die überhaupt vorhandene Schärfe. Für Juden war es da angezeigt, sich heute ja nicht sehen

zu lassen, und für mich desgleichen. Daß ich meine Frau mit hatte, konnte sehr leicht als Mißachtung aufgenommen werden und die Erbitterung nur vergrößern, anstatt sie zu verkleinern. Darum mußte ich Mustafa Bustani mein Wort geben jetzt direkt zu Eppstein zu gehen, um bei ihm zu essen, und dann die Straßen der Stadt zu vermeiden und nur auswärts liegende Punkte zu besuchen. Davon kamen für heute nur zwei in Betracht, nämlich die Eiche von Mamre und der Haram Ramet el Chalil. Der letztere liegt, wie bereits erwähnt, ungefähr vierhundert Schritte von der Straße nach Jerusalem, und so setzten wir eine genaue Zeit fest, in der Mustafa Hebron verlassen und dort an der Straße den Wagen halten lassen werde, um uns zur Heimfahrt aufzunehmen. Nachdem diese Verabredung getroffen worden war, trennten wir uns. Thar freute sich außerordentlich darüber, daß er mit uns gehen durfte, und auch ich war nicht gleichgültig über diesen Beweis des Vertrauens, den sein Vater mir gab, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

Mein alter, braver Eppstein nahm uns im höchsten Grade gastlich auf. Er gab uns sein mir sehr wohlbekanntes „bestes Zimmer“, welches verhältnismäßig luftig auf dem platten Dache liegt. In dem Tagebuche meiner Frau, die sich derartige Dinge gern notiert, sind hierüber folgende Zeilen zu lesen: „Es war ein sehr heißer Tag. Wir bekamen ein schönes, kühles, gewölbtes Zimmer, welches zwei weitgeschweifte Bogen hatte. An drei Seiten Fensteröffnungen und an der vierten Seite die Tür. Der Raum war nach dortigen Verhältnissen splendid zu nennen. Die Ausstattung bestand aus zwei Betten, einem auf drei alten Kisten aufgebauten Divan und einem Tisch nebst vier Stühlen mit Holzsitzen, die aber mit weißen Kappen, welche auch noch eine Falbel hatten, belegt waren. Ein schöner Wasserkrug, wie er schon zu Christi Zeiten in Gebrauch war, stand in einer Ecke. Die Wände waren blau getüncht. Auf einem der Stühle stand ein Waschservice aus Messing. Über die Bilder, die an den Wänden hingen, schweige ich. Bewirtet wurden wir mit vorzüglichem Hebronwein, die ganze Flasche für einen Frank. Das Essen, welches man uns vorsetzte, zeugte von großer Mühe, die man sich gegeben hatte,

doch wäre diese Mühe gewiß einer bessern Sache wert gewesen.

Leider wurden wir durch die Verhältnisse verhindert nach den Speisen zu schicken, die Mustafa Bustani aus Jerusalem mitgenommen hatte. Sie waren im Wagen gut verpackt und kamen uns dann später, während der Heimfahrt, wohl zu statten.

Während des Essens berichtete uns Eppstein, daß heute großes, muselmännisches Kinderfest sei, zur Feier der Geburt des Knaben Ismael. Da ziehen die Kinder hinaus ins Freie, um allerlei friedliche und kriegerische Spiele zu unternehmen, begleitet von Erwachsenen, denen es ansteht, die Aufsicht über sie zu führen. Da wird so viel von der Verstoßung und von andern erlittenen Ungerechtigkeiten erzählt, daß es keinem Andersgläubigen zu raten ist, etwa den Zuschauer spielen zu wollen. Als Eppstein hörte, daß wir die Absicht hätten nach der Eiche und nach dem Brunnen Abrahams zu reiten, gab er uns den Rat uns sofort zu entfernen, falls ein solcher Kinderzug sich einem dieser Orte nahen sollte. Da rief Thar entrüstet aus: „Entfernen? Also fliehen? Das fällt uns gar nicht ein! Ich und der Effendi, wir fürchten uns nicht, und unsere Gattin fürchtet sich auch nicht, denn ich habe ihr extra gesagt, daß ich ein Held bin und daß sie sich in jeder Not auf mich verlassen kann!“

„Ein Held?“ fragte Eppstein lächelnd, indem er ihn so ansah, wie man eben Kinder anzuschauen pflegt, die sich als Helden preisen.

Damit kam er aber bei dem Bub an den Unrechten. Der stand vom Tisch auf, trat auf ihn zu und antwortete:

„Du lächelst über mich? Das dulde ich nicht! Ich heiße Thar, und wehe dir, wenn ich eine Rache gegen dich habe!“

„Das würde wohl schlimm für mich?“ scherzte der Jude.

„Du lächelst immer noch? Hüte dich! Ich zähle zwar erst elf Jahre, aber es gibt in ganz Jerusalem nicht einen einzigen Vierzehnjährigen, den ich nicht schon niedergerungen habe!“

„Hältst du etwa auch mich für einen Vierzehnjährigen?“

„Nein. Aber wie alt bist du?“

„Sagen wir sechzig!“

„Sag’ meinetwegen hundert; das ist mir gleich. Paß auf!“(Fortsetzung folgt.)

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Kalender4

Schamah.

Reiseerzählung aus dem Gelobten Lande von Karl May. (Fortsetzung.)

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Er schnellte sich an die Rückseite des Juden und legte ihm von hinten die Arme um den Leib. Ein Ruck, ein Druck, und — Eppstein saß auf der Erde, grad da, wo er soeben gestanden hatte. Das war natürlich eine Folge der Schnelligkeit, mit der ihn der Bub überrumpelt hatte, aber es gehörte trotzdem eine Körperkraft dazu, die weit über die gewöhnliche eines elfjährigen Knaben ging. Dieser kehrte an seinen Platz zurück, nickte dem Juden befriedigt zu und sagte:

„Erst hast du oben gelächelt, nun lächle unten!“

Und Eppstein lächelte, aber ganz anders als vorher. Er sah sich nach allen Richtungen um, besonders nach der Tür, krabbelte sich langsam wieder auf und bat mit erhobener Hand und in gedämpftem Tone:

„Pst — —! Still — —! Pst — —! Ich hoffe, wir sind verschwiegen! Wer hätte das gedacht! Du bist ein Teufelsjunge! Aber die Ehre befiehlt, daß nicht hiervon gesprochen wird! Darum verzeihe ich dir!“

Er ging nach der Tür, öffnete sie und schaute hinaus um sich zu überzeugen, daß niemand von seinem Personal hinter ihr gestanden und vielleicht etwas gehört habe. Dann fragte er den Knaben:

„Woher hast du denn eigentlich diese Schnelligkeit und diesen überraschenden Griff?“

„Vom Klub der Löwen,“ antwortete der Bub.

„Was ist das? Und wie und wo?“

„In Jerusalem. Wir Knaben haben da vier Klubs, um uns zu üben. Den Klub der Löwen; der spielt vor dem Jaffator. Den Klub der Elefanten; der spielt vor dem Damaskustor. Den Klub der Nilpferde; der spielt vor dem Stephanstor. Und den Klub der Walfische; der spielt im Siloahteich. Ihr hört, daß dies lauter starke, edle Tiere sind. Die Löwen siegen durch Schnelligkeit und Kraft des Sprunges; das habe ich hier getan. Die Elefanten treten einander nieder, was sich ganz von selbst versteht. Die Nilpferde rennen mit den Köpfen aneinander, wobei das stärkere stehenbleibt, das andere aber zusammenbricht. Und die Walfische kämpfen nur im Ozean. Der, welcher den andern untergetaucht hat, der nimmt den Mund voll Wasser und bläst es in die Luft, wie Walfische tun. Das ist der Sieg! Ich bin bei allen vier Klubs und noch niemand hat mich überwältigt. Wollen wir einmal Nilpferd machen?“

Er senkte den Kopf um Eppstein anzurammen. Der aber trat schleunigst zur Seite und rief:

„Laß mich in Ruhe! Ich bin keine von

diesen Bestien! Ich wollte nur warnen, aber nicht meuchlings überfallen werden! Soll ich für den beabsichtigten Ritt einen zuverlässigen Eselverleiher bestellen?“

„Ja,“ antwortete ich. „Doch möglichst einen, der kein Christenfresser ist.“

„Da gibt es nur einen und den werde ich kommen lassen. Es tut mir leid, daß grad heute ein solcher Tag des Hasses ist und daß man der Dame nicht einmal gestattet hat sich auch nur das Äußere der Moschee anzusehen. Ich habe es aber stets gesagt und sage es auch jetzt wieder: Wäre der Glaube dieser Leute rein und edel, so hätten sie nicht nötig ihre Heiligtümer vor andern zu verbergen!“

Er entfernte sich um nach dem Eselstreiber zu senden. Thar aber zog sein Merkbuch hervor um sich die letzten Worte des Juden zu notieren. Sie erschienen ihm wichtig genug behalten zu werden. Der Hammahr 1) stellte sich in kurzem ein um unsere Bedingungen zu hören. Er sah, wie die Photographie zeigt, mürrisch aus, war aber ein gutmütiger und gar nicht ungefälliger Mensch. Pferde hatte er überhaupt nicht, Esel waren nicht mehr zu haben; man hatte sie des Festes wegen schon Tage vorher bestellt. Aber es gab drei Maulesel, die er uns bringen konnte. Er war ehrlich genug uns zu sagen, daß sie nicht zum Reiten, sondern nur zum Karrenziehen berufen seien, und daß besonders einer von ihnen einen sehr störrischen Charakter habe; aber wir mußten froh sein, daß diese lieben Tiere grad noch zu haben waren, schlossen mit dem Manne ab und forderten ihn auf sie ohne Verzug zu holen.

Wenn der Orientale und zumal der Hammahr verspricht ohne Verzug zu erscheinen, so meint er damit, daß er in einer oder gar erst in zwei Stunden kommen werde. Dieser aber war brav; er stellte sich schon nach einer halben Stunde ein und er wäre sogar schon eher gekommen, wenn er es nicht für notwendig befunden hätte seine Maulesel vorher etwas herauszuputzen. Ich will sie nicht beschreiben, sondern nur einfach eingestehen, daß ich bei ihrem Anblick einen nicht geringen

1) Eselstreiber.
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Schreck bekam. Sie bestanden aus Haut und Knochen, waren wohl monatelang weder gewaschen noch geputzt und gestriegelt worden und das, was wir als Sattel- und Riemenwerk betrachten sollten, war lauter zusammengesuchtes Zeug, welches aber nicht zusammenpaßte. Besonders war der Damensattel ein Produkt so kühner und gedankenvoller Improvisation, daß ich dem Hammahr für diese Leistung der freien, künstlerischen Erfindung gleich im voraus ein Extrabakschisch in die Hand drückte, eine Tat, für die er mich seiner ewigen Liebe, Treue und Ergebenheit versicherte.

Ganz selbstverständlich ließen wir die armen Tiere schleunigst füttern. Sie fraßen alles Genießbare, auch alles Brot, das sich in Eppsteins Haus befand, und waren dann noch immer nicht satt. Das schönste an ihnen waren ihre Namen. Das meinige hieß Güwerdschina; das bedeutet zu deutsch „Die Taube“. Natürlich hatte ich mir grad dasjenige gewählt, welches als störrisch bezeichnet worden war. Und es traf ein: Wir sollten unsere Freude an ihm haben und zwar in bösem, wie dann auch in gutem Sinne. Als wir nämlich bezahlt hatten und aufstiegen um fortzureiten, stellte sich heraus, daß Güwerdschina nicht mitmachen wollte. Sie war nicht von der Stelle zu bringen. Ich wendete alle meine Reitkünste an; der Hammahr selbst machte den Versuch und die Bediensteten Eppsteins taten dasselbe, doch vergebens. Sie kannten übrigens das Vieh und versicherten, daß es sich lieber totschlagen lasse, als auch nur zwei Schritte von der Stelle gehen werde. Was sollte ich tun? Zu Fuße gehen wie der Hammahr? Nein! Ich stieg wieder auf und befahl ihm Güwerdschina zu führen. Da ging sie nämlich mit. Ich hoffte sie draußen, wenn wir die Stadt hinter uns hatten und uns auf freiem Feld befanden, zu Verstand bringen zu können — und das gelang mir auch, aber nicht ganz. Gute Worte und Liebkosungen halfen nichts, Schläge noch weniger. Da versuchte ich es mit dem Daumen, den ich der „Taube“ zwischen die ersten Rückenwirbel grub, von der Seite her natürlich. Da schoß sie vorwärts und gehorchte einige Zeit, aber ja nicht allzulange; dann war ich gezwungen -

gezwungen das Experiment von neuem anzuwenden. So quälte ich mich mit dem bockbeinigen Tiere während des ganzen Weges, der eine halbe Stunde lang zwischen Gärten nach der Eiche führt, von der man behauptet, daß sie aus der Zeit des ersten Patriarchen stamme. Dies ist eine Übertreibung. Sie gehört zur Gattung Quercus ilex pseudo-coccifera, hat unten einen Umfang von ungefähr zehn Metern und teilt sich vier Meter hoch in mehrere ungeheure Äste, die zum großen Teil bereits abgestorben sind. Der Baum, der schon im sechzehnten Jahrhundert verehrt wurde, hat jedenfalls ein ganz bedeutendes Alter, wird aber wohl nicht mehr so lange stehen, wie er gestanden hat. Er gehört den Russen, die hier ein Hospiz und einen Aussichtsturm erbaut haben, von dessen Höhe aus man bis zum Toten Meere sieht. Der Schlüssel zu diesem Turm ist im Hospiz zu holen; man hat hierfür eine Kleinigkeit zu entrichten. Ich schickte Thar um ihn zu bringen und dann wieder abzugeben. Als er das letztere getan hatte, brachte er eine Schnur mit, die er sich hatte geben lassen.

„Die ist für deine liebe Güwerdschina“, sagte er, indem er sie mir zeigte.

„Wieso?“ erkundigte ich mich.

„Ich werde dich bitten sie an deiner Stelle reiten zu dürfen.“

„Glaubst du sie von der Stelle zu bringen?“

„Mit Leichtigkeit.“

„So weißt du ein Mittel?“

„Ja, es hilft auf jeden Fall.“

„Warum hast du es mir nicht gleich mitgeteilt?“

Da zwinkerte er mich listig mit den Augen an, lachte, daß seine prachtvollen weißen Zahne glänzten, und antwortete:

„Weil ich dir eine doppelte Freude bereiten wollte; doppelt aber erfreut das Mittel nur dann, wenn man sich vorher geschunden hat. Paß auf!“

Er band die Mitte der Schnur in einem festen Knoten um den Schwanz der „Taube“, so daß die beiden Enden herunterhingen, und stieg in den Sattel. Wir wollten aufbrechen um jetzt nach dem Haram Ramet el Chalil zu reiten. Meine Frau saß schon auf ihrem Tiere und ich stieg auf das, welches Thar bisher geritten hatte. Wir warteten also nur, was der Bub tun werde. Dieser ließ sich von dem Hammahr die beiden Schnurenden reichen, behielt sie aber einstweilen nur locker in den Händen.

„Nun paßt auf, wie schnell das hilft!“ sagte er. „Laßt mich voranreiten; macht Platz!“

Wir wichen zur Seite. Da trieb er die liebe Güwerdschina an. Sie wedelte mit den Ohren und mit dem Schwanze, tat aber keinen Schritt. Da schlug er sie; es half nichts. Er brüllte sie an; er stemmte ihr die Füße in den Leib — — vergeblich. Da zog er die beiden

Schnüre an. Dadurch wurde der Schwanz emporgehoben und über den Rücken des Maulesels nach vorn gestülpt. Der Bub legte sich die Schnüre um den Leib und machte einen Knoten. So waren sie also fest angespannt und konnten nicht zurück. Die Güwerdschina erschrak sichtlich. So etwas war ihr im ganzen Leben noch nicht vorgekommen! Sie bewegte die Ohren wie Windmühlenflügel. Sie wollte auch mit dem Schwanze wedeln; das ging aber nicht. Da ließ sie die Ohren hängen und dachte nach. Der Bub fügte zu dieser geistigen Anstrengung einige derbe Hiebe. Da wendete die „Taube“ den Kopf nach der rechten Seite, um nach hinten zu sehen, sah aber nichts. Und sie wendete ihn nach der linken Seite um nach hinten zu sehen, konnte aber auch hier den Schwanz nicht sehen, obgleich sie sich die größte Mühe gab ihn zu bewegen.

„Jetzt wird ihr himmelangst!“ lachte Thar. „Sie denkt, der Schwanz sei fort. Sie glaubt, da hinten gehe etwas Fürchterliches vor. Nun wird sie laufen, was sie laufen kann!“

Kaum hatte er das gesagt, so ließ die Güwerdschina ein markerschütterndes Wiehern hören, machte einen krummen Katzenbuckel, tat einige Seitensprünge nach rechts und nach links und schoß dann mit einer Schnelligkeit geradeaus, als ob sie sich den Kopf einrennen wollte. Es gehörte ein sehr fester Sitz dazu dabei nicht herunterzufallen, doch Thar behauptete sich mühelos im Sattel. Wir folgten ihm so schnell wie möglich und herzlich lachend, denn bei dem angstvollen, tragikomischen Gebaren des Maulesels war es geradezu unmöglich ernst zu bleiben.

Der neue Weg führte über die Ruinen des Dorfes Chirbet en Nasara nach der Straße von Jerusalem. Da holten wir den Buben ein, dem das Tier nun ganz leidlich gehorchte. Von der Straße aus ging es dann die erwähnten vierhundert Schritte nach dem „Brunnen Abrahams“, der, wie die Photographie zeigt, in der Ecke eines quadratischen, großen Mauerwerkes liegt. Wozu diese Mauern bestimmt gewesen und ob sie überhaupt jemals ausgebaut worden sind, das weiß man nicht. Jetzt liegen sie in Trümmern. Die Blöcke sind ganz ohne Mörtel auf- und aneinander gefügt und oft bis fünf Meter lang. In Baalbek habe ich zwar derartige Quader von über 19 Meter Länge gesehen,

aber 5 Meter beweisen doch auch schon zur Genüge, daß man zur Zeit, als diese Mauern entstanden, bedeutende Lasten zu bewegen wußte. In der Nähe liegt noch eine andere Zisterne, die man „das Bad der Sarah“ nennt. Auch gibt es zwei in dem Felsen angebrachte Ölkeltern und unweit davon die Ruinen einer großen Kirche, möglicherweise der Basilika, welche Konstantin der Große bei der „Terebinthe von Mamre“ erbaute. Man nennt diese Stelle noch heute das „Terebinthental“ und es ist Grund zu der Annahme vorhanden, daß hier die Gegend des einstigen Haines Mamre zu suchen sei.

Als wir das Mauerviereck erreichten, sahen wir eine ärmlich gekleidete Araberin, die mit einem kleinen Mädchen in der Brunnenecke saß. Sie zog sich bei unserm Anblick sofort vom Wasser zurück. Wir schöpften für unsere Tiere und dann, als sie getrunken hatte, machte sich meine Frau daran den Platz zu photographieren. Als der Hammahr das sah, brachte er sich und seine Maulesel sofort in Sicherheit, denn er war der Meinung, daß nur Christen und Juden das Photographieren aushalten können, jede andere Kreatur aber, gleichviel ob Mensch oder Tier, daran zugrunde gehen müsse. Schließlich aber trieb ihn die Neugierde doch, sich in der Nähe an den Stein zu stellen um zuzuschauen. Er sah das „Auge des Ungeheuers“, nämlich das Glas der Kamera, auf mich nach der Ecke gerichtet und war überzeugt nicht mit getroffen zu werden; die Sonne aber hat auch ihn mit an das Licht gebracht. — Eigentlich brauchten wir ihn und seine Maulesel nicht mehr. Wir befanden uns an Ort und Stelle und konnten die paarhundert Schritte nach der Straße, wo wir auf Mustafa Bustani warten sollten, auch zu Fuß zurücklegen. Das sagte ich ihm, als das Photographieren vorüber war, und lohnte ihn ab. Es ist im Verkehr mit andern Menschen niemals meine Art und Weise gewesen zu knickern und zu feilschen. Man kommt mit offener Hand bedeutend weiter als auf dem Wege des Geizes. So auch hier. Der Hammahr zählte, was ich ihm gegeben hatte, und sagte dann:

„Das ist zuviel, Effendi.“

„Nein,“ antwortete ich. „Ich gebe es dir gern. Du bist freundlich und höflich gewesen und hast dieses Bakschisch also verdient.“

„Auch als Bakschisch ist es zu viel. Aber

vielleicht verdiene ich es mir noch besser. Ich werde also diesen Ort nicht eher verlassen, als bis auch du ihn verlässest. Ich habe nichts weiter zu tun und es ist ja doch nicht ausgeschlossen, daß ich dir noch dienen kann.“

Was Thar betrifft, so hatten wir geglaubt, daß er sich für das Photographieren interessieren werde; er tat dies aber nicht. Die fremde Araberin und ihr Töchterchen übten größere Anziehungskraft auf ihn aus als der ihm schon wohlbekannte, schwarzverhangene Apparat. Er suchte an sie zu kommen. Er schlängelte sich nach Knabenart erst von weitem um sie herum, kam ihnen immer näher, saß dann plötzlich zwischen ihnen drin und redete mit einer Vertraulichkeit auf sie ein, als ob er ein längst Bekannter oder gar Verwandter von ihnen wäre. Als ich nach vollendeter photographischer Aufnahme wieder mit meiner Frau am Brunnen saß, brachte er uns das kleine Mädchen zugeführt. Ihre Mutter blieb sitzen. Das Kind hatte ein gar liebes und zartes, aber trotzdem kerngesundes Gesichtchen, leise gerötete Pfirsichwangen und große, blaugraue Samtaugen,

deren Blick so tief aus dem Innern zu kommen schien, daß er wie ein holdes, aber noch völlig unberührtes Rätsel wirkte. Eine Fülle lichtbraun gewellten Haares quoll unter einem roten Käppchen hervor. Das eine kleine, sonnverbrannte Händchen hielt einige lange, große Glockenblumen gefaßt. Das andere versteckte sich in die Falten des dünnen, aber fleckenlosen Kleidchens und die niedlichen, dunkelgebrannten Füßchen mit den winzigen, elfenbeinernen Miniatur-Nägeln an den feinen Zehen machten einen so eigentümlichen Eindruck auf mich, daß ein unendliches Erbarmen und der Wunsch in mir aufstieg diesem ebenso schönen wie armen Kinde irgend einen recht, recht großen Dienst erweisen zu können. Genau dasselbe fühlte, wie sie mir später mitteilte, auch meine Frau.

„Wie heißt sie denn?“ erkundigte sich meine Frau.

„Das weiß ich nicht. Frag’ sie selbst! Ich habe noch weiter gar nichts mit ihr reden können als dreierlei: nämlich daß sie mir gefällt, daß

ich ein Held bin und daß ich für sie kämpfen werde.“

„Ich bin Schamah,“ sagte das Kind, den Ton auf die zweite Silbe des Wortes legend; „und dort ist meine Mutter!“ Das andere Händchen kam aus den Falten hervorgekrochen und richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf die Araberin. Die Stimme klang weich, aber eindringlich; sie hatte einen Ton, der nicht leicht zurückzuweisen ist.

„Was heißt Schamah?“ fragte mich meine Frau, indem sie das Kind an sich zog und liebkoste.

„Es ist die ostjordanländische Aussprache von Samah, Verzeihung,“ antwortete ich.

„Du kleines, reines Seelchen,“ lächelte meine Frau auf das Kind herab; „dir wird man wohl noch nichts zu verzeihen haben!“

„Ich bringe euch Glocken,“ lächelte Schamah zurück. Und die Blumen an das Ohr meiner Frau emporhaltend und dort bewegend, fuhr sie fort: „Jetzt läute ich sie. Kannst du es hören?“

„Ja, ich höre es.“

„Nicht wahr? Ganz leise, leise, leise, wie aus dem Himmel herunter! Aber wenn sie großgewachsen sind, so groß, wie sie in der Kirche hängen, dann wird die ganze Welt das Läuten hören.“

„Du sprichst von der Kirche?“ fragte Thar. „Bist du vielleicht Christin?“

„Ja, eine Christin,“ nickte sie.

„Und deine Mutter auch?“

„Sie auch.“

Da klatschte er in die Hände und rief:

„Das ist schön! Das ist gut! Das freut mich!“

„Warum?“

„Weil ich eben ein Held bin und weil ich für dich kämpfen will. Für eine Mohammedanerin kann man keine Heldentaten verrichten. Die wickelt sich in Tücher ein und humpelt, häßlich wie ein Frosch, mit hölzernen Pantoffeln an den Füßen. Die Christinnen aber kann man sehen, und das ist notwendig, wenn man begeistert werden soll das Leben für sie in die Schanze zu schlagen. Unsereiner muß sich doch auch sehen lassen! Weißt du,

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wie ich ausschauen werde, wenn ich für dich kämpfe?“

„Doch so wie jetzt! Oder nicht?“

„Nein. Mein jetziges Aussehen ist nicht tapfer genug. Weißt du, schon die Farbe hat den Feind zu erschrecken! Darum male ich mich an, sobald es zum Kampfe geht. Im Gesicht bin ich auf der einen Seite blau und auf der andern grün — — —“

„Pfui!“ unterbrach sie ihn.

„Die Beine streiche ich rot an und die Arme gelb — — —“

„Pfui, pfui!“

„Auf dem Rücken habe ich weiße und schwarze Striche von oben nach unten, und vorn habe ich schwarze und weiße Striche von hüben nach drüben.“

„Pfui, pfui, pfui!“

„Das gefällt dir nicht?“ fragte er, halb verwundert, halb enttäuscht.

„Nein, gar nicht! Ich will dich so haben, wie du bist, nicht aber angemalt!“

„Gut, so bleibe ich, wie ich bin! Und wenn ich mir die Sache richtig überlege, so hast du recht, sehr recht. Nämlich wenn ich mich mit meinen Feinden herumschlage, so haben doch sie blau, gelb und grün auszusehen, nicht aber ich. Das werde ich mir merken. Unsere vier Klubs müssen neue und bessere Gesetze haben. Nämlich der, an dem man Farben entdeckt, hat als besiegt zu gelten! Dir zulieb bin ich gern bereit über alle Regeln, die nichts mehr taugen, hinwegzuspringen!“

Er richtete sich so hoch wie möglich auf und gestikulierte mit seinen beiden Armen so überzeugend, daß sie ihre großen Augen bewundernd auf ihn richtete und ihn fragte:

„Ja, ich glaube es schon, daß du ein Held bist; aber wo gibt es denn einen Grund grad meinetwegen andere totzuschlagen?“

„So ein Grund läßt sich immer finden, zumal wenn man nach ihm sucht. Vielleicht kommt er dort. Schaut hin!“

Er deutete nach der Gegend der Kirchenruine, hinter der Leute hervorkamen, die uns bisher unbemerkt geblieben waren. Es waren zehn bis zwölf Männer, die auf Eseln ritten, und hinter ihnen ein

Zug von vielleicht vierzig bis fünfzig Knaben, die Fahnen und allerlei Kinderwaffen trugen. Einige waren mit Lärminstrumenten versehen, die sie jetzt, da sie uns erblickten, in Bewegung setzten. Das war einer jener Kinder-Festzüge, die am heutigen Tage die Umgebung der Stadt belebten.

„Kann das nicht gefährlich werden?“ fragte meine Frau. „Wir wollen uns schnell entfernen!“

„Keinesfalls,“ antwortete ich; „am allerwenigsten schnell! Wir haben allen Schein, daß wir uns etwa fürchten, zu vermeiden. Wir werden ihnen das Wasser freigeben, aber nicht sofort. Ich hoffe, sie werden uns grüßen!“

Der Zug hatte jetzt den Platz erreicht. Die Männer hielten bei unserm Hammahr an und fragten ihn nach uns. Da erfuhren sie zwar, daß wir Christen seien, aber Schlechteres jedenfalls nicht. Schamahs Mutter verließ ihren Platz und kam zu uns. Sie fürchtete sich vor den fanatischen Leuten aus El Chalil und bat, sich uns anschließen und den Ort mit uns verlassen zu dürfen. Sie sei Christin, eine Witwe aus der Gegend von El Kerak jenseits des

Toten Meeres, und mit ihrem Töchterchen auf einer Pilgerreise nach den heiligen Stätten von Bethlehem und Jerusalem. Sie war zwar arm und einfach, aber — ich möchte mich des Ausdruckes bedienen — arabisch chic gekleidet und in der Art und Weise, wie sie sich ausdrückte, pflegt eine gewöhnliche Araberin oder gar Beduinin nicht zu sprechen. Auch sie war schön, aber von jener schwermütigen, durchgeistigten Schönheit, die eine Tochter des Leides, nicht aber des Glückes ist. Meine Frau reichte ihr die Hand und zog sie an ihre Seite heran und ich empfahl ihr ja keine Sorge zu haben; es werde ihr nichts geschehen.

Jetzt kamen die Reiter auf uns zu. Sie hielten einige Schritte von uns an und stiegen ab. Man sah, daß sie nicht die Absicht hatten uns zu grüßen. Das durfte ich nicht dulden, denn das hätte die Unverschämtheiten, die ich vermeiden wollte, grad herbeigeführt. Es gibt da eine gewisse Art von Blick, der immer wirksam ist, wenn man ihm die nötige Festigkeit zu geben versteht. Den richtete ich auf denjenigen von ihnen, welcher der Vornehmste zu sein schien. Er wurde verlegen, hob die Hand an die Brust, verbeugte sich leicht und sagte:

„Sallam!“

Das klang sehr kurz.

„Sallam!“ antwortete ich darum ebenso kurz, ohne daß ich aufstand.

„Sallam!“ antwortete auch der Bub.

„Ich bin Abdullah, der Schreiber des Schech el Belad 1)!“ rühmte sich der Hebronit.

Noch ehe ich antworten konnte, antwortete der Bub:

„Und dieser mein Effendi ist der oberste Schreiber des Bürgermeisters von Deutschland! In seine Tasche fließen sämtliche Steuern. Er setzt ein oder ab, wen er will. Er ist nach El Chalil gekommen, um von den Russen die Eiche Abrahams zu kaufen und nach Hause schaffen zu lassen. Heil sei ihm!“

Als er das gesagt hatte, nahm er seine „neue Freundin“ bei der Hand und ging mit ihr den Knaben von Hebron entgegen. Ich vergaß ganz ihn zu warnen, so entsetzt war ich über die Unverfrorenheit, mit der er seine tollen Behauptungen vorgebracht hatte. Aber das Unerwartete geschah. Die Männer nahmen sie ernst. Sie hielten eine kurze, leise Beratung; dann machten sie alle eine tiefe Verneigung und Abdullah sagte:

„Effendi, du bist ein großer, ein mächtiger Herr, aber leider ein Christ. Wir dürfen dich darum nicht einladen unser Gast zu sein, und werden die Spiele der Jugend erst dann beginnen, wenn ihr diesen Ort verlassen habt.“

Das war eine indirekte Aufforderung uns aus dem Staube zu machen. Dann gingen sie mit ihren Eseln fort, nach einer entfernteren Stelle. Eine weniger friedfertige Szene spielte sich da ab, wo Thar und Schamah mit den Knaben aus Hebron zusammengetroffen waren. Die letzteren waren in Aufregung. Sie brüllten etwas, was wir nicht verstanden, weil zu viele es riefen. Der Bub stand furchtlos vor ihnen, hatte den linken Arm schützend auf das Mädchen gelegt, gestikulierte mit dem rechten drohend in der Luft herum und hielt eine Rede, die wir auch nicht verstanden. Der Mutter wurde angst um ihr Kind. Ich beruhigte sie. Wir näherten uns der lebhaft bewegten, schreienden Gruppe. Als der Bub uns kommen sah, rief er uns zu:

„Es ist weiter nichts! Sie

1) Des Bürgermeisters.
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wollen Schamah ersäufen — im Wasser, dort wo ihr gesessen habt! Weil sie eine Christin ist und das heutige Fest besudelt. Da habe ich gesagt, daß ich das nicht dulde, sondern für sie kämpfen werde. Nun wählen sie einen Anführer, mit dem ich verhandeln soll. Da ist er schon!“

Er deutete auf einen großen, robusten Jungen, der jetzt aus dem Haufen trat um, wie die Erwachsenen zu tun pflegen, vor dem Kampfe eine Rede zu halten. Er stellte sich in Positur und schrie zu Thar und uns herüber:

„Du bist ein Christenhund und sie ist ein Christenmädchen, also noch schlimmer als ein Hund. Wir werden sie ertränken, da wo die Zisterne so tief ist, daß sie gar keinen Boden hat. Wir sind wahre, strenge und gehorsame Gläubige des Propheten. Wir können nicht dulden, daß heute, am Geburtstage Ismaels, die Füße einer Christin diesen Boden berühren. Sie muß also sterben. Aber du willst um sie kämpfen, weil du sagst, du seiest ein Held. Wir sind bereit dazu, denn auch wir sind Helden. Ich fordere dich auf mir deine Bedingungen zu sagen!“

Als die Mutter von Schamah das hörte, stieg ihre Angst auf das höchste. Ich aber erklärte ihr, daß es sich zwar wohl um einen wirklichen Zorn, in der Ausübung desselben aber nur um ein Spiel handle; es sei ja heute der „Tag der Jugendspiele“. Sie könne sich darauf verlassen, daß ihrem Kinde nichts geschehen werde. Sie brauche Schamah nicht von unserm Knaben wegzuholen.

Dieser erklärte jetzt dem Kinde:

„Du bist die Königin des Spieles, welches vor deinen Augen stattzufinden hat. Komm’, setze dich!“

Sie nahm auf einem Steine Platz, neben den er sich stellte. Dann zog er sein Merkbuch aus der Westentasche, schlug es auf und begann die Gegenrede:

„Ihr nennt mich einen Christenhund, doch bin ich ein Moslem aus Jerusalem, welches größer ist als euer El Chalil. Wer aber seid denn ihr?“ Das folgende las er vor: „Ihr seid Kananiter, Hethiter, Jebusiter, Girgasiter, Heviter, Amoniter, Siniter, Arkiter, Zemariter, Arvaditer, Hamathiter -

Hamathiter und Sidoniter! Die Feinheiten des Islam sind an euch vorübergegangen und nur der Bodensatz ist sitzengeblieben! Wäre euer Glaube rein und edel, so hättet ihr nicht nötig eure Heiligtümer vor andern zu verbergen!“

Jetzt steckte er das Notizbuch wieder ein und fuhr dann fort:

„Ihr nennt meine kleine Freundin hier noch schlimmer als einen Hund. So etwas sagt

kein Held. Ich aber bin einer und darum bin ich höflich, auch gegen euch. Ich werde mit euch kämpfen, aber nicht so, wie es hier bei euch: viele gegen einen, sondern wie es in Jerusalem Sitte ist: Mann gegen Mann. Ihr werdet euch in Löwen, in Elefanten, in Nilpferde und in Walfische verwandeln. Ihr wählt den kühnsten Löwen, den mächtigsten Elefanten, das stärkste Nilpferd und den größten Walfisch

unter euch aus. Mit diesen vier Bestien werde ich kämpfen. Wenn einer von euch mich besiegt, so dürft ihr mich ersäufen, nicht aber sie, um die ich kämpfe. Wenn aber ich alle vier besiege, so bekomme ich — — —“

„Hier meine Glockenblumen!“ rief Schamah, indem sie das kleine Händchen mit den Blumen hoch emporstreckte.

„Ja, diese deine Glockenblumen,“ stimmte Thar bei. „Ihr Hebroniter aber setzt euch jetzt um sie und mich herum, damit ich euch erkläre, was es mit den Löwen, Elefanten, Nilpferden und Walfischen für eine Bewandtnis hat!“

Sie gehorchten sofort und mit Freuden. Es gab für einige Augenblicke ein wirres Kribbeln und Krabbeln in- und durcheinander hinein; dann aber trat tiefe Stille ein, in welcher nur die erklärende Stimme des Bub zu hören war. Als sie alle begriffen, um was es sich handelte, erhob sich großer Jubel. So etwas war noch niemals dagewesen! Ein jeder drängte sich dazu zur Bestie zu werden, und inmitten all dieser Ungetüme, die nach Rache strebten, saß Schamah, die Verzeihung, ein friedliches Lächeln im lieben Angesicht und ohne alle Furcht verletzt zu werden. Und sonderbar, nicht nur die Jungen sondern auch die Alten fühlten sich begeistert. Sie gesellten sich hinzu. Sie wählten mit und sie bestimmten mit. Sie steckten den Kampfplatz ab und Abdullah, der Schreiber des Schech el Belad, hatte sogar die Güte die Ordnungs- und Sicherheitspolizei in die eigene Hand zu nehmen. Von Glaubenszwist und Glaubenshaß war keine Rede mehr.

Der Kampfplatz bildete ein Viereck, welches nördlich von den Löwen, südlich von den Nilpferden, östlich von den Elefanten und westlich von den Walfischen eingeschlossen wurde. Schamah saß an der Südseite auf ihrem Throne um alles leicht überschauen zu können. Dieser Thron

war Güwerdschina, der Maulesel, die sicherste Stelle, die stehen blieb. In den Ecken saßen die Musikanten, eine Tarabukka 1), eine Nakkara 2), ein Nefir 3) und eine Suffara 4). Die waren verpflichtet den größtmöglichen Lärm zu machen, so oft unser Bub zu Boden gerungen wäre. Denn daß der Sieg sich auf seine Seite neigen könnte, das hielten die Hebroniten für unmöglich. Sie hatten ihre stärksten Burschen ausgesucht. Die Bedingungen waren sehr einfach: Welcher von den drei ersten Bestienarten auf die Erde zu liegen kam, der hatte verloren. Der Kampf der Walfische aber hatte in der Zisterne stattzufinden. Der Sieger mußte seinen Gegner untergetaucht haben und durfte ihm dann noch öffentlich einen ganzen Mund voll Wasser in das Gesicht blasen. Vor Beginn des Kampfes wurden die vier Heroen aus Chalil gefragt, ob sie vielleicht gesonnen seien von der Wahl zurückzutreten. „Um keinen Preis!“ antworteten sie. Da gab Abdullah, der Schreiber, das Zeichen, daß die Zeit des Löwenkampfes gekommen sei. Der Leu aus Hebron trat vor. Es war derselbe große, robuste Junge, der die Rede gehalten hatte. Er machte, als er sämtliche Augen auf sich gerichtet sah, eine sehr zuversichtliche Miene. Thar stand bei uns.

„Paßt auf, wie schnell es geht!“ sagte er. „Die Hauptsache ist, daß man dem Feind keine Zeit läßt, sich zu besinnen.“

Dann betrat er den Platz, ging zu Schamah, verbeugte sich vor ihr und stellte sich hierauf dem Feinde gegenüber. Dieses ritterliche Benehmen kannte er jedenfalls aus irgend einem Sagen- oder Märchenbuch. Nun schlug Abdullah die Hände dreimal zusammen. Der Augenblick war da.(Fortsetzung folgt.)

1) Topftrommel. — 2) Tamburin. — 3) Trompete. — 4) Querpfeife.
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Kalender5

Schamah.

Reiseerzählung aus dem Gelobten Lande von Karl May. (Fortsetzung.)

Initial-D

Der Gegner zögerte nicht. Er nahm einen Anlauf. Thar ließ ihn fast ganz heran, sprang dann zur Seite, packte ihn von hinten und knickte ihn genau so, wie den alten Eppstein, auf die Erde nieder, hielt ihn dort fest und rief den Musikanten zu:

„Nun macht ihm den Triumph!“

Sie blieben natürlich still. Der Besiegte stand langsam auf und schlich sich gesenkten Hauptes von dannen.

Hierauf folgte der Kampf der Elefanten. Der feindliche war ein ungefüger Bursche, der zweimal mehr Kraft als unser Bub zu besitzen schien. Dieser letztere aber nickte lächelnd zu uns herüber. Das war ein gutes Zeichen. Er hatte gesagt, daß die Elefanten im Klub einander niedertreten müssen. Er ging noch hierüber hinaus und nahm sich vor diesen hier nicht nur niederzutreten, sondern niederzuspringen. Er nahm, als das Zeichen gegeben wurde, einen kräftigen Anlauf, schwang sich empor und sprang den Gegner einfach über den Haufen. Im nächsten Augenblicke kniete er auf ihm und rief den Musikanten zu:

„Den Triumph für ihn, laut, laut!“

Allgemeine Stille ringsum. Nur Abdullah, der Schreiber, rief zornig aus:

„O weh! Schon zwei! Das darf nicht geduldet werden! Heraus mit dem Nilpferd! Das muß ihn niederstampfen!“

Das Nilpferd erschien. Es war ein kurzer, dicker Kerl, mit sehr viel Fett, aber wenig Muskel ausgestattet. Der verdrehte kühn die Augen und hatte guten Mut. Er senkte den

Kopf wie ein Renner, noch ehe das Zeichen gegeben wurde. Dann rannten sie aufeinander los. Es gab einen gewaltigen Krach; dann lag das Hebroner Ungeheuer am Boden, streckte die Beine in die Luft, hielt sich mit beiden Händen den Kopf und brüllte, als ob man im Begriffe stehe ihn auf dem Rost zu braten. Der Bub aber stand aufrecht da und lachte den Musikanten zu:

„Da braucht ihr nicht zu trommeln und zu blasen: der tut es selbst!“

Nun sollten die Riesen des Ozeans zeigen, was sie konnten. Das Viereck löste sich auf. Man ging zur Zisterne, in deren Tiefe die letzte Entscheidung stattfinden sollte. Thar war der erste, der dort eintraf; er stand bereit hinabzusteigen. Die Hebroniten waren weniger schnell. Am langsamsten bewegten sich die Walfische. Der Allerletzte von ihnen, der ankam, war der, welcher mit Thar kämpfen sollte. Er machte ein sehr verlegenes Gesicht, stellte sich an den Rand, schaute hinab und sagte:

„Ich nehme die Wahl nicht mehr an!“

„Du hast sie angenommen und mußt hinab!“ erklärte Abdullah, der Schreiber.

„Um keinen Preis! Ich gehe!“

Er drehte sich um und eilte davon.

„So müssen wir neu wählen!“ sagte Abdullah.

Da erscholl es aus soviel Kehlen, als noch Walfische vorhanden waren: „Um keinen Preis! Um keinen Preis! Ich gehe — — ich gehe — — — ich gehe!“

Sie verschwanden — — — einer nach dem andern — — — bis kein Walfisch mehr in der Nähe, sondern nur noch in der Ferne zu

sehen war. Die Löwen folgten ohne Adieu zu sagen. Die Nilpferde verkrümelten sich mit samt den Musikanten in ganz derselben Weise. Die Elefanten zottelten meist einzeln, aber auch zu zweien und dreien hinterdrein. Zu allerletzt ritten auch die Erwachsenen fort ohne uns ein Wort oder einen Wink des Abschiedes zu gönnen. Da wendete sich der Bub an Schamah:

„Glaubst du nun, daß ich ein Held bin?“

„Ich glaubte es ja gleich!“ antwortete sie. „Du hast gesiegt. Hier sind die Blumen.“

Sie reichte sie ihm. Er nahm sie, gab sie meiner Frau und bat sie für ihn aufzubewahren; sie könne das besser als er. Und nun sahen wir in der Ferne einen andern, bedeutend größeren Festzug kommen, der augenscheinlich auch hierher wollte. Den hatten unsere Gegner mit ihren scharfen, geübten Augen schon längst gesehen. Darum ihre Eile von hier fortzukommen. Sie wollten sich von den Ankömmlingen nicht als Blamierte überraschen lassen. Doch auch wir hatten keinen Grund hier länger zu verweilen, zumal die Zeit nicht mehr fern war, die wir mit Mustafa Bustani verabredet hatten uns zu treffen. Auf unser Befragen erfuhren wir von der arabischen Witwe, daß sie heute nur noch bis zur Eiche Abrahams gehen und dort die Nacht über im russischen Hospiz bleiben wolle. Sie habe gehört, daß man dort auch Mittellose beherberge. Da erklärte unser freundlicher Hammahr, daß sie mit ihrem Töchterchen nicht zu laufen brauche, sondern reiten könne, denn er kehre auf demselben Wege zur Stadt zurück. Sie nahm es dankbar an. Als der Bub das hörte, fragte er mich leise:

„Hast du ein Zwanzigfrankstück bei dir, Effendi?“

„Ja,“ antwortete ich.

„Bitte, schenke es mir, aber laß es niemand sehen!“

Ich ahnte, was er wollte, und gab ihm heimlich das Verlangte. Da stieg die Mutter mit dem Kinde auf einen der Maulesel und der Hammahr nahm den zweiten. Thar schwang sich auf die Güwerdschina und sagte: „Ich reite mit bis zur Eiche, dann kehre ich zu Fuß nach der Straße zurück. Ehe Vater kommt, bin ich dort.“

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Er zog der Taube den Schwanz in die Höhe, worauf sie mit lautem Wiehern davonschoß. Meine Frau nannte der Witwe unsern Namen und unsere Wohnung in Jerusalem und bat sie, uns dort auf alle Fälle aufzusuchen; wir würden uns aufrichtig und herzlich freuen sie und ihr Töchterchen wiederzusehen. Sie versprach es zu tun und die Art und Weise, in der sie dies versicherte und sich von uns verabschiedete, gab uns gute Gewähr, daß sie Wort halten werde. Dann ritten sie davon Thar einzuholen. Wir beide aber machten eine kurze Fußpartie durch die Umgegend, doch so, daß wir jede Begegnung vermieden. Als wir dann das Rendezvous erreichten, wartete Thar schon auf uns.

„Sie sind arm, sehr arm,“ sagte er. „Darum bin ich zum Hospiz geritten um für sie zu sorgen, doch ohne daß sie es erfahren.“

„Wissen sie deinen Namen?“ fragte ich.

„Ja.“

„Und wie dein Vater heißt?“

„Nein. Du weißt doch, daß der Prophet sagt: Wer der Armut gibt, der gebe alles, nur nicht seines Vaters Namen. Ich finde sie auch ohnedies in Jerusalem wieder; darauf kannst du dich verlassen.“

Bald darauf stellte Mustafa Bustani sich mit dem Wagen ein. Er freute sich sehr, als er hörte, daß uns und seinem Sohne von seiten der Bevölkerung nichts geschehen sei und teilte uns mit, daß es verschiedene Zusammenstöße zwischen Muselmännern und Juden gegeben habe. Er selbst war so ärgerlich über die Ungastlichkeit seines Geschäftsfreundes gewesen, daß er ausgeschlagen hatte mit ihm zu essen. Nun hatte er Hunger. Darum suchten wir, sobald wir eingestiegen waren und der Wagen sich wieder in Bewegung setzte, alles Eßbare zusammen, was wir früh mitgenommen hatten, und hielten ein sogenanntes Abendessen „auf vier rollenden Rädern“.

Während der Heimfahrt ereignete sich nichts, was wichtig genug wäre erzählt zu werden. Höchstens könnte ich sagen, daß wir, als wir das Wadi el’ Arrub erreichten, wieder halten ließen um

in dem dort liegenden Café einzukehren. Der Wirt kam heraus und fragte nach unsern Wünschen, aber in sehr gemessener Weise.

„Fünf Tassen!“ befahl Mustafa Bustani. Sie wurden gebracht und getrunken. Dann zog ich den Beutel.

„Wieviel kosten die fünf?“ fragte ich.

„Grad einen halben Franken,“ antwortete er.

„Und die fünfzehn am Vormittage?“

„Anderthalb Franken.“

„Die zwanzig also zusammen?“

„Zwei Franken.“

Ich gab ihm nur die zwei Franken, keinen einzigen Para mehr.

„Hier! Fertig!“

Da griff er rasch zu, steckte das Geld eben so schnell in die Tasche und machte eine tiefe und, wie ich glaube, diesmal wirklich aufrichtige Verbeugung und sagte: „Ich danke dir, Effendi! Du bist gerecht und klug. Eure Heimfahrt sei gesegnet!

Und sie war auch gesegnet. Mustafa zürnte dem Fanatismus seiner Glaubensgenossen und hatte nichts dagegen, daß sein Sohn fast während der ganzen Fahrt von der kleinen Christin schwärmte. Als Bethlehem vor uns auftauchte, holte er tief Atem und sagte:

„Es ist viel Liebe und viel Güte von diesem

kleinen Städtchen ausgegangen, mehr als von all unsern großen, hochberühmten Wallfahrtsorten. Heute wurde ich einmal recht schonungslos und aufrichtig an meinen eigenen Zelotismus erinnert. Was hast du den Hebroniten getan? Nichts. Und doch verstoßen sie dich! Welch eine Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit! Und was hatte mein Bruder mir getan? Nichts. Und doch verstieß ich ihn, ihn, meinen leiblichen Bruder! Ich war also noch viel liebloser und noch viel ungerechter als die Kananiter von El Chalil! Er ist mir nicht aus dem Sinn gekommen — während des ganzen Nachmittags — bis jetzt, da es Abend wird.“

„Wie hieß er?“ fragte meine Frau.

„Achmed Bustani. Ihr hört, daß wir es fast auch schon zu Familiennamen gebracht haben. Ich habe keinen größeren Wunsch, als daß er noch lebt und sich von mir finden läßt!“

„Würdest du dein Vermögen wirklich mit ihnen teilen?“

„Natürlich, sofort! Nicht allein deshalb, weil ich es der Sterbenden versprochen habe, sondern weil es auch mir selber Bedürfnis ist. Es liegt seit jenem Traum etwas ganz Eigentümliches in mir, was mich jetzt während der

Rückkehr mehr als sonst beschäftigt. Es ist, als ob da draußen am „Brunnen Abrahams“ etwas Unsichtbares mit euch zu mir in den Wagen gestiegen sei, was mich ergriffen hat und mich nicht wieder loslassen will. Vielleicht ist es weiter nichts, als nur die Erinnerung an gut zu machendes Unrecht. Aber sonderbar, es quält mich nicht, es tut mir vielmehr wohl; es befriedigt mich; es gräbt sich in mich ein nicht um mich zu peinigen, sondern um mich zu beruhigen. Werdet ihr über mich lachen, wenn ich euch etwas sage, was ihr nicht begreift?“

„Fällt uns nicht ein!“ antwortete ich. „Spricht getrost!“

„Ich habe das Gefühl, daß ich heute wieder von meinem Bruder träumen werde. Ist das nicht lächerlich?“

„Keineswegs.“

„So glaubst du, daß es möglich sei?“

„Gewiß.“

„Aber geheimnisvoll!“

„0 nein! Wir Menschen machen nur allzuoft den Fehler ganz natürliche Dinge mystisch zu behandeln. Das Bild deines Bruders ist dir durch die Ereignisse des heutigen Tages in deine Gedankenatmosphäre geschoben worden. Du gibst es nicht wieder her. Du hast es bis jetzt festgehalten und hältst es auch noch weiter fest. Da ist es doch wohl kein Wunder, sondern im Gegenteile höchst selbstverständlich, daß du dich, zu Hause angekommen, dann auch im Traum mit ihm beschäftigst. Wenn hieran etwas wunderbar ist, so doch gewiß nur das, daß wir trotz aller Erfahrungen noch immer so töricht sind das in der Natur Gegebene für unbegreiflich wunderbar, das von uns aus ihr Erkünstelte aber für natürlich zu halten!“

Nun rollten wir an Rahels Grab und an Mar Eljas vorüber und kamen in Jerusalem an, grad als die Nacht mit weichem Schritt die Heilige Stadt betrat. Was ich mir in El Chalil hatte holen wollen, das hatte ich nicht bekommen; es wurde uns dafür ganz anderes und unendlich -

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Schulkinder in Bethlehem.

unendlich Besseres geboten; das sollten wir erst morgen deutlich sehen. So pflegt es im Leben stets zu sein. Wird uns irgend ein äußerlicher, materieller Wunsch versagt oder stellt sich gar ein unverwarteter Schmerz an Stelle einer erhofften Freude bei uns ein, so hadert unser Unverstand mit dem Geschick ohne abzuwarten, was sich aus diesem äußerlichen Verlust für ein innerlicher Gewinn ergeben werde. Dieser letztere wird zwar nicht von uns erzielt, klopft aber, falls wir nicht feindlich widerstreben, ganz sicher an unsere Tür, und ist er da, so kommt dann gewöhnlich hinterher auch die arme, ganz nebensächliche Gabe, nach der uns so sehr verlangte. So auch mit dem Sattel. Er war mir sicher; aber der Wunsch ihn zu besitzen, mußte vorher den Absichten einer allweisen Führung dienen, welche zu begreifen wir meist zu kurzsichtig und zu ungeduldig sind.

Wir waren am nächsten Morgen kaum erst aufgestanden und saßen noch beim Kaffee, so klopfte es an unsere Tür und — wer trat ein? Der Bub.

„Guten Morgen!“ grüßte er europäisch, indem er uns die Hand gab.

Wir dankten und sahen ihn beifällig an, denn er war ganz frisch in Weiß gekleidet, vollständig rein und fleckenlos.

„Ja, da wundert ihr euch wohl?“ sagte er. „Mit den Farben ist es aus! Denn erstens hat unsere Gattin hier von einem Heldentume gesprochen, welches nicht angemalt, sondern wirklich ist, und seitdem will ich ein wirklicher Held sein, kein angemalter, falscher. Und zweitens habt auch ihr gehört, daß Schamah, meine neue Freundin, gleich sechsmal „Pfui!“ ausrief, als ich mich durch blaue, grüne, rote und gelbe Farbe tapfer machen wollte. Was die sagt, das gilt bei mir mehr, als was ihr alle miteinander sagt und so bin ich fest entschlossen die Kunst in Zukunft ganz beiseite zu legen und nur Dinge zu treiben, zu denen man sich

nicht falsch anzustreichen braucht. Übrigens bin ich nur wegen Schamah zu euch gekommen. Wenn ich mit Kaffee trinken darf, so sage ich euch, warum. Bei euch sind die Tassen größer als bei uns.“

Er bekam, was er wünschte, setzte sich zu uns und fuhr fort:

„Zunächst habe ich euch zu sagen, daß ich aus sämtlichen Klubs der Löwen, der Elefanten, der Nilpferde und der Walfische austrete, solange sich Schamah in Jerusalem befindet. Drum bin ich jetzt weiß angezogen um von Klub zu Klub zu gehen und zu melden, daß ich mit Bestien nicht mehr verkehren darf, wenigstens für einstweilen. Schamah ist fein, und wenn ich nicht auch fein bin, muß ich mich schämen. Sie sagt gar zu leicht „Pfui!“ Und sodann müßt ihr erfahren, daß sie schon heute nach Jerusalem kommt.“

„Woher weißt du das?“ fragte ich.

„Das weiß ich von der Verschwörung.“

„So gibt es eine Verschwörung?“

„Ja,“ nickte er wichtig.

„Wer hat sich verschworen?“

„Ich.“

„Mit wem?“

„Mit dem Hammahr.“

„Ah, gestern?“

„Ja. Und darum borgte ich mir von dir die zwanzig Franken. Hier sind sie wieder. Ich danke dir!“

Er zog zwei goldene Zehnfrankstücke aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Ich aber nahm sie nicht weg, sondern sagte:

„Ehe ich sie zurücknehme, muß ich wissen, um was es sich handelt. Ich habe sie dir nicht geborgt, sondern geschenkt.“

„Du irrst!“ sagte er ernst. „Ich bettle nicht, sondern ich borge. Schamah und ihre Mutter sind arm, sehr arm. Sie haben zuweilen nicht genug zu essen; das habe ich herausgehört, -

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Arabisches Mädchen am Brunnen.

herausgehört, ohne zu fragen. Ich aber bin reich und ich bin ihr Freund. Darum habe ich im Hospiz für sie bezahlt, ohne daß sie es wissen, und darum bringt der Hammahr sie heute nach Jerusalem, natürlich auf besseren Eseln, als die gestrigen waren; sie aber erfahren nicht, daß ich es bin, der es bezahlt. Sie glauben, das werde ihnen vom Hospiz aus geschenkt. Sie reiten, wenn sie hier ankommen, gar nicht in die Stadt herein, sondern sie biegen nach rechts in das Tal Hinnom ein und an dem Ölberg hinauf nach Bethanien, zu meinem Freunde Abd en Nom.“

„Wer ist Abd en Nom?“

„Der Vater des größten Walfisches, den wir haben, und des schwersten Nilpferdes, das es gibt. Er beherbergt Pilger. Jetzt steht sein Haus ganz leer und Schamah hat mit ihrer Mutter mehr Platz, als sie braucht. Sie wird auch dort essen. Sie glaubt natürlich, sie sei vom Hospiz dorthin empfohlen. Abd en Nom hat mich gern. Ich gehe auch mit zu ihm um alles vorzubereiten.“

„Und zu bezahlen?“

„Ja. Aber ich bitte euch das ja nicht zu verraten. Schamah und ihre Mutter dürfen es niemals erfahren!“

„Weiß es dein Vater?“

„Nein.“

„Aber, mein Junge, das kostet ja Geld!“

„Das habe ich!“ lachte er fröhlich auf.

„Von wem?“

Da wurde er schnell wieder ernst und antwortete:

„Von Mutter, ehe sie starb. Die hat das Geld verborgt und ich bekomme monatlich die Zinsen. Vater zahlt sie mir aus, denn er ist der Verwalter. Ich darf das Geld nicht behalten; ich bin gezwungen es auszugeben, aber nicht für mich, sondern für arme, alte, kranke Leute, die sich in Not befinden. So hat es Mutter gewollt und Vater muß mich machen lassen, was ich will. Er darf nur dann dreinreden, -

dreinreden, wenn er erfährt, daß ich das Geld anders verwende, als sie es mir befohlen hat. Aber das ist noch nie geschehen, denn ich habe Mutter lieb denke bei jedem Piaster, den ich ausgebe, ob sie es wohl auch wie ich oder anders machen würde. Zwar habe ich mir gestern die zwanzig Franken von dir geborgt ohne die Mutter vorher in meinem Innern zu fragen; aber das habe ich gestern abend, ehe ich einschlief, und heute früh, als ich erwachte, nachgeholt und nun weiß ich ganz genau, daß sie mit mir einverstanden ist und sich über Schamah und ihre Mutter freut. Wirst du nun das Geld zurücknehmen, Effendi?“

„Ja,“ antwortete ich und steckte es ein.

Meine Frau füllte ihm zum Lohne für seine Seelengüte die Tasse zum zweitenmal. Er nahm einen Schluck und sprach weiter:

„Ich werde mich ihrer sehr ernstlich annehmen. Ich führe sie an alle heiligen Orte, auch nach Bethlehem hinüber und wohin sie überhaupt wollen. Und wißt ihr, warum ich das tue?“

„Aus Mitleid,“ sagte meine Frau.

„Ja, das dachte ich erst auch; aber als ich heute früh in mich hineinschaute, wie ich es immer mache, wenn ich an Mutter denke, da war es kein Mitleid, sondern etwas ganz anderes. Nur weiß ich nicht, wie ich es nennen soll, denn es ist in mir noch niemals dagewesen. Es ist fast wie eine Pflicht und doch auch wieder wie keine, aber jedenfalls etwas, was man sehr gern tut. Daß ich für Schamah und ihre Mutter mit aller Welt kämpfen würde, das habt ihr gestern gesehen; aber das ist noch viel, viel zuwenig;

das ist noch lange, lange nicht das Richtige. Ich werde noch mehr darüber nachdenken, und wenn ich es gefunden habe, so sage ich es euch. Darf ich nun wieder gehen? Ich habe es nämlich sehr, sehr notwendig. Denkt doch nur: zu den Löwen, zu den Elefanten, zu den Nilpferden, zu den Walfischen und zu Abd en Nom! Und von diesem allem darf Vater nichts wissen!“

„Weiß er, daß du zu uns gegangen bist?“

„Fällt mir nicht ein! Wenn er erführe, daß man zu euch kommen darf, wie es einem beliebt, so würdet ihr ihn den ganzen Tag nicht los, denn er hat euch gern, außerordentlich gern! Also, Allah schütze euch; ich gehe!“

Er trank seine Tasse aus, reichte uns die Hand, öffnete die Tür, ging hinaus, blieb stehen, sann einen Augenblick nach, kam wieder herein, zog die Tür fest hinter sich zu, als ob er uns etwas sehr Heimliches anzuvertrauen habe, und sagte:

„Etwas muß ich euch noch fragen: Ist es nicht ein Unsinn, daß man mich daheim den „Auserwählten“ nennt?“

„Wie kommst du zu dieser Frage?“ versuchte ich die Antwort zu umgehen.

„Weil ich mich nur in meinen eitlen Stunden über diese Bezeichnung freue; bin ich aber ernst, so ärgere ich mich darüber.“

„So ärgere dich!“ riet meine Frau. „Der Ärger ist hier richtiger als die Freude.“

„Meinst du?“ Er sah sie nachdenklich an. Dann richtete er das Auge auf mich und nickte mir bedeutsam zu: „Ich gebe sehr viel auf das, was unsere Gattin sagt. Du vielleicht nicht? Aber bisher hat sie stets das Richtige getroffen. Nun gehe ich wirklich! Allah behüte euch!“

Als er fort war, dauerte es kaum zehn Minuten, so klopfte es wieder und wer kam? Sein Vater. Er bat um Verzeihung, daß er uns zu so ungelegener Stunde störe; aber es sei etwas geschehen, was er uns unbedingt melden müsse.

„Du hast geträumt?“ fragte ich.

„Ja. Woher weißt du das?“

„Ich weiß es nicht, sondern ich denke es mir.“

„So hast du es erraten. Denkt euch! Mir träumte, ich stand des Morgens auf und kam in die Stube, wo ich wohne. Da saß mein Bruder genau so, wie gewöhnlich ich, lächelte mich an und sagte:

„Ich bin gekommen und will sehen, ob ich bleibe.“ Da wachte ich vor Freude auf. Nun sag’, ist das ein Wunder oder nicht?“

„Ein Wunder? Nein! Für mich ist es sogar etwas ganz Selbstverständliches.“

„Nach unserm gestrigen, letzten Gespräch für mich wohl auch; aber heute kam mir im Erwachen ein Gedanke, gleich unmittelbar nach dem Traume, fast so als ob dieser Gedanke die Fortsetzung des Traumes sei. Weißt du noch, was mein Bruder im vorigen Traum zu mir sagte?“

„Daß er dir seine Verzeihung senden werde.“

„Nun, und wie hieß das Kind, welches ihr gestern getroffen habt und von dem mein Sohn so unaufhörlich sprach?“

„Schamah, die Verzeihung!“

„Das ist ja wahr! Das ist ja richtig!“ fiel da meine Frau rasch ein. „Sollte es wohl —“

„Pst — —! Still — —! Pst — —!“ unterbrach ich sie schnell, indem ich den alten Eppstein nachahmte. „Laß dich von keiner Geheimnisselei überwinden! Schamah bedeutet allerdings Verzeihung, ist aber doch auch zugleich ein Mädchenname.“

„Aber die Mutter des Mädchens kommt, wie Thar mir sagte, aus der Gegend von El Kerak und das liegt im Ostjordanlande, wohin mein Bruder sich gewendet hatte!“ warf Mustafa Bustani ein.

„So hast du mit Thar heute über sie gesprochen?“ fragte ich um ihn von diesem Thema abzubringen.

„Noch gestern abend,“ antwortete er. „Heute war er zwar schon zeitig wach, ließ aber gar nicht mit sich reden. Das hat er an sich, wenn er seine Gedanken an die Mutter richtet. Es beschäftigt ihn dann immer irgend eine Gabe oder irgend eine Tat, mit der er jemand zu erfreuen hofft. Dann ging er fort, ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben.“

„Weiß er, daß du hier bei uns bist?“

„Fällt mir nicht ein! Wenn er erführe, daß man zu euch kommen darf, so oft es einem beliebt, dann würdet ihr ihn den ganzen Tag nicht los, denn ich will euch nicht verschweigen, daß er euch beide in sein Herz geschlossen hat. Er ist seit gestern wie verändert. Und das kleine Mädchen scheint einen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, der mir ein Rätsel ist.“

„Aber doch kein schlimmes Rätsel?“

„O nein, sondern ein sehr erfreuliches!

Auch ich bin anders gestimmt als zu gewöhnlicher Zeit. Gestern war Feiertag; aber mir ist, als ob er erst heute sei. Ich komme mir vor wie in der glücklichen Knabenzeit, wenn etwas Langersehntes endlich einzutreffen verspricht. Ist das nicht sonderbar? Ist das nicht lächerlich?“

„Sonderbar wohl kaum, lächerlich aber keinesfalls. Unsere Seele steht mit ganz andern Welten in Verbindung als unser Körper. Und diese Verbindung ist eine so innige, daß ein vernünftiger Mensch über das, was wir „innere Stimmen“ nennen, wohl niemals lächeln wird. Hat dir der Traum den Bruder deutlich gezeigt? Oder war es nur so eine Gestalt, die du für ihn genommen hast?“

„Er war es und zwar so bestimmt und deutlich, daß ich mich sogar im Traum darüber wunderte und freute, daß er mir noch genauso ähnlich sieht wie früher. Wir waren einander nämlich so außerordentlich ähnlich, daß wir oft miteinander verwechselt wurden. Das machte uns Spaß, und darum trug er sich auch in Beziehung auf Bart und Kleidung ganz genau wie ich. Um so verschiedener waren wir innerlich. Er immer weich, nachgiebig und zum Frieden geneigt, ich aber unzart, rauh und stets bereit als Gebieter -

Gebieter aufzutreten. Das trennte uns dann schließlich. Heute aber — — —“

Er hielt inne, trat an das Fenster, schaute hinaus und fügte dann hinzu:

„Da geht der Weg zum Bab en Nebi Daud und da zum Bab el Amud. Für mich ist es gleich, welchen von diesen Wegen ich gehe. Sie führen mich beide doch nur um die Stadt herum und nach dem Ölberg, wo ich warte, wann und wie mir die Verzeihung kommen werde. Heute liegt eine Spannung in mir, die mich nicht ruhen läßt. Ich gehe!“

Er entfernte sich und ich gestehe offen, daß er einen Teil der Spannung, in der er sich befand, bei uns zurückließ. Wenn ich mit der vorliegenden Erzählung künstlerische Zwecke verfolgte, so hätte ich sie ganz anders aufgebaut und würde dem Schluß, der sich uns naht, ein eigenes Kapitel zu geben haben. Da mir aber der natürliche Verlauf der Dinge wenigstens ebenso interessant wie seine eventuelle, literarische Bearbeitung erscheint, so folge ich dem guten Beispiele unseres braven Bub, indem ich die Tatsachen schlicht und ungeschminkt berichte und, solange Schamah sich bei uns befindet, darauf verzichte sie grün oder blau, gelb oder rot anzumalen.(Schluß folgt.)

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Kalender6

Schamah.

Reiseerzählung aus dem Gelobten
Lande von Karl May. (Schluß.)

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Wir verwendeten den Vormittag dazu die „Gräber der Könige“ und einige andere naheliegende Orte zu besuchen. Am Nachmittag wollten wir nach Ain Karim, einem meiner Lieblingsplätze, den man für den Geburtsort Johannis des Täufers hält. Wir kamen aber nicht dazu diesen Ausflug zu unternehmen, denn eben als wir zu Mittag speisen wollten, klopfte es zum drittenmal bei uns an und wer erschien? Schamah mit ihrer Mutter! Wir freuten uns herzlich über diesen uns menschlich so willkommenen Besuch und es verstand sich ganz von selbst, daß sie beide mit uns aßen. Die Mutter war eine liebe, sanfte, edle und nur innerlich stolze Frau von ernster Herzensbildung. Sie sprach trotz ihrer Bescheidenheit mit großer Genugtuung davon, daß sie nicht aus Syrien, sondern aus dem Kaukasus stamme und, soweit die Tradition zurückreiche, immer christlich gewesen sei. Ihr Vater war, wegen seines Glaubens unterdrückt, als armer Offizier in El Kerak gestorben. Auch ihr Mann sei arm gewesen, sogar sehr arm, aber mit allen Tugenden geschmückt, die nötig sind sich die Achtung und die Liebe der Menschen zu erwerben. Er habe Achmed Bustani

geheißen und sei an einer Krankheit des Herzens gestorben, an einer Sehnsucht, die ohne Unterlaß an ihm genagt habe, bis ihn der Tod von ihr erlöste.

Achmed Bustani! Man kann sich wohl denken, welchen Eindruck dieser Name auf uns machte. Der Bruder unseres Freundes, also doch! Mir hätte die Witwe diese Mitteilungen wohl nicht so bald gemacht, aber die beiden Frauen waren einander schon gestern nicht nur äußerlich, sondern noch mehr auch innerlich begegnet und fühlten sich nun heute in der Weise zueinander hingezogen, daß sich die Vertraulichkeit wie ganz von selbst einfand. Natürlich nicht sofort, sondern es währte Stunden, bis wir so nach und nach erfuhren, was ich in wenigen, kurzen Worten berichte. Während sie sprach, schaute uns die zurückgehaltene Herzensqual aus ihren feuchten, tiefen Augen an und so wäre es von uns im höchsten Grade hart, ja grausam gewesen, wenn wir diese Qual durch Fragen vergrößert hätten nur um eine ordinäre Neugierde zu stillen. Achmed Bustani war, um es mit einem bekannten Worte auszudrücken, ganz einfach am Heimweh gestorben. Die Liebe zu Weib und Kind hatte den Tod höchstens verzögern, nicht aber verhindern können. Der Gedanke vom

Vater und von der ganzen Familie verstoßen zu sein und niemals wieder Aufnahme finden zu dürfen, hatte ihm, dem aus der Verwandtschaft unlösbaren Semiten, das Leben gekostet. Und bereits im Sterben liegend, hatte er seiner Gattin das Versprechen abgenommen, sie werde nach Jerusalem pilgern und mit dem Kinde seinen Bruder aufsuchen um ihn, wenn möglich, doch noch zu versöhnen.

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Sie hatten eigentlich von der Eiche Abrahams nur bis nach Bethlehem wandern wollen, aber vom Hospiz aus einen Zettel an einen gewissen Abd en Nom in Bethanien erhalten, der ihnen freie Aufnahme und Verpflegung in dessen Hause sicherte. Und zugleich hatte es sich gefügt, daß der uns bekannte Hammahr mit seinen Eseln nach Jerusalem mußte um jemand von dort abzuholen, und sie also mitnehmen konnte, ohne daß sie zu bezahlen brauchten. Sie freuten sich über die Gefälligkeit dieses Mannes und über die im russischen Hospiz an der Abrahams-Eiche herrschende Humanität ohne zu ahnen, daß es in Wahrheit unser „Held der Blutrache“ war, dem sie das alles verdankten. Sie waren aber nicht in das Tal Hinnom hinab und direkt zu Abd en Nom, sondern hierher zu uns geritten um sich bei uns zu erkundigen, ob es für eine einsame, christliche Pilgerin möglich sei bei diesem Manne zu wohnen. Wir gaben die möglichst beste Auskunft und boten ihnen an sie zu ihm zu begleiten, um zu sehen, was für ein Mann er sei. Sie nahmen dies dankbar an und eben wollten wir aufbrechen, da klopfte es zum viertenmal an unsere Tür und der Bub trat herein.

Er war ganz außer Atem und rief, als er Schamah und ihre Mutter sah:

„Es ist richtig, was der Hammahr sagte! Ihr seid erst hier eingekehrt anstatt direkt zu Abd en Nom zu reiten! Aber warum bleibt ihr so lange hier! Warum geht ihr nicht nach Bethanien, das Hinnomtal entlang und genau so, wie ich es dem Hammahr gesagt habe?“

Er stand im Begriff sich zu verraten. Da nahm ich ihn beim Kragen -

Kragen und brachte ihn in das Nebenzimmer. Dort sagte ich:

„Ich denke, Schamah und ihre Mutter sollen nicht wissen, daß du mit dem Hammahr eine Verschwörung angezettelt hast! Und da kommst du und sprichst selbst davon?“

„Allah, Allah!“ erschrak er. „Du hast recht! Das ist dumm von mir! Aber denke dich doch in meine Lage, Effendi! Ich stehe mit allen meinen Löwen und Elefanten und Nilpferden und Walfischen unten am Siloahteiche, um Schamah vorüberkommen zu sehen und sie in einem großen, festlichen Wandelzug nach Bethanien zu beglei­ten — — —“

„Mit den Nilpferden und Elefanten?“ fiel ich ihm in die Rede.

„Ja, natürlich!“ nickte er. „Ich habe sie zusammengeholt um meine neue Freundin mit ihrer Hilfe festlich zu empfangen. Sie haben ihre besten Kleider angezogen. Wir haben die ganze Umgegend nach Blumen und Sträuchern abgesucht um sie ihr voran- und hinterherzutragen. Wenn sie kommt, halten wir sie an und machen unsere Verbeugungen. Dann wird ein Gedicht von Firdusi deklamiert. Hierauf halte ich die Festrede. Wenn die vorüber ist, folgen neue Verbeugungen mit einem Liede, welches wir teils singen und teils blasen. Sodann folgt ein zweites Gedicht; das ist von Busiri. Und endlich ein Triumphgeschrei, so laut wir brüllen können. Nun teilen wir uns und der Wandelzug setzt sich in Bewegung — — die Hälfte von uns vorn, die Hälfte hinten, ich aber in der Mitte zwischen Mutter und Tochter als Führer der beiden Esel.“

„Das ist ja reizend ausgedacht!“ lachte ich.

„Nicht wahr? Und nun denke dir, daß wir stundenlang gewartet haben, aber niemand kam! Als die Mutter von Schamah sich hier an deiner Tür von dem Hammahr trennte, ist dieser mit seinen Eseln in der Stadt spazieren gelaufen anstatt den Weg, den ich mit ihm verabredet hatte, fortzusetzen. Erst später hat er daran gedacht dies zu tun, und so habe ich erst vor einigen Minuten erfahren, daß die so sehnlich -

sehnlich Erwarteten sich hier bei euch befinden. Ich bin sofort herbeigeeilt um euch zu sagen, daß ihr schleunigst kommen müßt, wenn meine Löwen und Walfische nicht die Geduld verlieren sollen!“

Es tat mir leid ihm seine Begeisterung nehmen zu müssen, aber ich konnte nicht anders, ich mußte es tun. Ich erklärte ihm, daß und warum ein solcher Empfang ganz unmöglich sei. Einer christlichen Pilgerin gezieme Bescheidenheit und innere Sammlung, nicht aber so etwas, am allerwenigsten aber mohammedanische Gedichte und brüllendes Triumphgeheul. Er war verständig genug dies einzusehen und sagte:

„Gut, Effendi, so unterlassen wir es; aber etwas tue ich doch. Kennst du das Lied von Bethanien, wo Jesus kommt, die Geschwister zu besuchen?“

„Nein.“

„So wirst du es hören. Ihr geht jetzt nach dem Hinnomtal und am Siloahteich vorüber?“

„Ja. Meine Frau wird dort wahrscheinlich photographieren.“

„Gut, das paßt! Bitte, geht langsam! Ich aber eile voraus.“

Ich wollte ihn ermahnen, ja nicht etwas vielleicht noch Unpassenderes zu tun, aber er wehrte ab und machte sich schleunigst aus dem

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Am Siloahteich bei Jerusalem.
Im Mittelgrunde Karl May. (Originalaufnahme.)

Staube. Wir folgten ihm, und wie ich gedacht hatte, so geschah es: Meine Frau veranlaßte mich den Apparat mitzunehmen. Sie wollte am Siloahteiche und in Bethanien einige Aufnahmen machen.

Es ist nicht der Zweck dieser Erzählung Jerusalem und seine Umgebung zu beschreiben. Darum unterlasse ich es den Weg, den wir gingen, zu schildern. Die Lage und das Aussehen des Teiches von Siloah ist aus der beigegebenen Photographie ersichtlich. Ich bin da nicht wie gestern arabisch, sondern europäisch gekleidet, mit dem Tropenhut auf dem Kopfe. Dies zur Erklärung des Bildes. Hier war es, wo nach Joh. 9, 7 etc. Christus den Blindgebornen heilte.

Als wir hinkamen, war kein Mensch außer uns zu sehen. Ich freute mich darüber. Diese Einsamkeit und Ruhe paßte zu der Stimmung, in der wir uns befanden. Wir hatten uns den Weg nur mit ernstem Gespräch gekürzt. Die kleine Schamah aber wirkte wie ein lieber, inniger Sonnenstrahl, der diesen Ernst milderte. Die Witwe sah sich am Ziele ihrer Reise. In ihr bebte die unendlich wichtige Frage, ob ihre Pilgerschaft Erhörung finden werde oder nicht. Wir aber, die wir hiervon mehr wußten -

wußten als sie, wir sahen die Entscheidung kommen und fühlten uns in hohem Grade innerlich gespannt.

Meine Frau wollte Schamah gern mit auf das Bild bekommen; aber das Kind hatte noch kein Vertrauen zu dem schwarz überhangenen Dreigestell und so mußte sie für heute verzichten. Ich war es also allein, der aufgenommen wurde. Als das vorüber war und wir, bevor wir die Stelle verließen, sie noch einmal besonders in Augenschein nahmen um sie uns einzuprägen, erklang plötzlich von rechts und von links, von oben und von unten, kurz von allen Seiten und von allen Höhen, wo die Knaben sich hinter den Steinen versteckt hatten, ein eigentümlich getragenes, zweistimmiges Lied in arabischer Sprache. Das war das Lied von Bethanien, wo Christus die Geschwister besucht und unterwegs am Siloahteich Kranke heilt. Unsere innere Stimmung und die äußere Szenerie, das was hinter uns lag, und das, was wir vor uns zu erwarten hatten, und hierzu dieses uns vollständig überraschende, ganz eigenartige, tief ergreifende Christuslied: das alles wirkte derart auf uns ein, daß es uns fast niedergezogen hätte um kniend zuzuhören. Und als es vorüber war, regte sich kein Hauch und kein Fuß. Die Sänger blieben in ihren Verstecken liegen; sie waren gut instruiert. Von diesem Augenblicke an begann ich zu zweifeln, daß unser Bub so ganz ohne allen Kunstverstand geboren sei.

Von hier aus gingen wir nach dem Kidrontal und bis zur sogenannten oberen Brücke um Gethsemane zu sehen. Dann über den jüdischen Begräbnisplatz nach Bethanien hinauf. Da stand vor dem Dorf der Bub, ganz allein. Er wartete auf uns und grüßte. Dann fragte er mich leise:

„Hast du sie gesehen?“

„Wen?“ fragte ich wieder.

„Die Sänger. Sie sind euch, während ihr nach Gethsemane ginget, zuvorgekommen, denn sie haben hier noch einmal zu singen. Kommt! Ich führe euch zu Abd en Nom, damit ihr die Wohnung seht, die wir für Schamah bereitet haben. Dann gehen wir zum Grab des Lazarus um zu photographieren.“

Er nahm Schamah bei der Hand und ging mit ihr voran. Das Haus Abd en Noms lag in der Nähe des Grabes. Der Besitzer kam

heraus, sich tief und respektvoll zu verbeugen, mit ihm seine beiden Söhne, nach Thars Beschreibung bekanntlich „der größte Walfisch, den wir haben, und das schwerste Nilpferd, das es gibt“. Sie machten aber beide einen ganz freundlichen, Zutrauen erweckenden Eindruck. Auch das Häuschen sah recht sauber und wohnlich aus. Es schien, als ob die Gäste hier eine recht zufriedenstellende Unterkunft finden würden. Und als wir das Innere betraten, sahen wir, daß diese Vermutung zur Wahrheit wurde. Denn die Einrichtung der beiden Räume, die es da für Schamah und ihre Mutter gab, ließ nach dortigen Verhältnissen nicht das geringste zu wünschen übrig. Sie waren außerdem mit all den Ästen, Zweigen und Blumen geschmückt, die für den „festlichen Wandelzug“ bestimmt gewesen waren.

„Drum hatte ich solche Eile,“ erklärte mir der Bub verstohlen. „Das mußte ja alles nun sehr schnell hierhergeschafft werden“.

„Und wo befinden sich jetzt die Helden alle?“ fragte ich.

„Das sollst du gleich hören!“

Er ging bei diesen Worten nach der Tür und gab einen Wink hinaus. Sofort erhob sich ein wenigstens fünfzig- bis sechzigstimmiges „Triumphgeheul“, welches von wirklichen Löwen, Elefanten, Nilpferden und Walfischen gewiß auch nicht natürlicher und schrecklicher hätte zu Gehör gebracht werden können.

„Allah erbarme sich!“ rief ich ihm zu. „Laß es genug sein! Halt auf! Halt auf!“

Er winkte wieder; da war es still. Aber sehen konnte man nicht, wo die „Bestien“ steckten.

„Das war ausgemacht,“ sagte er. „Einmal mußte ich sie brüllen lassen, nur ein allereinziges Mal! Jetzt haben sie ihren Willen gehabt und werden es nicht wieder tun. Wollen wir nun zum Grab gehen um zu photographieren?“

Wir waren einverstanden, denn die Sonne stand schon tief und für später ließ sich kein gutes Bild mehr erwarten. Er ging mit Schamah voran, deren Mutter aber bat für diesmal bleiben zu dürfen; sie müsse sich, bevor es dunkel werde, die Zimmer wohnlich machen. Dieser Wunsch war ein so natürlicher, daß er sich ganz von selbst verstand. Wir folgten also ohne sie mitzunehmen, den beiden Kindern nach

und stellten den Apparat so auf, daß er grad auf den Eingang zum Grabe gerichtet war. Wir glaubten, es sei niemand drin. Da sahen wir den Wärter des Grabes, der von innen unter die Tür trat, den Arm abwehrend emporhob und uns zurief:

„Jetzt nicht, jetzt nicht! Jetzt ist es verboten, denn es ist ein Moslem drin, ein Anhänger des Propheten!“

Aber schnapp! ließ meine Frau nun grad erst recht die Leitung wirken und diesem Ungehorsam verdanken wir das sehr wohlgelungene Bild, mit dem ich meine Erzählung illustriere. Eben wollten wir nun wieder einstellen, da ließ sich der „Anhänger des Propheten“ sehen, der sich im Grab befunden hatte. Er kam heraus und eilte, als er uns erkannte, freudig auf uns zu. Es war Mustafa Bustani, unser Freund.

„Wie recht, wie recht, daß auch ihr euch hier befindet!“ sagte er. „So gehen wir zusammen wieder über Kafr et Tur nach Hause, genau so wie gestern! Und auch du?“ fragte er seinen Sohn. „Und wer ist dieses kleine, liebe Kind?“

Er bog sich zu Schamah nieder. Sie stand mit weit geöffneten, großen, glänzenden Augen da. Ihr Gesichtchen strahlte vor Wonne. Sie hob die kleinen Arme um von ihm emporgenommen zu werden, und jubelte laut:

„Mein Vater! Mein Vater!“ Hierauf schlug sie die Händchen entzückt zusammen und fuhr

fort: „Die Mutter hat es gesagt! Die Mutter hat es gesagt!“

„Welche Mutter? Was hat sie gesagt?“ fragte Mustafa Bustani, der nicht ahnte, daß dieses Kind die gestern gefundene „neue Freundin“ seines Sohnes war.

„Daß wir zum Grabe des Lazarus gehen, hat Mutter gesagt,“ antwortete Schamah, „und daß der Heiland dich dort vom Tode auferwecken werde, grad so wie einst den Lazarus.“

„Mich — —?“

„Ja, dich, meinen Vater!“

Da wendete er sich an uns.

„Sie hält mich für ihren Vater! Sonderbar! Wer ist das Kind?“

„Ich bin Schamah, die Verzeihung, und dort im Hause befindet sich die Mutter. Nimm mich doch auf den Arm wie immer und trage mich zu ihr!“ bat das Mädchen, die Arme wieder zu ihm hebend.

Da entfärbte er sich. Er wurde leichenblaß, wich einige Schritte zurück und fragte, indem seine Stimme stockte:

„Schamah — — die Verzeihung — —! Wohl das kleine Mädchen von gestern?“

Diese Frage war an seinen Sohn gerichtet.

„Ja, sie ist es,“ nickte dieser.

„Meine Ahnung — meine Ahnung — —! Weißt du, wie ihr Vater heißt?“

Da antwortete das Mädchen an des Knaben Stelle:

„Mein Vater bist doch du! Du heißt Achmed Bustani. Kennst du mich vielleicht nicht

mehr? Da muß ich weinen! Nimm mich und trag’ mich zur Mutter!“

Was nun folgte, kann unmöglich beschrieben werden. Mustafa Bustani schrie laut auf und brach in die Knie zusammen. Er streckte die Arme nach dem Kinde aus, zog es an sich, küßte es unaufhörlich und rief dabei:

„Schamah — — Schamah — — die Verzeihung! Wie hat er gesagt — als er mir im Traum erschien — —? ‚Ich werde dir meine Verzeihung senden — — sie naht von Osten her — — schau’ täglich nach ihr aus!’ Das habe ich getan und sie ist gekommen — sie ist nun da! —

Da plötzlich sträubte sich Schamah gegen seine Liebkosungen. Sie hielt sich mit beiden Armen von ihm ab, schaute ihm prüfend in das Gesicht und sagte dann:

„Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr! Ich habe dich auch lieb; aber mein Vater bist du noch nicht ganz. Du mußt erst noch einmal hinein in das Grab, um es vollends und ganz zu werden!“

„Noch einmal hinein?“ wiederholte er. „Das verstehe ich wohl. Es hat noch einiges in mir zu sterben. Bis dahin aber bin ich einstweilen der Bruder deines Vaters, mein liebes, liebes Herzenskind, und du kannst mich immerhin schon ganz so lieb haben, als ob ich schon dein Vater wäre!“

„Wenn du das willst, so tue ich es!“ lächelte sie. „Nun aber trag’ mich zur Mutter!“

„Sag’ mir erst noch etwas!“

„Was?“

„Weißt du den Tag, an dem dein Vater gestorben ist?“

„Oh, den wissen wir alle, die Mutter auch. Sie wiederholt ihn so oft, daß man ihn gar nie vergessen kann. Es war der fünfzehnte Tag des Monates Adar, an dem er starb.“

Da sprang er auf. Sein Gesicht nahm einen gar nicht zu definierenden Ausdruck an.

„Hört ihr es — — hört ihr es?“ fragte er uns. „Der fünfzehnte Adar! Derselbe Tag, an dem mir träumte, daß er gestorben sei und mir Schamah, seine Verzeihung senden werde! Allah, Allah! Wie wunderbar ist alles, was geschieht! Ich ehre dich! Ich preise dich! Ich bete an!“

„Zur Mutter, zur Mutter!“ bat das Kind, über dessen Verständnis das, was es jetzt sah und hörte, zu weit hinausging.

„Ja, ich trage dich zur Mutter,“ sagte er, indem er Schamah vom Boden aufhob und in seine Arme nahm. „Wo finde ich sie?“

„Bei Abd en Nom,“ antwortete Thar, indem er sich anschickte mitzugehen, von mir aber festgehalten wurde.

Sein Vater ging mit vor Erregung fast schwankenden Schritten nach dem angegebenen Hause, in dessen Innern er verschwand. Der Bub aber sagte:

„Wenn ich nicht mitgehen darf um zu hören, was gesprochen wird, so muß ich allein sein um über das, was sich ereignet, nachzudenken. Vater hat recht: Es geschehen noch Wunder. Das allergrößte Wunder des heutigen Tages aber bin ich! Denn ich habe hinter seinem Rücken die Verschwörung mit dem Hammahr angezettelt und die Verzeihung grad hierher an das Grab des Lazarus geleitet, ohne daß ich dabei gescheiter gewesen bin als alle andern, dich, Effendi, und unsere Gattin mit eingeschlossen. Wartet hier auf mich! Sobald ich den Verstand beisammen habe, werde ich mich hören lassen.“

Er entfernte sich. Wir nahmen auf dem Gemäuer Platz und teilten uns unsere Gedanken mit — leise wie in einer Kirche. Wir waren ganz allein. Der Hüter hatte sich entfernt. Das Grab stand offen. Welche Gedanken schauten aus dieser geöffneten Tür zu uns herüber! — Der Tag begann sich zu neigen. Ein reiner, heiliger Odem wehte von der Höhe des Ölberges zu uns her. Ich hörte etwas in mir. Oder war es außen? Stand jemand hinter uns? Ein Gewaltiger, von keinem Menschen jemals zu Erreichender, der über uns hinweg zum Grabe hinüber rief, aber doch auch mich mit meinte: „Lazarus, komm’ heraus!“ Es gibt ja nicht bloß in körperlicher Beziehung Wundertaten, durch welche Tote wieder lebend werden.

Da klang leise und wie aus hoch über uns erhabenen Lüften das zweistimmige Lied von Bethanien, wo der Heiland zu den Geschwistern kommt, zum Grab hernieder. Die Knaben hatten auf Thars Anweisung das Gemäuer, welches auf meinem ersten Bilde zu sehen ist, erstiegen und wiederholten, was sie am Teiche Siloah gesungen hatten, das Lied von Christus, der Blinde sehend macht und Tote wieder lebend. Es kommt mir wie eine Profanation vor die Arten dieser Blindheit und dieses Todes durch Worte

anzudeuten. Solche Dinge muß man fühlen; ich aber habe nicht zu belehren, sondern nur zu erzählen.

Als das Lied wie ein aus Christi Zeit herübergetragenes Gebet verklungen war, kehrte Thar zurück. Er hatte seine Gespielen nun verabschiedet und nach Hause geschickt. Und gleich darauf trat sein Vater wieder aus dem Hause. Seine Schwägerin und Schamah begleiteten ihn. Das Bibelwort: „Und ihre Angesichter glänzten,“ war auf sie anzuwenden.

„Welch eine Stunde, welch eine heilige Stunde,“ sagte er. „Und dazu dieses Lied! Wer hat das angeordnet?“

„Ich,“ antwortete der Bub, indem er mit beiden Händen auf sich zeigte.

„Bist du es wirklich gewesen? Mir war es, als ob es ein Gruß von deiner Mutter sei —“

„Und auch meines Verstorbenen,“ fiel da die Witwe ein, „der aber nicht tot, sondern lebend ist und dessen letzter Wunsch nun in Erfüllung geht.“

„Und wenn es wirklich von diesen beiden käme, nicht aber von dir, mein Sohn,“ fuhr Mustafa Bustani fort, „so hast du doch schon außerdem mehr als genug getan und dir unsern

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Der Eingang zum Grabe des Lazarus in Bethanien bei Jerusalem.
Eigene Aufnahme von Karl May.

Dank verdient. Abd en Nom hat uns gesagt, wer der eigentliche Urheber des heutigen Zusammentreffens ist. Das Mitleid, welches die Mutter dir in die junge Seele legte, hat Frucht und Segen gebracht. Schamah, die Verzeihung, wird bei uns wohnen und — — —“

„In unserm Hause?“ fiel da der Bub schnell ein.

„Ja.“

„Mit ihrer Mutter?“

„Ja.“

„Wie lange?“

„Für alle Zeit, so hoffe ich.“

Da tat der Knabe den größten Luftsprung, der ihm möglich war, und rief aus:

„So muß ich schleunigst fort um ihnen zu sagen, daß sie kommen!“

„Wem?“

„Unserm Habakek, dem Gehilfen, unserm Bem, dem Kaffeeneger, und unserer Köchin, seiner Frau!“

„Das hat noch Zeit, denn die Schwägerin bleibt heute noch hier bei Abd en Nom. Wir holen sie erst morgen ab, wenn alles vorbereitet ist sie festlich zu empfangen.“

„Festlich empfangen!“ jubelte Thar, indem

er einen zweiten Luftsprung machte. „Dazu gehören meine Löwen und meine Elefanten! Erlaubst du mir sie einzuladen?“

Der Vater zog ein ganz und gar nicht zustimmendes Gesicht, aber meine Frau winkte ihm bittend zu und so antwortete er:

„So lade sie!“

„Auch die Nilpferde?“

„Ja.“

„Und die Walfische?“

„Auch sie. Sie sollen im Garten sitzen und bewirtet werden, aber ruhig sein. Dafür haben sie, bevor sie abends scheiden, das Lied von Bethanien zu singen.“

„Hamdulillah! Ich danke dir, mein lieber, mein guter Vater! Ich eile es ihnen gleich zu sagen!“

„Warum doch gleich?“ widersprach Mustafa Bustani, indem er ihn festhalten wollte.

„Weil ich sie jetzt noch einholen kann. Sie sind ja soeben erst fort!“

Er riß sich los, schüttelte der kleinen Schamah noch schnell die Hand und sprang zu gleichen Beinen davon.

„Ich werde bei ihm wohnen?“ fragte das Kind, indem es ihm bewundernd nachschaute.

„Ja, das wirst du,“ antwortete die Mutter. „Ihr werdet immer beisammen sein.“

„Das will ich auch und darüber freue ich mich, denn ich habe ihn lieb und über solche Helden muß man wachen. Nun aber bin ich müde vom weiten Weg. Darf ich jetzt schlafen gehen?“

Dieser Wunsch gab Veranlassung, uns zu verabschieden, und zwar mit einem sehr frohen „Auf Wiedersehen!“ für morgen. Dann sahen wir, daß die Mutter mit dem Kinde zunächst noch in das Grab ging um jene innere Pflicht zu erfüllen, die weit noch über das Grab hinüberreicht. Wir drei andern aber stiegen den schon bekannten Weg über Bethphage nach Kafr et Tur hinauf und blieben, als wir den Johannisbrotstrauch erreichten, stehen. Die Sonne

stand soeben im Begriffe hinter dem Horizont zu verschwinden. Mit ihren letzten Strahlen umarmte sie die heiligste der Städte, die es auf Erden gibt. Welchen Anblick Jerusalem während eines solchen Sonnenunterganges vom Ölberg aus bietet, muß man gesehen und empfunden haben, es zu beschreiben ist nicht möglich. Wir standen lange Zeit, in diesen Blick versunken. Dann sagte Mustafa Bustani, indem er tief Atem holte:

„Noch schöner, noch tausendmal schöner als gestern zur selben Zeit! Aber diese Steigerung liegt in uns selbst. Ich bin ein ganz anderer, als ich gestern war, darum sehe und fühle ich auch ganz anders. Es liegt eine Welt zwischen gestern und heute. Ich weiß, ihr verlangt nicht, daß ich jetzt, nach so einer Stunde, reden und berichten soll. Ihr erlaubt mir zu schweigen. Ich bitte euch, geht heim! Laßt mich hier, allein mit mir und allein mit dem, der mir heute verzieh, obgleich ich ihn einst verstieß!“

Wir gingen. Noch ehe wir die nächste Biegung des Weges erreichten, begannen die Abendglocken der Gottesstadt zu läuten. Ein Meer von heilig wallenden Tönen stieg zu uns auf und faßte uns, als ob es uns gen Himmel tragen wolle. Uns umschauend sahen wir, daß Mustafa Bustani betete — — ein Mohammedaner, beim Klang der Kirchenglocken! Kann ich mehr erzählen? Nein! — — —

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Für diejenigen Leser, welche keine Lücke dulden, habe ich noch hinzuzufügen, daß ich den Paschasattel doch noch bekam. Mustafa Bustani ermöglichte es und zwar, wie ich glaube, nicht ohne persönliche Opfer. Zwar ist ein solches Prunkstück in der Heimat unbrauchbar, aber ich halte ihn dennoch lieb und wert, weil er mich an jene zwei Tage im Heiligen Lande erinnert, die mir in Thar und Schamah, also in der „Rache“ und in der „Verzeihung“, einen Wink gegeben haben, den ich nicht vergessen darf.

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