Der Gute Kamerad
3.Jahrgang, No. 33, Seite 513
Reprint Seite 193


oder

Kong-Kheou, das Ehrenwort.

Von K. May.

Verfasser von "Der Sohn des Bärenjägers", Geist der Llano estakata".

(Fortsetzung.)

Glücklicherweise meldete sich niemand. Darum fuhr der Mandarin fort:

»Weißt du, was gestern Abend hier geschehen ist?«

»Ja.«

»Wer hat es dir gesagt?«

»Ich erfuhr es auf der Straße.«

»Man hat die Götter gestohlen. Und nun wir sie zurückbringen, wird der Sitz derselben zum zweitenmal entweiht.«

»Entweiht?« fragte Liang-ssi im Tone des größten Erstaunens. »Wer hat das gethan?«

»Diese beiden fremden Männer.«

»Diese? Nimm es mir nicht übel, aber ich muß dich fragen, ob du weißt, was ein Lama ist?«

»Ja, ich weiß es. Ein Lama ist ein Priester, ein Mönch, welcher in einem Kloster, in einem Tempel lebt.«

»Das sagst du und willst ein Doktor der Feder sein? Hast du noch nichts vom Dalaï Lama, vom Tsong Kaba, vom Ho-bil-gan, vom Pantscham Ramputschi gehört? Sind das nicht Götter, deren Seelen auf die Auserwählten übergehen? Heißt nicht Lhassa die Stadt der hunderttausend Heiligen? Sind nicht im großen Ku-ren dreimal hunderttausend Lamas versammelt, welche niemals sterben können, weil ihre Seelen von einem Leibe in den andern übergehen?«

Er hatte das in einem sehr überlegenen und zugleich vorwurfsvollen Tone gesagt. Der Methusalem stand hinter dem Gitter und bewunderte ihn. Er hatte dem jungen Chinesen, der nur Kaufmann war, diese Kenntnisse, diese Energie und diesen Mut nicht zugetraut. Liang-ssi schien plötzlich ein ganz anderer geworden zu sein.

Freilich kam ihm zu statten, daß die Chinesen sehr schlechte Geographen sind; ihr Nationalstolz verbietet ihnen, sich allzusehr mit anderen Ländern und Völkern zu beschäftigen.

Der junge Mandarin schien verlegen zu werden. Er antwortete in hörbar höflicherem Tone:

»Ich habe diese Namen alle längst gehört.«

»Die Namen, ja, aber die Verhältnisse scheinen dir unbekannt zu sein. Der Dalaï Lama ist nicht der Unterthan des chinesischen Himmelsherrn, denn letzterer sendet ihm jährlich kostbare Geschenke, um ihm seine Ehrfurcht zu erweisen. Jeder Lama ist ein Gott und hat alle Rechte eines solchen. Ein Lama kann einen Tempel errichten, um sich verehren zu lassen, und es gibt jenseits der großen Mauer berühmte Lamas, welche so heilig sind, daß Hunderttausende zu ihnen wandern, um sich ihre Sünden vergeben zu lassen und von ihnen die Unsterblichkeit zu erlangen. Zu diesen berühmten Wesen gehören die beiden, welche ihr da vor euch erblickt. Der eine ist sogar ein Lama des Krieges und hat die Feinde der Chinesen, die Oros1), in vielen Schlachten besiegt. Sie sind nach Kuang-tschéu-fu gekommen, warum, das weiß ich nicht, denn ich konnte sie noch nicht fragen, aber sie werden sich hier nicht verweilen, weil sie die Ehrerbietung nicht gefunden haben, welche man ihnen widmen muß.«

»Sie haben sich auf den Thron unserer Götter gesetzt!«

»Wer will ihnen das verbieten, da sie ja selbst Götter sind? Erkundige dich, so wirst du erfahren, daß ich die Wahrheit sage. Ein Lama darf mit keinem Menschen speisen; kein anderer darf es sehen, wenn er sich wäscht. Wen er mit seiner Hand berührt, der ist geheiligt für die ganze Lebenszeit. Selbst ein Vizekönig muß, wenn ein Lama bei ihm eintritt, seinen Sitz verlassen, um denselben ihm anzubieten.«

»Davon steht nichts im Buche der Ceremonien zu lesen.«

»Weil sich hier im Lande keine Lamas befinden. Aber schlage nur nach im Buche der Gebräuche der Völker jenseits der großen Mauer! Da wirst du es sogleich finden.«

»Ich werde nachschlagen. Aber wie kommt es, daß diese Lamas so verschieden gekleidet sind?«

»Weil es verschiedene Tempel gibt, deren Bewohner sich durch die Kleidung unterscheiden. Und zweifelst du daran, daß diese Heiligen den Göttern gleich zu achten sind, so blicke sie an! Sind sie nicht ganz in das All versunken? Schau diesen Lama des Krieges an! Ist ihm nicht die Unsterblichkeit auf die Stirne geschrieben?«

Turnerstick saß allerdings da, als ob ihm diese Erde ganz und gar gleichgültig sei.

»Ja,« gab der Mandarin zu. »Seine Seele scheint nicht in ihm zu sein.«

»Sie ist tief im Weltenall versunken. Und sieh den andern an! Ist er nicht ein Gott der Schönheit und des Glückes zu nennen?«

Dem Mijnheer war es gar nicht göttlich zu Mute, und glücklich fühlte er sich auch nicht übermäßig: aber er machte ein möglichst sorgloses Gesicht, und da er wohlbeleibt war, so befriedigte er ganz wohl die Ansprüche, welche der Chinese an das Bild eines Gottes macht.

»Ja, er ist schön,« antwortete der Mandarin. »Aber frage sie doch einmal, ob wir erfahren dürfen, weshalb sie nach Kuang-tschéu-fu gekommen sind!«

»Du stellst mir da eine Aufgabe, welche mich zwingt, unhöflich gegen die Götter zu sein. Wenn sie in die Tiefe der Weisheit versunken sind, ist es eine Sünde, sie aus derselben zurückzurufen. Ich begebe mich in die Gefahr, ihren Zorn auf mich zu laden, so wie ihr ihn euch vorhin zugezogen habt.«

»Der Kriegslama war zornig, ja, aber der andere nicht. Er sprang vom Sitze herab, um sich zu verstecken.«

»Das geschah nicht aus Furcht, denn es kommt nur auf seinen Willen an, so kann er euch alle verderben. Aber es versteht sich ganz von selbst, daß ein Lama des Friedens, wenn er zornig ist, sich an den Lama des Krieges wendet.«

»So willst du sie also nicht stören? Dann müssen wir es thun!«

»Nein, nein! Ihr würdet es nicht mit der gebührenden Ehrfurcht thun. Also will ich es wagen. Vielleicht gefällt es ihnen doch, uns Auskunft zu erteilen.«

Er näherte sich den beiden Götzen, verbeugte sich tief vor ihnen und sagte, aber in deutscher Sprache:

»Antworten Sie mir nicht sogleich, sondern starren Sie immerfort in die Ecke. Erst später thun Sie dann, als ob Sie langsam aus tiefem Nachdenken erwachen. Dann müssen Sie zunächst in zornigem Tone zu mir reden.«

Die beiden bewegten sich nicht. Liang-ssi wendete sich zu dem Mandarin.

»Du siehst, wieweit sie von hier abwesend sind. Sie hören meine Stimme nicht. Ich muß weiter zu ihnen sprechen.«

Nun erzählte er den beiden, was er mit dem Mandarin gesprochen habe, und daß er hoffe, man werde sie unbehelligt fortgehen lassen. Dann holte er ein Räucherstäbchen und erklärte den Chinesen:

»Ich bin noch immer nicht gehört worden. Vielleicht gelingt es mir, sie durch Wohlgerüche zurückzurufen.«

Er schwang das Stäbchen vor den Göttern hin und her. Turnerstick holte tief Atem, klappte seinen Fächer zu, sah im Kreise umher und fragte zornig:

»Ist die Komödie nicht bald zu Ende? Es fällt mir gar nicht ein, länger hier sitzen zu bleiben. Heut nur zwei Tassen Thee! Ich habe einen gewaltigen Hunger. Sie nicht auch, Mijnheer?«

Der Dicke that, als ob er zu sich komme, verdrehte die Augen und antwortete:

»Ja, het is tijd dat wij an tafel gaan - ja, es ist Zeit, daß wir zu Tische gehen.«

»Hören Sie es? Nun machen Sie also, daß wir fortkommen! Wo ist unser Methusalem?«

»Er steht am Gitter hinter Ihnen.«

»So hört er also, was wir reden?«

»Ja.«

»Nun, so will ich ihm sagen, daß es sehr unrecht von ihm ist, sich da draußen hinzustellen, ohne hereinzukommen und uns in Schutz zu nehmen.«

»Das kann er nicht. Die Klugheit verbietet es ihm. Käme er herein, so würde er an allem, was Ihnen geschieht, teilnehmen müssen. Hält er sich aber entfernt, so kann er später alles zu Ihrer Rettung thun.«

»Rettung? Steht es so schlimm?«

»Hoffentlich nicht. Doch weiß man nicht, was die Priester und Mandarinen beschließen werden.«

»Was haben Sie denn jetzt wieder mit ihnen verhandelt?«

»Ich soll Sie fragen, warum Sie als Lama hierher gekommen sind.«

»Weiß ich es? Das müssen Sie doch wissen, der Sie uns zu Lamas gemacht haben.«

»Ich weiß wirklich nicht, was ich antworten soll.«

»So sagen Sie ihnen meinetwegen, daß wir hier Nilpferde suchen, denen wir Filet stricken lehren wollen. Nicht wahr, Mijnheer?«

»Ja, ongelukkige nijlpaarden.«

»Oder sagen Sie, daß wir ungeheuer reich sind und mit unserem Gelde so wenig wissen, wohin, daß wir auf den Gedanken geraten sind, ihnen eine Pagode zu bauen, an welcher wir sie alle aufhängen lassen werden.«

»Das Aufhängen werde ich verschweigen; aber eine Pagode? Der Gedanke ist sehr gut. Warten Sie!«

Sich an den Mandarin wendend, berichtete er demselben:

»Die heiligen Lamas waren zornig, daß sie abermals gestört worden sind; aber sie haben sich dennoch herbeigelassen, mir Auskunft zu erteilen. Sie sind gekommen, um hier einen großen Tempel der Wohlthaten zu erbauen, in welchem tausend Arme aufgenommen werden können.«

»Wer soll ihnen das Geld dazu geben?«

»Niemand. Sie selbst haben es; sie sind reich genug dazu.«

»Thian! So reich bin ich nicht. Aber können Sie auch beweisen, daß sie das wirklich wollen?«

»Wodurch kann man den Willen beweisen, als durch die That? Sie werden, da sie abermals gestört worden sind, jetzt von hier aufbrechen, um sich einen andern Ort zu suchen, an welchem niemand sie aus ihrer seligen Versunkenheit erwecken kann.«

»Sie wollen gehen?« fragte der Mandarin, indem ein eigentümliches Lächeln um seine Lippen zuckte. »Wenn sie wirklich so berühmte und heilige Lamas sind, wie du uns gesagt hast, so thut es uns sehr leid, sie von uns lassen zu müssen. Willst du sie nicht fragen, ob und wann und wo wir sie wiedersehen können?«

Diese Worte waren sehr freundlich ausgesprochen worden. Liang-ssi glaubte, gewonnenes Spiel zu haben. Aber es gab einen, dem sie nicht gefielen, und dieser eine war der Methusalem.

Er hatte jedes Wort der Verhandlung vernommen, und, da er alles sehr gut überblicken konnte, die Gesichter genau beobachtet. Da war ihm zunächst aufgefallen, daß die Züge des jungen Mandarins mit denen Liang-ssis eine fast auffallende Aehnlichkeit besaßen. Man hätte sie für nahe Verwandte halten können. Doch das war ein Zufall, welcher gar keine Bedeutung hatte. Wichtiger war das Benehmen dieses jugendlichen Beamten, welcher bereits den viel begehrten Titel eines Moa-sse führte, obgleich er nur sehr wenig über zwanzig Jahre zählen konnte.

Dieser letztere Umstand war ein Beweis, daß er ein sehr unterrichteter, begabter und kluger Mann sei. Das schienen die höheren Mandarinen anzuerkennen, da sie ihm die Untersuchung dieses so außergewöhnlichen Falles überließen.

Er sah nicht aus wie einer, der sich so leicht einer groben Täuschung unterwerfen läßt. Es war trotz seiner nachherigen Freundlichkeit etwas Ueberlegenes, Zuwartendes an ihm zu bemerken, was er nicht ganz zu verbergen vermochte. Degenfeld hatte das Gefühl, daß dieser Mann eine unsichtbare Schlinge in der Hand habe, welche er plötzlich zuziehen werde, um Liang-ssi zu fangen. Und welcher Art diese Schlinge sei, das ahnte der Student.

So geschickt Liang-ssi sich verhalten hatte, war doch eine große Unvorsichtigkeit von ihm begangen worden. Er hatte den Dicken mehreremal Mijnheer genannt, und auch Turnerstick hatte sich dieses Wortes bedient. Es gab in Macao, Hongkong und Kanton Holländer genug, mit denen die Bewohner dieser letzteren Stadt in Berührung kamen, und bei solchen Berührungen gibt es stets gewisse Worte, welche im Gedächtnisse hängen bleiben und sich weiter sprechen. Hört der Deutsche das Wort Monsieur, so wird er den Betreffenden gewiß für einen Franzosen halten. Wird eine Dame Lady oder Miß genannt, so ist sie sehr wahrscheinlich eine Engländerin oder Amerikanerin. Es stand zu erwarten, daß das Wort Mijnheer ein in Kanton nicht unbekanntes sei; wenigstens war anzunehmen, daß ein Mann von den Eigenschaften des Mandarins die Bedeutung desselben kenne. War dies der Fall, so mußte er wissen, daß ein Fremder, welcher Mijnheer genannt wurde, unmöglich ein Lama aus Lhassa sein könne.

Liang-ssi gehorchte der Aufforderung des Beamten. Er wendete sich an Turnerstick und sagte:

»Die Angelegenheit steht sehr gut für Sie und wird sogleich zum Abschlusse kommen. Man glaubt mir, daß Sie heilige Lamas sind und das Recht besitzen, den Platz von Göttern einzunehmen. Ich habe gesagt, daß Sie zum Besten der hiesigen Armen von Ihrem eigenen Gelde einen Tempel bauen wollen, und das hat Ihnen Respekt verschafft.«

»Na, allzu groß wird er nicht werden!« meinte der Kapitän. »Es sind mir keine Kapitalien zur Feueresse hereingefallen, so daß ich sie hier zum Nutzen dieser Leute verpulvern könnte, Ihnen doch auch nicht, Mijnheer?«

»Neen, mij ook niet, voornaamelijk daartoe niet - nein, mir auch nicht, zumal dazu nicht.«

»Sie glauben es aber,« fuhr Liang-ssi fort. »Man wird Sie jetzt ungehindert gehen lassen. Vorher aber will man wissen, wann und wo man Sie sehen und treffen kann.«

»Im Monde, sagen Sie ihnen das,« antwortete Turnerstick. »Nicht wahr, Mijnheer?«

»Ja, in den maan, en indien wij buiten zijn, in der maansverduistering - ja, in dem Monde, und wenn wir fort sind, in der Mondfinsternis,« antwortete der Dicke, indem er den Mund breit zog und vergnügt über seinen Witz lachte.

»Da haben Sie recht, Mijnheer. Es ist für uns alle am besten, uns schnell zu verdüstern, sobald wir hier fortgekommen sind. Wenn ich Ihnen sage, daß Sie gehen können, so steigen Sie möglichst gravitätisch herab und gehen hinaus, ohne, wie es Göttern geziemt, die Anwesenden eines Blickes zu würdigen.«

»Und draußen setzen wir uns in die Sänften?« fragte Turnerstick.

»Nein, das ja nicht! Man würde dadurch erfahren, daß wir zusammengehören, denn es versteht sich ganz von selbst, daß man Sie beobachten wird. Sie gehen vom Tempel aus rechts ab, dann links in die erste Gasse hinein, biegen abermals rechts ab, so daß man Sie von hier aus unmöglich sehen kann, und warten dort auf uns. Wir werden schnell nachfolgen oder, wenn wir das für vorteilhafter halten, Ihnen zwei Sänften nachsenden, in welche Sie rasch steigen, um heimgebracht zu werden.«

Der Mao-sse war dieser Unterredung mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt. Es spielte ein leises Lächeln um seine Lippen, als er sich jetzt an Liang-ssi wandte:

»Nun, haben die Lamas meine Frage beantwortet?«

»Ja.«

»Und wo können wir sie wiedersehen?«

»Sie wissen augenblicklich nicht, wohin sie sich von hier aus wenden werden. Aber sie werden täglich hierher kommen und bei dieser Gelegenheit dem Ta-sse sagen, wo sie ihre Wohnung aufgeschlagen haben. Von ihm kannst du es erfahren.«

Der Mandarin nickte ihm freundlich-listig zu und sagte:

»Vielleicht werden die heiligen Lamas mir erlauben, ihnen eine Wohnung anzuweisen, welche ihrer hohen Stellung würdig ist?«

»Sie werden dein Anerbieten mit Dank hören, aber keinen Gebrauch von demselben machen.«

»Warum sollten sie das nicht?«

»Weil sie dir nicht beschwerlich fallen wollen.«

»Davon kann keine Rede sein. Mein Haus ist ein sehr gastliches und hat Platz für viele Leute. Es wohnen in demselben oft über hundert Gäste verschiedenen Ranges. Und sollten die Lamas denken, daß mein Rang zu niedrig sei, als daß sie bei mir einkehren könnten, so will ich dir sagen, wie ich heiße und was ich bin. Mein Dienstname ist Ling2); mein Haus wird Huok-tschu-fang3) genannt, und ich bin in demselben als Pang-tschok-kuan4) angestellt.«

Liang-ssi trat einen Schritt zurück und betrachtete den Sprechenden mit unsicherem Blicke. Da dessen Gesicht aber ebenso freundlich wie vorher war, beruhigte er sich wieder und antwortete:

»Da bekleidest du ein sehr wichtiges Amt, welches deine Zeit so sehr in Anspruch nimmt, daß Privatgäste dich nicht behelligen dürfen.«

»O, mein Haus steht einem jeden offen, dem es anderswo nicht gefallen will; aber wenn die Lamas mich wirklich nicht begleiten wollen, so lasse ich sie bitten, sich in die Gebräuche dieses Landes zu fügen, wenn sie sich nicht wieder der Gefahr aussetzen wollen, für andere Wesen gehalten zu werden, als sie sind. Aber wie es scheint, sind diese Gebräuche ihnen unbekannt?«

»Das weiß ich nicht, da ich sie hier zum erstenmal gesehen habe und sie also nicht kenne.«

»Mache sie ganz besonders darauf aufmerksam, daß jemand, welcher so weit her, aus Tibet nach Kuang-tschéu-fu kommt, einen Paß haben muß, welcher von dem chinesischen Wang in Lhassa ausgestellt und unterzeichnet sein muß. Haben sie einen solchen?«

»Ich weiß es nicht.«

»So frage sie! Ich möchte denselben gern sehen.«

»Wo denkst du hin! Ich soll zwei heilige Lamas, welche den Göttern gleichgeachtet werden, nach ihren Pässen fragen? Das ist unmöglich!«

»Ich halte es gar nicht für unmöglich sondern vielmehr für ganz selbstverständlich. Aber du bist in Lhassa gewesen und mußt das also besser verstehen als ich. Ich will es also dahingestellt sein lassen, ob sie Pässe haben oder nicht, denn ich werde mich sehr hüten, Männer zu beleidigen, welche wirkliche Lamas sind. Aber du selbst bist doch nicht etwa auch ein Lama?«

»Nein.«

»Du sagtest, daß Sze-tschuen deine Heimat sei. Kommst du direkt von dort?«

»Ja.«

»Diese Provinz liegt sehr weit von hier entfernt, und wenn man eine solche Reise unternimmt, so versieht man sich mit allem, was dazu erforderlich ist. Das hat du doch gethan?«

»Ja.«

»Das allernötigste ist da ein Paß. Es ist vorgeschrieben, daß jeder, welcher aus einer Provinz in die andere geht, einen Paß haben muß, damit er zeigen und beweisen kann, wer er ist. Du wirst dieses Gesetz kennen, da du mich erraten ließest, daß du auch ein Mandarin bist und dich im Besitze eines litterarischen Titels befindest. Ich denke also, daß du entweder bei dem Tsung-tu5) oder beim Fu-juen6) von Sze-tschuen gewesen bist, um dir eine solche Legitimation ausstellen zu lassen. Hast du das gethan?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil mein Gelübde mich daran verhinderte.«

»So hast du ein sehr gefährliches Gelübde gethan, welches dir außerordentlich lästig fallen kann. Oder hast du vielleicht gelobt, legitimationslos aus einem Gefängnisse in das andere zu wandern?«

Jetzt erschrak Liang-ssi. Er begann sich weniger sicher als vorhin zu fühlen, und antwortete:

»Das ist nicht meine Absicht gewesen. Wenn ich dir mein Gelübde mitteilen könnte, so würdest du begreifen, daß ich keinen Paß bei mir tragen darf.«

»So thut es mir leid um dich, denn ich will dir wohl. Ich erkenne deinen Rang an, ohne daß du mir beweisen kannst, daß du ihn besitzest. Ich bin dir auch dankbar für die Gefälligkeit, jetzt unser Dolmetscher zu sein, und werde dich nicht weiter belästigen. Aber andere Mandarinen werden anders denken und sich nicht an dein Gelübde kehren. Sei also von jetzt an vorsichtig, und halte dich besonders von Leuten fern, welche vorgeben, heilige Lamas zu sein! Du könntest sonst leicht in den Verdacht kommen, als Genosse von Männern behandelt zu werden, von denen du behauptest, daß sie dir fremd seien. jetzt kannst du gehen; sage aber vorher diesen Heiligen aus Lhassa, daß ich auch ihnen die Erlaubnis erteile, diesen Tempel zu verlassen!«

Als er das gesagt hatte, erhob sich hinter ihm unter den Priestern, Bonzen und anderen Mandarinen ein unwilliges Gemurmel. Diese Leute waren mit der Entfernung der Lamas nicht einverstanden. Der Ta-sse trat herbei und sagte:

»Ihre junge Würde vergißt, daß ich als Oberer dieses Tempels auch ein Wort mit den Fremden zu sprechen habe. Ich muß mich genau überzeugen, daß sie wirklich heilig sind. Wäre dies nicht der Fall, So hätten sie die Sitze der Götter entweiht, so daß diese nicht wieder darauf Platz nehmen könnten. Ich verlange also, daß die Lamas hier bleiben.«

Der Mandarin gab ihm mit den Augen einen heimlichen Wink, der ihn beruhigen sollte, und antwortete:

»Ich bitte Ihre fromme Würde, ihnen doch das Thor öffnen zu lassen! Wir können ihnen nicht beweisen, daß sie keine Lamas sind, und dürfen sie also nicht belästigen. Uebrigens werden sie täglich nach hier zurückkehren, wobei vollauf Gelegenheit vorhanden ist, mit ihnen zu sprechen.«

Liang-ssi hatte den Einwand des Ta-sse gehört und war stehen geblieben, um die Antwort des Mandarins abzuwarten. Nun, da dieselbe so vorteilhaft ausfiel, wendete er sich an Turnerstick:

»Sie können gehen. Man wird Ihnen sogleich das Thor öffnen. Aber entfernen Sie sich ja so würdevoll wie möglich!«

»Soll nicht an Würde fehlen! Ich werde diesen Leuten mein stolzestes Gesicht schneiden. Kommen Sie, Mijnheer; stehen Sie auf! Ich habe die Komödie satt!«

»Ik ook. Ik wil ook met opstaan en voortgaan; ik heb Honger!«

Er arbeitete sich aus seiner sitzenden Stellung empor und stieg vom Postamente, um hinter Turnerstick nach der Thür zu schreiten.

Jetzt war der entscheidende Augenblick gekommen. Der Methusalem stand hinter dem Gitter, um, vor Erwartung fast zitternd, zu sehen, ob man sie wirklich gehen lassen werde.

Langsam und gemessenen Schrittes, die Häupter hoch erhoben und weder nach rechts noch nach links blickend, bewegten sich die beiden nach der Thür. Der junge Mandarin ließ Turnerstick an sich vorüber, dann aber legte er seine Hand schnell auf den Arm des Dicken und fragte:

»Mijnheer, gij ziit en Nederlander, niet?«

Der Dicke ließ sich übertölpeln. Er blieb stehen und antwortete, freundlich nickend:

»Gewisseglijk, ik ben een Hollander.«

Da stieß der Mandarin ihn zurück, ergriff den Kapitän schnell beim Zopfe, um ihn festzuhalten, und rief den Polizisten zu:

»Laßt niemand fort; sie sind Betrüger! Sie sind Fu-len7) und haben diese heilige Stätte entweiht. Ich arretiere sie!«


1) : Russen.
2) : Der Befehlende.
3) : Gefängnis.
4) : Gefängnisgouverneur.
5) : Generalgouverneur.
6) : Untergouverneur
7) : Holländer.


(Fortsetzung folgt.)



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