Ernste Klänge

Ave Maria - Vergiß mich nicht
von Karl May



Jedermann kennt Karl May als den Schöpfer phantasievoller Reise-Erzählungen, die besonders bei jugendlichen Lesern von jeher Anklang gefunden hatten.

   Karl Friedrich May, geboren 1842 in Ernstthal im sächsischen Erzgebirge, entstammt einer alten Weber-Dynastie. Überdurchschnittliche vielseitige Begabung führte ihn zunächst in den Lehrerberuf, unerquickliche Verhältnisse in der Heimat jedoch und ein angeborener Tatendrang lenkten seine Karriere ab in eine ganz andere Richtung, die niemand erwartet hätte. Nach abenteuerlichen "Lehr- und Wanderjahren", deren ursächlicher Zusammenhang in gewisser pseudologischer Wesensart zu suchen ist, und über die nächst seiner eigenen Selbstbiographie vor allem das "Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1971" informiert, gelangte der junge, begabte May als Redakteur in den Verlag eines Dresdener Wochenblättchens. Von da an datiert sein Ruhm: die Erzählung OLD FIREHAND und damit die erste Winnetou-Geschichte wird im Jahre 1875 gedruckt.

   Weniger bekannt ist freilich die Tatsache, daß May auch hochmusikalisch war. Im Rahmen der Lehrer-Ausbildung besaß er Kenntnisse in Generalbaß und Kontrapunkt. Er hat zeitweilig Gesangvereine und einen Posaunenchor geleitet und im Gottesdienst die Orgel gespielt. In seinem Nachlaß fand sich eine Mappe voll Kompositionen, geschaffen für den Gesangverein Lyra in Ernstthal aus der Zeit um 1864.

   Die ERNSTEN KLÄNGE dagegen entstammen einer späteren Zeit. Der Text des AVE MARIA wurde wohl gedichtet für die Erzählung von Winnetous Tod (vor 1883): Es ist der Gesang der deutschen Siedler, für die der Indianer sein Leben läßt. Die Komposition dagegen fand ihre erste Veröffentlichung in einer Regensburger Wochenzeitschrift Anno 1897. Zu dieser Zeit befand sich Karl May auf der Höhe seines Ruhmes. Diese erste Fassung übrigens ist gesetzt für Männerchor und steht in Es-dur. Erst die im darauffolgenden Jahr in Freiburg bei Fehsenfeld gedruckte Mappe mit dem Titel ERNSTE KLÄNGE bringt das Ave Maria in der B-dur-Fassung für gemischten Chor. In dieser gleichen Mappe wurde ein weiteres Lied abgedruckt, das May an Weihnachten 97 "seinem hochverehrten Herrn Graf von Jankovic" gewidmet hatte: VERGISS MICH NICHT!

   In den "Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 12/1972" weist der Grazer Musiker Horst Felsinger durch Analyse nach, daß besonders in diesem Lied der Dichterkomponist seine Fähigkeit zeigte, einen Text ideal zu vertonen. Die Modulationen, Rückungen und Ausweichungen, die die Tonart D-dur von G bis nach H-dur in Frage stellen, bringen den Gehalt des Textes bestens zum Ausdruck: Vergiß mich nicht, ich steh in dunklem Land.

   In der Beurteilung der schöpferischen Qualität wird man dem Aufsatz Max Finkes im Karl-May-Jahrbuch 1925 nicht widersprechen können: Ein Genie vom Range Bruckners etwa war May gewiß nicht. Vielmehr mag ihm der volksliedhafte Ton Friedrich Silchers vorgeschwebt haben. Und ebensowenig, wie etwa Enrico Caruso der Nachwelt als Karikaturist gelten wird, obgleich er in diesem Fach Beachtliches leistete, wird Karl May als Komponist einzustufen sein. Aber die vorliegende Schallplatte - die just zu seinem 60. Todestag erschien - wird das Bild seiner Persönlichkeit abrunden können. Darüberhinaus ist es die erste ihrer Art, die diese Kompositionen konserviert, und mindestens den dokumentarischen Wert wird kein Sammler von musikalischen Kuriositäten u n d Mayensien ihr absprechen.

Hartmut Kühne


Karl May - Ernste Klänge

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