MobileMenuKarl-May-Gesellschaft → Primärliteratur

Das Winterleben der Pflanze.

Eine herbstliche Naturstudie.

Welch fühlenden Menschen duchrieselte nicht ein wehmütiges, nicht näher zu beschreibendes Gefühl, wenn er, durch einen spätherbstlichen Hain wandelnd, im abgefallenen Laube raschelnd dahin schreitet. Die Zierden der Baumkronen, die Blätter, die, als ob sie ein Geheimniß zu wahren gehabt hätten, sorglich jedem Sonnenstrahl den Eintritt in das Waldesdunkel wehrten, sie liegen jetzt erstorben zu seinen Füßen und die Sonne guckt ungehindert durch die kahlen Reiser, das Geheimniß suchend, welches ja nur so lange bestand, als es gehütet wurde. Eine solche Periode, wo die Zweige kahl in die Luft ragen und für den oberflächlichen Beobachter die ganze Pflanzenwelt abgestorben zu sein scheint, einen solchen Zeitpunkt hielten wir am geeignetesten, die Leser und anmuthigen Leserinnen unserer „Frohen Stunden“ einzuführen in die Winterwerkstatt unserer Mutter Natur, die zwar die Thüren geschlossen hat, um ungestörter zu sein, allein auch gern dem Forscher den Einblick in ihr Wirken gestattet.

Eine Beschreibung des Winters unterlassen wir. Wer kennt die Natur nicht zu jener Zeit, wenn der Hunger selbst die letzten Wegelagerer, Sperling und Krähe, von der tief verschneieten Heerstraße in die Städte und Dörfer getrieben hat, und wenn Fink und Meise auf den kahlen Zweigen des Waldes sich mühsam das Leben fristen?

Und wer sie so sieht, die Natur, und nicht im Stande ist, in ihre geheime Werkstatt zu dringen, der sollte allerdings meinen, sie wäre auf immerdar dahin. Allein sie lebt nicht minder, wie in der warmen Jahreszeit, obschon in der Entwickelung der meisten Pflanzen eine Zeit der Ruhe eingetreten ist, ja, wir dürfen ihren scheinbar todten Zustand nicht einmal einen Schlaf nennen, wenn gleich der Schnee mit Recht als das wärmende Bett der Erde bezeichnet werden muß, wenn gleich die perennirende Pflanze ) im Winter und das schlafende Thier, wie der schlafende Mensch sich auch darin gleichen, daß sie ohne Luft vergehen – sterben.

Und wenn wir überhaupt jemals von der Natur sagen dürfen: sie ruht – so paßt dies am allerwenigsten auf die Winterzeit. Wie die sechs Werkeltage der Woche die Zeit des Broderwerbs für die meisten Menschen sind, die am Sonntage ruhen, sich putzen und sich ihres Lebens freuen, so ist der Winter auch die Zeit der Arbeit, damit sie im Sommer ruhen, sich putzen und sich ihres Lebens freuen kann. Im Winter backt sie das Brot aufs Jahr, d. h. sie richtet die Erde zu schmackhafter Speise auf die Sommerszeit für die Pflanzen her – und Frost, Schnee und Regen sind in ihrer Werkstatt die besten Gesellen.

Der Frost zersprengt das Gestein, und Schnee und Regen -

) perennirende Pflanze – die den Winter überdauert.

Regen verarbeiten es zu lockerer Ackererde. – Aber auch nach außen hin ist ihre Unthätigkeit nur eine scheinbare. Nicht nur Sommerblätter trägt der Baum, er hat auch seine Winterblätter.

Der allgemein verbreitete Glauben, daß die im Herbste sich zeigenden knospenähnlichen Auswüchse an den Zweigen schon für das Frühjahr die Knospen der Blätter seien, ist durchaus irrig. Diese sogenannten Knospen bergen wirkliche Blätter – die Winterblätter – in sich, die, weil sie auf einen so kleinen Raum beschränkt sind, stiellos und auch fast immer formlos oder eiförmig erscheinen, und die der Baum, ähnlich wie im Herbste die Sommerblätter, im Frühjahre, nachdem sie den Knospen dieser noch zur wärmenden Decke gedient haben, ebenfalls abschüttelt.

Dies allein würde genügen, um die Thätigkeit der Natur zur Winterzeit darzuthun, da ohne ein Saftaufsteigen im Baume das Gesagte nicht möglich wäre; aber auch die Bildung einer Winterholzschicht am Baume spricht dafür, und eine bekannte Thatsache ist, daß die Tannenzapfen selbst in der stärksten Kälte reifen. Das Aufsteigen des Saftes ist im Winter nur geringer, ein Gesetz, wovon allein die sogenannten immergrünen Gewächse, wie die Nadelhölzer, das Epheu, Immergrün und ähnliche, auf welche die Jahreszeit fast keinen Einfluß ausübt, eine Ausnahme machen.

Die Grundbedingung des Lebens, die Wärme, ist auch zur Winterzeit nicht völlig aufgehoben, und strömt sie im Sommer der Pflanze vorzugsweise durch die Luft zu, so geschieht dies im Winter durch die Wurzel aus der Erde, wodurch die Temperatur im Innern der Pflanze immer höher ist, als die der sie umgebenden Luft.

Eine Pflanze wird also um so mehr Kälte vertragen können, je tiefer ihre Wurzel in die Erde geht – eine Wahrheit, die jeder Baum bestätigt. Saatfelder z. B. müssen dahingegen durch den Schnee, der die Wärme in der Erde zurückhält, geschützt werden. Geschieht dies nicht, so erfriert die Saat, und um so eher, je weiter in den warmen Tagen des Winters die Anlage der künftigen Aehre, ein am Saamen sich bildendes cylindrisches Zäpfchen, gediehen ist.

Um das Erfrieren einer Pflanze sich klar zu machen, ist es nöthig, näher auf das Wesen derselben einzugehen. Ein Hauptbestandtheil derselben, das Stärkemehl, geht bei der Pflanzenentwickelung allmählich zuerst in Zucker, dann in Gummi (Dextrin), dann in Cellulose (Faser), und so in Holz über. Das Holz ist die höchste und letzte Stufe; und nie erfriert der holzige, sondern immer nur der junge, noch unverholzte Theil.

Diese Umwandelungen des Stärkemehls in Zucker u. s. w. bis zum Holz gehen dadurch vor sich, daß das Mischungs-Verhältniß der gemeinschaftlichen Urstoffe dieser Körper, Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, – und die letzten Beiden, -

Beiden, die Bestandtheile des Wassers, in dem Verhältniß wie sie Wasser bilden, darin vorhanden – sich ändert, und zwar so, daß in ihnen, die natürlich eben so wohl auch als Verbindungen des Kohlenstoffs mit Wasser angesehen werden können, die Menge des Wassers verschieden ist. Das Stärkemehl verliert beim Gefrieren, wobei die Körnchen, aus denen es besteht, zerreißen, Wasser, aber zu viel, um noch die Zwischenstufen bis zum Holze bilden zu können. Durch das Gefrieren ist seine Zusammensetzung der des Holzes nahe gekommen. Es kann jedoch, ohne die Zwischenstufen durchgemacht zu haben, nicht in Holz übergehen, und hat mithin die Fähigkeit zu weiterer pflanzlicher Entwickelung verloren. Durch die chemische Zersetzung auf dem Wege des Gefrierens ist also das fernere Leben der Pflanze unmöglich geworden – und nun sagen wir: die Pflanze ist erfroren.

Eine allgemein bekannte Erscheinung an den meisten erfrorenen Pflanzentheilen, wie z. B. am grünen Kohl, an der Kartoffel ist ein süßer Geschmack. Dieser rührt von einem Gehalt an Zucker her. Es enthält nämlich das Stärkemehl der Pflanzen in seinen Körnchen meistens schon Zucker vorgebildet. Beim Zerreißen derselben wird dieser frei, und den Geschmacksorganen zugänglich, d. h. er verräth sich durch den süßen Geschmack. Daß die erfrorene Kartoffel zur Spiritusfabrikation sehr wohl, nicht aber die aufgethauete, sich eignet, hat darin seinen Grund, daß jene sehr rasch in Gährung übergeht, in dieser aber schon zum Theil die letzten Stadien derselben, die saure und die faule, eingetreten sind, welche die Bildung des Spiritus nicht mehr zulassen.

Eine andere Erscheinung, der wir hier Erwähnung thun müssen, ist das „Knacken der Bäume“ zur Winterzeit, einem Jeden bekannt, der bei strenger Kälte Abends oder Nachts durch einen Wald ging. Man sagt gewöhnlich von ihr: die Zweige können die Schneelast nicht tragen – aber man kann dieselbe Erscheinung zu einer Zeit wahrnehmen, wo die Zweige alles Schnees bar sind. Es rührt von einer Sprengung -

Sprengung der Pflanzentheile her. Die Spalten, am Baumstamme spiralig hinlaufend, die wir so häufig und vorzugsweise an den Eichen finden, und die so vielfach bald zum Hohlwerden und Faulen der Bäume, bald, wie z. B. bei den Kirschen, zu Gummiausflüssen im Sommer, woran sie sterben, beitragen, entstehen beim „Knacken“.

Die äußern Holzschichten des Baumes erfrieren sehr bald, während die inneren, wie schon gesagt, je nach dem Tiefgehen der Wurzel eine höhere Temperatur behalten. Wie in der Kälte nun jeder Körper bis zu einem bestimmten Grade sich zusammenzieht, und in der Wärme sich ausdehnt, so müssen die inneren ausgedehnten Holzschichten sich gewaltsam Raum machen, und die äußere, zusammengezogene durchbrechen, was mit dem Geräusch des „Knackens“ geschieht. Daß aber nicht alle Bäume und Sträucher diesem Zerreißen ausgesetzt sind, hat darin seinen Grund, daß nicht alle Pflanzensäfte bei gleichem Kältegrade gefrieren, wie z. B. die harz- und salzreichen viel später, als die wässerigen. – Müssen wir nach dem Gesagten annehmen, daß das Leben der perennirenden Gewächse durch die Wärme bedingt ist, die sie mittelst der Wurzel aus der Erde aufnehmen, so müssen wir doch auch eine Wärme der Pflanzen annehmen, die ihnen eigenthümlich ist, denn nur dadurch läßt sich unter anderem das Blühen der Christwurz (Helleborus niger) zur Winterzeit, und selbst unter dem Schnee, erklären.

Glauben wir nun jetzt schon, die Leser überzeugt zu haben, daß, wie in der Natur überhaupt, so auch im Pflanzenleben zur Winterzeit kein Stillstand eintritt, so würde es uns ein Leichtes sein, auch den geringsten Zweifel zu beseitigen, dürften wir das reiche Leben der Zellenpflanzen, wie einiger Pilze, Flechten und Moose, im Winter, wo diese eine schöne Blüthenbrücke zwischen dem Herbst und Frühling bilden, vor ihren Augen entfalten. Leider aber erlauben dies der Raum und die Tendenz unseres Blattes nicht.