Diese seltsame Anordnung der Felsen, Mauern, Durchbrüche und Kanäle hatte aber noch einen zweiten Grund, der mit dem Innern des Engels in Beziehung stand. Es gab noch einen andern Druck, dessen Wirkung hierdurch genau geregelt und dessen Gefährlichkeit in Nutzen verwandelt werden sollte. Diese Felsenfächer und Felsenkulissen bildeten nämlich die berühmte und zugleich sagenhafte >Wasserscheide von El Hadd<, und im Innern des Engels lag für die wenigen berufenen Hände, die es gab, der Schlüssel, dieses Geheimnis in Wirkung treten zu lassen. Es war mir beschieden, das sehr bald zu erfahren.

Wir hatten unsere Pferde angehalten und sogen dieses köstliche Bild nicht nur in unsere Augen, sondern noch viel, (Seite 317B) viel tiefer auch in unsere Seelen ein. Die Sonne war im Scheiden. Sie hatte nur noch drei oder vier ihrer Durchmesser niederzusteigen, um dann im See zu verschwinden. Schon begannen einzelne Funken, über das klare, unbewegliche Kristall der Oberfläche zu zucken. Die Atmosphäre aber war bewegter als das Wasser. Das sahen wir an einem weißen Doppelsegel, welches, aus Nordwest kommend, sich näherte. Das Boot, welches von diesen beiden Segeln getrieben wurde, lag in ruhiger Fahrt ein wenig auf die Seite geneigt. Wie groß es war und wen es trug, das konnte man noch nicht sehen; aber Bug und Heck waren fremdartig hoch erhoben, und in dem Leinen zeigte sich nicht die geringste Spur eines Fleckes oder einer durch Gewalt erzwungenen Naht.

Wir waren vor Erstaunen und Bewunderung still gewesen; keiner hatte ein Wort gesprochen. Jetzt aber sagte der Schech el Beled, indem er nach dem Boote deutete:

"Wie pünktlich! Unendlich pünktlich! Sie liebt es, daß auch wir es sind! Sie kommt!"

"Wer?" fragte Halef.

"Du wirst Dich wundern," antwortete der Schech, ohne einen Namen zu nennen, aber seine Stimme klang sehr froh bewegt. "Dort bringt man schon die Pferde. Man hat sie kommen sehen. Sie lieben nicht die Sänfte; sie reiten beide gern."

Man brachte zwei köstliche Schimmel aus dem Schlosse, welche Damensättel trugen.

"Wir reiten mit, sie zu empfangen. Kommt!" forderte uns der Schech auf, indem er sich in Bewegung setzte.

Wir folgten ihm, und sämtliche Lanzenreiter kamen hinter uns her. Das sah aus, als gelte es, eine Fürstin zu empfangen. Wir ritten zunächst nach der Mitte des Schloßplatzes, von wo aus der breite Hauptweg des Kanal- und Gärtenfächers in schnurgerader Linie hinaus nach dem Landungsplatze führte. Dort angekommen, sahen wir, daß das Boot Veranstaltung traf, die Segel fallen zu lassen. Dies geschah. Nun sahen wir vier Personen, zwei Männer und zwei Frauen. Die Männer banden das Leinen fest und griffen dann zu den Rudern. Von den Frauen saß die eine am Steuer. Die andere stand hoch aufgerichtet vorn am Buge und gab an, zwischen welchen Felsen, Kanten und Klippen nach dem Landungsplatze zu steuern sei. Sie war ernst und dunkel gekleidet, aber ein weißer Schleier wehte von ihrem Haupte, und ihr Haar hing vorn in zwei silberhellen Zöpfen fast bis zur Erde herab.

"Maschallah!" rief Halef aus. "Ist das eine Vision? Oder ist es Wahrheit? Effendi, siehst Du sie?"

"Marah Durimeh!" antwortete ich.

"Und Schakara am Steuer! Erkennst Du sie?"

"Ja; sie ist es!"

Was ich empfand, war nicht Überraschung, sondern es war mehr, viel mehr. Doch behielt ich es still im Innern. Sie kamen. Sie legten an. Sie stiegen aus. Der Schech el Beled griff dabei nach Marah Durimehs Hand, um sie zu stützen. Ich tat dasselbe bei Schakara.

"Kommen wir zur rechten Zeit?" fragte mich die letztere.

"Wenn Ihr zugleich mit uns hier eintreffen wolltet, dann ja," antwortete ich.

Sie war so ernst und doch so seelenlieb. Sie hatte das Boot gesteuert und besaß doch die guten, weichen Augen eines Kindes, welches noch nichts von Schicksalswillen und Schicksalslenkung weiß! Marah Durimeh reichte mir ihre Rechte, begrüßte mich mit einem Kusse auf die Stirn und sprach:

"Wem mein Erscheinen hier ein Rätsel ist, dem wird es sich bald lösen. Wir reiten direkt zum Engel."

Der 'Mir von Ardistan stand unbeweglich da, kein Auge von ihr verwendend. Er machte den Eindruck eines Mannes, der fast nicht wagte, Atem zu holen. So tief fühlte er sich von der Erscheinung meiner königlichen Freundin ergriffen. Er kam in Bewegung, als sie zu dem für sie bestimmten Pferde trat. Da eilte er hin, kniete vor ihr nieder und bot ihr Hand und Schulter an, sich in den Sattel zu schwingen. Sie tat dies mit jugendlicher Behendigkeit und sagte dann zu ihm:

"Ich danke Dir! Kommt beide mir zur Seite, Du und der Schech! Machen wir einen Umweg! Wir reiten ein Stück am Wasser hin, und Ihr erstattet mir Bericht." Und den (Seite 318A) Lanzenreitern befahl sie: "Eilt zur Herrin, und meldet ihr, daß ich angekommen bin!"

Dann zügelte sie ihren Zelter nach West, der untergehenden Sonne entgegen, die jetzt dem Horizonte so nahe stand, daß strahlende Feuergarben über das Wasser zuckten und der ganze dortige Himmel in Flammengluten stand. Schakara ritt zwischen dem Dschirbani und mir. Halef und der Scheik der Ussul kamen hinter uns. Wir folgten dem Ufer in langsamem Schritt. Der Schech el Beled erzählte. Marah Durimeh hörte zu. Der 'Mir von Ardistan sagte fast kein Wort. Es war, als ob ein vollständig überwältigendes Gefühl oder eine Art Zauber ihn umfange. Auch der Dschirbani war still. Wir standen ja alle jetzt unter der außerordentlichen, seltsamen Empfindung, als ob hier oben auf dieser Höhe die Grenzen der Gewöhnlichkeit überschritten seien und nur noch Erstaunlichkeiten oder gar Wunder sich ereignen könnten. Der Schech el Beled faßte sich kurz. Darum hatte er seinen Bericht soeben beendet, als die Sonne verschwand und das strahlende Gold sich in glühendes Rot und abschiednehmendes Violett zu verwandeln begann. Da lenkte Marah Durimeh dem Schlosse zu, indem sie sagte:

"So weiß ich nun, was geschehen ist. Es war grad so und nicht anders vorauszusehen. Die Zeit dieser Menschen ist dahin. Sie verschwindet, wie die Sonne da vorn verschwunden ist und wie die letzten Farben des irdischen Himmels verschwinden werden. Zwar kommt morgen ein neuer Tag, unaufhaltsam und unwiderstehlich, aber er ist ein ganz anderer Tag als der heutige. Die Erde sehnt sich nach Ruhe, die Menschheit nach Frieden, und die Geschichte will nicht mehr Taten der Gewalt und des Hasses, sondern Taten der Liebe verzeichnen. Sie beginnt, sich ihrer bisherigen rohen, blutigen Heldentümer zu schämen. Sie schmiedet neue, goldene und diamentene Reifen, um von nun an nur noch Helden der Wissenschaft und der Kunst, des wahren Glaubens und der edlen Menschlichkeit, der ehrlichen Arbeit und des begeisterten Bürgersinnes zu krönen. Die Gewalt herrsche nur noch heut, länger aber nicht. Es sei ihr nur noch diese eine Nacht vergönnt, die Seelen der Menschen zu erschrecken und zu quälen, wie das Wölkchen, welches sich dort von Norden her über den See uns nähern will, seine Blitze und Donner nur bis gegen Mitternacht versenden wird. Schon morgen früh aber sollen diese Menschen aufatmen und jubeln, wie hoch über uns das Wort Gottes in der Bibel jubelt: Der gestrige Tage ist vergangen; es ist alles neu geworden!"

Das Wölkchen, nach dem sie mit der Hand deutete, war in dem Augenblicke des Sonnenunterganges entstanden und schien sich schnell vergrößern zu wollen. Es lag in ihm mehr Bewegung, als in der Atmosphäre rundum. Wir ritten nach dem Schlosse, kamen an seinem westlichen Flügel vorüber und blieben vor dem hohen, breiten Postamente des Engels halten. Es führte eine Freitreppe hinauf, zu deren beiden Seiten die Lanzenreiter Aufstellung genommen hatten. Oben an der letzten Stufe stand eine Frauengestalt in weißem Gewande. Ihr Angesicht war, genau wie das des Schech el Beled, von einem blauen Schleier verhüllt.

"Die Schloßherrin!" sagte Schakara zu mir.

Marah Durimeh winkte mit der Hand hinauf und rief ihr freudig zu:

"Wir kommen schnell! Und wir kommen gern! Sei gegrüßt!"

Sie stieg an der Hand des rasch abgesprungenen 'Mir von Ardistan vom Pferde und schritt die Treppe empor, jugendlich leicht, und dennoch mit der gewohnten Würde einer Herrscherin. Wir folgten ihr. Die drei Frauen umarmten einander. Der Schleier wurde zum Kusse nur ein wenig gelüpft. Als wir oben ankamen und der Schloßherrin gegenüberstanden, nannte ihr der Schech el Beled unsere Namen. Sie begrüßte uns mit der Hand und sprach einige kurze, freundliche Worte. Es ging von ihr ein feiner, süßer Duft aus, ähnlich dem Dufte der Kätzchenblüten zur Osterzeit, wenn sie an Altären die Palmenweihe erhalten. Als der Dschirbani diesen Duft verspürte, zuckte er zusammen. Er machte eine Bewegung, als ob er zu ihren Füßen niederknien wolle; da aber kam Marah Durimeh ihm schnell zuvor. Sie nahm die Schloßherrin bei der Hand, schritt mit ihr nach der Vorderseite des Engels und sagte:

(Seite 318B) "So kommt, und laßt uns nach den Ebenen schauen und nach den Menschen, die Frieden und Segen von uns erwarten. Noch ist es hell genug, die Hilfe kommen zu sehen, die ihnen der >Engel der Wasserscheide< spendet. Inzwischen mögen die Offiziere der Lanzenreiter die Treppe öffnen."

Ich wollte mitgehen, blieb aber stehen, als ich sah, daß der Dschirbani wie gebannt an seiner Stelle verharrte.

"Fasse Dich!" bat ich ihn. "Es kommt so, wie es kommen muß."

"Dieser Duft, dieser Duft! Und diese Stimme!" sagte er. "Vor allen Dingen aber dieses mächtige Ahnen meines Innern, also meiner Seele! Glaubst Du, daß dieses Ahnen mir die Wahrheit sagt?"

"Ich glaube es," antwortete ich.

"Aber dann wäre der Schech el Beled - - -! Er ist doch wohl der Herr des Schlosses?"

"Jedenfalls."

"Und sie die Schloßherrin?"

"Ja."

"Aber dann wäre er doch mein - - mein - - mein -"

Er konnte seiner Vermutung nicht weitere Worte geben, weil die Offiziere kamen, um die Stelle, wo man hinunter in das Innere des Postamentes stieg, zu öffnen. Das geschah genau in derselben Weise wie bei dem Engel der >Stadt der Toten< und des Engpasses Chatar. Nicht lange, so kam Marah Durimeh zurück und stieg, von uns begleitet, hinab. Die Einrichtung des oberen Gemaches war dieselbe wie bei den soeben genannten beiden Engeln. Es gab dasselbe Räderwerk, aber viel, viel größer und stärker, und keine Schöpfgefäße und Tröge. Auch gab es zwei Türen rechts und links in den Mauern. Sie schienen nach dem Innern des Schlosses zu führen. Und die Außenwand war nicht geschlossen, sondern weit und hoch geöffnet. Es drang eine Fülle des Lichtes herein, und draußen setzte sich der Fußboden in einem breiten, geräumigen Söller fort, der zum Schutz für die Hinabschauenden mit einer hohen, starken Brüstung versehen war. Marah Durimeh schien dieses Gemach, welches außerordentlich sauber gehalten war, zu kennen. Sie berührte den Doppelgriff des Rades und nickte sehr ernst dazu. Dann trat sie hinaus auf den Altan. Wir folgten ihr.

Wir befanden uns in schwindelnder Höhe. Unter uns gähnte die Tiefe des Kessels. Aber das besorgte Auge wurde durch den Anblick der Häuser und Gärten sofort beruhigt. Auf den Straßen und Plätzen der Stadt herrschte festtägige Bewegung. Die >Pantherfalle< hatte, von hier oben aus gesehen, die Größe von nur einigen, wenigen Sträuchern. Ein paar Leute des >Panther<, die außerhalb dieser Büsche standen, waren jetzt nur kleine Punkte, die hinweggeschwemmt werden sollten. Das Land senkte sich, so weit das Auge reichte, unaufhörlich nach Süden. Es schien ein Paradies zu sein und harrte doch der Erlösung von der Dürre. Am Himmel floh das verschwindende Abendrot vor den dunkleren, östlichen Tinten. Grad über uns stand jetzt plötzlich eine große, weiße Wolke, in der es innerlich wallte. Das konnte doch nicht schon das Wölkchen sein, auf welches Marah Durimeh gedeutet hatte! Da klangen die Glocken einer Kirche von unten herauf zu uns, noch einer und noch einer. Marah Durimeh faltete die Hände.

"Laßt uns beten!" forderte sie uns auf. "Gib Frieden, Herr, gib Frieden! Dieser Erde, diesen Menschen, uns allen! Allen denen, die nach uns kommen, und," fügte sie hinzu, "auch allen denen, die vor uns waren! Der Strom Deines Friedens, Deines Segens ist von neuem erwacht. Er ergieße sich von heute an über alle, die da leben und leben werden, damit, wenn sich Dein Paradies bald morgen oder übermorgen öffnet und die allhundertjährige Engelsfrage in die Ohren und Herzen aller Irdischen schallt, die Antwort ertönen darf: Ja, es ist Friede auf Erden; Gott aber sei Ehre, Ruhm und Preis!"

Die Glocken erklangen weiter, und auch Marah Durimehs Gebet wirkte in uns weiter. Wir beteten still nach innen hinein. Ein jeder von uns machte seine persönliche Abrechnung mit sich selbst, mit der Menschheit, mit dem Geschick, mit dem Leben. Darauf richtete Marah Durimeh ihre Worte an den Schech el Beled:

"Nun an das Rad! Du und der 'Mir von Ardistan!"

(Seite 319A) Sie folgten dieser Aufforderung, der Schech schnell und bewußt, der 'Mir aber langsam, wie ein Träumender.

"Es darf keine Speiche dieses Rades bewegt werden, ohne daß der 'Mir von Dschinnistan es gestattet," fuhr sie fort. "Weiß er von heut?"

"Er weiß alles und billigt es," antwortete der Schech, und es klang, als ob er dabei lächle.

Auch über ihr liebes, schönes, altes und doch so junges Gesicht zuckte eine kleine, kaum bemerkbare Schalkhaftigkeit, worauf sie, schnell wieder ernst, befahl:

"So beginne Du! Der 'Mir von Ardistan aber helfe!"

Die beiden gehorchten. Das Rad drehte sich, ganz leicht, ohne alles Geräusch, als ob es sich nur um etwas Kleines, Gewöhnliches handle.

"Komm, und sieh!" flüsterte Schakara mir zu.

(Seite 319B) Sie nahm meine Hand und führte mich hinaus auf den Söller. Ich schaute hinab. Welch ein Wunder! Ganz unten, auf dem Grunde des Kessels, brachen jetzt plötzlich unter den Aquädukten schäumende Wasserwogen hervor, deren Masse sich vergrößerte, je weiter man hier oben am Rade drehte. Noch klangen die Glocken. Sie wurden aber von dem brausenden Jubel übertönt, der von allen Lippen der Bewohner von El Hadd erschallte.

"Noch ist es Zeit, innezuhalten," sagte Marah Durimeh; "dann aber können wir nicht mehr zurück. Sind die Menschen wirklich gewarnt? Wenn nicht, so muß dieser Strom Verderben bringen anstatt Segen."

"Sie sind gewarnt," antwortete der Schech. "Ich habe den Befehl dazu schon am Dschebel Allah gegeben, und schneller, als das Wasser ist, haben unsere Posten die Kunde bis in das (Seite 320A) Land der Ussul getragen. Hier in El Hadd aber weiß jedermann, was heut und morgen geschieht. Nur der >Panther< weiß von nichts!"

"So führt das Werk zu Ende!"

Das Rad bewegte sich weiter, und der Doppelstrom, der sich in das Felsen Becken ergoß, wurde immer mächtiger. Ein tiefes, eintönig-mächtiges Brausen drang zu uns herauf. Es vergingen Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Da meldete der Schech:

"Fertig! Das Rad steht!"

"So stehe es von jetzt an bis in Ewigkeit, nach irdischer Zeit gerechnet!" sprach Marah Durimeh. "In diesem Augenblick ist der Schwur von Dschinnistan gelöst. Die Eltern dürfen sich dem Sohne zeigen. Laßt froh die Schleier fallen!"

Ich schaute noch in die Tiefe hinab, als ich diese Worte hörte. Man sah die Wasser nicht mehr; man vernahm nur noch ihr Brausen. Das Dunkel des Abends kam emporgestiegen.

"Komm!" bat Schakara.

"Wohin?" fragte ich.

"Nach dem Schlosse. Wir wollen hier nicht stören. Diese heiligen Augenblicke sind nicht unser Eigentum."

Sie nahm mich wieder bei der Hand und führte mich vom Söller durch den Raum nach einer der erwähnten beiden Türen, die sie öffnete. Im Vorübergehen sah ich, daß die Schloßherrin sich soeben entschleierte. Ich erkannte das Gesicht, welches ich in der >Dschemma der Toten< beobachtet hatte.

"Mutter!" rief der Dschirbani, indem er die Arme ausbreitete, um auf sie zuzueilen.

Sie deutete nach dem Schech el Beled, der soeben auch den Schleier von sich warf.

"Vater, mein Vater!" jubelte der Dschirbani.

Mehr aber hörte und sah ich nicht, denn Schakara zog mich hinter sich her, durch zwei verdeckte Gänge, eine Treppe empor, wieder einen Gang und wieder eine Treppe, bis wir auf Dienerschaft trafen, von der wir zurechtgewiesen wurden. Schakara war, ebenso wie ihre Herrin, hier bekannt. Der Schech el Beled hatte auf dem geraden Wege, noch ehe wir von demselben in westlicher Richtung abgewichen waren, um nach dem Flusse zu reiten, einen Boten nach dem Schlosse von El Hadd gesandt, um unsere Ankunft anzusagen und unsere Zimmer vorbereiten zu lassen. Man wußte also, wo Schakara und auch wo ich wohnen sollte. Es wurden mir zwei Räume gegeben, neben denen auch zwei für Hadschi Halef lagen. Ich hatte einen großen, überdeckten Balkon nach Süden zu, also nach der Stadt. Die Einrichtung war orientalisch und ebenso reich wie bequem. Man fragte mich, ob ich essen wolle, und ich genierte mich gar nicht, ja zu sagen. Ich bestellte sogar für meinen kleinen Halef mit, weil ich mir sagte, daß zu einem vereinten, langewährenden und offiziellen Abendessen heute wohl keine Stimmung sei. Ein jeder hatte zunächst mit sich selbst und mit dem, was ihn besonders berührte, zu tun. Den Eltern, die sich soeben erst ihrem Sohne hatten offenbaren dürfen, konnte man nicht zumuten, diesen Abend für andere zu verwenden.

Bevor man mir das Essen brachte, bekümmerte ich mich um unsere beiden Pferde. Sie waren bei den Vollblutlieblingen des Schech el Beled untergebracht und befanden sich in bester, aufmerksamster Pflege. Als ich mich dann zum Abendbrote niedergesetzt hatte, stellte sich der Hadschi ein. Er glänzte vor Glück und Freude.

"Effendi," sagte er, "heute ist einer der schönsten Tage, die ich erlebte. Wie schade, daß Du gingst! Wärest Du geblieben, so hättest Du gesehen, daß - - -"

"Daß Du einer der rücksichtslosesten und ungezogensten Menschen bist, die es gibt!" fiel ich ihm in die Rede.

"Was? Wie? Rücksichtslos und ungezogen? Willst Du mich beleidigen?"

"Nein, sondern nur aufmerksam machen und unterrichten. Wo solche Dinge geschehen, ist es nicht Sitte, stehen zu bleiben und sich als mit zur Familie gehörig zu betrachten!"

"Was für Dinge? Was für eine Familie? Meinst Du etwa, daß ich nicht wissen dürfte, was da gesprochen wurde und wie zärtlich die drei miteinander waren?"

"Ja, das meine ich, eben das!"

(Seite 320B) "Aber ich bin doch ihr Freund! Ich bin doch Hadschi Halef Omar, der oberste Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar!"

"Das zu sein, ist in diesem Falle nichts, gar nichts! Denke Dir, Du seist mit Hanneh, Deinem Weibe, über zehn Jahre lang von Kara Ben Halef, Deinem Sohne, getrennt gewesen, und grad in dem Augenblicke, wo Ihr ihn wiederfindet und Eure Herzen vor Wonne überfließen, stellt sich jemand hin und paßt genau auf, was Ihr sagt, was Ihr tut und wie Ihr Euch benehmt!"

"Das kann er; das darf er; das soll er! Denn erstens fällt es uns gar nicht ein, uns zehn Jahre lang voneinander zu trennen, und zweitens werden wir uns dann beim Wiedersehen so benehmen, daß jedermann dabeistehen kann, um sich zu überzeugen, was wir sagen und was wir tun."

"Blieb denn der 'Mir von Ardistan auch stehen?"

"Nein, der ging auch."

"Und der Scheik der Ussul?"

"Als der sah, daß der 'Mir sich entfernte, folgte er ihm."

"Nur Du bliebst also stehen?"

"Nein! Nicht ich allein, sondern auch Marah Durimeh! Und diese ist nicht nur Dein Vorbild, sondern auch das meinige. Was sie tut, darf getrost auch jeder andere tun! Und, Effendi, Du gingst doch wohl mit Schakara hinaus?"

"Allerdings."

"Sie ging voran, Du hinterher?"

"Ja."

"Und sie hatte Dich dabei an der Hand?"

"Ja."

"Du gingst also nicht hinaus, sondern Du wurdest hinausgeführt oder gar hinausgebracht. Sag die Wahrheit! Von wem ist die Aufforderung ausgegangen, den Raum zu verlassen? Von Dir oder von ihr?"

"Von ihr!"

"Schön! So bist Du erwischt; so bist Du ertappt; so bist Du verurteilt und überführt! Wenn Schakara Dich stehen lassen hätte, so ständest Du höchst wahrscheinlich jetzt noch dort und gingst nicht von der Stelle! Mich aber nennst Du rücksichtslos und ungezogen. Daß ich das nicht bin, sondern daß man ganz im Gegenteile meine gute Erziehung und meine Verdienste anerkennt, magst Du daraus ersehen, daß ich von der Schloßherrin in eigener Person bis hieher vor diese Tür gebracht worden bin. Und nun Du offenbar unrecht hast, laß uns wieder einig sein und miteinander essen!"

Nach dem Essen setzten wir uns hinaus auf den Balkon. Das Wasser rauschte nicht mehr so stark herauf wie vorher. Es hatte den Boden des Kessels ausgefüllt und stieg nun immer stiller und stiller. Der Himmel sah aus wie ein schwarzes Tuch, welches bis auf die Dächer des Schlosses niederhing. Die Lichter der Stadt schimmerten nur wie kleine, verschwindende Pünktchen zu uns herauf. Plötzlich strich ein so starker Windstoß an uns vorüber, als wolle er uns hinunter in die Tiefe fegen. Ihm folgte ein Blitz, ein Krach und ein dröhnendes Rollen, nach dem sofort ein starker, schwer aufschlagender Regen niederstürzte.

"Marah Durimeh hatte recht," sagte Halef. "Das Unwetter ist da. Gehen wir hinein!"

Kaum hatten wir dies getan, so begann es draußen derart zu wüten und zu toben, zu rasseln und zu prasseln, daß es unmöglich war, unsere eigenen Stimmen zu hören. Blitz folgte auf Blitz, Schlag auf Schlag, als dürfe nicht die geringste Pause zwischen ihnen liegen. Der fallende Regen war schon mehr eine stürzende Flut. Es war, als ob das Schloß in allen seinen Grundfesten erbebe. Ein ängstliches Gefühl ließ jedermann wünschen, nicht allein zu sein. Darum fanden wir es begreiflich, daß ein Diener kam, der uns meldete, in welchem Raume unsere Gefährten auf uns warteten.

Es war ein ziemlich großer, hell erleuchteter Saal. Wir fanden da den 'Mir von Ardistan, den Scheik der Ussul, seinen braven Unteranführer Irahd und einige höhere Offiziere der >Schwarzgewappneten< und der Lanzenreiter. Diese letzteren hatten Dienst für die ganze Nacht. Kalte Speisen waren aufgetragen, nach Belieben davon zu nehmen. Frauen sahen wir (Seite 321A) keine. Zuweilen kam der Schech oder der Dschirbani herein, doch nur für kurze Zeit. Der letztere zog mich an sich und küßte mich auf die Wange, gab aber seinem Glücke keine Worte, die doch nur schwer zu hören gewesen wären.

So ging es bis fast eine halbe Stunde vor Mitternacht. Da gab es noch eine alle möglichen Detonationen zusammenfassende Entladung, wie ich wohl noch niemals eine erlebt hatte, und dann war es plötzlich still, so still, daß ich den 'Mir von Ardistan, der in diesem Augenblicke neben mir stand, vernehmlich atmen hörte.

"Allah 'l Allah!" sagte Halef. "Wieder hat Marah Durimeh recht. Es ist vorüber. Kurz vor Mitternacht!"

Wir horchten hinaus und hinunter. Es fiel kein Tropfen mehr. Der Himmel war noch dunkel, aber hoch, nicht mehr so niedrig. Aus der Tiefe klangen jammernde Töne. Einzelne Schreie stiegen empor, scharf, angstvoll, wie in höchster Not und Gefahr. Kam das vom >Panther< und seinen Leuten? Er hatte doch behauptet, daß er den Tod nicht fürchte! Da kam der Schech, um uns zu sagen, daß die Frauen in einem andern, nach dem See hinaus liegenden Saale auf uns warteten. Wir machten ihn auf die Hilferufe aufmerksam, die wir hörten. Er antwortete:

"Bitte, sorgt Euch nicht um diese Menschen, denen Gott mit Donner und Blitz und vernichtenden Wogen kommen muß, um den letzten Rest von Herz in ihnen zu rühren! Der Hafen ist eng umstellt. Man hält scharfe Wacht. Hat die Not den Grad erreicht, auf den ich warte, wird es uns gemeldet werden. Jetzt kommt!"

Wir folgten ihm nach einem Saale, von dessen Größe und Beschaffenheit wir nichts sehen konnten, weil er vollständig unerleuchtet war. Aber der Türe gegenüber, durch welche wir eintraten, gab es einen lichten, von senkrechten Säulen durchbrochenen Streifen, auf welchen zu wir uns bewegten. Das war eine offene Galerie, auf der die Frauen mit dem Dschirbani soeben erst Platz genommen hatten. Von dort aus verwandelte sich der helle Streifen für uns in den See und die auf ihm ruhende Atmosphäre. Nach dieser Seite hin war der Himmel schon nicht mehr schwarz. Er begann, sich aufzuklären. Er zeigte bereits Konturen. Das waren die Konturen der Vulkane von Dschinnistan. Sie waren nicht dunkel, sondern hell liniert. Und diese Linien gingen nach und nach in die Breite. Sie verwandelten sich in Flächen, Kuppen, Gipfel, Scheitel und Spitzen, die im Begriffe standen, zu erröten und zu glühen.

"Setzt Euch zu uns und seht, wie die alte Paradiesessage sich verabschiedet" forderte Marah Durimeh uns auf. "Sie geht, um der Wirklichkeit Platz zu machen. Die Mitternacht ist vorüber; der neue Tag beginnt. Ich ahne, daß heut der Dschebel Muchallis seine unhörbare, aber leuchtende Stimme erhebt, um uns zu sagen, daß das Begonnene sich vollendete und das Gehoffte sich erfüllte. Man sagt, er glühe nur ein einziges Mal, von Mitternacht bis zum Morgen; dann sei für jeden, der es sieht, der Friede auf Erden und der Friede mit Gott gekommen. Seht! Schon bildet sich das Paradies!"

Es zeigten sich jene Lichterscheinungen, die ich vom Tempel der Ussul aus zuerst gesehen hatte. Sie entwickelten sich in genau derselben Reihenfolge und genau derselben Weise, ein Beweis, daß die Kräfte und Gesetze, denen sie ihre Entstehung verdankten, immer genau dieselben waren. Aber der Schluß gestaltete sich heut ganz anders als bisher. Daher war es plötzlich dunkel, vollständig dunkel rundum.

"Jetzt, jetzt entscheidet es sich!" sagte Marah Durimeh mit fast bebender Stimme, indem sie die Hände faltete. "Wird er sich zeigen oder nicht?"

Es vergingen mehrere lange, sehr lange Minuten. Unsere Blicke waren erwartungsvoll nach Norden gerichtet; aber wir sahen nichts, gar nichts. Dennoch rief Marah Durimeh jetzt:

"Er kommt! Er kommt! Da ist er!"

"Wo, wo?" fragten wir andern, weil sich unsern Augen noch immer nichts bot.

"Höher, höher!" belehrte sie uns. "Fast über Euch!"

Und nun ereignete sich, was mir vorher nur ein einzigesmal, aber fast in derselben Weise begegnet war, nämlich im Lauterbrunnertal, beim Alpenglühen, wo ich den Gipfel der Jungfrau (Seite 321B) zuerst nicht fand und nicht sah, weil er nicht da, wo ich ihn suchte, sondern scheinbar grad über meinem Kopf erglänzte. So auch hier im Schlosse von El Hadd. Nämlich wenn auch nicht ganz, aber doch so ziemlich, natürlich nur scheinbar, zu unsern Häuptern, erschien eine erst dämmernd und dann fast hell strahlende Bergeskuppe, deren goldenen Konturen langsam abwärts liefen und sich wie niederfallende Feuerwerksfäden verzweigten, um die ganze plastische Gestalt dieses Berges zu zeichnen und aus dem nächtlichen Hintergrund hervorzuheben. Die lichtlosen Felder, die zwischen diesen goldenen Umrissen lagen, wurden nach und nach ausgefüllt, und zwar auch von oben herab, von Farben, die nicht der Erde, sondern einer ganz andern Welt zu entstammen schienen, so daß ich, ohne es zu wollen, ausrief:

"Wie ein Alpenglühen im Himmelreich!"

"Fast richtig, fast!" antwortete Marah Durimeh. "Das ist er; ja, das ist er, der herrliche Dschebel Muchallis, der Traum meiner Jugend, die Hoffnung meiner Jahre, die letzte Stufe, von welcher aus ich hinüberzugehen wünsche zu den Seligen auch der andern Gotteswelten! Er erscheint um Mitternacht und glüht bis gegen Morgen. So spricht die Sage, und so wird es heut sein. Sitzen wir still, und sprechen wir nicht!"

Das geschah. Wir saßen eine Stunde und dann fast noch eine zweite. Nur zuweilen stand jemand auf und schritt für kurze Zeit in den dunklen Saal hinein, um vom Schauen und Denken auszuruhen. Draußen aber war es nicht mehr dunkel, sondern da lag, soweit man sehen konnte, ein helldämmernder, farbiger Schein, wie wenn das Tageslicht, nicht direkt von der Sonne kommend, durch rubinrotes Glas gebrochen wird. Man konnte dabei fast lesen. Da kam ein Diener und meldete, es sei Zeit. Nur noch eine halbe Stunde, so werde der Fluß die Insel überfluten. Da stand der Dschirbani von seinem Sitze auf, küßte dem Vater und der Mutter die Hand und sagte zu dem ersteren:

"Ich danke Dir, daß Du das keinem andern, sondern mir selbst erlaubtest!"

"Aber meine Bedingungen!" mahnte der Schech. "Nimm Kara Ben Nemsi, den Scheik der Ussul und Irahd mit! Dann weiß ich Dich bewahrt vor jeder Gefahr."

Und Marah Durimeh sprach:

"Der begonnene Tag ist Dankestag. Sobald die Sonne erscheint, werden die Hörner der Ussul von den Zinnen dieses Hauses ertönen, und die Kirchenposaunen von El Hadd werden Antwort geben. Dann kommt das Volk der Stadt, von seinem Priestern geführt, zu Euch heraufgezogen, um den Frieden zu feiern, der von hier aus durch alle Länder fließt. Dir aber ist die erste Tat dieses Friedens aufgetragen: Liebet Eure Feinde; tut Gutes denen, die Euch hassen! Geht hin und rettet sie! Es gibt nur einen einzigen Sieg, der wirklich Sieg bedeutet; das ist der Sieg der Liebe. Geht hinab und verzeiht! Und vor Euch her gehe Gottes Segen!"

"Und komm so wieder, wie Du von mir gehst!" bat seine Mutter. "Ich will Dich nicht am Abend gewonnen haben, um Dich am Morgen schon wieder zu verlieren!"

Wir, die wir vom Schech genannt worden waren, verließen mit ihm den Saal und das Schloß. Draußen vor dem Tore standen vier gesattelte Ussulpferde; eines davon war Smihk, der Dicke. Unser Ritt war also vorbereitet. Die drei andern stiegen auf, ich aber nicht. Ich sagte zum Dschirbani:

"Vorerst bitte ich, mir mitzuteilen, wie Du Dir die Rettung dieser Leute denkst. Es gibt keine Boote."

"Aber es gibt Pferde," antwortete er. "Pferde der Ussul, die sich vor keiner Wasserflut fürchten. Es reiten zweihundert von uns schwimmend hinüber, ein jeder ein lediges Pferd an der Hand. Das reicht aus für alle, die drüben sind. Meinst Du nicht?"

"Allerdings. Doch warte! Ich hole die Hunde."

"Wozu?"

"Für unvorhergesehene Fälle. Gleich komme ich wieder."

Als ich nicht nur mit meinen, sondern auch mit Halefs Hunden zurückkam, schüttelte er den Kopf und sagte:

"Der Sorge wohl allzuviel!"

Dann ritten wir hinunter nach den Wohnungen seiner Landsleute, deren zweihundert mit ebensoviel ledigen Pferden (Seite 322A) auf uns warteten. Sie schlossen sich uns an. In dem gedämpften, mystisch roten Lichte des Dschebel Muchallis hatte unser Zug ein ungeheuerliches Aussehen. Überall standen Leute. Es war bekannt, was wir wollten, zugleich aber auch verboten, uns zu folgen oder sonstwie zu belästigen. Als wir unten an der Treppe ankamen, konnten wir die Insel sehr deutlich sehen, obgleich es nachts vielleicht um halb drei Uhr war und keinen Mondschein gab. Schon war das ganze ungeheure Becken mit Wasser gefüllt. Die Treppe war noch nicht ganz verschwunden, aber über die Insel ging die Flut bereits in dünnen Stößen hinweg. Die Leute des >Panther< schrien ununterbrochen um Hilfe und wimmerten vor Angst.

Unser Unternehmen war gar nicht gefährlich; nur mußte man sich hüten, über die Insel hinausgetrieben zu werden, weil das Wasser dort noch in zahlreichen Trichtern bohrte und drehte. Wer da hineingeriet und in das Strombett getrieben wurde, war unbedingt verloren. Die Treppe hinunter ging es heute viel leichter als gestern die Treppe herauf. Die Urgäule sprangen freiwillig ins Wasser. Der Dschirbani war der Erste; die andern folgten. Wir drei sollten am Ufer zurückbleiben. Ich aber war anderen Sinnes. Als schon gegen hundert Personen gerettet worden waren und der Dschirbani noch immer nicht kam, ließ ich mir von Amihn seinen Smihk geben und ging mit ihm und den vier Hunden in das Wasser. Die Leute des >Panther< behaupteten, er sei durch das Gewitter vollständig verrückt geworden; er rede irr. Das stellte sich als wahr heraus. Bis ich hinüberkam, hatte er sich geweigert, sich retten zu lassen. Sobald er aber Smihk sah, den er kannte, rief er, sich in die Brust werfend, mir zu:

"Dieses Pferd kenne ich. Es ist das Schlachtroß des Kaisers der Ussul und also meiner würdig. Ihm vertraue ich mich an. Steig ab!"

Um ihn schnell fortzubringen, gehorchte ich diesem Befehle und nahm mir ein anderes Pferd, welches ich aber nicht sogleich bekommen konnte.

"Und Du bist mein Gefangener, hast mir zu folgen. Vorwärts!" schrie der >Panther< den Dschirbani an.

Dieser letztere ging, ganz so wie ich, scheinbar darauf ein und folgte dem Smihk, der mit dem >Panther< in das Wasser ging und eifrig zurückzurudern begann.

"Halt!" rief der >Panther< ihm zu. "Nicht dorthin! Ich will dort hinunter, in den Fluß! Ich muß nach dem Dschebel Allah, zu meiner Armee!"

Er wollte Smihk nach abwärts lenken, der gehorchte aber nicht. Und der Dschirbani riß dem >Panther< den Zügel aus der Hand. Es begann ein Kampf. Der Dschirbani war unbewaffnet, aber der Stärkere. Da riß der >Panther< seine Doppelpistole aus dem Gürtel und schoß zweimal auf den ersteren. Dann bearbeitete er Smihk mit Sporen und Messerstichen, um ihn zu zwingen, abwärts zu schwimmen.

"Hinein, hinein in das Wasser!" befahl ich den vier Hunden. "Holt ihn, holt!"

Ich deutete auf den Dschirbani, den die Schüsse vom Pferd geworfen hatten. Er konnte nur einen Arm bewegen; der andere war verwundet. Sie erreichten ihn grad noch im letzten Augenblick, als die Strömung ihn eben fassen und in die Wirbel treiben wollte. Es gelang ihnen, ihn zu halten und nach der Insel zu bringen, als ich eben ein anderes Pferd bekommen hatte. Auch der >Panther< näherte sich den Strudeln. Smihk erkannte das und empörte sich gegen die Sporenhiebe und Messerstiche, durch die er in den Tod getrieben werden sollte. Er brüllte laut auf, schoß mit dem Kopf in die Tiefe und überschlug sich im Wasser, um seinen Reiter abzuwerfen. Es gelang. Der Dicke kam unter Triumphgeschrei zu uns zurückgeschwommen. Den >Panther< aber sah kein Auge jemals wieder. - - -

Die beiden Schüsse hatten getroffen, doch nur ungefährlich. Es gab zwei Fleischwunden im Arme, weiter nichts. Aber das Blutstillen und vorläufige Verbinden erforderte doch soviel Zeit, daß wir uns dann beeilen mußten, nicht zu spät im Schlosse zu erscheinen. Die Geretteten waren sofort abgeführt worden. Das Wasser überschwemmte die Insel nun ganz und gar. Es war die allerhöchste, die letzte Zeit gewesen!

(Seite 322B) Inzwischen war das rote Licht des Dschebel Muchallis verschwunden und der Morgen angebrochen. Als wir droben auf dem Plateau unter den Zedern hervorgeritten kamen, ging grad die Sonne im Osten auf, und von den Zinnen des Schlosses ertönten die tiefen, mächtigen Stimmen der langen Hörner der Ussul; die uralten Naturtrompeten der Lanzenreiter schmetterten, und aus der Stadt empor antworteten die Bläser der Kirchenposaunen. Der >Tag des Dankes< begann. Die Kunde von der Verwundung des Dschirbani war uns vorausgeeilt, doch auch die Beruhigung, daß man sich nicht darüber zu ängstigen brauche. Halef kam uns entgegengeeilt und jammerte darüber, daß man ihn nicht auch mit auserlesen habe, beim Ende des >Panther< zugegen zu sein. Am Portal des Schlosses wurde der Dschirbani von seinen Eltern empfangen. Er stellte ihnen Hu und Hi und Aacht und Uucht als die Retter des zukünftigen Schech el Beled von El Hadd vor und bat um Dankbarkeit. Dann zogen wir uns schleunigst in unsere Zimmer zurück, denn wir kamen ja aus dem Wasser, und der Festzug war schon unterwegs. - - -

Eine Woche später kehrte der 'Mir von Ardistan mit Amihn und den Ussul zunächst nach dem Dschebel Allah und dann mit dem ganzen Heere nach Ard zurück. Der Friede war geschlossen, und zwar für ewige Zeit. - - -

Einige Monate hierauf ging das erste Schiff den Fluß hinab. Es hieß, wie bereits gesagt, >Marah Durimeh< und trug Marah Durimeh, Schakara, Halef, mich und einige neue, gute Bekannte aus El Hadd. Als wir an der oberen Brücke der >Stadt der Toten< anlegten, wurden wir von dem 'Mir von Ardistan, seiner Frau, dem Fürsten von Halihm und Merhameh empfangen. Das Weitere liest man später. - - -


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