7. Kapitel.

Wieder frei.

Als ich hinunterkam, war Halef mit der Zubereitung des Essens noch lange nicht fertig. Er nahm sich heute Zeit. Dieses Abendmahl sollte eine kulinarische Leistung allerersten Ranges werden, und sie wurde es auch, natürlich nur den beduinischen Maßstab angelegt. Der 'Mir kam viel zu spät. Es wurde ihm das Beste, was wir hatten, aufgehoben. Ich sah und sprach ihn heute abend nicht mehr, denn als er sich endlich einstellte, war ich schon längst eingeschlafen.

Wir waren heut mit der einen Hälfte der Baulichkeiten fertig geworden und begannen am nächsten Tage mit der anderen. Von allem, was wir am Vormittag sahen, will ich nur die Bibliothek erwähnen. Sie war sehr interessant, obgleich sich ihr Inhalt nur auf die Geschichte und Ausbreitung der humanitären Bestrebungen ihrer Gründer bezog. Es gab da viele, viele Tontafeln und Tonzylinder mit Keilschrift. Die letztere war weniger babylonische und assyrische als vielmehr altpersische. Sodann gab es unzählige Holztafeln mit chinesischer, mongolischer und tibetanischer Schrift. Ferner sahen wir unzählige Bücher, Hefte und Rollen von Papyrus. Wir entdeckten Land- und Sternkarten, Zeichnungen von Menschen, Tieren, Pflanzen, Mineralen, Waffen, Gefäßen, Geweben und ähnlichen Dingen. Ebenso fanden wir Malereien in allen Größen und Farben. Von allergrößtem Interesse für uns war eine große, starke, kostbare Mappe, auf deren Außenseite die Worte zu lesen waren: >Die Dschemmah, ihre Richter und ihre Angeklagten<. Als wir sie aufschlugen, sahen wir zwei voneinander geschiedene Pakete von Zeichnungen in chinesischer Tusche. Auf dem einen stand >die Richter<, auf dem andern >die Angeklagten<. Wir öffneten. Es waren lauter Porträts, und zwar in wahrhaft erstaunlich guter Auffassung und Ausführung. Einige durfte man getrost als Meisterwerke bezeichnen. Das >Richterpaket< enthielt die wichtigsten und hervorragendsten Maha-Lamas, das >Angeklagtenpaket< alle Emire, die es in Ardistan gegeben hatte. Die beste und wertvollste Zeichnung war jedenfalls das Porträt des berühmten Abu Schalem, ein Charakterkopf, wie man selten einen trifft, mit einer unvergleichlichen Licht- und Schattenverteilung, so daß die seelischen Eigenschaften dieses hochbedeutenden Mannes wenigstens ebenso deutlich und bestimmt hervortraten wie die äußeren Züge seines geistvollen, nur Güte strahlenden Angesichtes.

Während wir dieses Bild mit aufrichtiger Sympathie und wahrem Kunstgenuß betrachteten, durchflog der 'Mir den Inhalt des andern Pakets, um vor allen Dingen die Bilder seiner Ahnen kennen zu lernen. Dabei rief er einmal kurz hintereinander:

"Maschallah! Mein Vater! - - - Und hier auch der Vater meines Vaters, den ich auch noch gekannt habe! Wie wunderbar sie getroffen sind! Genau, als ob sie lebten! Wer hat das getan? Wer hat das gemacht? Wer ist das gewesen? Niemand weiß etwas davon? Niemand hat das schon gesehen! Das ist heimlich angefertigt worden? Warum hat man uns nicht gefragt?"

Da brach wieder einmal der >Herrscher< bei ihm durch. Ich wollte antworten, da aber kam mir der Dschirbani zuvor:

"Du meinst, man hätte Euch fragen müssen?"

"Natürlich!" antwortete der Mir.

"Du irrst. Schau die Aufschrift: >Die Angeklagten

Eine solche Zurechtweisung hatte der 'Mir nicht erwartet, zumal von dem jüngern Manne, den man den >Räudigen<, (Seite 260A) den >Wahnsinnigen< genannt hatte und dessen Benehmen gegen ihn ein bisher so höfliches, rücksichtsvolles, ja beinahe dienstwilliges und fügsames gewesen war. Diesesmal aber stand dieser junge Mann hochaufgerichtet vor ihm, und in seinem sonst so freundlichen Auge lag eine zurück- und zurechtweisende Strenge, von welcher der Zorn des 'Mir ganz unbedingt abzuprallen hatte. Als sie jetzt ihre Blicke ineinandertauchten, als ob es eine gegenseitige Prüfung der tiefsten Seelentiefe gelte, hob sich der Dschirbani ganz unbedingt hoch über den Mir, und es war, als ob dieser letztere dies auch wirklich fühle und empfinde, denn er legte die Bilder seiner Vorfahren in unsanfter, ärgerlicher Weise aus der Hand und sagte:

"Weg mit ihnen! Wenn die, von denen man Freude, Stolz und Ehre verlangt, nur Enttäuschung, Scham und Ärger bringen, so verliert man die Geduld und hört am liebsten auf, ein Sohn und Enkel zu sein!"

Er ging hinaus, und wir folgten ihm, weil wir keine Zeit hatten, uns für diesesmal länger mit der Bibliothek zu beschäftigen.

Nach den beiden Sälen, denen unsere Wißbegierde schon lange im voraus entgegeneilte, gelangten wir erst im Verlaufe des Nachmittags. Wie gespannt wir alle waren, als wir vor der Seitentüre standen, über der wir die Inschrift >Dschemmah der Toten< lasen! Besonders wir beide, Halef und ich, wir hatten doch sehr viel gesehen und sehr viel erlebt und erfahren, aber es fällt mir jetzt, indem ich dieses schreibe, wirklich keine Situation und keine Gelegenheit ein, bei der unsere innere Spannung eine größere gewesen wäre als in dem Augenblicke, in welchem wir vor dem Eingange zu diesem ebenso großen wie gedankentiefen Geheimnisse standen.

Die Deutlichkeit erfordert, zu sagen, daß diese beiden Säle keine direkten Türen nach dem außen rund herumführenden Säulengange hatten. Sie waren nur durch die Räume, die neben ihnen lagen, zu erreichen, und darum habe ich nicht von einer Türe, sondern von einer Seitentüre gesprochen. Diese führte aus dem Nebenraume nach der >Dschemmah der Toten<. Von da kam man wieder durch eine Seitentüre in die >Dschemmah der Lebenden<, und von da führte eine dritte Seitentüre in den jenseitigen Nebenraum, aus welchem man dann wieder in das Freie gelangte. Diese Seitentüren waren ebenso zu öffnen wie die Haupttüren.

Als wir in die >Dschemmah der Toten< traten, sahen wir uns von einem mystischen Halbdunkel umfangen, welches uns zwar erlaubte, Gestalten zu sehen, nicht aber auch, ihre Umrisse unterscheiden zu können. Der Saal war groß, sehr groß und auch sehr hoch. Durch die kleinen Fenster konnte nicht genug Licht herein, um die nötige Helle zu geben; aber es waren Kandelaber aufgestellt, deren Arme viele, starke Lichter trugen. Wir brannten sie an, und nun wurde es mehr als hell genug, so daß wir alles nicht nur deutlich sehen, sondern auch genau betrachten konnten.

Man hatte beim Aushauen des Saales riesige Säulen und Pfeiler stehen lassen, auf denen die hochgewölbte Decke ruhte. Sie standen in zwei Reihen, durch weiche drei Abteilungen gebildet wurden, nämlich eine sehr breite und geräumige in der Mitte und zwei schmälere rechts und links von ihr. In der großen Mittelabteilung war die Dschemmah versammelt. Die Seitenabteilungen enthielten die Plätze für das Publikum; sie waren natürlich leer. Die in der Mittelabteilung Versammelten saßen alle auf ihren Plätzen, doch lagen diese Plätze nicht in gleicher Ebene. Am höchsten saß der Vorsitzende, fast wie auf einem Throne. Vor ihm stand ein Tisch, welcher die Form von zwei, die Platte tragenden Amdschaspands hatte. Auf diesem Tische lag ein Buch, wahrscheinlich das im Traume erwähnte Hauptschuldbuch der sämtlichen Emire von Ardistan. Abu Schalem war in ein sehr bescheidenes, ungebleichtes Hanfgewebe gekleidet, hatte Strohsandalen an den Füßen und trug auf dem Kopfe nicht die wohlbekannte, häßliche Lamamütze, sondern ein ebenso einfaches, weißes Tuch, unter dem das silberglänzende Stirnhaar nicht etwa mongolisch schlicht, sondern in krausen Wellen hervorgebrochen und dann im Tode weitergewachsen (Seite 260B) war. Es hatte sich in der Mitte geteilt und hing in zwei geflochtenen Strähnen bis auf den Gürtel nieder. Auch der Bart war stark und besaß denselben silbernen Glanz. Er wallte über Brust und Leib herab, bis er unter dem Tisch verschwand. Auch die Gesichtszüge waren nicht mongolisch, sondern so, wie man sich die alten Perser denkt. Ich habe einmal ein Gemälde gesehen, welches Kyros, den Großen, darstellte, in der Vollkraft des ersten Mannesalters und auf der Höhe seines Ruhmes. Als ich nun jetzt vor dem berühmtesten, gerechtesten und gütigsten der Maha-Lamas stand und seinen herrlichen Kopf auf mich wirken ließ, hätte ich in die Worte ausbrechen mögen: "Das sind die Züge des großen Perserkönigs! So, genau so würde er ausgesehen haben, wenn er das Alter erreicht hätte, in dem dieser Maha-Lama gestorben ist!"

Ich stieg zu ihm hinauf und betastete seine Hände, seine Wangen. Sie waren kühl und weich. Ich erstreckte diese Untersuchung auch auf die Arme, auf die Beine, auf den Leib. Fast kam mir das wie eine Entweihung, wie eine Beleidigung vor. Es war mir, als ob ich das eigentlich gar nicht wagen dürfe, und es wallte in mir wie eine Bitte um Verzeihung auf, daß ich, das kleine Menschlein, mich für berechtigt hielt, den Gedanken nachzuspüren, die einst von diesem Körper ausgegangen waren. Die Augen bestanden aus drei verschiedenen Steinen, welche die bläulich weiße Hornhaut, die blauschwarze Iris und die kohlschwarze und doch durchsichtige Pupille bildete. Die Zusammensetzung und der Schliff dieser Steine waren so vorzüglich gelungen, daß man glauben konnte, wirkliche Augen zu sehen, wenn man nicht gewußt hätte, daß man vor dem präparierten Körper eines längst Verstorbenen stand. Der Blick dieser Augen war hinunter auf die Angeklagten gerichtet, also nicht auf mich, dennoch aber hatte ich den Eindruck, als ob hinter ihnen ein volles, seelisches Leben tätig sei. Das verstärkte die rücksichtsvolle Scheu, mit der ich den Körper des Vorsitzenden der Dschemmah untersuchte.

Rechts und links von ihm, doch einige Fuß tiefer, saßen die andern Maha-Lamas an ebenso orientalisch niedrigen Einzeltischen, die aber so nahe aneinanderstanden, daß sie zu beiden Seiten je eine viertelkreisförmige Tafel zu bilden schienen. Diese Toten stellten also einen Halbkreis dar, über dessen Halbierungspunkt der Oberrichter thronte. Sie waren genauso einfach und anspruchslos gekleidet wie er, einige von ihnen sogar noch ärmer, und lenkten ihre Blicke in dieselbe Richtung wie er die seinigen. Es waren das nicht alle Maha-Lamas, die es gegeben hatte, sondern nur die bedeutendsten von ihnen, lauter in hohem Alter gestorbene Männer, deren stumpf oder glänzend schneeige Kopf- und Barthaare auch im Tode nachgewachsen und dann in Zöpfe geflochten waren. Die Wirkung, welche dieser eigenartige Kriminalsenat auf mich machte, kann nicht beschrieben werden. Fast möchte ich sagen, sie war faszinierend. Diese Gestalten schienen keineswegs Leichen zu sein. Man fühlte sich versucht, anzunehmen, daß einst zur Zeit, als es noch Elfen, Feen und Zauberer gab, hier eine hochwichtige Dschemmah abgehalten und von einem wunderkräftigen Magier überrascht und hypnotisiert worden sei. Es war, als ob ein jeder von diesen Richtern sich plötzlich erheben könne, um sich zu bewegen und laut zu sprechen. Unterstützt wurde diese Imagination durch die gänzliche Abwesenheit jeden Leichengeruches. Die Luft war so rein, als ob sie keinen Augenblick lang nicht erneut worden sei.

Und noch tiefer saßen als Inquisiten und arme Sünder, die sämtlichen Emire von Ardistan, die es gegeben hatte; es fehlte keiner von ihnen. Und doch saßen sie höher als ihre Richter, nämlich auf Thronsesseln, welche in edlen Steinen und Metallen prangten. Sie waren köstlich gekleidet und mit herrlichen Ringen, Ketten und Rangesauszeichnungen geschmückt. Aber wenn man genauer hinsah, so erkannte man, daß alle diese Metalle und Steine unecht waren. Es gab alte, mitteljährige und junge unter ihnen, je nach den Jahren, in denen sie gestorben waren. Man sah, daß auf die Behandlung und Erhaltung ihrer Körper nicht weniger Sorgfalt verwendet worden war als bei den Lamas, und doch standen sie in Beziehung auf den Eindruck, den sie machten, trotz all ihres Putzwerkes, Prunkes und Geschmeides weit hinter ihren Richtern zurück, die so anspruchslos, fast dürftig gekleidet waren. Es fehlte ihnen (Seite 261A) die Majestät des Todes. Sie hatten während ihres Lebens so viel Majestät ausgegeben, daß sie nun für die Zeit nach dem Tode keine mehr besaßen. Sie hatten ihre Blicke nicht erhoben. Sie schauten alle nieder, ein jeder auf das Buch oder Heft, welches er auf den Knien vor sich liegen hatte, sein Konto aus dem großen Schuldbuche des ganzen Geschlechtes, dem er angehört hatte und auch jetzt noch angehörte. Sie waren alle gefesselt, an den Händen und an den Füßen, mit Stricken und mit Ketten. Einige von ihnen trugen sogar Nackenhölzer, was in den Zeiten, in denen sie lebten, ein Zeichen tierischer Grausamkeit und ehrloser Gesinnung war.

(Seite 262A) Ich bin in manchem Panoptikum gewesen und habe da viele hundert Nachbildungen von verstorbenen Menschen gesehen. Stets fühlte ich mich da abgestoßen, hier aber nicht, obgleich es sich in dieser Dschemmah nicht um künstlich hergestellte Figuren, sondern um wirkliche Leichen handelte. Der Ekel, der mich bei jenen Schaustellungen stets und unausbleiblich überkam, blieb hier vollständig aus. Was war der Grund hiervon? War die Ursache eine körperlich sinnliche oder eine psychologische? Wie jede Lüge abstoßender wirkt als selbst eine häßliche Wahrheit, so erscheint ganz besonders auch ein vorgelogenes oder vorgetäuschtes Leben widerlicher als die zwar grausame, aber natürliche Wahrheit des Todes. Und der Tod, den wir hier vor uns sahen, schien gar kein Tod zu sein, sondern vielmehr eine plötzliche, augenblickliche Stockung des Lebens, die wohl schnell vorübergehen werde.

Aus diesen Gedanken und Betrachtungen wurde ich durch die laute Stimme des 'Mir gerissen. Wir andern waren still. Es dünkte uns wie eine Entheiligung, das, was wir innerlich empfanden, in hörbare Worte zu verwandeln. Zwar in den ersten Augenblicken war dies auch bei ihm der Fall gewesen. Er hatte bewegungslos gestanden und gestaunt. Jetzt aber rief er plötzlich aus:

"Mein Vater, mein Vater!"

Er eilte auf den betreffenden Toten zu, blieb einige Schritte vor ihm stehen, hob die Arme empor und wiederholte:

"Mein Vater! Mein Vater! Gefangen und gefesselt! Du, Du!"

Er kehrte mir dabei den Rücken zu; ich konnte sein Gesicht nicht sehen; aber der Ton seiner Stimme ließ auf die tiefste Seelenerregung schließen.

"Und auch Du, auch Du!" fuhr er fort, den Kopf ein wenig wendend. "Der Vater meines Vaters! Mein Großvater! (Seite 262B) Was wirft man Euch vor, Euch, Euch? Sagt es mir! Ich muß es wissen!"

Er horchte einige Augenblicke lang und trat dann näher an sie heran, indem er sprach:

"Ihr schweigt? Wohl, wohl! Ihr müßt ja schweigen! Ihr seid ja tot! Ihr konntet Euch nicht wehren, als man das Verbrechen beging, Euch heimlich hieher zu schaffen! Ich werde das untersuchen! Und wehe dem Schuldigen, den ich fasse! Zunächst aber muß ich wissen, wessen man Euch beschuldigt! Zeigt her, zeigt her!"

Die Aufregung, in der er sich befand, war groß. Er riß die Hefte, welche vor den beiden Toten lagen, an sich und trat mit ihnen zum nächsten Kandelaber, setzte sich dort nieder und begann zu lesen. Doch nicht lange. Er las den Titel und die Überschrift des einen Heftes, überschlug langsam die Blätter und verweilte mit Aufmerksamkeit nur bei den letzten Seiten. So tat er auch mit dem andern Hefte. Hierbei beobachtete ich ihn genau. Ich sah, daß seine Aufregung ebenso schnell wie sie emporgebraust war, wieder nachließ, von Stufe zu Stufe sank, durch alle Grade, bis sie schließlich bei der Niedergeschlagenheit anlangte. Er stand wieder auf, kehrte zu Vater und Großvater zurück und legte die Hefte wieder an ihre Stelle, ohne ein Wort zu sagen. Er sah dabei aus wie ein Mensch, der aus der Höhe des Zornes in die Tiefe der Scham gefallen ist und dies äußerlich nicht verbergen kann. Dann ging er zu einigen der andern Ahnen, nicht zu allen, sondern nur zu denen, die am bequemsten zu erreichen waren, und schaute in ihre Bücher. Ich bemerkte, daß er dabei nur die letzten Seiten nachschlug. Hierauf stieg er zu Abu Schalem hinauf und begann das Hauptbuch einer Besichtigung zu unterwerfen. Ich hatte vorher da oben gestanden, ohne dieses Buch zu berühren, war aber dann zu den andern Maha-Lamas herabgestiegen, um sie genauer zu betrachten, und befand mich jetzt bei den Ardistaner Herrschern, deren Namen und Regierungszeiten man sehr leicht erfahren (Seite 263A) konnte, weil die betreffenden Angaben auf den vorderen Umschlagseiten ihrer Kontobücher standen. Aus dem Verhalten des 'Mir war zu ersehen, daß der Hauptinhalt dieser Bücher auf deren letzten Blättern zu suchen sei. Ich nahm das Buch dessen, bei dem ich grad stand, und betrachtete es. Der Umschlag bestand aus weißem Leder. Darauf war in schwarzer, großer, wohlgezierter Parthavaschrift zu lesen:

"'Mir Burahdär-i-Mihribani, in den Jahren 102 - 112 der Hidschra."

Burahdär-i-Mihribani heißt Bruder der Güte. Dieser Name läßt doch jedenfalls auf einen guten Charakter schließen, zumal er ein offizieller Regierungsname ist. Auch hatte dieser Herrscher nach unserer abendländischen Zeitrechnung nicht volle zehn Jahre regiert. Ich war also wohl zu der Erwartung berechtigt, auf ein nicht unbefriedigendes Konto gestoßen zu sein. Was aber fand ich? Ich schaute zunächst nach der letzten Seite. Sie enthielt das Summarium. Acht von den zehn Jahren waren Kriegsjahre gewesen. Alle durch sie entstandenen Verluste an Menschen, Tieren, Kapital, Landbesitz und anderen, sich auf den Volkswohlstand beziehenden Dingen waren da angeführt. Nur allein die Opfer an Menschenleben betrugen über fünfzigtausend. Und dieser Herrscher war >Bruder der Güte< genannt worden! Was mochte da wohl in den Büchern der andern stehen! Den Verfassern dieser Abschätzungen und Aufstellungen war es darauf angekommen, vor allen Dingen die Verderblichkeit der Kriege und die Schuld der einzelnen Herrscher an der Entstehung dieser Menschenschlächtereien nachzuweisen. Besonders auch waren die Folgekrankheiten angegeben und die Ziffern, aus denen sich die ihnen zugefallene Beute erwies. Ein Blick auf die vorangehenden Seiten zeigte, mit welcher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit die Untersuchungen und Berechnungen vorgenommen worden waren. Aber diese Angaben bezogen sich doch nicht allein auf die Kriege, an denen der >Bruder der Güte< schuld gewesen war, sondern auch auf alle andern Schädigungen, welche die Menschheit seiner Zeit durch ihn erlitten hatte. Da waren die Hinrichtungen aufgeführt, die Vertreibungen aus dem Lande, die Vermögenskonfiskationen, die Verurteilungen gegen Recht und Gerechtigkeit, die Begünstigungen, der offene und der versteckte Raub durch Gewalttätigkeit und durch List. Nicht nur die Zahlen, um die es sich gehandelt hatte, sondern auch die Namen der Betroffenen waren angegeben. Es gab da keinen Zweifel. Die Beweise wurden sogar durch den Hinweis auf das Hauptbuch und auf die Schuldbücher der betreffenden einzelnen Fürsten geführt. Da wurde Verbrechen auf Verbrechen nachgewiesen, Unmenschlichkeit auf Unmenschlichkeit, Heimtücke auf Heimtücke, Trug auf Trug. Die Völker waren nur dagewesen, um - - -

"Effendi!" rief der 'Mir mir zu, meine Betrachtungen unterbrechend.

Ich schaute fragend zu ihm hin.

"Du liesest?" fuhr er fort.

"Ja."

"Ich bitte Dich, das Buch hinzulegen!"

"Warum?"

"Ist es Dir nicht genug, daß ich Dich bitte? Muß ich Dir erst sagen, daß es sich nicht um Deine Vorfahren handelt, sondern um die meinigen? Komm herauf zu mir! Ich will Dir etwas zeigen. Dieses eine sollst Du erfahren. Mehr ist nicht nötig. Das übrige braucht niemand zu wissen, als nur ich allein, denn ich, ich bin der Erbe, der Belastete, die Bestie, auf der die Sünden aller, aller liegen. Komm her; komm her!"

Das klang nicht etwa befehlend, sondern bittend, fast flehend, so traurig, so innerlich zermartert und zerdrückt. Ich legte das Konto, in dem ich gelesen hatte, dahin zurück, wohin es gehörte, und stieg zum 'Mir hinauf. Er hatte die letzte Seite des großen Buches aufgeschlagen.

"Lies!" forderte er mich auf, indem er auf sie deutete.

Ich tat es. Was waren das für entsetzliche Aufstellungen, für fürchterliche Ziffern! Mir flimmerte es vor den Augen. Das schien unglaublich zu sein, und dennoch war es wahr!

"Fertig!" sagte ich, indem ich das Buch zuschlug.

"Schon?" fragte er.

(Seite 263B) "Ja! Ich denke, es genügt! Mehr zu wissen, hält wohl niemand aus!"

"O doch! Es gibt einen, der noch mehr wissen will und noch mehr wissen muß, und dieser eine, der bin ich! Ich habe nicht zu glauben, und ich habe mich nicht zu entsetzen, sondern ich habe zu prüfen, ohne mich zu fürchten. Aber nicht jetzt, nicht jetzt, sondern später, wenn wir erfahren haben, was die noch übrigen Räume enthalten. Komm, Effendi, wir gehen!"

Er stieg zu seinen Ahnen hinab. Ich folgte ihm. Vor seinem Vater und seinem Großvater blieb er stehen und sprach zu ihnen:

"Ich bin Fleisch von Eurem Fleisch und Blut von Eurem Blut; aber wenn das Leben Liebe ist, so gabt Ihr mir nicht das Leben, sondern den Tod. Doch seid getrost, ich räche mich nicht! Kommt mir der Traum, der Euch in Schwäche fand, Euch alle, vom ersten bis zum letzten, so will und werde ich der erste sein, der ihm nicht unterliegt. Oh, käme er doch bald!"

Hierauf wollte er gehen, um den Raum zu verlassen, blieb aber schon nach einigen Schritten wieder stehen, wendete sich dem Throne des Vorsitzenden zu, hob den Arm gegen ihn und sprach:

"Und Dich, alter Herr, habe ich zu fragen, wer Dir erlaubt hat, den ewigen Richter zu spielen, den Herrgott, dem sich selbst die Herrscher zu fügen haben! Wo hast Du diese Toten her? Ich werde in allen Grüften und Särgen nach ihnen suchen und Dir dann sagen, wer und was Du bist. Nimm Dich in acht! Getraust Du Dich, in Gottes Namen mit mir und meinem Stamme abrechnen zu wollen, so dann auch ich mit Dir und Euch!"

Nach diesen Worten forderte er Halef und die anderen auf:

"Löscht die Lichter wieder aus und kommt: Wir gehen!"

Es geschah so, wie er sagte. Als keine der Kerzen mehr brannte, öffneten wir die Türe, über der die Worte >Dschemmah der Lebenden< zu lesen waren, und traten in den Versammlungsraum derselben ein. Dieser war nicht so groß wie der vorige, mußte aber auch schon nicht als Zimmer, sondern als Saal bezeichnet werden. Sein Bau und seine Einrichtung waren genau der >Dschemmah der Toten< entsprechend, nur für weniger Personen berechnet.

Auch hier gab es drei Abteilungen, zwei für das Publikum und die mittlere für Richter und Angeschuldigte. Auch die Anordnung der Sitze war dieselbe: am höchsten, und zwar in der Mitte, der thronähnliche Stuhl des Präsidenten; etwas tiefer, im Halbkreise, die Sitze der Rechtsprechenden; hier anschließend, doch auch einige Fuß tiefer, der Platz für die Angeklagten. Alle diese Stühle und Plätze waren jetzt unbesetzt. Für die Richter waren nur acht vorhanden, für die Inquisiten nur drei, doch gab es Raum für noch mehr. Die Stühle und Matten hierzu befanden sich jetzt im Nebenraume und waren leicht herbeizuschaffen. Die Beleuchtung glich derjenigen im großen Saale. Sie war unzulänglich, doch gab es auch hier Kandelaber mit Kerzen. Am Tisch des Vorsitzenden hing, uns allen in die Augen fallend, in großer, selbst im Halbdunkel leicht lesbarer Schrift, eine Ankündigung, welche lautete:

"Morgen, genau um Mitternacht, Sitzung der Dschemmah der Lebenden gegen Schedid el Ghalabi, den jetzigen 'Mir von Ardistan. Seine Richter seid Ihr selbst. Wer sich ausschließt, wird bestraft!"

Dieses Plakat war von außerordentlicher Wirkung. Wir sahen einander erstaunt und betroffen an. Drüben im großen Saale hatten nur zwei von uns laut zu sprechen gewagt, nämlich der 'Mir und ich; die andern waren stumm und still gewesen, vollständig gepackt von der gefangennehmenden Örtlichkeit. Hier wiederholte sich das. Auch ich schwieg zunächst. Daß diese Schrift für uns bestimmt war, das stand ganz außer allem Zweifel. Aber wer hatte sie hierhergebracht? Wer hatte wissen können, daß wir uns heut an diesem Orte befinden würden? Wer war es, der vorausgesehen hatte, daß es einem von uns gelingen werde, die Geheimnisse des Maha-Lama-Sees zu durchdringen, die Schlüssel zu finden und alle vorhandenen Räume zu öffnen?

"Schedid el Ghalabi?" fragte der Mir. "Das bin ja ich! Kein einziger Mensch in meinem ganzen Reiche wird es (Seite 264A) wagen, ebenso zu heißen wie ich! Also bin ich gemeint, kein anderer! Denkst Du das auch, Effendi?"

"Gewiß," antwortete ich. "Niemand kann anders denken."

"Dschemmah der Lebenden gegen mich! Schon morgen! Genau um Mitternacht! Da wird mein Wunsch ja schneller erfüllt, als ich es für möglich halten konnte! Ich sagte, o käme der Traum doch bald!"

Während er dies sprach, sah ich, daß er in sich zusammenschauerte. Auch ich hatte das Gefühl, als ob ein kalter Hauch langsam durch meinen ganzen Körper streiche. Diese Empfindung war es, die mich antworten ließ:

"Dieser Traum wird aber kein Traum sein, sondern Wirklichkeit!"

"Meinst Du?"

"Ja, gewiß!"

"Vielleicht schlafe ich doch wirklich ein und träume es dann nur!"

"Wohl nicht! Bedenke, daß wir die Richter sein sollen!"

"Es ist gemeint, daß ich das träumen werde!"

"Das bezweifle ich sehr! Ich sehe hier auf allen Plätzen beschriebene Zettel liegen. Brennen wir Kerzen an, um lesen zu können!"

Als genug Lichter brannten, ging der 'Mir zum Platze des Vorsitzenden und las, was auf dem dortliegenden Zettel stand:

"Abu Schalem, der Maha-Lama."

Wieder standen wir da und schauten einander an, bis der 'Mir sich äußerte:

"Ist das nicht sonderbar? Ein Toter soll den Vorsitz über Lebende führen! Wie soll die Leiche, die sich da drüben im großen Saale befindet, hierher auf diesen Sitz gelangen? Doch weiter; lesen wir weiter!"

Die Zettel bestanden aus dunklem Papier und waren hell, wie mit weißem Kreidestift, beschrieben. Der 'Mir ging da, wo die Richter sitzen sollten, von Platz zu Platz und las nacheinander folgende Namen:

"Der Dschirbani, Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar, Prinz Sadik der Tschoban, die beiden Prinzen der Ussul, der Scheik der Tschoban, der Schech el Beled von El Hadd."

Das waren also acht Gerichtsbeisitzer, von denen aber die beiden letzten fehlten. Wie sollte der abwesende Scheik der Tschoban und der ebensowenig vorhandene Gebieter von El Hadd hierher nach diesem Orte, den niemand kannte, kommen? Aber der 'Mir ließ uns keine Zeit, uns mit dieser Frage zu beschäftigen. Er ging zu den drei Sitzen der Angeklagten, nahm die dort liegenden Zettel auf und las:

"Schedid el Ghalabi, der 'Mir von Ardistan - sein Vater - der Vater seines Vaters."

Die Zettel lagen so, daß der 'Mir in der Mitte, sein Vater ihm zur Linken und sein Großvater ihm zur Rechten sitzen sollte. Er machte eine schauernde Bewegung, als ob ihn ein Frost überlaufe, legte die drei Zettel wieder hin und sagte halblaut, wie zu sich selbst:

"Zwischen zwei Leichen! Und grad zwischen diesen beiden!"

"Genau um Mitternacht!" fügte Halef hinzu, der jetzt zum ersten Male das Wort ergriff.

"Ob Mitternacht oder Mittag, das ist gleich!" wies der 'Mir ihn zurecht. "Es sind alles Stunden Gottes. Wenn ich am Mittag schuldig befunden werde, steht es ebenso schlimm um mich, wie wenn die Richter mich des Nachts verurteilen. Und die Kerzen müssen hier gebrannt werden, ganz gleich, ob es draußen im Freien hell oder dunkel ist. Doch sehen wir weiter! Da drüben sind noch zwei Plätze!"

Seitwärts von dem Halbkreise der Beisitzer standen zwei halbniedrige, orientalische Stühle, die mehr zum Ruhen als zum Aufrechtsitzen eingerichtet und mit weichen Decken belegt waren. Auch auf ihnen lagen Zettel. Der 'Mir nahm sie und las:

"Abd el Fadl, der Fürst von Halihm, als Verteidiger. Merhameh, Prinzessin von Halihm, als Verteidigerin."

Da standen wir nun zum dritten Male und schauten uns still an. Jetzt sagte selbst der 'Mir nichts mehr. Er legte die Zettel wieder an ihre Stelle, ging von Kandelaber zu Kandelaber, (Seite 264B) um die Lichter auszublasen, und schritt dann auf die verschlossene Türe zu, welche von diesem Saale direkt hinaus auf den Säulengang führte. Sie war verschlossen. Wir mußten sie von innen öffnen und den Stein in Bewegung bringen. Es gelang das ebenso gut wie von außen. Als wir dann draußen waren, fragte der Scheik:

"Noch ist es nicht Abend. Wollt Ihr Eure Untersuchung fortsetzen?"

"Ja," antwortete ich. "Wir müssen unbedingt heut fertig werden, um morgen für alles, was da kommen kann, frei zu sein."

"Du glaubst für morgen an Ereignisse?"

"Auch an die Dschemmah der Lebenden?"

"Unbedingt!"

"Auch an das Erscheinen von Abd el Fadl und Merhameh? An das Eintreffen des Scheiks der Tschoban und des Scheik el Beled von El Hadd?"

"Ich bin beinahe überzeugt, daß sie alle kommen."

Da holte er tief, tief Atem und stimmte bei:

"Ich auch, ich auch! Es ist mir hier ganz unaussprechlich zumute. Fast möchte ich sagen: Wir leben hier nicht, sondern wir werden gelebt; wir denken hier nicht, sondern wir werden gedacht; wir wollen nicht, sondern wir werden gewollt. Es ist, als stehe hier jemand hoch über uns, der uns am Zügel hat, wie der Reiter das gehorsame Pferd."

"Glaubst Du, daß es wirklich so ist? Oder nur, daß es so scheine? Ich sage Dir, das hier nichts scheint, sondern daß alles gewiß und greifbar wirklich ist. Wir werden geleitet; wir werden geführt. Wir sind hier nicht allein!"

"Du meinst, daß es außer uns noch andere lebende Wesen hier gebe? Noch andere Menschen?"

"Ja."

"Wer könnte das sein?"

"Denke nach!"

"Das werde ich tun. Ich bitte Dich, mich zu entlassen! Nachdem ich in diesen beiden Sälen gewesen bin, ist mir alles gleichgültig, was wir noch finden können. Ich muß allein sein. Ich muß mich sammeln. Du wirst das begreifen. Zum Abendessen stelle ich mich bei Euch ein."

Ich begriff nicht nur sein Bedürfnis, ungestört zu sein, sondern ich konnte mich so in ihn hinein denken und hineinfühlen, als ob ich ganz an seiner Stelle sei. Denn, aufrichtig gesagt, ist doch wohl ein jeder Mensch in Beziehung auf das, was er innerlich zu leben und zu kämpfen hat, ein größerer oder kleinerer 'Mir von Ardistan, der zwischen dem unsichtbaren 'Mir von Dschinnistan und dem Verräter >Panther< um den leeren Titel kämpft, den nur derjenige auszufüllen vermag, der den letzteren durch den ersteren bezwingt.

Während der 'Mir sich langsam entfernte, wendeten wir anderen uns den noch zu erforschenden Räumen zu. Da hörte ich seine Stimme hinter uns und drehte mich um. Er war stehengeblieben und winkte. Ich ging auf ihn zu. Als ich ihn erreichte, fragte er:

"Du weißt, wer es ist, der hier so über uns waltet?"

"Ja," nickte ich.

"Wer?"

"Natürlich der 'Mir von Dschinnistan, kein anderer!"

"Mein Feind!"

"Dein bester, treuester Freund! Er wird es Dir beweisen. Denn es gibt leider, leider Menschen, denen es ohne handgreifliche Beweise unmöglich ist, zu glauben und zu vertrauen. Und dann, wenn sie durch diese Beweise bezwungen und überwunden worden sind, rühmen sie sich ihres Glaubens und verlangen, daß er ihnen hoch angerechnet werde!"

"Du wirst wieder einmal streng, Sihdi, sehr streng! Und doch wollte ich Dir eine Bitte aussprechen, zu deren Erfüllung Deine ganze Güte gehört."

"Welche Bitte? Ich erfülle sie Dir gern, wenn ich kann."

"Und lachst mich nicht aus?"

"Auslachen? Ich glaube, unsere Lage, und ganz besonders die Deine, ist so heilig ernst, daß Du so etwas gar nicht fragen solltest!"

(Seite 265A) "Du hast recht, Effendi; verzeih! Also bitte: Willst Du heut nacht anstatt hier im Freien da drinnen in der >Dschemmah der Toten< schlafen?"

Ich wußte sofort, was er wollte, und antwortete darum:

"Sehr gern!"

"Und fürchtest Dich nicht?"

"Fürchten? Vor wem? Selbst wenn ich mich fürchtete, wäre ich doch nicht allein, denn Du bist dabei, um die Schuldbücher Deiner Vorfahren zu lesen."

"Wie kommst Du auf diese Idee?"

"Sie versteht sich ganz von selbst. Ich werde schlafen, und Du wirst mit Wörtern und Zeilen, mit Zahlen und Ziffern, mit Schlangen und Ungeheuern ringen. Aber bedenke, daß Du schon Deine letzten Nächte geopfert hast! Mute Deiner Kraft nichts Übermenschliches zu! Und wenn Du mich brauchst, so wecke mich auf, damit ich Dir helfen kann!"

"Mir können nur zwei helfen, zu denen Du nicht gehörst, nämlich Gott und ich allein. O, wenn ich beten könnte, beten, beten, beten! Ich gäbe viel darum, sehr viel, sehr viel! Denn ich ahne, daß vor allen Dingen erst der himmlische Richter mit mir und meinen Ahnen abzurechnen hat, ehe die >Dschemmah der Toten< oder die >Dschemmah der Lebenden< sich mit mir befassen kann. Das Urteil, welches die Dschemmah fällt, muß vorher zwischen Gott und mir gesprochen werden, und der Weg zu ihm ist auch heute noch derselbe, der er stets gewesen ist, nämlich das Gebet. Ich kenne ihn noch nicht! Also, Du erfüllst meinen Wunsch und schläfst im Saale der Beratung?"

"Ja."

"Ich danke Dir! Es ist nicht etwa die gewöhnliche, törichte Angst vor Leichen, welche mich wünschen läßt, nicht allein zu sein, sondern die Vorsicht, die ich nicht nur mir, sondern auch Euch andern allen schuldig bin. Es geschieht hier Wunderbares. Und alles, was sich ereignet, ist von größter Wichtigkeit. Niemand weiß, was mir in der Nacht, während ich mich bei den Toten befinde, begegnet. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich vor eine schnelle, augenblickliche Entscheidung gestellt werde, die ich nicht allein auf mich nehmen kann. Darum ist es mein Wunsch, Dich in der Nähe zu haben. Doch bitte ich Dich, halte es geheim! Niemand braucht zu wissen, daß wir uns während der Nacht nicht auch im Freien befinden."

Jetzt gab er mir die Hand und ging. Ich kehrte zu den andern zurück. Es war mir schwer geworden, seinen Wunsch, beten zu können, scheinbar gleichgültig hinzunehmen. Er hatte mich nicht nur gerührt, sondern tief ergriffen. Aber zu dieser Ergriffenheit gesellte sich die Freude. Wer das Verlangen fühlt, beten zu können, dem steht die Erhörung schon nahe, denn schon dieser Wunsch ist Gebet, und zwar dasjenige Gebet, welches sicherer in Erfüllung geht als jedes andere.

Es geschah so, wie ich gesagt hatte: wir setzten die Untersuchung der Baulichkeiten fort und wurden noch vor Abend fertig damit. Im letzten, ganz im Westen liegenden Gemache entdeckten wir gegenüber der Türe, durch welche wir eingetreten waren, eine zweite Türe, die durch denselben Schlüssel geöffnet werden konnte. Wir schlossen auf, und als der mächtige Quader (Seite 265B) sich in das Zimmer hereinbewegt hatte und wir dann durch die so entstandene Öffnung traten, befanden wir uns - - - im Freien und hatten also nicht mehr das Vergnügen, uns als Gefangene betrachten zu dürfen. Wir waren zwar überzeugt gewesen, auf jeden Fall wieder frei zu werden, atmeten aber doch erleichtert auf, als wir diese Erwartung zur Wirklichkeit geworden sahen.

Wenn man durch diese Türe hinaustrat, befand man sich ganz draußen vor der Stadt, auf einer Schutthalde, welche von dem Bergesring des Maha-Lama-Sees herabgebröckelt war. Man konnte von hier aus durch die Zitadelle oder auf einem weiteren, freien Bogen nach der Stadt und dem Fluß gelangen. Wir taten das aber nicht. Es genügte uns, zu wissen, daß es in unserm Belieben stand, an jedem Augenblicke das Gefängnis, in dem wir elend verschmachten sollten, zu verlassen. Wir traten wieder in das Innere zurück, schoben den Türquader in die Öffnung, schlossen ihn fest und erklärten damit unser heutiges Tagewerk für vollbracht. Ich gestehe allerdings, daß wir gar zu gern nach der Stadt geritten wären, um dem lieben >Gefängnis Nummer fünf< unsern Besuch abzustatten und nachzusehen, wie die Verhältnisse dort standen. Aber dazu war die Zeit bis zum Abend viel zu kurz, und so beschlossen wir, uns das für morgen aufzuheben. Wir verfügten uns also nach der Stelle der Säulenhalle, die wir als unser Lager auserkoren hatten und wo sich Halef als unser Oberkoch mit großem Eifer an die Zubereitung des Abendessens machte. Um dies zu können, bat er mich, die Besorgung seines Rappens mit zu übernehmen, sobald ich dem meinen Futter und Wasser geben würde. Als ich bei der Erfüllung dieses seines Wunsches war und mich also bei unsern beiden Pferden befand, kam der Dschirbani zu mir. Er pflegte immer ernst, schweigsam und nachdenklich zu sein; heut aber hatte er sich in diesen drei Eigenschaften derart bewährt, daß ich mich nicht entsinnen konnte, ein einziges Wort aus seinem Munde gehört zu haben, wenigstens im Verlaufe dieses hochwichtigen Nachmittages. Auch jetzt lehnte er sich an den nahestehenden Pfeiler, sah mir und den mich liebkosenden Pferden eine ganze Weile still zu und sagte nichts.

"Nun?" fragte ich endlich lächelnd. "Muß ich auch hier bei Dir erst den richtigen Schlüssel finden?"

"Nein," antwortete er. "Du besitzest ihn ja schon lange, gleich von dem Augenblicke an, an dem ich Dich zum ersten Male sah!"

"Und doch sagst Du nichts, obgleich Du sprechen möchtest?"

"Ich bin mir nicht klar, und Unklares zu sagen, ist meine Gewohnheit nicht. Seit ich hierhergekommen bin, befinde ich mich in einer Welt, von der ich weiß, daß sie mir völlig unbekannt ist, und doch aber will es mir scheinen, als ob ich sie bereits kenne."

"Vielleicht warst Du schon einmal hier, in Deiner frühesten Jugend, mit Deinem Vater?"

"O nein!"

"Oder Du hast alte Abbildungen dieser Gegend gesehen?"

"Auch nicht."

(Seite 266A) "So wurde vielleicht von ihr gesprochen?"

"Ja, das ist es, das! Aber nur heimlich, ganz heimlich wurde von ihr gesprochen."

"Von wem?"

"Von Vater und Mutter. Niemand durfte dabei sein. Nur ich allein wurde geduldet, denn ich war noch sehr klein, noch Kind, noch nicht einmal Knabe. Aber dennoch haben sich gewisse Worte, Namen, Ausdrücke und Redebilder in mir festgesetzt, die mir verborgen blieben, jetzt aber plötzlich erscheinen und einander begrüßen und ergänzen. Ich war heut wie ein Träumender; ich war wieder das Kind. Ich sah Vater und Mutter. Ich hörte ihnen zu. Sie sprachen von der >Stadt der Toten<, von dem >Maha-Lama-See<, von dem >Riesenengel< inmitten des Platzes, von dem >Traum< eines jeden 'Mir von Ardistan, von der >Prachtsänfte< in diesem Traume, von der >Dschemmah der Lebenden< und der >Dschemmah der Toten<, von Abu Schalem, dem >berühmtesten, gerechtesten und gütigsten aller Maha-Lamas<, von - - -"

"Das alles, alles hast Du gewußt und mir doch niemals etwas davon gesagt?" unterbrach ich ihn.

"Gewußt?" lächelte er. "Wäre dies der Fall, so hätte ich Dir längst davon erzählt. Es lag verborgen in mir, vollständig unbewußt. Erst hier kam es emporgestiegen, ganz langsam und ganz unbemerkt, bis es heut plötzlich aus mir heraustrat, sich vor mich hinstellte und zu mir sagte: >Da bin ich; Du hattest mich vergessen, vollständig vergessen; kennst Du mich noch?< Sag mir, Ssahib, ist das nicht sonderbar?"

"Sonderbar? O nein. Ich finde es vielmehr in hohem Grade natürlich. Bitte, verhalte auch Du Dich natürlich. Laß diesen Kindheitsbildern Zeit, langsam in Dir und aus Dir emporzusteigen. Zwinge sie nicht! Tue ihnen ja nicht Gewalt an! Du würdest sie zerstören. Was die Seele besitzt, das gibt sie freiwillig; rauben läßt sie sich nichts. Also, beraube Dich ja nicht selbst!"

Hörte er. was ich sagte? Er hatte den Kopf erhoben und sah still empor, dem West entgegen, wo die Sonne soeben im Untergehen war. Wir konnten ihr Scheiden zwar nicht sehen, aber das Stück des Himmels, welches über uns lag, begann sich wie die zarte Wange einer errötenden Jungfrau zu färben, und diese Röte schien sich auf dem Gesicht des Dschirbani zu spiegeln. Wie es sich in der kurzen Zeit verändert hatte, dieses Gesicht! Das Ussulhaar war ganz aus ihm gewichen. Die schönen, feinen, durchgeistigten Züge lagen nun frei und unverhüllt. Wenn ich sein von der Seele vollständig durchdrungenes Äußere kurz, bündig und treffend beschreiben wollte, müßte ich sagen: ein hoch und herrlich gewachsener, männlich schöner, jugendlicher Asket vor Beginn der Askese. So, wie ich sein Gesicht jetzt sah, hatte ich es noch nie gesehen. Ich fühlte, daß seine Züge immer tiefer in mich drangen, um sich mir für immer einzuprägen, damit ich sie nie und nie vergessen möge. Während er so in die Ferne schaute, um in sich selbst hineinzusehen und hineinzulauschen, ließ er mich endlich meine Antwort hören:

"Ich weiß, was Du meinst, und ich selbst halte mich bereits in Zucht, damit ich nichts zerstöre. Soeben erklang in mir ein Wort, welches ich einst den Vater sagen hörte. Er sprach von einem unzerstörbaren Schilde, welches auf der Brust getragen wird, und einer Zeichnung darauf, die einen jeden, der ihr folgt, nach dem Begräbnisort des Krieges führt, wo ein einziger Schuß genügt, das stärkste Feindesheer ohne Waffe und ohne Blutvergießen zu bezwingen."

Diese Worte waren von allerhöchster Wichtigkeit, nicht nur für den Dschirbani, sondern für uns alle. Darum fragte ich ihn, ob er sich ihrer wohl auch ganz und richtig erinnere. Da wiederholte er sie einmal und noch einmal und noch einmal, so daß ich sie mir genau einprägen konnte, und fuhr dann fort:

"So hat er gesagt, mein Vater, ganz wörtlich so, und nicht anders. Und spielte er mit dem Oberpriester, dem Sahahr, dem Vater meiner Mutter, Schach, so behauptete er, das Schach sei eine Lüge und als Bild des Krieges gänzlich zu verwerfen. Im Schach sei man gezwungen, Soldaten, Bauern, Läufer, Türme und noch viel Höheres zu opfern, um den Sieg zu gewinnen. Am Schluß des Spieles aber seien beide Felder verwüstet, (Seite 266B) nicht nur das des Besiegten, sondern auch das des angeblichen Siegers. Die Kriegführung der Gewaltmenschen gleiche noch heut diesem alten Spiele, welches plötzlich stehen geblieben und nicht weiterentwickelt worden sei. Der Edelmensch aber, den wir alle erwarten, werde jeden Krieg, zu dem die Gewalt ihn zwingt, derart führen, daß ihm der Sieg kein einziges Opfer kostet."

"Das hast Du als Kind gehört?" fragte ich vorsichtig.

"Nein. Da war ich schon Knabe und spielte schon selbst Schach. Mutter erzählte es und wiederholte es so oft, daß es sich mir fest einprägte und ich darüber nachzudenken begann. Die Aufgabe, zu siegen, ohne Opfer zu bringen, ist eine der wichtigsten des ganzen Lebens, nicht nur in militärischer, sondern auch in jeder andern Beziehung. Ich sann und dachte sehr viel darüber nach, doch vergeblich. Da kamst Du mit Hadschi Halef. Ihr beide zeigtet uns am Engpaß Chatar, wo Ihr die Tschoban besiegtet, ohne daß ein einziger Tropfen Blut zu fließen brauchte, was mein Vater mit seiner Verurteilung des Schachspieles gemeint hatte. Seit jenem Tage ist es mein Bestreben, diese seine und Eure Lehre in Taten umzusetzen und - - -"

Er wurde unterbrochen. Halef rief zum Abendessen. Zu gleicher Zeit kam der 'Mir vom Engelsbrunnen her, in dessen Innern er Einsamkeit gesucht und gefunden hatte, und gesellte sich zu uns. Wir beeilten uns also, dem kleinen Hadschi gehorsam zu sein, der leicht zornig werden konnte, wenn man seinen Zubereitungen nicht die Achtung schenkte, die ihnen nach seiner Ansicht gebührte.

Während des Essens stellte sich der Abend ein. Wir waren den ganzen Tag über stets auf den Beinen gewesen und also redlich ermüdet. Es wollte sich kein rechtes Abendgespräch entwickeln, zumal der 'Mir sich ebensowenig wie ich darum bemühte, eine Unterhaltung herbeizuführen. Wir hatten heute zwar viel gesehen und viel erfahren, was unbedingt besprochen werden mußte, doch aber nicht gleich, so ganz auf Knall und Fall. Solche Dinge müssen erst innerlich geprüft und betrachtet werden, ehe man es unternehmen darf, sie wie alltägliche Geschehnisse in gewöhnliche Worte zu fassen. Darum wurden heute sehr zeitig die Lager zubereitet. Der 'Mir schlug das seine ziemlich weit von den andern auf, und ich gesellte mich zu ihm, damit es später nicht auffallen möge, wenn wir uns miteinander entfernten. Als wir nach einem Stündchen annehmen konnten, daß die Gefährten alle schliefen, nahmen wir unsere Decken und begaben uns nach dem Saale der >Dschemmah der Toten<.

Dieser Saal lag von unserm Lagerorte so weit entfernt, daß die Schläfer durch das Rollen des Türquaders nicht aufgeweckt werden konnten. Im Innern herrschte tiefste Dunkelheit. Wir brannten so viele Kerzen an, wie der 'Mir zu seinem Vorhaben brauchte. Dann ging er an das grauenhafte Werk, in das Fegefeuer dieses ungewöhnlichen Ortes hinabzusteigen und die Schuldbücher seiner Ahnen zu studieren. Ich aber bereitete mir im linksseitigen Zuhörerraum auf einigen Sitzen mit Hilfe meiner Decke ein leidlich bequemes Lager.

Das Licht der Kandelaber drang nicht zu mir. Ich lag in völliger Finsternis. Die unbeweglichen Gestalten der Dschemmah waren durch die eigenartige Lichtwirkung wie in weite Ferne gerückt. Das täuschte mein Auge; es vervielfachte ihre Größe. Sie erschienen mir gigantisch. Es war mir, als ob ich aus unserer Welt der Dunkelheit in ein überirdisches Dasein schaue, dessen Geheimnisse soeben begonnen hatten, sichtbar zu werden. Wenn ich wirklich schlafen wollte, mußte ich dergleichen Phantasmen von mir abwehren. Ich wendete mich also auf die andere Seite, legte mich nieder und schloß die Augen. Ich glaube, daß ich dann auch sofort eingeschlafen bin, wenigstens bin ich mir nicht bewußt, auch nur noch eine Minute wach geblieben zu sein. Auch wie lange ich geschlafen habe, ehe ich aufgeweckt wurde, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, daß ich nicht von selbst erwachte, sondern von einer lauten Stimme aus dem Schlafe gerufen wurde.

Es war die Stimme des Mir. Anfangs hatte er bei Abu Schalem gestanden und mit dem Hauptbuche begonnen. Jetzt stand er unten bei seinen Vorfahren, hatte eines ihrer Konti (Seite 267A) in der Hand und las, gegen die Richter gewendet, aus demselben vor. Er stand leider so, daß ich die Worte nicht verstehen konnte, deren Schall zur jenseitigen Höhe stieg und, von dort zurückkehrend, sich selbst verschlang. Er schien die Wirklichkeit vergessen und sich vollständig in die Fiktion hineingelesen und hineingedacht zu haben. Er nahm die Toten für Lebendige. Er las ihnen laut vor; er sprach dazwischen zu ihnen; er erläuterte und erklärte; er gestikulierte wie ein Angeklagter oder wie ein Verteidiger, bei dem alles auf dem Spiele steht, was er ist und was er hat. Es kam mir keinen einzigen Augenblick bei, dieses sein Gebahren für phantastisch oder gar für unsinnig zu halten, denn ich konnte zwar nichts genau verstehen, aber doch jedem seiner Worte anhören, daß alles, was er sagte, der tiefsten Seelenqual und Herzensnot entsprang. Und - - - doch halt! Was war das - - -?

In der geraden Richtung meines Lagers, aber dort im äußersten Winkel und in der äußersten Finsternis, tauchte jetzt ein kleines, winziges, wehendes Flämmchen auf, welches sich mir langsam näherte. Es kam jemand, ganz leise, leise. Wer war es? Ich sah etwas Weißes. Je geringer die Entfernung zwischen mir und diesem Lichtchen wurde, desto deutlicher zeigte sich die Gestalt des Trägers oder vielmehr der Trägerin, denn sie war eine weibliche. Sie trug ein weißes, weites, bis auf den Boden niederreichendes Gewand mit langen, weiten Ärmeln. Es schloß sich eng an den Hals. Gesicht und Kopf waren unbedeckt. Das Haar bildete einen Kranz von dunklen, anspruchslos geordneten Flechten. Dieses Wesen schien den Saal genau zu kennen, denn es achtete nicht darauf, wohin es seine Schritte setzte, sondern es hielt das Gesicht nach der Seite gewendet und den Blick im Vorwärtsschreiten nach dem 'Mir gerichtet. Darum sah es mich nicht, als es mich erreichte. Freilich kam es nicht direkt an mir vorüber, sondern in einer Entfernung von vielleicht zehn Schritten. Dennoch drückte ich mich so eng und klein wie möglich zusammen, um ja nicht bemerkt zu werden. Dabei achtete ich scharf auf das Gesicht. Ich sah es nicht genau, weil es halb von mir abgewendet war, doch erkannte ich, daß ich nicht ein junges Mädchen, sondern eine Frau vor mir hatte, die gewiß schon über vierzig Jahre zählte. Ihre Gestalt war hoch, wie die einer Ussula, ihre Haltung aufrecht, ihr Gang stolz, trotz aller Vorsicht, leise aufzutreten.

Nach einigen weiteren Schritten blieb sie stehen und blies das Licht aus. Nun stand sie also im Dunkeln. Aber sie lauschte. Sie wollte hören, was der 'Mir sprach. Und indem sie ihrem Ohre die betreffende Richtung gab, hob sie den Kopf ein wenig mehr in die Höhe und hielt ihn so, daß er, halb Profil und halb Face, von dem Lichte der Kandelaber getroffen und übergossen wurde. Das war ganz genau dieselbe Stellung, welche das Gesicht des Dschirbani eingenommen hatte, als ich kurz vor dem Abendessen seine Schönheit und seeliscbe Ausdrucksfähigkeit bewunderte. Und, sonderbar, es war, als ob ich jetzt, hier, genau dasselbe Gesicht vor mir habe, nur nicht in männlicher, sondern in weiblicher Ausgabe, und nicht auf innere Askese deutend, sondern mit den Zügen und den großen ernsten, aufnahmefähigen Augen einer Seherin. Ja, es gab da gar keinen Zweifel; das war das Gesicht des Dschirbani. Ich dachte sofort an seine Mutter. Das Alter stimmte, auch die Gestalt und die unbewußt-selbstbewußte Art, sich zu bewegen. Körperlich von den Ussul, doch geistig und seelisch aus Dschinnistan stammend, so stand sie hochaufgerichtet vor mir, ihre ganze Aufmerksamkeit dorthin gerichtet, wo ein Lebender zu Längstverstorbenen sprach, als ob sie ihn hören, ihn verstehen und ihm antworten könnten. Aber es war unmöglich, da, wo sie stand, aus dem Klangschwall, der zu uns herüberflutete, die einzelnen Worte und Sätze herauszulesen; darum setzte die weiße, geheimnisvolle Frau nun ihre Schritte weiter, um sich dem 'Mir so leise und so langsam, wie sie gekommen war, zu nähern.

Da richtete ich mich auf. Es war ja möglich, daß sie den Rückweg wieder hier vorübernahm; da sollte sie mich nicht sehen. Ich mußte mich also entfernen. Ich nahm mir vor, sie womöglich nicht aus den Augen zu lassen und folgte ihr so vorsichtig, wie ich nur konnte.

Sie ging weiter und immer weiter, zuweilen stehenbleibend, um zu prüfen, ob das, was sie hörte, jetzt nun deutlicher sei, (Seite 267B) dann aber immer wieder vorwärtsschreitend, bis sie die Stelle erreichte, wo die Stufen begannen, die auf die Erhöhung führten, auf welcher Abu Schalem, der oberste Richter, saß. Sie hatte da eine der großen, starken Säulen erreicht, auf denen die hohe Decke ruhte, und blieb hinter ihr stehen. Ihrer Haltung war anzusehen. daß sie nun deutlich verstand, was sie hörte. Ich ging noch so weit, bis ich die gleiche Linie mit ihr und dem 'Mir erreichte; dann setzte ich mich nieder, um nicht vom Lichte getroffen zu werden, sondern unbemerkt das Kommende abzuwarten. Es kam sehr schnell, viel schneller, viel kürzer und ganz anders, als ich dachte.

Noch immer ertönte die Stimme des 'Mir. Noch immer las er vor, und noch immer warf er in Zwischensätzen ein, was ihm sein Inneres befahl, zu dem, was er las, zu sagen. Noch immer richtete er alles, was er las und sagte, an die Richter. Die weiße Frau hinter der Säule verstand gar wohl jedes seiner Worte, leider ich aber nicht. Die Entfernung zwischen ihm und mir war zu groß. Da sah ich, daß er das Buch, welches er in den Händen hielt, zuschlug, mit einer energischen Gebärde hinter sich warf und eine Aufforderung an die Toten richtete, die auch ich verstehen konnte, weil er sich dabei ein wenig mehr nach mir wendete und in gewichtiger Betonung alle seine Worte derart voneinander trennte, daß die Luftwellen sie nicht mehr verwirren konnten:

"Meine Seele ist voller Angst und Jammer. Sie sprach zu Euch nicht wie zu Toten, sondern wie zu Lebenden. Sie nahm an, daß auch Ihr einst Seelen besaßet und daß Ihr sie nicht verloren habt, sondern daß sie zu Euch niedersteigen und anwesend sind, so oft Ihr Euch für berufen und für würdig haltet, über so ungeheuer großes Unrecht Recht zu sprechen. Ich habe Euch meine Bedrängnis, meine Qual, meine Not geschildert. Ich habe Euch meine Fragen vorgelegt. Eure Zungen stehen still; der Tod hat sie gelähmt. Von Euch, den leblosen Körpern, kann ich keine Auskunft erwarten. Aber von Euren Seelen verlange ich Antwort. Ich fordere diese Antwort von ihnen, bei allem, was ihnen einst heilig war und jetzt noch heilig ist. Ich verlange sie von ihnen, jetzt, hier, auf der Stelle, auf der ich stehe! Ich kann nicht warten, denn schon in der nächsten Mitternacht wird die Entscheidung fallen, über mich und auch über Euch! Ja, auch über Euch! Nicht nur die Angeklagten, sondern auch die Richter werden gerichtet; das versichere ich Euch!"

Er machte eine Pause, um seinen letzten Worten doppelten Nachdruck zu geben. Er war außerordentlich erregt. Er zitterte, und seine Stimme zitterte noch mehr, als er selbst. Er fuhr fort:

"So mögen denn Eure Seelen zu der meinen sprechen. Sie ist in mir. Sie wartet. Ich stehe Euch offen und bin bereit, zu hören!"

Er legte die Hände ineinander, senkte den Kopf und stand so lange, lange Zeit. Zuweilen trennte er die Hände und hob sie empor, um sich den Schweiß von der Stirne zu wischen. Ich stand fern von ihm und sah dennoch, wie seine Brust sich hob und senkte. Das täuschte mir vor, daß mir auch sein Atem, der in schweren, angstvollen Stößen ging, hörbar sei. Es gab irgend etwas, was in ihm kämpfte, um sich loszuringen, um frei zu werden. Ich mußte da an seinen Wunsch denken, den er gegen Abend ausgesprochen hatte: "Oh, wenn ich beten könnte, beten, beten! Ich gäbe viel darum, sehr viel!" Da endlich schleuderte er die Arme, als ob er etwas wegwerfe, von sich aus und rief:

"Ich höre nichts! Kein Wort, kein einziges! Auch keine einzige Silbe! Weder von außen noch von innen! Wo sind die Seelen, die zu mir reden sollen? Wollen sie nicht? Oder können sie nicht? Oder sind und waren sie überhaupt gar nicht vorhanden? Was soll ich tun? An wen soll ich mich wenden? Wer ist es, der mir helfen kann und will?"

Er schaute sich nach rechts und links, nach allen Seiten um, als ob er eine Antwort, wirklich eine Antwort erwarte. Und da klang ein Ton, fast so leise wie ein Hauch und doch im ganzen, weiten Raume zu hören, wie von hoch oben herab:

"Bete!"

Er zuckte zusammen. Er sah sich um, scheu, aber doch mit froher werdendem Angesicht.

(Seite 268A) "Beten?" fragte er. "Beten? Ich habe es gehört! Ganz deutlich gehört! Wer hat es gesagt? Wer? War es außer mir - - - war es in mir selbst? War es eine der Seelen, welche bisher schwiegen? Und kann ich es denn? Kann ich, und darf ich, ich, der Ungläubige, der Verbrecher, der, sobald er vor Gott zu treten wagt, nicht nur seine eigenen, sondern die Sünden seines ganzen Geschlechtes mitzubringen hat, um sie der Gnade und der Vergebung hinzuwerfen und - - -"

Indem er die Bewegung des Hinwurfes machte, sank er auf die Knie nieder und sprach weiter, ohne sich wieder aufzurichten. Aber er sprach nicht laut, wie bisher, sondern leise, unhörbar - - - er betete!

Ich wandte den Blick von ihm ab und faltete die Hände. Die Stelle, an der er kniete, war jetzt eine heilige. Mein profaner, kritischer Blick hatte nicht das Recht, in dieses Heiligtum zu dringen. Ich schaute auf die weiße Gestalt der Frau, die sich weiter und immer weiter vorgebogen hatte, um sich ja kein einziges seiner Worte entgehen zu lassen. Sie hielt ihre Hände erhoben, doch auch gefaltet. Sie war sichtlich bewegt, sehr tief bewegt. Sie trat nun ganz hinter dem Pfeiler hervor. Sie tat einen Schritt vorwärts, noch einen. Nun stand sie vor der untersten Stufe und blieb dort wartend stehen. Auch ich blieb nicht sitzen; ich mußte mich unwillkürlich erheben. Ich schlich mich näher hin, um das Gesicht des 'Mir deutlicher zu sehen. Schon betete er nicht mehr leise, sondern halblaut. Er war so ganz und gar von seinen Gedanken und Empfindungen hinweggerissen, daß er begann, sie in hörbare Worte zu kleiden. Gegen den Schluß seines Gebetes hin wurde er lauter und immer lauter, bis er, sich aus der knienden Stellung erhebend, ausrief:


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