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Erstes Kapitel.

E i n e  K i j a h m a.

   »Sihdi *), es war doch immer wunderschön, wenn wir beide, auf unsern unvergleichlichen Pferden sitzend, so ganz allein, von keinem fremden Menschen begleitet, immer hinein in Allahs schöne Welt ritten, wohin es uns gefiel! Diese Welt gehörte uns, denn da wir keine Seele bei uns hatten, konnte niemand sie uns streitig machen. Wir thaten, was wir wollten, und unterließen, was uns nicht gefiel; wir waren unsere eigenen Herren, denn wenn es jemanden gab, dem wir zu gehorchen hatten, so bestand dieser Jemand aus zwei Personen, nämlich aus mir und aus dir. Ich bin mir da oft als der Gebieter des ganzen Erdkreises vorgekommen und habe die unersteigbaren Höhen meines Ruhmes aus den Tiefen meines Selbstbewußtseins hervorgeholt, um in andachtsvoller Bewunderung an ihnen emporzuklimmen und dann fröhlich wieder herabzusteigen. Das konnte ich, weil wir allein waren und es also keinen unwillkommenen Störenfried gab, dem es einfallen konnte, ohne meine Erlaubnis und hinter meinen Rücken mit hinauf- und hinunterzuklettern.


*) Anrede = Herr.
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Ja, das war eine sehr, sehr schöne Zeit, in welcher wir erlebten, was kein anderer Mensch erlebt, und zwar nur deshalb, weil wir eben so allein waren und uns nur nach uns selbst zu richten brauchten. Ich sage dir, Sihdi, alle diese Thaten und Begebenheiten sind rundum an den Wänden meiner inneren Seele aufgeschrieben und mit unvergänglichen Pflöcken in den Boden meines Gedächtnisses eingeschlagen, wie man Pferde, Kamele und lebhafte Ziegen an Pflöcke bindet, wenn man befürchtet, daß sie über Nacht den ihnen angewiesenen Ort mit einem andern vertauschen wollen.«

   Er machte eine Pause, um nach diesem langen Satze einmal ausgiebig Atem zu holen.

   Wer dieser »Er« war? Wer ihn noch nicht an seiner eigenartigen Ausdrucksweise erkannt hat, der mag weiter hören. Er fuhr nämlich sogleich fort:

   »Also ich denke noch mit Wonne an die Zeiten zurück, in denen wir uns nur nach uns selbst zu richten brauchten, denn da habe ich empfunden, daß der Mann der eigentliche und wirkliche Beherrscher seines Lebens und seines Daseins ist. Aber ebenso schön und in mancher Beziehung noch schöner ist es doch, wenn man einen Tachtirwan *) bei sich hat, in welchem die holdselige Gebieterin des Frauenzeltes sitzt. Meinst du, daß ich da recht habe?«

   »Ob du da recht hast, kann doch ich nicht wissen, mein lieber Halef,« antwortete ich.

   »Wie? Das könntest du nicht wissen? Warum denn nicht?«

   »Weil in diesem Tachtirwan sich die Gebieterin nicht meines, sondern deines Frauenzeltes befindet und es also


*) (Kamelsänfte für Frauen)
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nur dir, aber nicht mir möglich ist, einen solchen Vergleich zwischen früher und heute anzustellen.«

   »Ja, richtig! Um meine Frage beantworten zu können, müßtest du deine Emmeh auch mitgenommen haben. Du kannst also gar nicht wissen, was für ein großer Unterschied darinnen liegt, ob man die liebliche Behüterin seines Glückes daheim gelassen oder ob man sie mitgenommen hat. Du hast mir einmal gesagt, wie das heilige Buch der Christen das richtige Verhältnis zwischen Mann und Weib erklärt. Kannst du dich darauf besinnen, Effendi?«

   »Ja.«

   »Du sagtest ungefähr: Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, und zwar ein Männlein und ein Weiblein. Allah hat zweierlei Eigenschaften, nämlich die Eigenschaften der Allmacht, wozu die Ewigkeit, Weisheit, Gerechtigkeit gehören, und die Eigenschaften der Liebe, welche sich auch in seiner Gnade, Langmut, Güte und Barmherzigkeit äußert. Wenn der Mensch, welcher aus zwei Wesen besteht, ein Bild Gottes zu sein hat, so soll also der Mann ein Bild der göttlichen Allmacht und die Frau ein Bild der göttlichen Liebe sein. Habe ich mir das nicht sehr gut gemerkt?«

   »Ziemlich richtig.«

   »Wenn auch nur ziemlich, für mich genügt es doch. Seit du mir diese Erklärung gegeben hast, bin ich stets bemüht gewesen, ein Bild von Allahs Allmacht zu sein. Du weißt, wie tapfer und umsichtig ich im Kampfe und wie weise, klug und gerecht ich in der Regierung meines Stammes bin. Diese eine Seite meines menschlichen Wesens läßt also wohl kaum etwas zu wünschen übrig. Und die andere Seite, welche dort in der Sänfte sitzt und ihre freundlichen Augen unaufhörlich auf mich richtet,


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ist auch genau so, wie Allah sie wünscht, nämlich ein Bild der Liebe, die mir jeden Tag zur Wonne und jede Stunde zum Vergnügen macht. Und diese Spenderin des Glückes auch während der Reise bei sich haben zu können, das ist eine Seligkeit, die mir auf unsern früheren Ritten leider versagt bleiben mußte. Ich habe gesagt, daß es früher schön war, und möchte aber behaupten, daß es jetzt fast noch schöner ist! Verstehst du mich nun?«

   »Ja.«

   »Hast du denn mit deiner Emmeh noch niemals eine Reise gemacht?«

   »O doch!«

   »Da hast du natürlich auf dem Pferde gesessen und sie im Tachtirwan?«

   »Nein. Tachtirwanat giebt's bei uns nicht.«

   »Nicht? So hat sie frei auf dem Kamele gesessen?«

   »Auch nicht. Im Abendlande reist man nicht per Kamel, sondern in der Karrusa *) oder in dem Katr **).«

   »Allah! Wer darf im Katr fahren?«

   »Jeder, der seinen Tiskri ***) bezahlt hat.«

   »Auch Frauen?«

   »Ja.«

   »Aber neben dem Weibe eines andern zu sitzen, das ist doch wohl sehr streng verboten?«

   »Nein.«

   »Unmöglich! Sihdi, sag aufrichtig, ob du, nämlich du auch schon einmal im Katr neben einer Frau gesessen hast, welche in den Harem eines andern Mannes gehörte!«

   »Schon oft! Ich bin nicht nur mit fremden Frauen, sondern sogar mit fremden Töchtern gefahren.«


*) Kutsche.
**) Bahnzug.
***) Billet.
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   »Und wie steht es mit deiner Emmeh, der jugendlich schönen Bewohnerin deines Frauenzeltes, hat die auch schon neben andern Männern sitzen müssen?«

   »Ja.«

   »So verderbe Allah eure Eisenbahnen bis in den allertiefsten Abgrund der Hölle hinab! Wenn nicht nur mein Weib, welches ich allein besitze, sondern auch alle meine Töchter, die ich glücklicherweise noch nicht habe, es sich gefallen lassen müssen, daß jeder fremde Stadtbewohner und jeder unbekannte Beduine sich im Katr an ihre Seite setzen darf, so mag ich von eurem Abendlande kein Wort weiter hören! Sihdi, du weißt, wie sehr ich dich liebe und wie hoch ich dich achte; aber nun ich weiß, daß du neben fremden Frauen und Töchtern gesessen hast, die nicht in deinem Zelte geboren worden sind, und daß du sogar auch deiner Emmeh erlaubst, mit Männern zu reisen, an welche sie kein Akd en Nikah *) bindet, nun wird es mir wohl nicht mehr leicht sein, dich als meinen besten Freund, den ich im Herzen trage, mit Anerkennung zu beehren! Die Schienen eurer Eisenbahn haben sich zwischen mich und dich gelegt, und unsere Herzen sind einander so entfremdet worden, daß sie durch keinen Wabur **) wieder verbunden werden können. Ich lasse dich allein und gehe zu meiner Hanneh, um in meiner großen Betrübnis Trost bei ihr zu finden!«

   Wer meinen lieben, kleinen Halef kennt, dem kommt dieses Verhalten nicht fremd vor; für diejenigen, welche noch nichts über ihn gelesen haben, seien folgende kurze Bemerkungen bestimmt:

   Hadschi Halef Omar, jetzt der oberste Scheik der Haddedihn-Beduinen, vom großen Stamme der Schammar,


*) Zeremonie des Ehekontraktes.
**) Lokomotive.
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war früher ein blutarmes Kerlchen gewesen. Er stammte aus der westlichen Sahara, hatte mich als mein Diener nach Osten begleitet und war da so glücklich gewesen, die Tochter eines Scheikes der Ateïbeh-Araber zur Frau zu bekommen. Dieser letztere wurde später von den Haddedihn zum Scheik gewählt und bekam, da er keinen Sohn hatte, meinen Halef als seinen Schwiegersohn zum Nachfolger.

   Dieser war von Person sehr klein und hager, dabei aber von ungewöhnlicher Tapferkeit und von einem Mute, der sehr gern verwegen wurde und darum von mir oft in die Zügel genommen werden mußte. Ein guter Schütze, auch sonst sehr waffengewandt, ausdauernd, körperkräftig, außerordentlich mäßig, ein vortrefflicher Reiter, pfiffig und mutterwitzig, besaß er ein treues, goldenes Herz, in welchem keine Spur von Falschheit entdeckt werden konnte. Früher war ich seine einzige Liebe gewesen; später mußte ich diese Liebe mit seinem Weibe und seinem Sohne teilen, wodurch mir aber kein Verlust geschah. Die Zärtlichkeit, mit welcher er an Hanneh, seiner Frau, hing, war nicht nur rührend sondern fast beispiellos zu nennen. Sein erster Gedanke früh und sein letzter abends gehörten ihr. Es war ihm beinahe unmöglich, ihren Namen auszusprechen, ohne ihm einige der vorzüglichen Eigenschaften anzuhängen, welche sie in seinen Augen besaß. Kara Ben Halef, sein und ihr Sohn, ihr einziges Kind, zählte jetzt schon fast zwanzig Jahre, und die Frauen des Orients altern bekanntlich sehr schnell; aber dennoch war »meine Hanneh, die herrlichste Rose unter allen Blüten des Blumenreiches«, für ihn genau so jung und schön geblieben, wie er sie vor dieser langen Zeit bei ihrem ersten Zusammentreffen gesehen hatte; ja, seine Liebe zu ihr schien gewachsen zu sein.


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   Sie war aber auch - ich möchte mich so ausdrücken: eine Prachtfrau! Ich glaube nicht, daß eine andere den kleinen, voll bunter Raupen steckenden Hadschi so richtig behandelt hätte, wie sie es that. Sie beherrschte ihn vollständig, doch mit einer so liebevollen, stets freundlichen, scheinbar nachgebenden Klugheit, daß er ihr Pantöffelchen gar nicht fühlte und auch nicht die geringste Ahnung davon hatte, daß nicht er, sondern eigentlich sie der Scheik des Stammes war, wobei sich die Haddedihn allerdings sehr wohl befanden.

   Eine seiner Eigentümlichkeiten war, daß er sich nicht nachhaltig in die Verhältnisse des Abendlandes denken konnte. Ich hatte es ihm in unzähligen, verschiedenen Bildern beschrieben, hatte ihm die zwischen dem europäischen und dem orientalischen Leben vorhandenen Unterschiede bei tausend Gelegenheiten geschildert, sah aber nicht den geringsten Erfolg davon. Er sprach trotzdem immer von meinen Zelten, von meinen Kamelen und von meinen Dattelpalmen. Eine weitere Eigenheit von ihm war, daß er gern sprach, besonders sehr gern erzählte, und zwar in jenen orientalischen Redeblumen, welche gern zu Uebertreibungen werden. Wenn ich ihn in dieser Weise sprechen lasse, ohne seine Vergrößerungen auf das richtige Maß zurückzuführen, so geschieht dies, um ihn nach der Wahrheit zu zeichnen, keineswegs aber um mich mit seiner Ausdrucksweise einverstanden zu erklären. Besonders wenn er von unsern Erlebnissen erzählte, nahm er den Mund in einer Weise voll, daß ich ihn häufig unterbrechen mußte. Der Orientale freilich ist das so gewöhnt, daß er gar nichts Auffälliges daran findet.

   Seit er wußte, daß ich verheiratet war, sprach er gelegentlich auch von meinem »Harem«, von meinem Frauen-


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zelte [Frauenzelte]. Emma, den Namen meiner Frau, hatte er in Emmeh umgemodelt, und es verstand sich bei ihm ganz von selbst, daß die Verhältnisse dieser meiner Emmeh ganz genau dieselben wie diejenigen seiner Hanneh seien. Mein Harem durfte nicht den geringsten Vorzug vor dem seinigen besitzen, und durch die leiseste Andeutung eines Vorteiles des meinigen vor dem seinigen konnte ich ihn, wie man sich auszudrücken pflegt, fuchsteufelswild machen.

   Zu erwähnen darf ich nicht vergessen, daß er sich früher alle mögliche Mühe gegeben hatte, mich zum Islam zu bekehren; aber die von ihm damals nicht geahnte Folge davon war, daß er jetzt Isa Ben Marryam *) hoch über Muhammed stellte; er war in seinem Innern Christ geworden und nicht nur seine Hanneh, sondern auch die meisten Haddedihn mit ihm.

   Unsere früheren Reisen hatten wir meist allein oder doch mit nur geringer gelegentlicher Begleitung unternommen; dieses Mal aber befanden wir uns in größerer Zahl beisammen, und das war folgendermaßen gekommen:

   Der Araber ist der Ansicht, daß die Ehre um so größer sei, je länger der Name ist; darum pflegt er seinem Namen diejenigen seiner nächsten Vorfahren anzuhängen. So nannte sich Halef, als ich ihn kennen lernte, Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah. Sein Vater hatte also Abul Abbas und sein Großvater Dawuhd al Gossarah geheißen. Ihnen beiden und auch sich selbst gab er den Titel Hadschi, welcher einen Mohammedaner bezeichnet, der in Mekka gewesen ist. Dabei aber war weder er selbst noch sein Vater oder sein Großvater jemals dort gewesen. Später kamen wir allerdings einmal nach dieser heiligen Stadt


*) Jesus, Mariens Sohn.
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des Islam, aber nur für kurze Zeit; ich wurde als Christ erkannt, mußte fliehen *) und kam glücklicherweise mit dem Leben davon.

   Seit jener Zeit war es einer meiner größten Wünsche, noch einmal nach Mekka zu gehen. Ich war erfahrner als damals, geübter in der Sprache und bewanderter in den Umgangsformen. Ich kannte jetzt die religiösen Gebräuche und alle darauf bezüglichen Maßregeln und Aeußerlichkeiten so genau, daß ich gewiß sein konnte, für einen Mohammedaner gehalten zu werden. Erst jetzt sah ich es ein, welche Verwegenheit es damals von mir gewesen war, eine Stadt zu betreten, in welcher jeden Christen der fast sichere Tod erwartet, und um so reger wurde das Verlangen, es mit dieser Gefahr noch einmal, und zwar besser vorbereitet, aufzunehmen. Ich hatte den Islam und den größten Teil der von seinen Bekennern bewohnten Länder kennen gelernt; ich war zweimal in Kaïrwan gewesen, der den Christen damals auch streng verbotenen heiligen tunesischen Stadt, und hatte das Wagnis glücklich überstanden; warum sollte ich nicht wenigstens den Versuch machen, diesen meinen Wanderstudien durch einen längeren Aufenthalt in Mekka einen befriedigenden Abschluß zu geben? Freilich wußte ich gar wohl, daß dieses Unternehmen grad für mich gefährlicher als für jeden andern war. Die mohammedanischen Gegenden und Orte, wo man mich als Christen kennen gelernt hatte, waren gar nicht herzuzählen. Ich hatte mir da viele, viele Freunde erworben, aber auch manchen Schurken zum unversöhnlichen Feind gemacht. Dazu kam, daß meine Gesichtszüge leider so charakteristisch sind, daß sie sich selbst einem gewöhnlichen Gedächtnisse für lange Zeit, wenn nicht für immer, einprägen. Durfte ich er-


*) Siehe: Karl May, »Durch die Wüste« Seite 299.
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warten [erwarten], daß während meiner Anwesenheit in Mekka keiner von den vielen Menschen, die mich kennen gelernt hatten, dort sein werde? Also, ich wußte sehr wohl, was ich wagte; aber die Gefahr lockte fast noch mehr als der Wunsch selbst, und so nahm der Vorsatz, diesen letzteren auszuführen, schließlich eine solche Festigkeit an, daß es weiter nichts als nur der Gelegenheit dazu bedurfte.

   Sie ließ nicht auf sich warten; sie stellte sich durch meinen diesmaligen Besuch bei den Haddedihn ein. Halef war gewöhnt, daß ich stets, wenn ich zu ihm kam, einen längeren Ausflug mit ihm unternahm. Als er mich fragte, welche Gegend ich jetzt besuchen wolle, und ich ihm nur das eine aber bedeutungsvolle Wort Mekka sagte, erschrak er zunächst, fühlte sich dann aber, grad so wie ich, von der Gefahr doppelt angezogen. Für ihn war natürlich die Hauptfrage, was seine Hanneh, die »wohlthätige Pflegerin seines Erdenglückes«, dazu sagen werde. Wir besprachen darum erst alles unter vier Augen und begannen dann, hie und da eine vorsichtige Bemerkung fallen zu lassen, welche auf unsere eigentliche Attacke vorbereiten sollte. Aber die kluge »Sonne unter allen Sternen des Frauenfirmamentes« durchschaute uns schon nach den ersten, leisen Andeutungen und forderte uns auf, nicht mit ihr Versteckens zu spielen, sondern mit der Wahrheit offen hervorzutreten. Dem Hadschi erschien das doch zu gewagt; er verschwand schleunigst aus dem Zelte, in welchem wir mit ihr saßen. Ich blieb und teilte ihr nun aufrichtig meine Absicht mit und den darauf bezüglichen Wunsch, daß Halef mich begleiten möge. Jetzt war ich voll gespannter Neugierde, was sie antworten werde. Sie sah eine Weile schweigend und überlegend vor sich nieder und sagte dann:

   »Er soll dich nicht allein begleiten, Effendi; ich reite mit!«


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   Man mag sich mein frohes Erstaunen denken! Sie sah es mir an und fuhr lächelnd fort:

   »Das hast du nicht erwartet? Und doch ist der Grund so leicht erklärlich! Ich weiß, daß du ein verständiger Mann bist und will dir darum eine Frage anvertrauen: Hast du in deinem Herzen einmal gefühlt, was Ischtijak el Watan *) ist?«

   »Ja,« antwortete ich.

   »In deinem eigenen Herzen?«

   »Ja.«

   »So darf ich dir gestehen, daß ich diese Sehnsucht schon oft empfunden habe und auch noch jetzt in mir trage. Du weißt, daß ich eine Tochter der Ateïbeh bin, und hast mich und meinen Stamm in der Nähe Mekkas kennen gelernt. Dort sind die lichten Tage meiner Kindheit verflossen; ich weiß nicht, ob du es glaubst, ich aber halte es für wahr, nämlich daß das Herz des Menschen, je älter er wird, um so mehr nach den Orten verlangt, welche seine Jugend gesehen haben. Ich liebe meinen Halef und auch Kara Ben Halef, meinen Sohn; ich bin glücklich in dieser meiner und in ihrer Liebe; aber neben diesem Glücke wohnt das Verlangen, die Matarih el Watan **) einmal wiedersehen zu dürfen. Ich bitte dich, Halef nichts davon zu sagen, denn es würde ihn betrüben, zu erfahren, daß ich Sehnsucht leide! Für diese Verschwiegenheit sollst du die Erfüllung deines Wunsches haben. Er darf dich begleiten, und ich reite mit.«

   »Und Kara Ben Halef, euer Sohn?« fragte ich.

   »Ihn hier zu lassen, würde mir unmöglich sein; er geht auch mit. Ja, ich glaube, daß du noch größere Begleitung bekommst. Du weißt zwar, daß unsere Hadde-


*) Heimweh.
**) Stätten der Heimat.
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dihn [Haddedihn] den Propheten längst nicht mehr so verehren wie zu der Zeit, als sie dich noch nicht kannten, aber Mekka selbst ist vielen von ihnen doch noch eine wichtige Stadt, und wenn sie erfahren, daß wir hinwollen, wird mancher von ihnen sich bereit erklären, mitzureiten. Wirst du etwas dagegen haben?«

   »Nein. Ich kann als Christ im Gegenteile nur wünschen, möglichst viele Freunde bei mir zu haben, die im Augenblicke der Gefahr an meiner Seite stehen.«

   »So sind wir also einig, und ich werde jetzt gleich Halef suchen, um ihm zu sagen, daß er seine Vorbereitungen beginnen könne.«

   Das war ihre mir wohlbekannte Energie. Wenn sie einmal einen Entschluß gefaßt hatte, so pflegte sie mit der Ausführung desselben nicht auf sich warten zu lassen. Wie glücklich sie den Hadschi mit ihrer so unerwartet schnellen Einwilligung machte, das wußte ich nicht nur, sondern ich bekam es auch schon nach kurzer Zeit zu hören, als er freudestrahlend mich aufsuchte und mir sagte:

   »Effendi, sie hat ja gesagt, sie, die liebenswürdigste unter allen irdischen Liebenswürdigkeiten! Wir gehen nach Mekka, ja wir gehen wirklich hin. Ich habe es soeben öffentlich verkündigen müssen. Da werden wir wieder einmal große Thaten der Tapferkeit verrichten und Werke der Kühnheit vollbringen, die unsern Ruhm in alle Länder tragen. Unsere Kindeskinder werden uns ehren und unsern Enkel- und Urenkelnachkommen unser Lob verkünden vom Aufgang bis zum Niedergang der Sonne! Habe ich nicht ein herrliches Weib, Sihdi?«

   »Ja,« nickte ich; »deine Hanneh ist ganz gewiß die herrlichste aller Frauen!«

   »Ganz gewiß! Richtig! Aber deine Emmeh auch! Und damit es zu keinem Streite und Zusammenstoße


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zwischen ihnen komme, wollen wir vorsichtig sein und folgendermaßen beschließen: Meine Hanneh ist die herrlichste Frau des Morgen-, und deine Emmeh ist die herrlichste Frau des Abendlandes. Bist du damit zufrieden?«

   »Ja.«

   »Du kannst da aber auch wirklich ganz zufrieden sein, denn wenn du dadurch von mir ohne alle Widerrede die herrlichste Frau des Abendlandes bekommen hast, darf keine andre dort von nun an wagen, sich mit ihr zu vergleichen. Sage ihr das, wenn du in dein Duar *) heimkehrst, damit sie erkenne, was für ein Freund ich von dir bin und also auch von ihr! Allah erhalte sie jung; er gebe ihr schwarzgefärbte Augenwimpern, seidene Bänder in die Zöpfe und die schönsten, roten Fingernägel!«

   Es meldeten sich auch wirklich so viele Haddedihn, daß sie gar nicht alle mitgenommen werden konnten, sondern eine Auswahl getroffen werden mußte. Der Ritt durch die großen arabischen Wüsten wäre des Wassers wegen um so schwieriger gewesen, je mehr Personen sich an demselben beteiligten. Und bei einer so großen Schar, wie sich gemeldet hatte, hätten wir an einen längeren Aufenthalt in Mekka gar nicht denken können. Darum wurde bestimmt, daß für jetzt nur fünfzig Krieger teilnehmen durften; den andern wurde es freigestellt, dann wieder eine Auswahl unter sich zu treffen und die durch sie bestimmten dann nachfolgen zu lassen. Es war nämlich jetzt noch nicht die Zeit der eigentlichen Hadsch, des großen Pilgerzuges. Da bei diesem die Scharen der Mohammedaner zu vielen, vielen Tausenden aus allen Himmelsrichtungen in Mekka zusammenströmen, so war zu dieser Zeit die Gefahr des Erkanntwerdens am größten.


*) Zeltdorf.
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Darum wollten wir jetzt schon hin, wo der Andrang nicht so groß war und ich meine Studien mit mehr Muße machen konnte. Waren wir dann bei der Ankunft der großen Hadsch noch dort und ich fand Grund, mich schnell in Sicherheit zu bringen, so konnte ich das in dem befriedigenden Bewußtsein thun, meinen Zweck trotzdem und schon vorher erreicht zu haben. Es zwang uns ja nichts, zur eigentlichen Pilgerzeit in der Stadt der Kaaba einzutreffen, weil der Moslem auch außerhalb derselben, während des ganzen Jahres, seinen religiösen Obliegenheiten dort nachkommen und die ihm nach seiner Ansicht dafür gebotenen geistlichen Vorteile sich aneignen kann. Ueber die von der mohammedanischen Priesterschaft verbreitete Annahme, daß eine Minute Aufenthalt in Mekka während der Hadsch wertvoller sei und mehr Segen bringe als ein ganzer Tag zu gewöhnlicher Zeit, waren, von mir gar nicht zu sprechen, Halef und seine Haddedihn schon längst hinaus. Sie schenkten dieser Versicherung keinen Glauben.

   Einige der Männer, welche uns begleiteten, wollten ihre Frauen mitnehmen, wozu wir aber unsere Einwilligung nicht gaben, weil uns schon die Rücksicht auf Hanneh allein genug hinderte, so zu reisen, wie wir es ohne sie hätten thun können. Bemerken will ich, daß auch Omar Ben Sadek, den die meisten meiner Leser schon kennen gelernt haben, mit bei den Auserwählten war.

   Als Maßregel zu meiner Sicherheit wurde beschlossen, daß ich während dieser Reise nicht Kara Ben Nemsi genannt werden sollte. Dieser Name war so bekannt, daß er mir jetzt nur Verlegenheiten, wenn nicht noch mehr, bereiten konnte. Halef machte da in seiner eigenartigen Weise die Bemerkung:

   »Da siehst du, Sihdi, wie sehr wir beide den großen,


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berühmten Beherrschern der Erde gleichen: Wir müssen den Abglanz unserer Herrlichkeit hinter einen fremden Namen verstecken. Zwar ist das dieses Mal nicht auch bei mir, sondern nur bei dir der Fall, aber wie du dich in meinen Strahlen sonnen darfst, so muß auch mich der wohlthätige Schatten deines Madschhul *) treffen. Wie aber sollen wir dich nennen? Hast du vielleicht schon über einen andern Namen nachgedacht?«

   »Nein. Es handelt sich auch nicht nur um den Namen.«

   »Ja, richtig. Wir müssen auch wissen, wie wir zu antworten haben, wenn wir gefragt werden, was du bist.«

   »Am einfachsten wäre es, mich für einen Haddedihn auszugeben.«

   »Nein, das geht nicht, Sihdi, denn da würde deine Herrlichkeit so vollständig verschwinden, daß sie später vielleicht gar nicht wiederzufinden wäre. Auch will ich stolz darauf sein können, daß du bei uns bist; darum müssen wir dir einen Namen und eine Würde erteilen, welche unbedingt zur Achtung fordern. Am besten ist es, wir geben dich für einen großen Gelehrten aus. Ist dir das recht?«

   »Ja.«

   »Woher bist du?«

   »Aus irgend einem mohammedanischen Lande, aber ja nicht aus einer großen Stadt, weil jeder, der von dort nach Mekka kommt, diesen Gelehrten kennen müßte.«

   »Erlaubst du, im fernen Moghreb **), welcher meine Heimat ist, geboren worden zu sein?«

   »Ja.«

   »Du hast dort im Wadi Draha das erste Licht der Welt erblickt?«


*) Inkognito.
**) Westliche Sahara.
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   »Sehr gern!«

   »Und von welcher Art ist deine Gelehrsamkeit?«

   »Das überlasse ich dir, lieber Halef.«

   »Gut! Weil du so bescheiden bist, werde ich dich sehr hoch erheben. Du beschäftigst dich nämlich gar nicht mit einer einzigen Art der Wissenschaft, sondern deine unendliche Weisheit ist in die Höhen und in die Tiefen aller Ulum *) eingedrungen. Oder ist dir das noch zu wenig?«

   »Es genügt einstweilen.«

   »Schön. Ein solcher Mann muß sehr berühmte Ahnen und also einen langen Namen haben. Ich werde dir ihn jetzt diktieren. Schreib ihn sogleich auf, damit wir ihn festhaben und ihn auswendig lernen können!«

   Ich folgte mit stillem Vergnügen dieser seiner Aufforderung. Er ging sinnend hin und her und brachte nach und nach, Glied für Glied, folgende Schlange zum Vorscheine:

   »Hadschi Akil Schatir el Megarrib Ben Hadschi Alim Schadschi er Rani Ibn Hadschi Dajim Maschhur el Azami. Ich hoffe, daß dieser schöne Name deinen Beifall hat!«

   In deutscher Sprache würde die Riesenschlange heißen: Hadschi Vernünftig Klug, der Erfahrene, Sohn des Hadschi Weise, Tapfer, der Reiche, Sohn des Hadschi Unsterblich, Berühmt, der Herrliche. Das war doch wohl mehr als genug? Dennoch hatte er noch ein Uebriges gethan und mir und meinen mir bisher völlig unbekannten Vorfahren den Ehrentitel Hadschi verliehen. Mehr konnte ich doch unmöglich verlangen! Trotzdem antwortete ich, natürlich nur in der Absicht, ihn zu necken:


*) Wissenschaften.
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   »Du scheinst zu glauben, mich mit ihm sehr zufriedengestellt zu haben, irrst dich aber; er könnte länger und besser sein!«

   »Länger - - - besser - - -?!«

   Sein Mund blieb vor Verwunderung offen. Er sah mich eine Weile mit großen Augen an und brach dann zornig los:

   »Wie - - wie könnte er sein? Länger könnte er sein, und besser könnte er sein? Soll ich ihn etwa von hier bis hinauf zum Monde und dann wieder herunter dehnen? Soll ich alle sieben Himmel Muhammeds plündern, um noch mehr Worte der Pracht und der Erhabenheit für dich zusammenzustehlen? Wie kommst du zu dieser mich beleidigenden Unzufriedenheit. Hast du den Namen bei mir bestellt, oder habe ich ihn dir freiwillig, also aus eigenem Antriebe, gegeben?«

   »Freiwillig.«

   »Hast du ihn mir bezahlt, oder wirst du ihn bezahlen?«

   »Nein.«

   »Du mußt also zugeben, daß er ein Geschenk von mir ist?«

   »Ja.«

   »Gut, so hast du deine Undankbarkeit in ihrer ganzen kolossalen Größe eingestanden! Ich mache dir aus eigenem Antriebe, aus der Tiefe meines freigebigen, mildthätigen Herzens heraus einen neuen Namen, den du brauchst, zum Geschenk! Ich suche in allen Winkeln und Ecken der menschlichen Sprachfertigkeit herum, um das Beste, was dort hingelegt und an den Wänden aufgehängt worden ist, herauszufinden! Ich wähle die glänzendsten Worte, die prächtigsten Ausdrücke und füge sie für dich mit einem so tiefen Verständnisse, mit einer so bewun-


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dernswerten [bewundernswerten] Sachkenntnis zusammen, wie der Dschauhardschi *) die seltensten Edelsteine und die köstlichsten Perlen zu einer Halskette zusammensetzt! Ich überreiche dir dieses unübertreffliche Geschenk, indem ich es dir mit meinem eigenen Munde mühsam diktiere! Und nun du es empfangen hast, was thust du? Du drehst es in deinen Gedanken und in deinen Händen unzufrieden hin und her; du wirfst die Nichtwohlgewogenheit deiner unfreundlichen Blicke darauf und beleidigst den Hintergrund meiner Seele und den Vordergrund meines Herzens durch die schreiende Ungerechtigkeit des unsachgemäßen Vorwurfes, daß diese Juwelenkette, dieses ganz unzahlbare Geschmeide, diese geradezu diamantene Freundschafts- und Ehrengabe länger und auch besser sein könne!« Wenn [könne! Wenn] das nicht eine Undankbarkeit ist, die dich um meine ganze Achtung und Gegenliebe bringen muß, so habe ich noch nie gewußt, was überhaupt Undank ist! Du hast mit der Hacke deiner Unerkenntlichkeit und mit der Schaufel deiner habsüchtigen Unzufriedenheit zwischen mir und dir einen tiefen Abgrund gegraben, dessen Breite ich nicht überspringen könnte, wenn ich hinüberwollte. Das Schicksal hat unsere Trennung beschlossen; das Fatum reißt uns für ewig auseinander, und wir werden, ich hüben und du drüben, von jetzt an einsam durch das Leben gehen und beide für alle Zeit auf dich verzichten! Lebe wohl, Sihdi, lebe wohl!«

   Er verließ das Zelt, und ich prägte mir in größter Seelenruhe den Namen ein; ich wußte ja, wie es kommen würde! Und es kam wirklich so! Nach vielleicht einer Viertelstunde zog er den Vorhang, welcher den Eingang bildete, auseinander und steckte den Kopf herein.

   »Sihdi!« sagte er.

   »Was?« fragte ich.


*) Juwelier.
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   »Ich war bei Hanneh, der trauten Krone aller Weiber!«

   »So!«

   »Ich habe es ihr erzählt!«

   »So!«

   »Weißt du, was sie machte?«

   »Ja.«

   »Was?«

   »Sie lachte dich aus!«

   »Nein, nicht ausgelacht, sondern sie lächelte nur. Dann gab sie mir einen Rat.«

   »Welchen?«

   »Den allerbesten, den es geben kann, denn du mußt wissen, daß Hanneh, mein Stern im Wachen und im Träumen, stets nur den besten Rat zu finden weiß. Sie fand den Namen nämlich auch für dich zu kurz.«

   »Das war klug von ihr!«

   »Und sagte, ich solle noch den Großvater deiner Urgroßmutter hinten anhängen.«

   »Schön! Hast du den gekannt?«

   »Nein; aber nimm das Papier, und schreib ihn noch hin! Sein Name war Ben Hadschi Taki Abu Fadl el Mukarram.«

   Ich schrieb die Worte, welche in deutscher Uebersetzung »Sohn des Hadschi Fromm, Vater der Güte, der Ehrwürdige« heißen.

   »Hast du nun den ganzen Namen?« fragte Halef jetzt.

   »Ja.«

   »Lies ihn einmal vor!«

   »Hadschi Akil Schakir el Megarrib Ben Hadschi Alim Schadschi er Rani Hadschi Dajim Maschhur el Azami Ben Hadschi Taki Abu Fadl el Mukarram.«


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   »Schön! Was sagst du nun dazu?«

   »Er gefällt mir außerordentlich.«

   »Du bist also nun zufrieden?«

   »Sehr.«

   »Du bist also einverstanden, daß wir dich so heißen?«

   »Ja.«

   Da hellte sich sein Gesicht schnell und vollständig wieder auf, und er sagte im frohen Tone:

   »Hamdulillah! Allah sei Lob und Dank gesagt, daß es mir gelungen ist, diesen deinen Abgrund wieder zuzuschaufeln! Nun sind wir die alten Freunde und können wieder, wie vorher, in Wonne miteinander verkehren. Ich sage dir, daß ich es hüben auf meiner Seite nicht ausgehalten hätte, wenn du immer hättest drüben bleiben müssen! Ich werde es mir aber zur Warnung dienen lassen und nie in meinem Leben wieder so unvorsichtig sein, die Namen von verstorbenen Personen zu entdecken, die gar nicht gelebt haben! Jetzt bitte ich dich, mit herauszukommen! Die Dschemmah *) tritt zusammen, um darüber zu beraten, wer und in welcher Weise er während meiner Abwesenheit den Stamm regieren soll. Da mußt du auch dabei sein, denn so oft und so lange du bei uns bist, giltst du genau so, wie wir alle als mitten zwischen unsern Herden geborenes Mitglied der Haddedihn vom großen, berühmten Stamme der Schammar.«

   Das war richtig. Ich mußte, wenn ich mich bei diesen guten Leuten befand, an allen ihren Beratungen teilnehmen und wußte die Ehre, welche mir dadurch erwiesen wurde, gar wohl zu schätzen. Die Schammar haben ihren Namen von dem in Arabien südlich von der Wüste Nefuhd liegenden Dschebel **) Schammar, den sie


*) Versammlung der Aeltesten.
**) Berg, Gebirge.
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als Mittelpunkt ihres ausgedehnten Gebietes betrachten. Als Angehörige dieses Stammes hätten wir eigentlich jetzt dorthin reiten sollen, zumal der nächste und auch beste Weg nach Mekka über den Dschebel Schammar führte; aber ich war mit Halef und seinem Sohne dort gewesen; man kannte mich als Christ, und es wäre gar nicht zu verheimlichen gewesen, daß ich auch mit nach Mekka wollte. Das hätte sehr wahrscheinlich nicht nur zu Verdrießlichkeiten, sondern sogar zu ernsten Auftritten Veranlassung gegeben, welche zu vermeiden, wir lieber einen Umweg machen und den Dschebel Schammar gar nicht berühren wollten. Leicht war das freilich nicht, besonders der uns unbekannten Wasserverhältnisse wegen. Fünfzig Mann mit Pferden und Kamelen wollen trinken, und in der arabischen Wüste, die nicht weniger schrecklich als die Sahara ist, kann der Wassermangel leicht verderblich werden. Glücklicherweise hatte ein Krieger vom Beduinenstamme der Beni Harb sich eines Haddedihnmädchens wegen, welches er liebte aber nicht dazu bewegen konnte, ihm zu seinem Stamme zu folgen, in den ihrigen aufnehmen lassen. Er war ein ernster, gewandter, sehr erfahrener und zuverlässiger junger Mann, der die Gegend, durch welche wir reiten mußten, sehr genau kannte. Dieser behauptete, genug Bijar *) und Ujun **) zu kennen, wo wir Wasser finden würden; er werde unser Führer sein, und wir könnten ihm getrost unser Vertrauen schenken. Wir beschlossen, uns an diese seine Versicherung zu halten, worauf er nicht wenig stolz war, und haben es auch dann nicht zu bereuen gehabt.

   Für Hanneh wurde ein großer Tachtirwan bestimmt, den zwei Kamele zu tragen hatten. Er war sehr geräumig und bequem; sie konnte sitzen oder liegen, wie sie


*) Plural von Bir = Brunnen.
**) Plural von Ain = Quelle.
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wollte, und sogar auf den Kissen sich ganz ausstrecken. Ein Dach aus bunten, reichgestickten Stoffen bot ihr genügenden Schutz vor den Sonnenstrahlen. Da unser Weg durch die Wüste führte und wir fünfzig Krieger zählten, mußten wir darauf verzichten, diese Leute mit Pferden beritten zu machen, welche täglich trinken müssen. Die Haddedihn sind berühmt wegen ihrer Zucht vortrefflicher Reitkamele; sie besitzen große Herden dieser Tiere, und so konnten wir also eine gute Auswahl treffen. Das Reitkamel wird Hedschihn genannt, während das Lastkamel Dschemal heißt. Die besten Reitkamele sah man früher beim Stamme der Bischari, weshalb sie Bischarihnhedschihns genannt wurden. Der Plural lautet Hudschuhn. Die Schammar und also auch die Haddedihn sind so klug gewesen, sich dieses vorzügliche Material zu erwerben, und züchten nun Reitkamele, welche denen der Bischari wenigstens gleichkommen, aber meiner Ansicht nach sie sogar übertreffen.

   Also solche Hudschuhn wollten wir reiten. Die mausgrau gefärbten hält man für die besten und ausdauerndsten Renner. Halef suchte deren mehrere für sich und mich und auch als Reserve aus. Außerdem war es uns beiden, aber auch nur uns, keinem andern Haddedihn, gestattet, unsere Pferde mitzunehmen. Der Hadschi behauptete, daß dies zu Repräsentationszwecken notwendig sei. Da er der berühmte Scheik der Haddedihn sei und ich der ebenso berühmte Gelehrte Hadschi Akil Schatir el Megarrib aus dem fernen Wadi Draha, so gehe es gar nicht anders, als daß wir in der heiligen Stadt und deren Umgebung und auch sonst bei wichtigen oder festlichen Gelegenheiten vorzügliche Pferde von reinstem Blute reiten müßten. Sein Rappe hieß Barkh *) und war ein


*) Blitz.
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ganz vorzüglicher Nedjedihengst. Mein Pferd, auch ein Rapphengst, war Assil *) Ben Rih, ein gleichwertiger Sohn meines herrlichen Rih, welcher unter mir erschossen wurde. Die Kugel, welche ihn traf, hatte eigentlich meinem Herzen gegolten. Zahllose Briefe meiner Leserinnen und Leser sprechen von den Thränen, welche beim Lesen seines Todes vergossen worden sind **). Man braucht sich ihrer nicht zu schämen. Mir selbst werden noch heut die Augen naß, wenn ich an diese traurige, ergreifende Scene denke. Jetzt ritt ich, wie bereits gesagt, Assil, seinen ebenbürtigen Sohn, der mich schon mit hohen Ehren durch ganz Persien getragen hatte und ein hochedles Pferd war, auf welches ich mich in jeder Beziehung verlassen konnte. Er war mir lieber als Halefs Barkh.

   Noch kurz vor unserm Aufbruche konnte Halef den dringenden Bitten seines Sohnes, doch auch für ihn ein Pferd mitzunehmen, nicht mehr widerstehen. Es wurde für ihn die herrliche Schimmelstute Kawamah ***) bestimmt, eine Tochter von jener weißen, berühmten Stute, welche das Pferd Muhammed Emins, des früheren Scheikes der Haddedihn, gewesen war.

   Als wir dann unterwegs waren, bildeten wir mit den Kamelen, welche die Wasserschläuche und andere notwendige Sachen zu tragen hatten, eine ganz hübsche und, wie Halef sich stolz ausdrückte, »wie das Eigentum eines Königs aussehende« Kavalkade. Selbst bei Kamelen sehen Rassetiere eben ganz anders aus als gewöhnliche, vielleicht gar abgenutzte Exemplare! Hierbei will ich die vielleicht nicht ganz unnötige Bemerkung machen, daß man die Unwahrheit sagt, wenn man behauptet, das


*) Der Edle.
**) Siehe: Karl May, »Der Schut«, Seite 635.
***) Die Schnelle.
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Kamel könne über eine Woche lang dürsten, und es komme vor, daß die Wüstenreisenden dadurch vor dem Tode des Verschmachtens gerettet werden, daß sie ein Kamel erstechen und das in dem Magen desselben befindliche Wasser trinken. Die Wahrheit ist, daß das Kamel in Beziehung auf das Futter genügsam ist und mit dornigen und stacheligen Gewächsen fürlieb nimmt, welche kein Pferd fressen würde; es zeigt sich auch in dieser Hinsicht als brauchbares Wüstentier. Sodann kann es infolge seines weiten Magens eine ungewöhnliche Menge Wasser zu sich nehmen, welche länger reicht als bei dem Pferde; aber schon am zweiten Tage hat es wieder Durst; am dritten wird es schwach und am vierten hinfällig, wenn es Lasten zu tragen hat. Es kommt ja auch auf die Leistungen an, welche man von ihm verlangt. Ich bin mit einem vorher tüchtig getränkten Bischarihnhedschihn, welches nach deutschem Gelde wohl 8000 Mark wert war, in drei Tagen und drei Nächten 450 Kilometer geritten; dann aber konnte es vor Durst nicht weiter. Und daß das Magenwasser genießbar sei, ist auch eine alte, ganz unbegründete Fabel. Ich habe viele Kamele kurz und auch später nach dem Tränken schlachten sehen, denn das Fleisch wird ja ganz gern gegessen; aber schon zwei Stunden nach der Annahme des Wassers hatte es das Aussehen von Urin und einen geradezu widerstrebenden Magengeruch. Dann wird es schnell dicker und dunkler, bis es nach kurzer Zeit das Aussehen und auch den Gestank von Jauche hat. Ich würde selbst im höchsten Grade des Durstes keinen Schluck von diesem Mistwasser trinken können, wenn ich auch wollte, und ich würde auch gar nicht wollen, weil ich überzeugt wäre, daß ich an dieser Jauche noch eher als infolge des Durstes sterben müßte. Leider wird die


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alte, wie es scheint, unausrottbare Fabel noch heut in Schul- und anderen Büchern weiter verbreitet!

   Unser eigentlicher Weg wäre bei Hit über den Euphrat und dann in gerader Linie durch die Wüste nach Djof und von da nach Haïl, dem Hauptorte des Dschebel Schammar, gegangen. Eine südlichere Linie geht von Hilleh aus um den Nedschef-See herum und später über den Dschebel Daharah direkt nach Haïl. Wir hielten die Mitte zwischen beiden ein, gingen an dem Daharah weit vorüber und suchten das berühmte Wadi Rumem zu gewinnen. Wadi heißt Flußbette und kann nach den dortigen Verhältnissen ein fließendes Wasser, aber auch eine ganz ausgetrocknete Mulde bedeuten.

   Hier, also südlich vom Dschebel Daharah war es, wo ich mit Halef voranritt und das am Anfange dieses Kapitels erwähnte Gespräch über die abendländischen Eisenbahnen mit ihm hatte. Ich hatte ihm, wie von so vielen unserer Einrichtungen, auch schon wiederholt von unseren Eisenbahnen erzählt; ich hatte sie ihm beschrieben und ihm ausführlich erklärt, welchen Segen sie bringen und daß sie gar nicht zu entbehren seien. Ich hatte, um ihm das an einem Beispiele zu verdeutlichen, ihn auf die Pferdebahn hingewiesen, welche der so viel und so unschuldig verkannte Midhat-Pascha in Bagdad gebaut hatte, doch das alles vergeblich! Er, der sonst so kluge und einsichtsvolle kleine Mann, konnte sich aus seinem orientalischen Gesichtskreise nicht herausfinden und hielt alles für unpraktisch oder gar für verwerflich, was nicht mit seinen Gewohnheiten und Erfahrungen übereinstimmte. So war es heut seinem orientalischen Gewissen gradezu als Sünde erschienen, daß es bei uns im Bahnwagen den beiden Geschlechtern erlaubt ist, bei einander zu sitzen. Das war doch ein Verbrechen gegen die allererste und


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oberste Haremsregel! Die Sache an sich verurteilte er bloß; sie brachte ihn nicht in Aufregung; aber daß ich sie guthieß und mich selbst an dieser Sünde beteiligt hatte, das erregte seinen Zorn und trieb ihn fort von mir!

   Ich ließ ihn ohne Sorge zu seiner Hanneh gehen, der er, wie ich wußte, nun sein Herz ausschüttete. Sie pflegte ihm den Turban wieder auf die richtige Stelle zu rücken. Als ich mich einmal umdrehte, sah ich, daß er, neben dem Tachtirwan reitend, sehr angelegentlich mit ihr sprach. Seine Gesten waren dabei äußerst lebhaft; er schien seinen Standpunkt verteidigen zu müssen, also war anzunehmen, daß sie zu meinen Gunsten sprach. Nach einiger Zeit lenkte er sein Hedschihn wieder an die Seite des meinigen, doch sagte er noch nicht gleich etwas, denn die Strafpredigt, welche er mir vorhin gehalten hatte, war so energisch gewesen, daß es ihm jetzt nicht leicht wurde, in Freundlichkeit wieder einzulenken. Er hustete; er räusperte sich wiederholt; endlich begann er:

   »Sihdi, denkst du noch an eure Eisenbahnen?«

   »Nein,« antwortete ich.

   »Aber du scheinst doch so tief in Gedanken zu stecken. Darf ich erfahren, was für welche es sind?«

   »Ich denke an die Unzuverlässigkeit der Freundschaft.«

   »Das geht natürlich auf mich?«

   »Ja.«

   »Meine Freundschaft ist gar nicht unzuverlässig; aber sie kann sich nicht gut an die Wagen bei euch gewöhnen, in denen Frauen, Mädchen und fremde Männer beisammensitzen. Das Allerschlimmste ist, daß du selbst auch mit dabeigesessen hast!«

   »Glaubst du, daß mir das geschadet hat?«

   »Dir? O nein, gewiß nicht!«

   »Oder den Frauen und Mädchen?«


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   »Denen? Gewiß auch nicht, denn du bist ein feiner, ein vornehmer Effendi, der sehr gut weiß, wie er sich zu benehmen hat.«

   »Nun, wenn es weder ihnen noch mir etwas geschadet hat, warum bist du da so erzürnt darüber?«

   »Weil - - hm! - - weil es sich nicht schickt!«

   »Wer behauptet das?«

   »Ich!«

   »Du? Das genügt mir nicht. Wer noch?«

   »Jeder vernünftige Mann!«

   »So? Ich behaupte aber das Gegenteil, bin also ein unvernünftiger Mensch. Ich danke dir, Halef!«

   »Sihdi, so - - so habe ich es nicht gemeint; so darfst du es nicht nehmen! Ich kenne dich ja und ich weiß also, daß grad du so viel Vernunft besitzest, daß sie für zehn andere Personen mehr als ausreichen würde. Dich habe ich am wenigsten beleidigen wollen!«

   »Nun, wenn ich eine so bedeutende Portion von Vernunft besitze, so bin ich wohl auch befähigt, über unsere Eisenbahnen zu urteilen. Ich nehme an, daß du mit Hanneh darüber gesprochen hast?«

   »Ja.«

   »Was sagte sie?«

   »Ich erzählte ihr, was ich über eure Eisenbahnen von dir gehört hatte, und fragte sie nach ihrer Meinung.«

   »Nun? Wie lautete diese?«

   »Sihdi, ich kann dir fast nicht wiedersagen, was ich aus dem Munde meiner Hanneh hörte, welche doch der Inbegriff der Zusammenfassung aller weiblichen Klugheit ist. Sie gab dir nämlich recht!«

   »Das dachte ich!«


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   »Wirklich? Du dachtest es? Warum? Ich dachte es nicht!«

   »So scheine ich deine Hanneh besser zu kennen als du. Sie will nicht, wie andere Frauen des Orientes, nur die willenlose Spielpuppe ihres Mannes sein, die er vor andern Leuten nicht sehen läßt!«

   »Spielpuppe! Sonderbar! Ganz genau dasselbe sagte sie auch! Sie fragte mich, ob sie nur mein Dschidschi *) oder meine Kukla **) sei, die kein Mensch sehen dürfe als ich allein. Ja, denke dir, sie drohte mir, nach unserer Rückkehr ein Männerzelt, ein männliches Harem zu bauen und mich da einzusperren, damit mich keine andere Frau betrachten dürfe. Dann sprach sie sogar von einer "ganz armseligen Haremswirtschaft", welche eine große und ganz unverzeihliche Beleidigung aller Frauen sei!«

   »Da hat sie recht!«

   »Recht? Sihdi, willst du haben, daß Hanneh eine Revolution gegen mich unternimmt?«

   »Nein; ich gebe ihr nur recht; was sie macht, das ist ihre Sache.«

   »Ich wollte das, was sie eine Beleidigung aller Frauen nannte, nicht einsehen; da erklärte sie es mir.«

   »Und dann begriffst du es?«

   »Du scheinst wieder einmal alles vorherzuwissen, ehe ich es dir sage! Und es ist ja auch wahr: Hanneh, die schönste Blume im Garten meiner Glückseligkeit, hat eine ganz eigene, eine ganz besondere Weise des Erklärens; sie bringt nämlich keine anderen Gründe, als solche, denen man nicht widerstehen kann. So brachte sie mir auch jetzt zwei Beispiele, mit denen sie mich so


*) Spielzeug.
**) Puppe.
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überwältigte, daß ich wirklich nicht wußte, was ich weiter sagen sollte.«

   »Darf ich erfahren, was für Beispiele das waren?«

   »Es war die Rose und die Retschina fena *); denke dir!«

   Ich mußte über diesen kräftigen Vergleich der guten Hanneh unwillkürlich lachen; da fiel er schnell ein:

   »Warum lachst du da? Etwa über mich? Ich kann doch nicht dafür, daß Hanneh, die Wonne meiner Augen, grad auf diese stinkende Retschina fena gekommen ist! Sie fragte mich, ob man jemandem eine Rose zeigen dürfe, und ich mußte dies natürlich bejahen. Hierauf wollte sie wissen, ob es die Höflichkeit gestatte, jemandem ein Stück Retschina fena vor die Nase zu halten, und ich verneinte es. Kaum hatte ich das gethan, so warf sie mir vor, daß sie von mir nicht wie eine duftende Rose sondern wie stinkende Retschina fena behandelt werde. Sie behauptete, die Frauen des Orientes würden von ihren Männern genau so eingewickelt, wie man die Retschina fena einwickelt, damit keine Nase von ihr beleidigt werde; das sei die größte Kränkung, die es geben könne; das müsse anders werden, denn so eine Entwürdigung des weiblichen Geschlechtes könne unmöglich länger geduldet werden! Ich sage dir, sie verlangte in ihrem Zorne auch Eisenbahnen und auch Lokomotiven hierher zu uns; sie wolle sich nicht länger als Retschina fena behandeln lassen sondern auch im Wagen sitzen wie die Frauen des Abendlandes, die keine Puppen sondern Herrinnen seien und ganz dieselben Rechte wie ihre Männer hätten! Denke dir, Rechte! Meine Hanneh, die schönste, die ruhigste, die sanfteste, die geduldigste, die liebenswürdigste aller Liebenswürdigkeiten, sprach von


*) Asa foetida, Teufelsdreck.
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Rechten, von denselben Rechten, wie die Männer haben! Ist das nicht unerhört?«

   »Nein.«

   »Nicht? Wie denn?«

   »Ich halte es für selbstverständlich, nicht für unerhört.«

   »Aber was soll daraus werden, wenn die Frauen nicht mehr so zurückgehalten werden, wie es jetzt geschieht?«

   »Zurückhalten? Meinst du vielleicht, daß sie dann wie wilde Tiere über uns herfallen, um uns zu verschlingen?«

   »Nein; du mußt nicht gleich das Allerschlimmste sagen. Ich war aber der Ansicht, daß man ihnen sehr enge Grenzen ziehen muß.«

   »Welche Grenzen zum Beispiel?«

   »Es muß ihnen verboten sein, auszugehen, sobald es dunkel ist!«

   »Gut; weiter!«

   »Sie müssen es vermeiden, mit einem Manne, der nicht ihr Mann ist, allein zu sein.«

   »Das verlangst du im vollen Ernste?«

   »Jawohl! In dieser Beziehung verstehe ich keinen Spaß. Gegen eine Frau, welche diese Gesetze übertritt, muß man sich genau so wie der Padischah gegen seinen Harem verhalten!«

   »Wie?«

   »Er läßt solche Frauen in einen Sack binden und in das tiefste Wasser werfen.«

   »Wirklich?«

   »Ja, das thut er, und ich sage, daß dies ganz richtig von ihm ist!«

   »Lieber Halef, hast du vielleicht einen Sack mit?«

   »Ja, mehrere, für die Pferdedatteln.«


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   »Sind sie groß genug, eine Frau hineinzustecken?«

   »Nein.«

   »Schade, jammerschade!«

   »Warum?«

   »Wir hätten deine Hanneh in einen solchen Sack gesteckt und in das erste Wasser geworfen, welches wir antreffen.«

   »Meine Hanneh? Die allernotwendigste Notwendigkeit zum Glücke meines Erdenlebens?« fragte er erstaunt.

   »Leider!« nickte ich sehr ernst.

   »Sie in einen Sack stecken?«

   »Ja.«

   »Und in das Wasser werfen?«

   »In die tiefste Stelle sogar!«

   »Warum? Sag schnell, warum?«

   »Weil sie gegen die beiden Gesetze gehandelt hat, welche du vorhin aufstelltest.«

   »Du scherzest, Effendi, du scherzest!«

   »Nein. Ich bin Zeuge, daß sie es gethan hat!«

   »Sihdi, mach mich nicht unglücklich! Meine Hanneh wäre mit einem Manne, der nicht ich war, allein gewesen?«

   [»]Ja; sogar in tiefer Dunkelheit, beim Neumonde, ganz hinter den Zelten eures Lagers.«

   »Ich sterbe! Ja, ich sterbe vor Trauer, obgleich ich es für vollständig unmöglich halte, daß sie dieses größte aller Verbrechen begangen haben kann! Aber du sagst es, Effendi, du, der mein erster und bester Freund ist und mir so etwas nicht mitteilen wird, ohne es beweisen zu können!«

   »Ich habe dir schon gesagt, daß ich Zeuge bin, und ich teile dir jetzt mit, daß es noch einen zweiten Zeugen giebt.«

   »Noch einen? Der es gesehen hat?«


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   »Ja.«

   »Wer ist das? Sag es! Heraus damit! Diesen Halunken bringe ich augenblicklich um, weil er es mir verschwiegen hat!«

   »Lieber Halef, das würde Selbstmord sein!«

   »Selbst - - - -?«

   »Ja, denn du selbst bist dieser zweite Zeuge.«

   »Ich - - - ich - - - ich selber!«

   »Ja.«

   »Effendi, du wirst mir immer unbegreiflicher!«

   »Du scheinst es vergessen zu haben; darum will ich deinem Gedächtnisse zu Hilfe kommen. Erinnerst du dich jener Neumondsnacht vor unserem Aufbrauche [Aufbruche] nach dem Tigris, als wir unsere Reise nach Persien antraten?«

   »Ja.«

   »Da hat, nach Mitternacht sogar, deine Hanneh mit einem Manne, der nicht Hadschi Halef war, eine ziemlich lange Zeit hinter euern Zelten gesteckt *).«

   Da warf er beide Arme freudig empor und rief, indem er tief und wie von einer großen Last befreit Atem holte, in frohem Tone aus:

   »Hamdulillah! Da wird mir ja das Herz gleich wieder leicht! O Sihdi, was für eine außerordentliche Bangigkeit hast du in meine Seele gelegt! Es war, als ob mir das ganze Glück meines Lebens zerrissen und zertrümmert werden solle. Hätte ein anderer so zu mir gesprochen wie du, gleich wäre ihm mein Messer in den Leib gefahren, zur Strafe dafür, daß er es wagte, Hanneh, das köstliche Ebenbild der reinen Sonne, mit seinen Verdächtigungen zu beschmutzen. Da du es aber warst, der also sprach, so konnten die Worte, welche mir so


*) Siehe: Karl May, »Im Reiche des silbernen Löwen«, Bd. I, S. 370.
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tiefen Schmerz bereiteten, doch keine Lüge sein; sie mußten Wahrheit enthalten. Darum fühlte ich mich niedergeschmettert wie ein kleiner Käfer, auf welchen ein großer Berg herabgefallen ist. Nun ich aber höre; daß du jene Nacht vor unserem Aufbruche meinst, ist dieser Berg wieder verschwunden, und der Käfer zappelt lustig weiter, denn ich weiß, daß du selbst der fremde Mann gewesen bist, der damals mit ihr gesprochen hat!«

   »Und das macht dich nicht unglücklich?«

   »Unglücklich? Fällt mir gar nicht ein! Und wenn ich tausend Hannehs hätte, die alle so schön und so unvergleichlich wären, wie diese eine, einzige, dir könnte ich sie alle, alle anvertrauen!«

   »Ich glaube es dir. Aber weißt du, was du mit dieser für mich so ehrenvollen Versicherung gethan hast?«

   »Ja.«

   »Nun, was?«

   »Ich habe dir ein ungeheures Lob gespendet, ein geradezu beispielloses Vertrauen erwiesen!«

   »Allerdings; aber zugleich hast du noch etwas anderes gethan.«

   »Von diesem etwas anderem habe ich keine Ahnung. Was ist es?«

   »Du hast deine Anklage gegen das Abendland zurückgezogen und dich mit unseren Eisenbahnen einverstanden erklärt.«

   »Ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, Sihdi! Eure Eisenbahnen haben es mit mir verdorben, vollständig verdorben. Es fällt mir gar nicht ein, nicht einmal im Traume, mich mit ihnen auszusöhnen!«

   »Du hast es aber doch gethan, und zwar nicht im Traume, sondern soeben jetzt, im vollständig wachen Zustande!«


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   »Wieso?«

   »Paß auf! Ich frage dich: Du hältst es für verboten, daß Frauen mit anderen Männern im Wagen der Eisenbahn beisammen sitzen?«

   »Ja, streng verboten! Davon gehe ich nicht ab!«

   »Du hältst es ferner für verboten, daß Frauen mit anderen Männern, zumal in der Nacht und hinter den Zelten, beisammen stehen?«

   »Eigentlich ja; aber wenn du es bist, so ist es erlaubt.«

   »Warum da?«

   »Weil ich weiß, daß ich sie dir anvertrauen kann.«

   »Gut! Im Wagen der Eisenbahn sitzen unsere Frauen auch nur in der Nähe von Männern, denen wir sie anvertrauen können! Andere Männer würden von den Beamten sofort hinausgeworfen oder gar arretiert und bestraft werden!«

   »Wirklich? Das finde ich allerdings sehr lobenswert!«

   »Wenn aber zum Beispiel du dich in einem solchen Wagen befändest, dann würde jeder Mann seiner Frau oder seiner Tochter erlauben, sich in deine Nähe zu setzen.«

   »Meinst du?« fragte er geschmeichelt.

   »Ja.«

   »Wirklich?«

   »Ja, denn man sieht dir die Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit ja gleich beim ersten Blicke an!«

   »Hm! Würde ich auch mit ihr sprechen dürfen?«

   »Sie würde es dir ganz gern erlauben.«

   »Ihr guten Rat geben, wenn sie welchen braucht?«

   »Natürlich!«

   »Ihr sogar helfen, wenn sie meiner Hilfe bedarf?«

   »Gewiß! Das ist grad der große Vorteil, den unsere


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Frauen und Töchter während der Reise genießen, daß sie von jedem Mitreisenden unterstützt und beschützt werden!«

   »Du, Sihdi, das finde ich reizend, sehr reizend! Du weißt, wie gern ich meine Nebenmenschen beschütze. Es ist das schon bei Männern schön; wie schön muß es da erst bei Frauen sein! Denke dir, wenn ich als Dank ein freundliches Lächeln dafür bekäme!«

   »Das wäre dir gewiß!«

   »Wirklich? Sie würde lächeln?«

   »Aber ja! Wenn du ihr einen freundlichen Dienst erweisest, lächelt sie dich auch freundlich an.«

   »Sihdi, ich bitte dich, von diesem freundlichen Lächeln des Dankes mußt du gegen Hanneh schweigen, sonst bekommt sie einen ganz falschen Begriff von eurer Eisenbahn, und das sollte mir leid thun!«

   »Leid? Dir? Ich denke, du magst nichts von der Eisenbahn wissen?«

   »Ganz richtig! Eigentlich mag ich sie nicht leiden, ja; aber wenn die Frauen nur bei braven, dienstbereiten Männern sitzen, welche mit einem Lächeln der freundlichen Anerkennung belohnt werden, so sehe ich keinen vernünftigen Grund, warum es grad mir verboten sein soll, auf der Eisenbahn zu fahren. Ich sage dir, wenn so eine Eisenbahn von hier nach Mekka ginge, ich würde wahrscheinlich nicht auf dem Kamele sitzen bleiben.«

   »Sondern fahren?«

   »Ja. Was kann mir das Lächeln eines Kameles nützen, selbst wenn es nämlich lächeln könnte! Dürfte ich denn einer solchen Frau auch von unseren Reisen, von unseren weiten und gefährlichen Ritten und von den Thaten des Mutes und der Tapferkeit erzählen, welche wir vollbracht haben?«


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   »Ja. Sie würde dir sogar dankbar dafür sein, denn durch diese Erzählungen würdest du die Langeweile von ihr fernhalten.«

   »Nicht nur das, sondern ich würde sogar ganz bedeutend zu ihrer Bereicherung in den Kenntnissen der Dschigrafia und Tarih *) beitragen, wofür ich wahrscheinlich auch ein freundliches Lächeln zu sehen bekäme! Du, Effendi, das mit euern Eisenbahnen ist ganz anders, ganz anders, als ich dachte! Warum hast du mir das von dem Lächeln nicht sogleich gesagt? Du pflegst aber immer grad die Hauptsache zu vergessen; das ist es, was ich an dir auszusetzen habe. Und wenn ich dadurch zu einer irrigen Ansicht verleitet werde, so wirfst du die Schuld nicht auf dich, sondern auf mich, der ich doch gar nichts dafür kann! Jetzt sehe ich ein, daß eure Einrichtungen doch nicht so verwerflich sind, wie ich bisher gedacht habe, und - - - Da, schau empor, Sihdi! Siehst du die beiden Nusura **)?«

   »Ja,« antwortete ich. »Ich habe sie schon eine ganze Weile beobachtet.«

   »Sie schweben jetzt grad über uns; sie scheinen uns also zu beobachten.«

   »Ja, das thun sie. Sie wollen sehen, ob sie von uns irgendeine Beute erwarten dürfen. Wenn sie über uns bleiben und uns begleiten, können wir überzeugt sein, daß wir uns ganz allein in dieser Gegend befinden. Uebrigens hast du dich in diesen Vögeln geirrt; es sind keine Nusura. Unter Nisr versteht man den weißköpfigen Geier; aber der mit seinem Weibchen da über uns schwebt, ist ein Bartgeier, el Büdsch genannt. Man sieht ihn häufiger in Aegypten und den Moghrebländern; hier


*) Geographie und Weltgeschichte.
**) Plural von Nisr = Geier.
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aber ist er sehr selten. Ich sah diese beiden vorhin aus Südwesten kommen. Sieh, da entfernen sie sich wieder, und zwar in dieser Richtung. Das ist mir interessant, höchst interessant!«

   »Warum, Effendi?«

   »Weil sie glauben, dort leichter Fraß zu finden als hier bei uns.«

   »Woher weißt du das?«

   »Ich schließe es aus ihrem Verhalten. Diese Vögel sehen außerordentlich weit. Sie haben uns aus großer Entfernung gesehen und sind gekommen, uns zu betrachten. Da sie sich jetzt wieder entfernen, dürfen wir annehmen, daß es dort, woher sie kamen und wohin sie nun wieder fliegen, mehr Beute zu erwarten giebt als bei uns. Unsere Tiere sind gesund und kräftig; darum bewegen wir uns rasch und energisch; das wissen diese Vögel wohl zu beurteilen. Ich würde jede Wette darauf eingehen, daß es dort im Südwesten von uns leidende Wesen giebt, Menschen oder Tiere, wohl auch beides zugleich, deren Haltung und Bewegungen den Geiern Ursache zur Hoffnung auf baldigen, reichlichen Fraß geben.«

   Wir verfolgten die Vögel mit unseren Augen. Als Halef sie nicht mehr erkennen konnte, sah ich sie noch als kleine Punkte, welche sich nicht mehr weiter entfernten, sondern über einer bestimmten Stelle schwebten, die sicher sehr weit von uns entfernt war, obgleich die Geier nicht mehr als zwei Minuten gebraucht hatten, dorthin zu kommen.

   »Siehst du sie noch?« fragte Halef.

   »Ja,« antwortete ich. »Sie stehen über einer bestimmten Stelle und gehen nicht von ihr fort. Es muß dort irgend ein gebrechliches Geschöpf oder auch mehrere geben.«


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   »Vielleicht gar Leichen!«

   »Möglich; dann befinden sich aber lebende Personen dabei, vor denen die Geier sich fürchten, denn sonst würden sie schon längst niedergestoßen sein.«

   »Du sprichst von einem gebrechlichen Geschöpfe. Wäre es da nicht unsere Pflicht, Hilfe zu bringen?«

   »Allerdings.«

   »Vielleicht aber handelt es sich bloß um Tiere!«

   »Das ist möglich; dann aber müßten es große Raubtiere, Löwen oder Panther sein, die ja in den Felsen Innerarabiens auch vorkommen; aber die laufen doch nicht jetzt am hellen Tage auf der Ebene herum! Wären es nicht Raubtiere, so hätten sich die Geier niedergelassen und säßen, ruhig wartend, in der Nähe ihrer Beute. Ich bin daher der Ansicht, daß es Menschen sind, müde, hinfällige Menschen, die aus irgend einem Grunde nicht mehr fort können. Wir sind verpflichtet, ihnen Hilfe zu bringen, werden das aber nicht in unvorsichtiger Weise thun. Erkundigen wir uns also bei dem Ben Harb, ob es hier in dieser Gegend vielleicht einen Weideplatz irgendeines Beduinenstammes giebt!«

   Als wir den schon erwähnten Führer fragten, teilte er uns mit, daß wir uns mitten in der Sandwüste befänden, in welcher es keinen einzigen Brunnen, also auch keine Weide gebe; das nächste Wasser liege so weit von hier, daß sich sein Einfluß bis hierher gar nicht geltend machen könne.

   Da es nicht geraten war, unsere ganze Karawane ihre Richtung verändern zu lassen, ritten wir langsam weiter und beauftragten Omar Ben Sadek und einen Haddedihn, nach der Stelle zu reiten, über welcher die Geier standen. Um, wenn nötig, gleich Hilfe bringen zu können, nahmen sie einen vollen Wasserschlauch mit. Die


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Wüstenebene war nur scheinbar glatt, in Wirklichkeit aber so gewellt, daß wir die beiden Reiter schon nach kurzer Zeit nicht mehr sehen konnten. Es dauerte weit über eine Stunde, bis sie zurückkehrten. Es mußte sich um etwas doch nicht Gewöhnliches handeln, denn Omar Ben Sadek wartete mit seinem Berichte nicht, bis er uns erreicht hatte, sondern rief uns schon von weitem zu:

   »Effendi, ihr müßt abschwenken und mit uns kommen! Es gilt, fünf Menschen zu retten.«

   »Wer sind sie?« fragte ich.

   »Wahrscheinlich Leute aus Mekka.«

   »Wahrscheinlich? Haben sie nichts Bestimmtes gesagt?«

   »Nein. Du weißt ja auch, daß hier in der Wüste jedermann vorsichtig ist. Wir könnten ja zu einem ihnen feindlichen Stamm gehören.«

   »Hast du ihnen nicht gesagt, daß wir Haddedihn sind, die so weit von hier wohnen, daß sie hier unmöglich eine Thar *) haben können?«

   »Das habe ich wohl gesagt; aber sie glaubten es nicht. Du würdest ja auch nicht sofort alles glauben, sondern vorher die Personen und das, was sie sagen, einer Prüfung unterwerfen.«

   »Es sind also fünf Personen?«

   »Fünf Lebende und ein Toter.«

   »Erzähle doch lieber zusammenhängend!«

   »Ich thue es. Wir ritten nach Südost und sahen bald die Geier wieder, die ganz unbeweglich in der Luft zu stehen schienen; aber je näher wir kamen, desto deutlicher bemerkten wir, daß sie nicht standen, sondern langsam Kreise zogen. Später sahen wir dann den Gegen-


*) Blutrache.
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stand [Gegenstand] oder vielmehr die Gegenstände ihrer Aufmerksamkeit. Es waren sechs Hudschun, welche am Boden lagen, neben ihnen ihre Reiter, Tiere und Menschen still und unbeweglich wie Leichen. Als wir ganz nahe herankamen, hoben die Kamele die Köpfe, ließen sie aber gleich wieder sinken. Sie sahen abgetrieben aus, wie nach einem langen, angestrengten Eilritte, und waren halb verdürstet. Drei von den Männern standen in den mittleren Jahren; einer war jung und einer war alt. Der Alte schien am wenigsten erschöpft zu sein; er bat sogleich um Wasser, das wir ihnen auch sofort gaben. Sie tranken die Dschirbe *) fast ganz leer.«

   »Und die Leiche?«

   »Wir konnten nicht sehen, was für eine Person es war, denn sie war mit dem Haïk zugedeckt.«

   »Was gab es für Fragen und Antworten?«

   »Der Alte erkundigte sich, wer wir seien, und wir sagten es ihm; er aber ließ die zweifelnden Worte "Allah weiß es!" dazu hören. Als ich ihn nach seinem Namen fragte, sagte er, sie alle seien aus Mekka, wozu ich ihm nun auch ein "Allah weiß es!" zu hören gab. Er bat um Wasser für Menschen und Tiere, auch um etwas Futter für die Kamele; Mehl und Datteln für sich hätten sie noch.«

   »Woher kommen sie?«

   »Das sagte er nicht. Er meinte, er habe uns auch keine Frage vorgelegt; der Gläubige müsse seinem Bruder helfen, ohne nach seinem Namen und nach seinem Ausgange und Eingange zu fragen.«

   »Entweder hat dieser Mann kein gutes Gewissen, oder er ist ein stolzer, eingebildeter Moslem in hoher


*) Schlauch.
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Stellung in Mekka. Vielleicht ist auch beides zu gleicher Zeit der Fall; aber recht hat er doch gehabt: Er bedarf unserer Hilfe, und wir müssen sie ihm bringen, ohne ihn vorher nach allem ausgefragt zu haben. Glücklicherweise sind wir mit Wasser so reichlich versehen, daß diese Wohlthätigkeit uns nicht selbst in Gefahr bringen wird. Reiten wir also hin!«

   Wir bogen daher von unserem Wege ab und ließen uns von Omar Ben Sadek nach der betreffenden Stelle führen, die wir nach vielleicht drei Viertelstunden erreichten. Da lagen die Kamele noch so, wie sie sich vor Erschöpfung niedergeworfen hatten; die Höcker waren abgezehrt; man sah nicht die geringste Lippenbewegung des Wiederkauens. Die fünf Männer hockten in einem engen Kreise, in dessen Mitte man den noch immer verhüllten Toten in sitzende Stellung aufgerichtet hatte, in welcher er durch die tief in den Sand gesteckten, langläufigen Gewehre unterstützt und gehalten wurde. Sie beteten laut. Als wir bis ganz nahe herangekommen waren, unterbrachen sie sich, und der Vorbeter, dem die andern Satz um Satz nachsprachen, sagte in mehr befehlendem als bittendem Tone:

   »Ich sehe, daß ihr Wasser und trockenes Maisstroh habt. Gebt den Kamelen zu saufen und zu fressen, und laßt uns einige volle Schläuche hier. Dann aber stört uns nicht weiter im Gebete für den, den Allah abgerufen hat!«

   Das war ja außerordentlich bescheiden von diesem Manne! Hier, wo das Futter und noch viel mehr das Wasser so kostbar war, sollten wir zunächst seine Tiere tränken und sättigen und dann gleich mehrere volle Schläuche hergeben, und zwar ohne ein Wort des Dankes abzuwarten, da er uns ja die Weisung gab, sie dann


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nicht zu stören, also wieder fortzureiten! Halefs Hand zuckte nach der Peitsche aus Nilpferdhaut, die er stets im Gürtel hängen hatte und gern öfter in Bewegung setzte, als ich ihm erlauben durfte. Ich winkte ihm aber ab.

   »Ich soll ihm nicht die Peitsche geben?« fragte er leise, aber zornig. »Ist es nicht die größte aller Unverschämtheiten von diesem Menschen, das von uns zu verlangen, was er soeben gefordert hat?«

   »Allerdings; aber das ist noch kein Grund, um gleich zuzuschlagen. Du befindest dich hier unter stolzen, rachsüchtigen Arabern und nicht bei geknechteten Fellachen, bei denen man die Peitsche schwingen kann, ohne dies später blutig bezahlen zu müssen!«

   »So sag, was wirst du thun?«

   »Wir geben den Pferden Wasser und Stroh; diese armen Tiere sollen nicht unter der Unverschämtheit ihrer Besitzer leiden.«

   »Und diese?«

   »Bekommen weiter kein Wasser, außer sie bitten uns sehr höflich darum. Wir bleiben hier lagern.«

   »Hier? Bei diesen Kerls? Hamdulillah! Preis sei Allah, der dir diesen kostbaren Gedanken eingegeben hat! Denn wenn wir hier bei ihnen bleiben, werden wir wahrscheinlich etwas erleben, sie aber auch!«

   »Wir hätten überhaupt nicht viel weiter reiten können, denn dann wird es Nacht, und da wir hier doch einmal einige Zeit versäumen, halte ich es für das beste, wir bleiben gleich da. Gieb also deinen Leuten die nötigen Befehle!«

   Da wir dieses Mal die Haddedihn bei uns hatten, brauchte ich mich um nichts zu bekümmern; es wurde mir jede Handreichung sehr gern und mit Liebe geleistet. Ich stieg also vom Hedschihn, gab die Stelle an, wohin ich


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meinen Teppich gelegt wünschte, und ging dann zu meinem Hengste, um ihn zu liebkosen und dabei einige Datteln knuspern zu lassen. Er war diese Aufmerksamkeit von mir gewohnt und dankbar dafür. Hierauf machte ich es mir auf meinem Teppiche bequem.

   Ich saß, wie ich gewollt hatte, ganz in der Nähe der Fremden, dem Vorbeter gegenüber, den Omar Ben Sadek »den Alten« genannt hatte. Er hatte ein echtes, listiges, rücksichtsloses, gewaltthätiges Mekkanergesicht und trotz seines Alters noch keine grauen Haare; vielmehr besaßen diese diejenige Färbung, welche man »Salz und Kümmel« zu nennen pflegt, also Grau und Dunkel gemischt. Der »Junge« saß an seiner Seite und war ihm so ähnlich, daß ich ihn gleich für seinen Sohn halten mußte. Er hatte etwas Unstätes, Ruheloses, Unzuverlässiges in seinen sich stets in Bewegung befindenden Augen. Die andern drei hatten nichts an sich, wodurch sie eine besondere Erwähnung verdienten. Gemein war ihnen allen die große Hinfälligkeit; wahrscheinlich waren wir grad zur rechten Zeit gekommen, sie vor dem Tode des Verschmachtens zu erretten. Ich glaubte, ihnen anzuhören, daß ihnen das laute, lange Beten schwer wurde. Warum schwiegen sie da nicht, zumal sie diese Litanei doch ganz und gar nicht nötig hatten? Die Stimme des Alten klang dumpf und mit müdem Zittern:

   »O du, den unter sämtlichen Geschöpfen der Schöpfer am meisten ehrt *). Bei dem Eintritte des Ereignisses, welches alle trifft **), habe ich keinen, zu dem ich meine Zuflucht nehmen kann, als zu dir allein!«

   Die andern beteten es ihm nach; dann fuhr er fort:

   »Und wenn der Gnädige sich als strafender Ver-


*) Muhammed ist gemeint.
**) Der Tod.
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gelter [Vergelter] offenbaren wird, wird es deiner Macht, du Gesandter Gottes, nicht unmöglich sein, mir zu helfen.

   »Denn zu der Fülle, welche du gespendet hast, gehört diese Welt und jene Welt, und du weißt alles, was auf der Tafel des Jenseits geschrieben steht und was die Feder geschrieben hat.

   »O meine Seele, keines schweren Fehltrittes wegen verzweifle an Allahs Gnade; denn wo es sich um die Vergebung handelt, da sind die schweren den leichten Sünden gleich!

   »Das Erbarmen meines Herrn, so hoffe ich, wird zu der Zeit, wo er es verteilen wird, in den einzelnen Spenden sich nach dem Maße der Sünde gestalten.

   »O, mein Herr, gieb, daß meine Hoffnung bei dir bestehe und meine Rechnung sich als richtig erweise!

   »Und verfahre in dieser und in jener Welt gelinde und gnädig mit deinem Knechte, denn ihm ist eine Festigkeit verliehen, welche fliehend davoneilt, wenn die grausigen Schrecknisse ihn herausfordern!

   »Und laß die Wolken deiner Erbarmung für und für Güsse jeder Art auf den Propheten herabsenden - - -!«

   Als er so weit gekommen war, hatten unsere Haddedihn seinen Kamelen Wasser und Maisstroh gegeben und begannen nun, sich mit der Vorbereitung des Lagers zu beschäftigen. Da unterbrach er sich, indem er die hastigen Worte an mich, den er für den Anführer halten zu müssen glaubte, richtete:

   »Was sehe ich? Ihr sattelt eure Kamele ab! Das sieht ja so aus, als ob ihr hier bleiben wolltet!«

   »Es sieht nicht bloß so aus, sondern es ist wirklich so: Wir bleiben da,« antwortete ich ruhig.

   »Dazu habt ihr kein Recht.«


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   »Warum? Die Wüste ist nur Allahs Eigentum; hier diese Stelle auch. Wir haben niemanden zu fragen!«

   »Auch uns nicht?«

   »Nein.«

   »Wir waren eher da als ihr!«

   »So bleiben wir um grad so viel länger hier; dann sind die beiden Zeiten gleich!«

   »Wir wünschen aber, allein zu sein!«

   »Wir werden so thun, als ob ihr gar nicht vorhanden wäret, und kein Wort mit euch sprechen!«

   »Aber, ihr seht, daß wir einen Toten hier haben. Leichen aber verunreinigen!«

   »Uns nicht, denn wir werden ihn nicht berühren!«

   »Allah gebe mir die Beherrschung meines Zornes! Du siehst und hörst doch, daß wir euch nicht bei uns haben wollen, sondern eure Entfernung wünschen!«

   »Und du siehst, daß unsere Wünsche das Gegenteil erstreben; darum kann Allah nur die Erfüllung der Wünsche für die eine Partei im Buche des Lebens verzeichnet haben, und diese Partei sind wir. In das aber, was in dem Buche des Lebens verzeichnet worden ist, habt ihr euch zu fügen!«

   Ich hatte immerfort in meinem freundlichsten, er aber zuletzt in einem sehr zornigen Tone gesprochen. Ich war neugierig, was sich aus diesem sehr unerquicklichen Verhältnisse entwickeln werde. Halef ging es ebenso wie mir; er hatte die Herunternahme des Tachtirwahn und die bequeme Unterbringung seiner Hanneh unter ihr kleines, schnell aufgeschlagenes Frauenzelt beaufsichtigt und kam nun, anstatt sich zu ihr zu setzen, was er bisher unterwegs stets gethan hatte, zu mir, ließ einen Teppich neben dem meinigen ausbreiten und setzte sich auf demselben nieder. Dann sagte er leise:


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   »Warst du auf einen solchen Empfang vorbereitet, Sihdi?«

   »Nein,« antwortete ich.

   »Ich auch nicht. Eine solche Undankbarkeit ist geradezu beispiellos. Was wirst du thun?«

   »Zunächst ruhig abwarten. Ihr Verhalten zu uns interessiert mich außerordentlich, und ihre Leichenzeremonien auch. Sei jetzt still! Ich möchte hören, was sie beten.«

   Der Vorbeter begann nämlich jetzt wieder:

   »Das ist Muhammed, der Herr dieser und jener Welt, der Herr der Menschen und der Dschinnen *), der Herr der beiden großen, voneinander gesonderten Scharen der Menschenkinder: der Araber und der Barbaren.

   »Unser Prophet, den, wenn er gebietet oder wenn er verbietet, im Neinsagen wie im Jasagen niemand an Wahrhaftigkeit übertrifft.

   »Er ist der Geliebte, auf dessen Fürsprache wir hoffen bei jedwedem grauen Schrecknisse, dessen Gewalt wir anheimgefallen sind.

   »Wer sich an ihn anklammert, klammert sich an ein Seil, welches nimmer reißt.

   »Er übertraf die Propheten sowohl an Körpergestalt wie auch an Seelenadel, und sie kamen ihm weder an Wissen noch auch an Tugend oder Edelsinn nahe.

   »Sie, die alle von dem Gesandten Allahs bittend die Erlaubnis begehrten, aus dem Meere mit der Hand zu schöpfen oder das Wasser der anhaltenden Regengüsse schlürfen zu dürfen.

   »Und neben ihm den unterscheidenden Punkt seines Wissens oder die tonangebende Bezeichnung seiner Weis-


*) Geister.
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heit [Weisheit] zur äußersten Grenze hatten, an welcher sie dastanden, ohne sie überschreiten zu können.

   »Ihn erkor der Schöpfer der Menschen sich zum Geliebten, nachdem Inneres und Aeußeres bei ihm zur vollendeten Vollkommenheit gediehen war.

   »Er hat keinen neben sich, der an seinen Vorzügen teilhat, und das Wesen seiner Schönheit ist ein ungeteiltes.

   »Was die Christen von ihrem Propheten behaupten, das behaupte du ja nicht, sondern erkenne getrost an Lob ihm zu, was ihm anzuerkennen dir nur immer beliebt.

   »Und leg seiner Person jeden Adel bei, den ihr beizulegen dir in den Sinn kommt, und lege seiner Würde jede Größe bei, die ihr beizulegen du das Verlangen hast.

   »Denn die Vortrefflichkeit des Gesandten Gottes hat keine Grenze, so daß irgendein mit dem Munde Redender sie nicht in ihrer ganzen Grenze aussprechen könnte.

   »Wenn seine Wunderzeichen der Größe seiner Würde entsprechen, so wird sein Name, wenn man ihn nennt, die hingeschwundenen Totengebeine beleben.

   »Mit Dingen, welche der Verstand nicht begreifen kann, hat er, getrieben vom Eifer für unsere Wohlfahrt, uns verschont, und so sind wir weder dem Zweifel noch dem Wahne anheimgefallen.

   »Sein inneres Wesen aufzufassen, ist eine Aufgabe, welche das Vergnügen der Sterblichen übersteigt, und weder in der Nähe noch in der Ferne siehst du einen, der nicht ratlos dasteht, wenn es gilt, diese Aufgabe zu lösen.

   »Sein inneres Wesen gleicht der Sonne, die in der


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Ferne sich dem Auge in verschiedener Kleinheit zeigt und in der Nähe aber das Auge blendet.

   »Jede Reihe von Wunderzeichen, welche die hohen Gesandten Allahs zu Tage treten ließen, ist nur von seinem Lichte her zu ihnen gelangt.

   »Denn er ist eine große Vortrefflichkeitssonne; sie aber sind die Sterne dieser Sonne und strahlen nur als seine Sterne ihr Licht den Menschen in die Finsternissen - - - - - - - -.«

   Obgleich ich befürchten mußte, den Leser zu langweilen, habe ich dieses Gebet doch hierher gesetzt, weil es aus Stellen der Burda, eines der berühmtesten muhammedanischen Gedichte, besteht, welches zum Lobe Muhammeds verfaßt ist und bei Begräbnissen recitiert wird. Es ist vielleicht für manchen interessant, ein berühmtes islamitisches Gedicht, wenn auch nur einen Teil desselben, kennen zu lernen, mit dessen Schönheiten sich, wie die Muhammedaner behaupten, kein Erzeugnis irgend eines andersgläubigen Dichters jemals vergleichen lassen dürfe!

   Der »Alte« schien die Burda auswendig zu können, denn er recitierte diese Stellen ohne Hilfe eines Buches; er war also kein gewöhnlicher Araber; er machte während des Betens überhaupt den Eindruck eines fanatischen Moslem, welcher mit den Obliegenheiten eines Geistlichen wohlvertraut ist. Dabei schweiften seine Blicke sehr oft zu uns herüber, und zwar mit einem Ausdrucke, welcher nichts weniger als freundlich genannt werden konnte. In den Augen seines Sohnes aber wohnte gar der offenbare, vor uns nicht im geringsten verheimlichte Haß.

   Auch jetzt wieder hatte das Gebet auf mich den Eindruck gemacht, als ob es nicht aus innerem Bedürf-


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nisse [Bedürfnisse], aus der Seele heraus, sondern aus einem andern Grunde gesprochen werde. Es klang so müd, so abgespannt; die Leute sprachen langsam, als ob es ihnen schwer werde; sie ließen Stellen aus, welche der Vorbeter nicht ausgelassen hatte, und nun, da er eine Pause machte, legten sie sich nieder, was er als Veranlassung nahm, nicht wieder anzufangen.

   Ich dachte mir, daß sie nur beteten, um uns keine Zeit zu lassen, mit ihnen zu sprechen. Sie waren wahrscheinlich gesonnen, uns keine Auskunft über sich zu geben, und da dies doch einen Grund haben mußte, glaubte ich annehmen zu dürfen, daß es kein für ihre Beurteilung vorteilhafter sei.

   Während sie nun, bewegungslos wie Tote, dalagen, brach die Dunkelheit herein, und von unsern Haddedihn wurde das Moghreb gebetet, welches für kurze Zeit nach dem Untergange der Sonne vorgeschrieben ist. Als es dann vollständig Nacht geworden war, wurde das Aschiah oder Nachtgebet gesprochen. In beiden Fällen richteten sich die Fremden in die Kniee auf und beteten mit, was sie als Muhammedaner trotz ihres sonstigen Verhaltens zu uns unbedingt thun mußten, doch thaten sie es leise, ohne uns ihre Stimmen hören zu lassen, ein Zeichen von Mißachtung, welches wir aber so ruhig hinnahmen, als ob wir es gar nicht bemerkten. Dann ging ich mit Halef zum Zelte seiner Hanneh, um ein Feuer zu machen, zu welchem wir heut unterwegs gelegentlich dürres Gezweig geschnitten hatten. Die »lieblichste und wohlschmeckendste unter allen Köchinnen des Erdkreises«, wie Halef sein Weibchen nannte, wenn von ihrer Kochkunst die Rede war, wollte uns Kaffee kochen und dann in der heißen Asche Kurß tari backen, das ist frisches Brot in kleiner Kuchenform. Wir hatten zum edlen Werke des Kaffee-


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kochens [Kaffekochens] einen Kessel mitgenommen, und die Haddedihn hielten alle ihre auch für heiße Flüssigkeiten haltbaren Lederbecher bereit, um sich ihre Portion des duftigen Getränkes geben zu lassen.

   Als der Wohlgeruch desselben sich vom Feuer aus nach allen Richtungen verbreitete, wurden die Fremden wieder lebendig. Sie hielten eine kurze, leise Beratung, nach welcher der »Junge« aufstand und zu uns kam.

   »Wir wollen auch Kaffee!« sagte er, indem er uns ein ja nicht zu kleines Kürbisgefäß hinhielt.

   Er hatte das nicht etwa bittend gesagt, sondern in einem Tone, als ob er nur zu fordern brauche. Halef machte sofort Miene, aufzuspringen und ihn zornig zurechtzuweisen; ich hielt ihn aber am Arm nieder und übernahm die Beantwortung selbst, die sehr kurz und bestimmt klang:

   »Der ist nur für uns.«

   »Für uns auch!« behauptete der Mensch.

   Ich zuckte die Achsel und sagte nichts weiter; auch Halef schwieg.

   »Bekomme ich welchen?« fuhr der Unverschämte mich an.

   »Nein, nein, nein, und zum vierten, fünften, zehnten und hundertsten, tausendsten Male nein!« krachte jetzt der kleine Hadschi los, der seinen Zorn nun nicht länger beherrschen konnte.

   Da drehte sich der Mann scharf auf der Ferse um und ging fort. Seine Leute hatten jedes Wort gehört; sie steckten die Köpfe zusammen. Was sie da sagten, konnte uns sehr gleichgültig sein.

   »Sihdi, meinst du, daß wir uns vor diesen Leuten in acht nehmen müssen?« fragte Halef.

   »Nein,« antwortete ich; »gar nicht!«


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   »Ich auch nicht. Wir sind zweiundfünfzig wohlbewaffnete Männer und sie nur fünf verschmachtete Personen. Trotzdem aber denke ich, daß wir während der Nacht nicht alle schlafen dürfen.«

   »Das ist natürlich auch meine Meinung. Bestimme also von deinen Leuten einige, welche einander bis früh ablösen, um munter zu bleiben!«

   Später, als der Duft des Brotes sich bemerkbar machte, wurde der »Junge« wieder her zu uns geschickt.

   »Gebt uns auch Brot!« forderte er in demselben Tone, in welchem er vorhin Kaffee verlangt hatte.

   »Das ist auch nur für uns,« antwortete ich wieder.

   »Wir wollen auch essen!«

   »So eßt das, was ihr habt!«

   Er mußte ohne Respektierung seines Befehles wieder fortgehen, kehrte aber bald mit einem neuen Verlangen zurück:

   »So gebt uns Wasser, einen vollen Schlauch!«

   »Es ist alle geworden.«

   »Ich sehe doch da die Dschirab *) liegen!«

   »Die sind nur noch für uns. Was wir übrig hatten, habt ihr schon bekommen.«

   »Kennt ihr die Gesetze und Gebote der Wüste und der Gastfreundschaft so wenig, daß ihr uns sogar das Wasser vorenthaltet, welches wir zu verlangen haben?«

   »Wir kennen alle Gesetze und Gebote, sogar die Vorschriften der Höflichkeit, welche aber euch vollständig unbekannt zu sein scheinen. Und nun mach dich fort von uns, sonst - - -«

   »Sonst fahre ich dir in die Beine, daß du nicht nur gehen, sondern in alle Winde fliegen lernst!« schrie ihn


*) Plural von Dschirbe = Schlauch für Wasser.
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   Halef, mir in die Rede fallend, zornig an. »Wasser, Brot, Kaffee! Vielleicht verlangt dieser Kerl auch noch Kawuara *) und eine Istridiar **), die so groß wie eine Tosbadschy afrita ***) ist!«

   Der kleine Hadschi hatte nämlich Schildkröten, Austern und Caviar als Delikatessen kennen gelernt, als er mit mir in Konstantinopel war. Der Mekkaner, wenn er wirklich einer war, drehte sich mit einer stolzen, wegwerfenden Handbewegung um und kehrte zu seinen Angehörigen zurück, welche längere Zeit mit einander berieten. Als sie zu einem Entschlusse gekommen waren, stand der Alte auf und kam langsam und trotz seiner sichtlichen Schwäche in einer Haltung herbei, als ob sein hocherhobenes Haupt gewohnt sei, eine Krone zu tragen.

   »Ihr habt meinen Sohn nun dreimal von euch gewiesen«, sagte er, indem er auf jedes Wort einen schweren Nachdruck legte wie einer, der das Treffen mit Kanonenschüssen einleitet, um den Hauptvorstoß dann später folgen zu lassen. »Ich frage euch, warum?«

   Eigentlich war er gar keiner Antwort wert; da man aber wohlthut, wenn man mit solchen Leuten so deutlich wie möglich ist, so zog ich es vor, ihn nicht warten zu lassen, und erwiderte also:

   »Glaubst du denn wirklich, eine Antwort zu erhalten?«

   »Natürlich!«

   »Du bist nicht imstande, sie dir selbst zu geben?«

   »Nein.«

   »Mit diesem Worte gestehst du ein, daß du an Einsicht ein kleines Kind, an Unverstand und Unwissenheit aber ein Riese bist!«


*) Caviar.
**) Auster.
***) Riesenschildkröte.
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   »Beleidige mich nicht! Ich bin gewöhnt, daß man sich nur der größten Höflichkeit gegen mich befleißigt!«

   »Bist aber doch selbst ein Ausbund der Unhöflichkeit! Wir sind berechtigt, wenigstens, hörst du, ich sage wenigstens, dieselbe Achtung und Ehrerbietung zu verlangen, welche du, vielleicht mit weniger Recht, für dich in Anspruch nimmst!«

   »Ihr - - -?!« dehnte er so hochmütig, daß ich ihm am allerliebsten gleich eine Ohrfeige gegeben hätte. »Doch ja, ihr wißt nicht, wer ich bin! So hört es denn, und beugt dann in Demut eure Häupter! Mein Ahne ist Qatadah; ich bin ein Nachkomme des berühmten Muhammed Abu Numehji, der hellsten Leuchte unter allen Großscherifen der heiligen Stadt Mekka. Wenn wir, seine Abkömmlinge, sterben, werden unsere Leichen in einem hochfeierlichen Umgang siebenmal um die Kaaba getragen. Welcher andere Mensch auf Allahs weiter Welt kann sich einer solchen Auszeichnung rühmen!«

   »Bist du schon gestorben?«

   »Nein,« antwortete er verwundert.

   »Also auch noch nicht um die Kaaba getragen worden?«

   »Nein.«

   »So warte mit der dir sehr anzuempfehlenden Geduld, bis das geschehen ist; dann sind wir vielleicht bereit, deiner Leiche mit Achtung zu gedenken.«

   »Mensch, wage nicht - - -! Doch, du kennst ja auch meinen Namen nicht; ich will also meinen Zorn bemeistern. Es ist auch gar nicht nötig, diesen Namen mit dem verstopften Eingang deines Ohres zu belästigen; es genügt vielmehr vollständig, dir zu sagen, daß man mich El Ghani *) nennt und daß ich der Liebling 'Aun


*) »Der Reiche«.
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er Rafiqs, des jetzigen Großscherifs von Mekka, bin. Nun weißt du, wie du dich gegen mich und uns alle zu verhalten hast!«

   Anspruchsvoller und eingebildeter zu sein als dieser Mann, war gar nicht möglich! Um zu erfahren, wer der Tote war, hielt ich mich noch zurück und fragte:

   »Auch gegen die andern? Wer sind sie?«

   »Der eine ist Ben Abadilah, mein Sohn; die übrigen drei sind Männer aus der heiligen Stadt, wo ihre Namen zu den angesehensten gerechnet werden.«

   »Und der Verstorbene?«

   »Der war ein Lieblingskind Allahs und des Propheten. Er wurde El Münedschi *) genannt, woraus du die unvergleichliche Höhe seiner Vorzüge erkennen kannst. Seiner Seele war die Gabe verliehen, den Körper zu verlassen und nach entfernten Orten und in entfernte, längst verschwundene und auch zukünftige Zeiten zu gehen, um zu sehen und zu hören, was kein anderer Sterblicher erfährt. War sie dann in den Körper zurückgekehrt, so konnte El Münedschi alle Geheimnisse dieser Zeiten und Orte mitteilen. Er sprach mit den Dschinn und Mlajiki **) wie mit seinesgleichen und hatte darum Macht über den Willen und die Thaten aller, mit denen er verkehrte. Nun ist er hingegangen in den Himmel Allahs, zu denen, mit denen er schon während seines irdischen Lebens verkehrte. Ich war sein bester Freund. Er wohnte in meinem Hause, wo ich ihm eine Freistatt gab, weil er blind geworden war. Ich übe die Barmherzigkeit, welche Allah seinen Bevorzugten geboten hat, und er vergilt sie wieder. Nun weißt du, wer wir alle sind, und wirst mich und meinen Sohn um Verzeihung bitten!«


*) Der Wahrsager.
**) Geistern und Engeln.
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   »Um Verzeihung bitten? Wenn du glaubst, daß -«

   Ich konnte nicht weiter sprechen, denn Halef drückte mir die Hand auf den Mund und sagte, nein, sondern rief:

   »Schweig, Sihdi, ich bitte dich, schweig! Ich koche nämlich so, wie vorhin der Kaffee gekocht hat, und wenn du mir nicht erlaubst, an deiner Stelle zu sprechen, so zerplatzt der Kessel augenblicklich! Darf ich? Ja?«

   »Gut, ja! Zerplatzen lassen darf ich dich doch nicht!«

   »Ich danke dir, Effendi, ich danke dir! Durch diese deine Erlaubnis errettest du mich vielleicht vom Tode, denn in dem jetzigen Augenblicke des gräßlichsten Zornes würde das längere Schweigen wahrscheinlich für mich ein Gift sein, an welchem ich binnen einigen Minuten sterben müßte!«

   Er war aufgesprungen; jetzt wendete er sich von mir zu El Ghani und fragte ihn in jenem scheinbar ruhigen aber explosiven Tone, in welchem er nur im Zustande der zornigsten Aufregung zu sprechen pflegte:

   »Du denkst also, daß wir euch um Verzeihung bitten werden?«

   »Ja,« lautete die Antwort.

   »Und vorhin hast du verlangt, wir sollen in Demut unsere Häupter beugen?«

   »Ja.«

   »Hund! Was bildest du dir ein! Wir beugen unsere Häupter nur vor Allah, aber vor keinem Menschen, und wenn es der Padischah selbst oder auch der Großscherif von Mekka wäre. Vor dir aber - - -? Ich sage dir, daß ich lieber vor der häßlichsten Kröte anbetend niederfallen würde, als daß ich meinem ehrlichen Haupte die aller-, allergeringste Neigung vor dir erlaubte! Wenn du wirklich der Liebling des gegenwärtigen Großscherifs bist, so werde ich ihn schleunigst aufsuchen, um ihm zu


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sagen, daß er sich schnell einen anderen Liebling anschaffen möge, wenn er nicht den Gläubigen allen das unwürdige Schauspiel bereiten wolle, sich in Zeit von fünf Minuten vollständig totschämen zu müssen! Ihr Hunde und Söhne von Hunden und Urenkelskinder von Hundeahnen und Hundenachkommen waret fast verschmachtet, als wir kamen. Eure schmutzigen Seelen hingen nur noch am allerletzten und alleräußersten Barthaare mit euren verdürsteten Gliedern zusammen. Da gaben wir euch Wasser, das Kostbarste, was man in der Wüste besitzt; ihr trankt es aus, einen ganzen, großen Schlauch voll, ohne ein Wort des Dankes zu sagen. Dann verlangtet ihr Kaffee, ohne zu bitten; später warft ihr uns den Befehl, euch Brot zu geben, ins Gesicht, und endlich schicktest du uns die strenge Verordnung, euch abermals mit Wasser unter die Arme zu greifen, wieder mit einem ganzen, vollen Schlauche, obgleich wir auch eure Kamele getränkt hatten! Wo soll dieses Wasser und immer wieder Wasser herkommen? Glaubst du denn, wir können regnen lassen oder Quellen aus dem Boden der Wüste stampfen? Und das alles verlangst du in einer Weise, als ob wir nicht deine Sklaven, sondern deine Hunde seien! Du bist selber Hund und Hundeenkel, ja sogar Enkelshund! In der Albernheit deines Hochmutes meintest du, wir würden vor Erstaunen über deinen Namen augenblicklich sämtliche Mäuler aufsperren und vor Bewunderung sämtliche Finger so ausspreizen, daß sie vor freudigem Schreck wie Pfeile von den Händen flögen und gar nicht wieder zurückzukommen wagten! Wie nennt man dich denn? El Ghani, den Reichen! Kannst du uns beweisen, daß du deinen Reichtum auf ehrliche Weise erworben hast, daß er nicht mit Diebes- und Betrügerhänden zusammengeraubt und zusammengestohlen worden ist? Und wenn


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es ein rechtmäßiger Besitz wäre, so solltest du doch wissen, daß man sich auf den Reichtum gar nichts einzubilden hat, weil man ihn von Allah nur für einstweilen geliehen bekommt, um denen wohlzuthun, die nichts besitzen. Wir sind auch reich, sehr reich, jedenfalls zehnmal, hundertmal reicher als du, aber wir brüsten uns nicht damit und lassen uns noch viel weniger einen Namen daraus machen, der doch weiter nichts sein würde, als, wie bei dir, ein untrügliches, sicheres Zeichen deiner dreifach aufgeblasenen Dünkelhaftigkeit! Eigentlich sollte ich dir nicht mit dem Munde, sondern hier mit dieser Nilhautpeitsche antworten; aber deine Jammergestalt ist so mitleiderweckend und erbärmlich, daß mir die Barmherzigkeit aus allen Fingerspitzen niedertropft; darum sollst du jetzt noch ohne Hiebe davonkommen. Aber solltest du nur noch ein einzigesmal und nur von weitem wagen, dir noch einmal den Anschein zu geben, als ob wir nicht neunmal himmelhoch über dir stünden, so zerhaue ich dir das Hundefell, daß im ganzen Erdkreise nicht genug Platz für die davonfliegenden Fetzen und Haare zu schaffen ist! Nun packe dich fort, und komme uns nicht wieder! Und damit du weißt, wer jetzt in so liebreicher, geduldiger Freundlichkeit mit dir gesprochen hat, so mögen dich unsere Namen nach deinem Sitze begleiten. Ich bin nämlich Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, der oberste Scheik der Haddedihn von dem großen Stamme der Schammar!«

   Er machte das Wort von der Begleitung wahr, denn, die Peitsche drohend in der Hand, trat er bei jedem Einzelnamen den Mekkaner so auf die Zehen, daß dieser zurückwich. In dieser, für uns köstlich anzusehenden Weise folgte er ihm Schritt um Schritt, oder vielmehr


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Fußtritt um Fußtritt, indem er, immer die Peitsche schwingend, fortfuhr:

   »Und da sitzt der erleuchtete und in aller Welt hochberühmte Hadschi Akil Schatir el Megarribnis Ben Hadschi Alim Schadschi er Rani Ibn Hadschi Dajim Maschhur el Azami Ben Hadschi Taki Abu Fadl el Mukarram!«

   Man sieht, daß er meinen neuen Namen sehr gut auswendig gelernt hatte. Jedes Glied desselben ergab einen Tritt auf die Zehen El Ghanis, welcher, weil diese Schritte zu schnell aufeinanderfolgten, sich ihnen nicht entziehen konnte und, an seinem Platze angekommen, ganz erschöpft dort niedersank, ohne während des ganzen Leidensweges Gelegenheit gefunden zu haben, auch nur ein Wort hervorzubringen.

   »So, da sitzest du nun in deiner ganzen, unbegreiflichen Herrlichkeit!« meinte Halef jetzt im Tone der Befriedigung. »Wenn dir der Hochmut wieder in den Füßen juckt, so brauchst du es mir bloß zu sagen; ich trete ihn dir gern aus allen Zehen!«

   Er kehrte zurück und setzte sich wieder neben mich nieder.

   »Sihdi,« fragte er leise, »habe ich das gut gemacht oder nicht?«

   »Ich bin mit dir zufrieden,« antwortete ich.

   »Und du, Hanneh?«

   Sie, die an seiner anderen Seite saß, erwiderte:

   »Mein Halef ist gleich tapfer in Worten wie in Thaten; ihm kann nicht einmal der Liebling des Großscherifs widerstehen!«

   »Nein, der am allerwenigsten! Und du,« wendete er sich an seinen Sohn, der seinen Platz neben der Mutter hatte, »folge für dein ganzes Leben dem Beispiele deines Vaters, der keine Beleidigung seiner Ehre duldet, son-


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dern [sondern] der vielmehr selbst Muhammed, dem Propheten aller Moslemin, auf sämtliche Zehen treten würde, wenn diesem der Gedanke beikommen sollte, dem obersten Scheik der Haddedihn die schuldige Achtung zu verweigern.«

   Das energische und für uns andere so still belustigende Verhalten des Hadschi hatte die Mekkaner so eingeschüchtert, daß sie, wenigstens für jetzt, nicht laut mit einander zu sprechen wagten. Sie saßen oder lagen still beisammen, und wenn einer etwas sagte, so geschah es so leise, daß wir es nicht hören konnten.

   Das Viertel des Mondes war aufgegangen und übergoß die beiden Gruppen, die kleinere der Mekkaner und die größere der Haddedihn, mit genugsam Licht, um uns alles, was die ersteren thaten, deutlich sehen zu lassen. Die verhüllte, nach Mekka gerichtete Leiche machte einen ganz eigenen Eindruck auf uns, wenigstens auf mich. Seit wann war der blinde Münedschi schon tot? Wir wußten es nicht. In der Wüste pflegt man, wie in muhammedanischen Ländern überhaupt, Verstorbene sehr schnell zu begraben. Wir mußten darauf verzichten, etwas darüber zu erfahren, denn nach dem Vorgefallenen konnte es uns nicht einfallen, ferner ein Wort mit diesen Leuten zu sprechen. Ebenso würden, so glaubten wir, sie sich vollständig schweigend gegen uns verhalten. Darum waren wir nicht wenig erstaunt, als nach einiger Zeit El Ghani aufstand, bis zur Hälfte zu uns herüberkam und mir die Worte zuwarf:

   »Dein Name ist Hadschi Akil Schatir, wie ich gehört habe. Darf ich mit dir sprechen?«

   »Ja,« antwortete ich, verwundert darüber, daß der Anfang meines Namens trotz der Fußtritte in seinem Gedächtnisse sitzen geblieben war.

   Da fiel, ohne das weitere erst abzuwarten, Halef ein:


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   »Aber befleißige dich ja der Ausdrücke ganz ergebenster Hochachtung, denn dieser Effendi stammt aus dem Wadi Draha im fernen Moghreb und ist der größte und berühmteste Gelehrte des Morgen-, des Mittag- und des Abendlandes!«

   »Ich möchte gern wissen, ob ihr uns richtig gesagt habt, wer und was ihr seid.«

   »Wir haben die Wahrheit gesprochen,« antwortete ich.

   »Darf ich prüfen, ob du wirklich ein so großer Gelehrter bist, Effendi?«

   »Ich habe nichts dagegen, obgleich du jedenfalls nicht der Mann bist, der es sonst unternehmen dürfte, mich zu prüfen.«

   »Was haben wir vorhin gebetet?«

   »Einen Teil der Burda.«

   »Von wem ist dieses Gedicht?«

   »Von El Buschiri.«

   »Sage mir seinen vollständigen Namen!«

   »Scharaf ed Din Abu Abdallah Muhammad Ben Saïd Ben Hammad Ben Muchsin Ben Abdallah Ben Schamhagh Ben Hilal Aschamhagi. Das ist der Name, den du wahrscheinlich selbst nicht auswendig gewußt hast.«

   »Ich wußte ihn, denn jeder Gelehrte kennt ihn genau; darum weiß ich jetzt, daß du wirklich ein Gelehrter bist. Aber wie beweisest du mir, daß diese Leute auch wirklich zum Stamme der Haddedihn gehören?«

   »Ich habe dir gar nichts zu beweisen; es ist uns höchst gleichgültig, ob du es glaubst oder nicht.«

   »Dieses dein Verhalten beweist, daß es wahr ist. Nun will ich fragen, ob es euch stört, wenn wir die vorgeschriebenen Gebete über den Toten weitersprechen?«

   »Die Vorschriften der Religion soll man erfüllen.«

   »Werdet ihr uns noch Wasser geben?«


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   »Nein. Höchstens dann, wenn ihr uns darum bittet.«

   »Geht euer Ritt nach Mekka, der heiligen Stadt?«

   »Ja.«

   »Der unserige auch. Wir werden jetzt den Toten begraben und dazu beten. Dann brechen wir auf. Da ihr unsere Kamele getränkt habt, halten sie es nun bis zum Bir Hilu aus; wir aber würden verdursten, wenn wir nicht noch hier und unterwegs trinken könnten. Darum bitten wir euch noch um einen Schlauch.«

   »Gut, weil du bittest, werdet ihr ihn bekommen. Ihr habt Schläuche bei euch, von denen einer gefüllt werden mag.«

   »Ich - - danke - - dir!«

   Er dehnte die Silben weit auseinander und legte einen ungewöhnlichen Nachdruck darauf, was mich aber nicht veranlassen konnte, mein Wort nicht zu halten. Als er an seinen Platz zurückgekehrt war und sich dort niedergesetzt hatte, begannen sie, die Haschrijeh, ein Begräbnislied, zu singen, in welchem der jüngste Tag beschrieben wird. Es beginnt:

   »Ich preise die Vollkommenheiten dessen, der alles geschaffen hat, was Gestalt besitzt. Er unterwarf seine Diener dem Tode, welcher alle Geschöpfe samt den Menschen zur Vernichtung bringt.«

   Als dieser in widerlich klingenden Fisteltönen vorgetragene Gesang beendet war, wühlten sie, etwas entfernt von ihrem jetzigen Platze, mit ihren Händen in dem lockeren Sande eine Grube auf, holten den Toten und legten ihn hinein. Dann knieten sie, den Vorbeter ausgenommen, dort nieder. Dieser blieb stehen und rief:

   »Kommt herbei, ihr Gläubigen, denn ich habe das Leichengebet über den verstorbenen Muslim, welcher hier anwesend ist, zu sprechen!«


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   Diese Aufforderung ist Vorschrift. Wir gingen zwar nicht hin, standen aber auf, weil es nach den Regeln des Islam eine unverzeihliche Sünde gewesen wäre, sitzen zu bleiben. Jetzt erhob er die Hände bis zum Kopfe, berührte mit den Daumen die Ohren und rief:

   »Gott ist groß; Gott ist sehr groß.«

   Die Mekkaner wiederholten diese Worte laut. Er rezitierte hierauf die Fathha, das erste Kapitel des Koran, rief nochmals »Gott ist sehr groß«, was wiederholt wurde, und fügte hinzu:

   »O Gott, sei günstig unserm Herrn Muhammed, dem der Schrift unkundigen Propheten, auch seiner Familie und seinen Gefährten, und behüte sie! - - - -Gott ist sehr groß!«

   Nachdem auch dieser Ruf wiederholt worden war, betete der Ghani:

   »O Gott, wahrlich, das ist dein Diener und der Sohn deines Dieners. Er ist weggegangen aus dem Schlafe der Welt und ihrer Geschäftigkeit und von allem, was er liebte, und von denen, die ihn hier liebten, in die Finsternis des Grabes und zu dem, was er erfährt. Er bekannte, daß es keinen Gott giebt, als dich allein, daß du keinen Genossen hast, und daß Muhammed dein Diener, dein Gesandter sei und daß du hinsichtlich seiner allwissend seiest. O Gott, er ist hingegangen, zu wohnen bei dir, denn du bist der beste, bei dem man wohnen kann. Er bedarf deines Erbarmens, und du bedarfst seiner Strafe. Wir sind zu dir gekommen, flehend, daß wir für ihn eintreten möchten. O Gott, wenn es einer war, der Gutes that, so rechne ihm seine guten Thaten an; wenn er aber einer war, der übel that, so rechne ihm seine bösen Thaten nicht an! Gewähre in deinem Erbarmen, daß er deinen Beifall finde, und spare ihm


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die Prüfung des Grabes und dessen Qual; mache ihm sein Grab weit, und halte ab die Erde von seinen Seiten, und gewähre in deinem Erbarmen, daß er Sicherheit finde vor deiner Qual, bis du ihn wohlbehalten sendest zu deinem Paradiese! O du Erbarmendster unter denen, die sich erbarmen! - - - Gott ist sehr groß! - - - O Gott, verweigere uns nicht unsern Lohn für den Dienst, den wir ihm erwiesen, und führe uns nicht zur Prüfung nach ihm! Vergieb uns und ihm und allen Moslemin, o Herr aller Geschöpfe!«

   Nach diesem Schlusse des eigentlichen Gebetes verneigte er sich nach rechts und nach links und sagte dabei zweimal:

   »Friede sei über euch und das Erbarmen Gottes!«

   Dieser Gruß gilt den Engeln, welche nach muhammedanischem Glauben unsichtbar zu beiden Seiten stehen. Dann forderte er seine Leute nach der Vorschrift auf:

   »Gebt euer Zeugnis über diesen Toten!«

   »Er war einer von den Tugendhaften,« antworteten sie.

   Als nun der Tote mit Sand bedeckt worden war, folgte die Fathha wieder und hierauf das Schlußgebet, welches aus den drei letzten Versen der Sure Bagarah besteht:

   »Alles, was im Himmel und auf Erden ist, gehört Gott. Er wird euch über das, was sich in eurem Herzen befindet, mögt ihr es veröffentlichen oder verheimlichen, zur Rechenschaft ziehen. Er verzeiht, wenn er will, und er bestraft, wenn er will, er, Gott, der über alle Dinge mächtig ist. Der Prophet glaubt an das, was ihm von Gott offenbart worden ist, und alle Gläubigen glauben an Gott, an seine Engel, an seine Schrift und an seine Propheten. Wir machen keinen Unterschied zwischen


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seinen Propheten. Sie sagen: "Wir hören und gehorchen." Dich aber, o Herr, bitten wir um Gnade, denn zu dir kommen wir einst. Gott zwingt niemanden, über seine Kräfte zu thun, aber den Lohn dessen, was man Gutes oder Böses gethan hat, wird man erhalten. O Herr, bestrafe uns nicht, wenn wir ohne oder mit Absicht gesündigt haben! Lege uns nicht auf das Joch, welches du denen auferlegtest, die vor uns lebten. Lege uns nicht mehr auf, als wir tragen können. Verzeihe uns; vergieb uns; erbarme dich unser; du bist unser Beschützer! Hilf uns gegen die Ungläubigen!«

   Hiermit war die Ceremonie beendet, die bei Begräbnissen in bewohnten Orten natürlich eine ganz andere ist.

   Nun schickte El Ghani einen seiner Leute mit einem leeren Wasserschlauch zu uns, den wir füllen ließen; dann rüsteten sie sich zum Aufbruche. Als sie die Kamele bestiegen hatten, ritten die andern fort, ohne uns zu beachten; El Ghani aber lenkte das seinige nahe zu uns heran und rief uns zu:

   »Ihr habt nicht laut mitgebetet, obwohl das eure Pflicht gewesen wäre. Darum haben wir das Angesicht des Toten unbedeckt gelassen, damit er euch im Jenseits verfluche, wenn ihr nicht dadurch Teil an seiner Bestattung nehmt, daß ihr ihm die noch fehlende Erde gebt. Eure Beleidigungen habe ich behalten, ich nehme sie mit mir, aber sobald ihr nach Mekka kommt, rechne ich dort mit euch ab. Es bleibt euch keines eurer Worte geschenkt. Allah verfluche euch!«

   Da sprang Halef auf, riß die Peitsche empor, sprang dem Mekkaner nach und langte ihm zwei oder drei so kräftige Hiebe zu, daß der Getroffene vor Schmerz brüllte. Er hatte bei der außerordentlichen Behendigkeit des Hadschi


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keine Zeit gefunden, sich schnell genug davonzumachen. Dieser rief ihm noch nach:

   »Hund, Hundsgroßvater und Urhundsenkel! Da hast du einen Teil der Abrechnung schon heute mit! Den Rest werde ich dir in Mekka ehrlich zahlen! Mach dich gefaßt! Was ich verspreche, halte ich gewiß!«

   Es klangen noch einige Flüche zu uns her; dann war der »Liebling des Großscherif« mit seinen Leuten verschwunden.

   Die Haddedihn tauschten sehr lebhaft ihre Meinung über unsere Begegnung mit den Mekkanern aus. Halef beteiligte sich natürlich sehr daran; ich war still. Als ihm das nach längerer Zeit auffiel, fragte er mich nach dem Grunde meines Schweigens. Ich mußte die Antwort für später aufheben; mein Schweigen sollte eine Strafe für ihn sein; ich wußte, wie empfindlich er dafür war. In Gegenwart seiner Frau und seines Sohnes konnte ich ihm doch nicht sagen, daß er zwei unverzeihliche Fehler begangen hatte. Er hätte den Mekkanern unsere Namen nicht sagen und dann zuletzt El Ghani nicht schlagen dürfen, denn wenn dieser wirklich ein angesehener Bürger der heiligen Stadt war und gar in persönlicher Beziehung zu dem Großscherif stand, so konnte er uns nicht nur bedeutende Ungelegenheiten, sondern noch viel mehr bereiten, zumal ich ja nicht Muhammedaner und darum auf die größte Vorsicht angewiesen war.

   In Beziehung auf den wiederholt genannten Scherif von Mekka bemerke ich, daß das Wort Scherif soviel wie edel, adelig, erhaben bedeutet. Unter einem Scherife versteht man einen direkten Abkömmling Muhammeds durch dessen Tochter Fatima, welche die Frau Alis war. Den Scherifs steht es allein zu, einen grünen Turban und ein grünes Oberkleid zu tragen. Die kleinste Be-


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leidigung [Beleidigung] eines solchen Edlen wird sehr streng geahndet. Die Scherifwürde überträgt sich sowohl durch männliche wie auch weibliche Personen. Man hat, besonders in Persien, mehrere Zweige der Eschraf *), so die Aliiden, Fatimiden, Dschafariden, doch giebt es auch Familien, welche sich als scherif bezeichnen, es aber nicht sind. Dies ist der Fall, obwohl in fast jeder muhammedanischen Stadt von besonderen Beamten, welche Nakyb el Eschraf heißen, Listen über die zu diesem Titel berechtigten Familien und Personen geführt werden, welche alljährlich mit der großen Pilgerkarawane nach Mekka gebracht und dem dortigen Großscherif zur Ansicht und Bestätigung vorgelegt werden. Er ist der Stammfürst sämtlicher Nachkommen des Propheten, der Statthalter von Mekka und oberster Hüter der Kaaba und sämtlicher Heiligtümer und bekommt jährlich vom Sultan reiche Geschenke geschickt. Das Scherifat ist eigentlich nur eine geistliche Auszeichnung oder Würde, und ein Scherif soll durch seine direkte Abstammung von Muhammed nicht weltliche Vorteile genießen, aber in der muhammedanischen Welt dominieren in jeder Beziehung die geistlichen Verhältnisse, und so glauben auch die Eschraf das Recht zu haben, in Beziehung auf die materiellen Güter ebenso wie in geistlicher Hinsicht den Nichtabkömmlingen des Propheten weit voranzustehen. Diesen Standpunkt nimmt besonders der Großscherif, der Scherif el Eschraf **) ein. Er dünkt sich, nicht niedriger zu stehen als der Sultan, der doch der Kalif, also der Oberhirt und Beherrscher aller Gläubigen ist, und die Geschichte hat schon wiederholt Beispiele davon gebracht, daß der Herr der Kaaba gar wohl im stande ist, dem Padischah die Faust zu zeigen, zumal der Weg von Stambul nach


*) Plural von Scherif.
**) Scherif der Scherifs.
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Mekka ein weiter ist und es also seine Schwierigkeiten hat, die Zügel zwischen dort und hier so straff zu halten, wie es eigentlich geschehen sollte. Den Millionen muhammedanischer Pilger, welche nach Mekka und Medina kommen, erscheint der Großscherif näher als der von den Heiligtümern so ferne Sultan, und so ist es nicht zu verwundern, daß sie glauben, mehr unter der Macht und dem Einflusse des ersteren als des letzteren zu stehen.

   Dies also ist über den Großscherif zu sagen, dessen Liebling sich el Ghani genannt hatte. Obwohl ich nun annahm, daß diese Bezeichnung auch in der bekannten orientalischen Uebertreibung gebraucht worden war, so mußte etwas Wahres doch daran sein. Er stand in irgend einer Beziehung zu dem Beherrscher derjenigen Orte, welche ich besuchen wollte, obgleich mir dies als Christen bei Todesstrafe verboten war, und konnte mir bei jeder ihm beliebigen Gelegenheit Fallstricke legen, denen trotz aller Vorsicht, aller Klugheit und auch allen Mutes nicht zu entgehen war. Und das hatte ich dann der Unüberlegtheit Halefs zu verdanken, dessen heißgeliebte Peitsche in Bewegung gesetzt worden war, obgleich der grüne Turban, den El Ghani trug, bewiesen hatte, daß er auch zu den Abkömmlingen Muhammeds gehörte, deren Beleidigung zehnfach gefährlicher als jede andere ist. Mit der sehr kräftigen, aber doch bloß wörtlichen Zurückweisung der Arroganz des Mekkaners durch den Hadschi war ich vollständig einverstanden gewesen, weil dies kein unberechtigter, zur Rache herausfordernder Angriff, sondern eine sehr berechtigte Abwehr gewesen war; aber Prügel mit der Peitsche, einem Araber, welcher die Würde eines Scherif bekleidete, das war eine Uebereilung, mit welcher ich unmöglich einverstanden sein konnte. Ich nahm daher die Gelegenheit wahr, dem Hadschi zu folgen


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als er vor dem Schlafengehen noch einmal nach seinem Pferde sah. Da waren wir allein. Mein ununterbrochenes Schweigen hatte die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt. Er empfing mich mit den Worten:

   »Du bist zornig auf mich, Sihdi, weil ich diesem hochmütigen Menschen meine Kurbadsch *) zu schmecken gegeben habe?«

   »Natürlich! Wunderst du dich vielleicht darüber?« antwortete ich.

   »Nein; aber er hatte es verdient.«

   »Die Klugheit verbietet sehr häufig, den Menschen nach dieser Art von Verdienst zu behandeln! Du hättest schon unsere Namen nicht sagen dürfen; es war auf alle Fälle besser, wenn er über uns im unklaren blieb. Aber du mußt jedem unbekannten Menschen gleich sagen, was für ein berühmter Kerl du bist!«

   »Bin ich das etwa nicht?«

   »Nein!«

   »Aber du?«

   »Auch nicht. Wir sind in gewissen Gegenden bekannt; das ist alles. Wir beide brauchen uns gar nichts einzubilden; es giebt überall Hunderte und Tausende von Menschen, die noch ganz andere Kerls sind, als du und ich! Du aber denkst, ein Scheik der Haddedihn und ein hier im Oriente herumkrabbelnder abendländischer Dudi el Kutub **) seien die hervorragendsten und gewaltigsten aller Erdenbewohner, weil sie einmal einen Löwen geschossen haben oder vor einigen Kurden nicht gleich ausgerissen sind. Für so hochwichtige Leute darfst du uns denn doch nicht halten. Ich sage dir, wenn eine ganze Million Menschen unserer Sorte jetzt plötzlich stürbe, die Weltgeschichte würde ihren Gang sehr ruhig weitergehen!«


*) Peitsche.
**) Bücherwurm
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   »Das glaube ich nicht, Sihdi!«

   »Es ist aber so!«

   »Nein, denn meine Haddedihn gehören doch auch zur Weltgeschichte, und wenn ich jetzt plötzlich stürbe, so würde die Haddedihnsche Abteilung der Geographie und Geschichte in die bittersten Thränen ausbrechen und eine sehr traurige werden. Und was soll aus dem Stamm der deutschen Beduinen werden, wenn du hier stirbst und nicht zu ihnen wiederkehrst? Zunächst würde in deinem Harem sich ein großes Weinen und Klagen erheben, und von diesem deinem Frauenzelte aus würde sich dann eine niemals versiegende Flut der Thränen ergießen über alle Berge, Thäler und Ebenen deines Vaterlandes. Die Palmen eurer Oasen würden eingehen vor Schmerz und die Herden der Kamele hinsinken durch die Seuche unheilbarer Traurigkeit. Es würde ein großer, unendlicher Jammer ausbrechen - - - -«

   »Sei still!« unterbrach ich ihn. »Meine Emmeh würde trauern und mir sehr bald nachfolgen; davon bin ich überzeugt; sonst aber dürfte deine niemals versiegende Thränenflut nur deine Phantasie überschwemmen. Wir sind nichts Besseres als andere Menschen und haben keine Ursache zu solchen Posaunentönen, wie du immer erschallen lässest, wenn von dir und mir die Rede ist. Hörst du wohl, ich sage "dir und mir". Weißt du, was ich meine?«

   »Nein.«

   »So oft ich von uns beiden spreche, bin ich so höflich, dich zuerst zu nennen; das habe ich stets gethan. Du aber sagst stets "mir und dir" oder "mich und dich", stellst also immer dich voran! Das habe ich jahrelang beobachtet und niemals eine Ausnahme bemerkt. Kannst du dir wohl denken, als welchen Beweis ich mir diesen an und für sich geringfügigen Umstand wohl habe gelten lassen?«


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   »Sihdi, von diesem Umstande weiß ich ja gar nichts!«

   »Das ist es ja eben! Wenn ich mit dir von uns beiden spreche, so denke ich nicht nur an die dir schuldige Höflichkeit, sondern auch an meine Freundschaft und Liebe zu dir, welche mich bestimmen, dich stets voranzusetzen. Du aber weißt nichts davon; du denkst gar nicht daran, und weil du dich für einen ungeheuer bedeutenden Menschen hältst, bringst du dein liebes Ich ohne alle Ausnahme stets zuerst.«

   »Ist das wahr, Effendi?«

   »Ja.«

   »Das möchte ich aber doch kaum glauben!«

   »Ich könnte es dir beweisen, wenn auch nur indirekt.«

   »Wodurch?«

   »Du weißt, daß ich in meinen Büchern auch unsere Reisen und Erlebnisse beschreibe. Du hast mich gebeten, dich ganz genau so zu schildern, wie du bist, um Allahs willen ja nicht anders. Das habe ich gethan, und nun kann jeder, der ein solches Buch in die Hand bekommt, nachschlagen und sich überzeugen, daß du mich immer hinter dich stellst, mich stets erst nach dir nennst.«

   Da faßte er mich schnell und kräftig am Arm, zog mich einige Schritte fort, als ob jemand dastehe, der seine Worte nicht hören solle, und fragte mich in erschrockenem, heftigem Tone:

   »Du, Sihdi, steht das wirklich in den Büchern?«

   »Ja.«

   »Und jeder kann es lesen?«

   »Meine Bücher befinden sich in mehr Händen, als du denkst. Hunderttausende haben es schon gelesen.«

   »Sei barmherzig und sag, daß es nicht so ist!«

   »Das kann ich nicht, denn es ist wirklich so.«


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   »Allah kerihm! So sei Allah mir gnädig! Was müssen diese Leute alle von mir denken! Für was müssen sie mich halten, den Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar! Wenn mein Mich stets vor deinem Dich zu finden ist, ohne daß ich deinem Dir vor meinem Mir den Vortritt lasse, so ist zu befürchten, daß unser Uns auch stets an der unrechten Stelle steht! Mein ganzer Ruhm ist hin! Man wird mein Ich für ungeheuer rücksichtslos halten und mich mit Recht der unhöflichen und also unverzeihlichen Zurückstellung deines dir mit vollstem Rechte gehörenden Du beschuldigen! Die Ehre meiner bescheidenen Unterwürfigkeit ist hingeschwunden und der Glanz meiner schönen Umgangsform in Finsternis verwandelt! O Sihdi, warum, warum hast du das mir, deinem treuen Halef, angethan!«

   »Du hast es so gewollt. Ich sollte dich ja nicht anders beschreiben, als du bist!«

   »Das ist wohl wahr; aber als ich diesen Wunsch aussprach, war mir das Mich und Dich ganz unbekannt. Nun ist dein Hadschi Halef im ganzen Abendlande ein anrüchiger Mensch geworden, und all mein einstiger guter Ruf hat sich in Schimpf und Schmach verkehrt. Ich bin eine verdorbene Wassermelone, ein fauler Apfel, ein wurmstichiger Buchecker geworden, den kein Sindschab *) verzehren mag! Sei gütig gegen mich, Effendi, und sag, ob das nicht noch zu ändern ist!«

   »Was einmal im Buche steht, kann leider nicht daraus entfernt werden!«

   »Aber wie da, wenn du ein neues schreibst?«

   »Da will ich dir ganz gern deinen Wunsch erfüllen und zeigen, daß du dich geändert hast. Nur muß diese Aenderung auch Wahrheit sein!«


*) Eichhörnchen.
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   »Sie wird es sein; das verspreche ich dir! Da du mein Freund bist, muß es doch wohl mich und dich betrüben, wenn - - -«

   »Halt!« unterbrach ich ihn. »Da eben hast du wieder "mich und dich" gesagt und dich vorangestellt!«

   »Sihdi, glaube mir, ich wollte hinterher kommen, bin mir aber in der Eile so verkehrt aus dem Munde gefahren, daß du keinen Platz gefunden hast, vor mir zu erscheinen. Ich bitte dich, mich stets und sofort zu erinnern, wenn du den Vorrang nicht bekommst, der dir gebührt! Also diese Zurücksetzung des Dich hat mich bei dir um meinen Ruhm gebracht?«

   »Nicht um den Ruhm gebracht; ich habe nur sagen wollen, wie bezeichnend sie für dich und deine Art und Weise ist. Das war die Bestrafung deiner Unüberlegtheit im Verhalten zu el Ghani. Deine Peitsche heut kann uns sehr viel, sogar das Leben kosten. Er ist Araber, also rachsüchtig, und sodann gar Scherif! Hast du denn die grüne Farbe seines Turbans nicht beachtet?«

   »Sihdi, es wurde mir vor Zorn so grün vor den Augen, daß die Farbe des Turbans sich gar nicht extra unterscheiden ließ. Ich hoffe doch, daß du, wenn du unser Zusammentreffen mit den Mekkanern beschreibst, mich und die Kurbadsch nicht mit erwähnst?«

   »Hm! Diesen Gefallen möchte ich dir wohl gern thun, glaube aber, daß es mir nicht möglich sein wird.«

   »Warum nicht?«

   »Weil sich wahrscheinlich die Folgen deiner schnellen Handlungsweise einstellen werden, und wenn ich von diesen erzähle, muß ich auch die Ursache, deine Peitsche, erwähnen.«

   »Das thut mir leid, sehr leid! Du kannst dir doch denken, daß ich nicht gern als ein Mensch beschrieben sein will, der nichts als Dummheiten macht!«


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   »So hüte dich, welche zu begehen!«

   »Das mir zu sagen, ist wohl leicht; aber wenn es mir in der Zunge oder in den Gliedern zuckt, so springt die Katze heraus, ehe ich sie festhalten kann. Es ist mir aber ein gutes, ein sehr gutes Mittel der Bedachtsamkeit eingefallen, vorhin, als du die Bücher erwähntest. Ich habe mir vorgenommen, in diesen Büchern von jetzt an als leuchtendes Vorbild reiflicher Ueberlegung und ernster Behutsamkeit zu glänzen; ich werde keinen Finger mehr eher bewegen, als bis ich mir ganz genau berechnet habe, welcher von den zehn, die ich besitze, es sein muß. Dabei aber mußt du mich als Freund unterstützen, indem du mich sofort an die Bücher, welche du noch schreiben willst, erinnerst, falls ich mich in Gefahr befinde, etwas zu sagen oder zu thun, was ich verschweigen oder unterlassen soll.«

   »Da bin ich einverstanden; ich werde es gern thun.«

   »Aber das braucht keiner, der dabeisteht, zu bemerken. Darum mußt du vermeiden, mir eine lange Rede zu halten, Sihdi!«

   »Hast du mich als einen Freund von langen Reden kennen gelernt, Halef?«

   »Nein. Aber auch mir wird ein einziges Wort genügen.«

   »Welches?«

   »Kultub *). Sag einfach Kultub, so weiß ich, was du meinst, ohne daß ein anderer es erfährt! Sobald du dieses Wort aussprichst, werde ich sofort daran denken, daß ich den vielen, vielen Lesern deiner Bücher als erhabenes Vorbild und unerreichtes Muster aller irdischen und männlichen Tugenden zu gelten habe. Dieses Wort wird mich im größten Zorne beruhigen, indem es meinen


*) »Bücher.«
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Grimm mit Sanftmut übergießt; es wird mich in jeder Aufregung, überhaupt in jeder Lage, zur Besinnung und Ueberlegung dessen bringen, daß derjenige Teil der Weltgeschichte, welcher von mir, von meinen Worten und Werken handeln wird, nichts enthalten darf, wodurch der Glanz meines Ruhmes verdunkelt werden könnte. Also nur dieses eine Wort "Kultub" brauchst du zu sagen, wenn du den wütenden Löwen, der ich zuweilen bin, schnell in ein stilles, geduldiges Lamm verwandeln willst. Dafür bin ich aber auch überzeugt, zur Besänftigung deines Zornes nun alles gethan zu haben, was du von mir verlangen kannst, und bitte dich, den überflüssigen Schwung, den ich meiner Peitsche gegeben habe, nicht wieder zu erwähnen!»

   Mit diesen Worten war für ihn die Sache abgemacht, für mich aber freilich noch nicht, denn ich war überzeugt, daß die Folgen gewiß nicht auf sich warten lassen würden.

   Jetzt war es Zeit, uns schlafen zu legen; ich sah also noch einmal nach dem Hedschihn, welches ich während dieser Reise ritt, und rief dann meinen Hengst Assil zu mir, denn er war jetzt ganz genau so mein Schlafkamerad, wie sein Vater Rih es früher gewesen war. Sein Hals diente mir als Kopfkissen, und vor dem Einschlafen sagte ich ihm die für ihn bestimmte Sure in das Ohr. Dann wurde es rundum still, denn außer dem einen Haddedihn, auf welchen die Wache gefallen war, hatten sie alle sich zur Ruhe gelegt. Später wurden wir durch einen Schuß aus dem Schlaf geschreckt; die Geier hatten sich zu nahe an den Toten gewagt und waren von dem Wächter vertrieben worden. Als ich später wieder aufwachte, war es um die Zeit des Fagr, des Gebetes um die Zeit der Morgenröte. Die meisten der Haddedihn


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waren schon munter. Hanneh hatte das Feuer wieder angezündet, um den Morgenkaffee zu kochen, zu welchem die gestern übrig gebliebenen Brotkuchen verzehrt werden sollten.

   Hierbei will ich bemerken, daß der Beduine außerordentlich mäßig lebt und nur bei festlichen Schmausereien von dieser Regel eine Ausnahme macht. Der Fremde, welcher sich denselben Anstrengungen wie der Einheimische unterwerfen will, muß sich auch ganz derselben Mäßigkeit befleißigen, wenn er nicht von Krankheiten schnell dahingerafft sein will. Ich denke da noch heut mit großem Vergnügen eines Zusammentreffens zwischen mir und einem Wüstenreisenden, dessen Werke nicht unbekannt sind. Er erzählte mir mit großer, sichtlicher Befriedigung, daß er »in der Wüste« stündlich mehrere Glas Wasser getrunken habe. Er reiste mit vierzehn Zelten. Sobald diese aufgeschlagen waren, nahm er ein Frühstück zu sich, welches aus einer Flasche Wein, Sardinen, kalter Zunge und Biskuit bestand, hierauf aß er zu Mittag eine »Suppe ersten Ranges«; so nannte er sie nämlich. Sie bestand, notabene für ihn ganz allein, aus drei Hühnern und einer ganzen Ochsenschwanz- oder Schildkröten-Konserve. Hierauf folgten Schafs- oder Lammbraten, eine Eier- oder Reisspeise, Biskuit nebst Wein und Kaffee. Dieser Herr versicherte mir im Tone stolzer Genugthuung, daß er »in der Wüste« niemals einen Beduinen besucht habe, ohne Handschuhe anzuziehen! Und das, was er mir erzählte, hat er auch geschrieben und durch den Druck veröffentlicht! Wenn es Europäer giebt, welche in südlichen Ländern in dieser ausgiebigen Weise für das Wohlbefinden ihres Körpers sorgen, so ist es gar kein Wunder, wenn die durch diese Völlerei erzeugten überschüssigen Säfte sich auf dem auch schon nicht mehr ungewöhnlichen


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Wege des Tropenkollers Luft zu machen suchen! Ich habe stets genau in derselben Weise wie die Eingeborenen gelebt und bin nie der Ansicht gewesen, daß ich mich durch den Genuß von Extraspeisen und Delikatessen vor ihnen auszeichnen müsse. Was sie hatten und aßen, das hatte und aß auch ich, und da ich diesen Grundsatz auch in jeder andern Beziehung verfolgte, so bin ich mit ihnen stets, auch ohne Tropenkoller, sehr gut ausgekommen.

   Als wir den Morgenkaffee zu uns genommen hatten, durften wir an unsern Aufbruch denken; vorher aber hatten wir das zu thun, was zu thun wir uns durch die Malice el Ghanis gezwungen sahen: Wir mußten die Leiche des Münedschi vollends mit Sand bedecken, wenn wir uns nicht einer ganz unverzeihlichen religiösen Unterlassungssünde schuldig machen wollten. Es wurden einige Haddedihn damit beauftragt, denen Halef befahl, es nicht bloß bei dem einfachen Zudecken zu lassen, sondern einen hohen und möglichst festen Grabhügel aufzubauen, damit die Geier dann nicht zu der Leiche könnten. Meiner alten Gewohnheit folgend, mich womöglich um alles selbst mit zu bekümmern, ging ich mit diesen Leuten nach der Stelle, wo die Mekkaner ihren Toten liegen gelassen hatten; Halef war auch dabei.

   Der Körper der Leiche war im Sande eingegraben, der Kopf noch nicht; das Gesicht hatte man mit einem Zipfel des Gewandes bedeckt. Ich schlug diesen Zipfel zurück.

   »Allah w'Allah!« sagte Halef. »Welcher Ausdruck der Ehrwürdigkeit! So wie diesen Mann habe ich mir die Propheten vergangener Jahrhunderte vorgestellt!«

   Er hatte recht; es ging mir grad so wie ihm. Ich hatte wohl noch selten ein so schönes, Ehrfurcht gebietendes Greisenangesicht gesehen, noch jetzt, im Tode, schön!


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   »Er hat nicht das Aussehen eines Toten, sondern eines Schlafenden,« fuhr Halef fort, »eines Schlafenden, der von Allahs Himmel träumt. Sieh, wie er selig lächelt!«

   Es ist nach meinen Erfahrungen mit diesem sogenannten »seligen Lächeln« der Verstorbenen eine ganz eigene Sache, denn ich habe es am ausgeprägtesten, am ergreifendsten bei Personen gefunden, deren Ende ein gewaltsames gewesen war. Ich habe in den Zügen im Kampfe Gefallener kurz nach ihrem Tode den sprechendsten Ausdruck des Hasses, des Grimmes, der Angst, des physischen Schmerzes gesehen, und dann wahrgenommen, daß dieser Ausdruck sich sehr bald in denjenigen der Milde, der Ruhe, des Friedens verwandelte. Und wiederum sah ich Leute so sanft und kampflos hinüberschlafen, daß ich mir wünschte »so möchte einst auch dein Tod sein!«, und dann nahmen ihre Gesichter nach und nach das Gepräge seelischer Angst oder körperlicher Pein, des Leidens an. Sollten die Affekte oder Stimmungen, welche im Augenblicke des für uns sichtbaren Sterbens vorherrschend sind, nur deshalb keine nachhaltige Wirkung hinterlassen, weil die eigentliche Trennung der Seele von dem Körper erst später, von uns unbemerkbar, erfolgt und der Geist erst dann das, was ihn bei diesem endgültigen Scheiden bewegt, zum Troste oder zur Warnung für die Hinterbliebenen auf das Angesicht schreibt? Diese Frage gehört auch zu denen, welche wir Lebenden wohl aussprechen, aber nicht beantworten können.

   Indem ich die Züge des Münedschi betrachtete, fiel mir die Färbung des Gesichtes auf; sie war blaß und totenähnlich, dabei aber von einem so eigentümlichen Ton, daß ich aufmerksam wurde. Ich legte die Hand an seine Wange und fühlte, daß sie kalt war. Ich entfernte den


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Sand von den Armen und den Händen; diese letzteren hatten auch die Kälte des Todes. Nach der Trübung der Augen sah ich nicht, da ich ja gehört hatte, daß der Münedschi blind gewesen war. Leichengeruch gab es nicht, doch war die Todesstarre eingetreten, die aber ebenso wie die Kälte und die Veränderung der Hornhaut des Auges kein unzweifelhafter Beweis des wirklich eingetretenen Todes ist. Ich forderte einige Haddedihn, welche bei uns standen, auf, den Mekkaner ganz vom Sande freizumachen.

   »Warum das?« fragte Halef im Tone der Ueberraschung. »Denkst du etwa, daß er noch lebt, Sihdi?«

   »Das wohl nicht,« antwortete ich; »aber ich habe das Gefühl, als läge auf dem Gesichte noch ein leiser, leiser Lebenshauch, der nicht auf wirklichen Tod, sondern nur auf Ohnmacht schließen läßt.«

   »Nur ohnmächtig? Also scheintot? Effendi, wir haben schon viel, sehr viel erfahren und gar manches erlebt, was kein anderer Mensch erleben wird, aber einen Scheintoten wieder lebendig zu machen, dazu haben wir doch noch keine Gelegenheit gehabt! Was für ein großer Ruhm würde es für uns sein, wenn wir sagen könnten, daß sogar die Macht des Todes nicht vor uns standhalten könne! Hier ist die beste, die allerbeste Gelegenheit dazu, dies zu beweisen!«

   »Nur langsam, nicht wieder so vorschnell, lieber Halef! Ich habe ja noch gar nicht behauptet, daß es sich hier nur um Scheintod handle! Ich täusche mich jedenfalls, halte es aber doch für meine Pflicht, diesen Mann nicht eher vollends zu begraben, als bis ich mich überzeugt habe, daß der Tod wirklich eingetreten ist.«

   »Wie kannst du zu dieser Ueberzeugung gelangen?«

   »Indem ich seine Atmung und den Puls untersuche.«


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   »Die Atmung? Er holt keinen Atem mehr; das muß ja jeder sehen!«

   »Das Atmen eines Scheintoten geht so leise vor sich, daß es nur bei der größten Aufmerksamkeit zu bemerken ist. Wollen sehen!«

   Die Haddedihn hatten den Sand entfernt und den Körper neben die Grube gelegt. Ich kniete bei ihm nieder, schlug die Kleidung weit von der Brust zurück und hielt die Augen auf den Brustkorb gerichtet. Halef ließ sich zu gleichem Zwecke neben mich nieder. Es versteht sich ganz von selbst, daß alle andern Haddedihn nun auch herbeigekommen waren und in höchster Spannung im Kreise um uns standen. Noch war kaum eine Minute vergangen, so rief Halef:

   »Jetzt, jetzt hat er Atem geholt! Hast du es gesehen, Effendi?«

   Auch mir war es so gewesen, als ob eine ganz leise und sehr flache Bewegung des Thorax stattgefunden hätte; aber selbst als sich das nach einiger Zeit wiederholte, glaubte ich, an der Wahrheit dieser Beobachtung zweifeln zu müssen. Ich ließ mir ein Stück Leder geben, rollte es zum Rohr zusammen und setzte es, die Haddedihn zum tiefsten Schweigen auffordernd, dem Mekkaner auf das Herz. Es verging wohl über eine Minute; da glaubte ich, ein Geräusch gehört zu haben, sagte aber nichts; dann hörte ich es wieder, auch zum dritten, vierten und fünften Male; es waren die Diastolgeräusche, die zweiten kürzeren und helleren Herztöne, welche ich bemerkt hatte; die ersten Herztöne sind zwar stärker und länger, aber dumpfer und an Scheintoten nie zu hören. Jetzt war ich meiner Sache sicher und sagte, indem ich schnell aufsprang:

   »Halef, dein Wunsch ist erfüllt, denn dieser Mann


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lebt; er ist nur scheintot, und mit Gottes Hilfe wird es uns gelingen, seine Seele zurückzurufen!«

   »Hamdulillah! Wir werden den Tod überwinden und dem Leben befehlen, wieder dahin zurückzukehren, wohin es rechtmäßigerweise gehört! Wir werden es an seine Pflicht erinnern und nicht eher ruhen, als bis es uns Gehorsam geleistet hat! Aber da ich nicht weiß, wie das zu machen ist, so fordere ich dich auf, Effendi, uns zu sagen, wie es geschehen soll!«

   »Das wird durch den Itnaffas maßnu *) geschehen.«

   »Itnaffas maßnu? Davon habe ich noch nie etwas gehört. Es ist doch keine Kunst, zu atmen! Wenn man den Mund öffnet, geht die Luft ganz von selbst hinein.«

   »Dir das zu erklären, habe ich jetzt keine Zeit. Wir dürfen keinen Augenblick verlieren, wenn wir mit unserer Hilfe nicht zu spät kommen wollen.«

   »Aber ich darf mithelfen?«

   »Ja. Ich werde dir zeigen, was du zu thun hast.«

   Der Oberkörper des Mekkaners wurde ganz entkleidet und, etwas erhöht, auf den Rücken gelegt. Ich zog seine Arme in regelmäßigen Intervallen vom Brustkorbe ab, langsam nach oben über den Kopf und drückte sie ihm dann wieder an den Körper. Halef mußte in den gleichen Intervallen ihm den Unterleib nach oben drücken, wodurch eine regelmäßige Erweiterung und Verengerung des Brustkorbes entstand, durch welche die Lunge gezwungen wurde, abwechselnd Luft aufzunehmen und wieder abzugeben. Natürlich hatte ich ihm vorher die Zunge so weit vorgezogen, daß ein Haddedihn sie fassen und festhalten konnte, weil durch sie sonst der Atmungsweg verschlossen worden wäre. Während wir in dieser Weise beschäftigt


*) Künstliches Atmen.
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waren, wurde der Körper des Münedschi, auch an den Beinen, von noch zwei Haddedihn unausgesetzt sehr stark frottiert.

   Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß der kleine, gesprächige Hadschi sich während dieser Arbeit fortwährend in Bemerkungen erging, die nicht zur Sache gehörten, von mir aber nicht zurückgewiesen wurden, weil dies auf seinen Eifer abkühlend gewirkt hätte. Dieser mußte im Gegenteile erhalten werden, denn unsere Bemühungen schienen lange Zeit ohne allen Erfolg zu sein.

   Es war wohl schon eine Stunde vergangen, und ich wurde von der einförmigen Bewegung müde. Eben wollte ich mich für einige Zeit ablösen lassen, als ich bemerkte, daß der Scheintote Farbe bekam; da war nun freilich von Ermüdung keine Rede mehr. Schon nach kurzem holte er selbständig Atem und öffnete die Augen. Was für prachtvolle Augensterne das waren!

   Ich habe viele, viele Reimereien gelesen und gehört, in denen von herrlichen blauen oder gar himmelblauen Augen die Rede ist, aber noch nie ein himmelblaues Augenpaar gesehen. Ich behaupte darum, daß es gar kein rein blaues Auge giebt. Hat es aber jemals wirkliche, herrliche, himmelblaue Augen gegeben, so sind es die des Münedschi gewesen, welche sich jetzt so weit öffneten und mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke groß und voll auf den Hadschi richteten. Das war ein mir völlig unbekannter Glanz, ein Blick, der nicht dieser Welt anzugehören, sondern aus dem Jenseits zu kommen schien.

   »Sihdi, er ist wach! Er atmet und schaut mich an!« rief Halef überglücklich.

   »Durst!« hauchte der Kranke.

   Es wurde Wasser gebracht; wir setzten ihn aufrecht und flößten es ihm langsam und vorsichtig ein, fast nur


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tropfenweise. Durch diese langsamen und regelmäßigen Schlingbewegungen wurde sein noch schwaches Atmen unterstützt. Es besserte sich.

   »Danke!« sagte er, als der ärgste Durst gelöscht zu sein schien. Dann sank er um, schloß die Augen wieder und schlief ein, wodurch aber das Atemholen nicht gestört wurde. Die Züge wurden im Gegenteile immer kräftiger und tiefer.

   »Hast du seine Augen gesehen, Sihdi?« fragte mich Halef.

   »Ja,« nickte ich.

   »Und dich über sie gewundert?«

   »Nein. Diese Augenfarbe hat nicht bloß der Norden. Ich habe sie sogar im Süden der Sahara an ganz dunkel gefärbten Leuten bemerkt.«

   »Das ist es nicht, was ich meine. El Ghani hat doch behauptet, daß El Münedschi blind sei; das halte ich aber, seit ich diese Augen gesehen habe, für eine große Lüge!«

   »Auch ich neige mich dieser Ansicht zu, doch ist es nicht unmöglich, daß wir uns täuschen. Warten wir es ab!«

   »Aber was thun wir nun? Wir müssen doch aufbrechen, und er schläft!«

   »Wir dürfen ihn jetzt nicht stören, werden also bleiben, bis er erwacht.«

   »Und dann?«

   »Dann werden wir ja mit ihm sprechen und also erfahren, was er zu thun beschließen wird.«

   »Gut, warten wir also! Es zwingt uns ja nichts zur Eile, und so können wir, während er im Schlafe neue Kräfte sammelt, uns über die Kijahma *) freuen,

*) Ayuferstehung.


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durch welche wir seine schon abgeschiedene Seele aus dem Lande des Todes zurückgerufen haben. Hast du schon einmal von einer solchen Kijahma gehört, Sihdi?«

   »Ja. Ich habe sogar eine Auferstandene sehr gut gekannt und außerordentlich lieb gehabt; ich liebe sie noch heut, obwohl sie nun nicht mehr zu den Irdischen gehört.«

   »Wer ist das gewesen?«

   »Meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, welche der irdische Engel meiner Kindheit gewesen ist und jetzt nun sicher bei den Engeln weilt. Sie war, grad wie auch meine Mutter, so reich an Liebe, daß ich noch heute von und in diesem Reichtume lebe; es ist das der größte Reichtum, den es giebt, mein lieber Halef. Die Verletzung eines Nerven war schuld, daß sie in Starrkrampf fiel und für tot gehalten wurde. Man bettete sie in den Sarg, und erst ganz kurz vor dem Begräbnisse, als die Leidtragenden den letzten Abschied von ihr genommen hatten, wurde entdeckt, daß sie noch lebte.«

   »Durch einen Zufall?«

   »Halef, du weißt, daß es für mich keinen Zufall giebt. Wenn die allmächtige Weisheit Gottes Ursachen und Wirkung miteinander verknüpft, deren Verbindung das schwache Auge des Menschen nicht zu erkennen vermag, so wird zur Erklärung das mir so unsympathische Wort Zufall hervorgesucht. Es ist das eine Kantara el humar *), über welche sogar sonst ganz kluge Leute reiten.«

   »Lebtest du damals schon, als deine Großmutter scheintot war?«

   »Nein. Sie ist zu jener Zeit noch jung gewesen, hat aber bis in ihr sehr hohes Alter oft von der entsetzlichen Angst gesprochen, welche ihr durch den Ge-


*) Eselsbrücke.
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danken [Gedanken], lebendig begraben zu werden, verursacht worden war.«

   »Hat sie denn diese Angst empfunden? Ich habe nämlich gehört, daß der Scheintote gar nichts von sich weiß, weil seine Seele den Körper verlassen hat und außerhalb desselben wandelt.«

   »Die Gelehrten behaupten allerdings, daß beim wirklichen Scheintode das Bewußtsein und die Empfänglichkeit der Sinne vollständig erloschen seien. Das ist bei meiner Großmutter zwei Tage lang der Fall gewesen; als dann am dritten Tage ihr die Besinnung zurückkehrte, hat sie sich im Sarge liegend gefunden. Doch hat sie das nur aus den Reden der um sie Stehenden schließen, nicht aber sehen oder fühlen können, weil es ihr unmöglich gewesen ist, die Augen zu öffnen oder überhaupt mit irgend einem Gliede die geringste Bewegung zu machen. Sie fand später keine Worte, die entsetzliche Angst, die Verzweiflung zu beschreiben, mit welcher sie sich angestrengt hatte, ein Lebenszeichen zu geben; aber ihr Wille, die ganze Summe ihrer geistigen Energie, war ohne Einfluß auf den Körper gewesen. Da hatte sie eingesehen, daß ihre einzige Rettung nur noch im Gebete liege. Sie war eine gottesgläubige, sehr fromme Frau, und du kannst dir denken, daß sie nie so inbrünstig gebetet hat wie damals vor der dunklen Pforte des Grabes, in welches sie bei vollem Bewußtsein gebettet werden sollte. Unsere heilige Schrift sagt: "Das Gebet des Gerechten vermag viel, wenn es ernstlich ist." An diesem Ernste hat es bei Großmutter wohl nicht gefehlt und so sind diese Bibelworte auch an ihr zur Wahrheit geworden. Als ein Kind zum Abschiede ihre Hand faßte, hat sie endlich, endlich die Finger bewegen und den Druck erwidern können. Das Kind hat vor Schreck laut auf-


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geschrieen [aufgeschrieen] und zitternd und stammelnd die Mitteilung gemacht, daß die Tote, "noch nicht ganz gestorben, sondern in der Hand noch lebendig sei", worauf man sich von der Wahrheit dieser Behauptung überzeugte und nach dem Arzte schickte, unter dessen Behandlung die Kranke dann langsam wiederhergestellt wurde.«

   Hanneh hatte vorhin ihr Zelt verlassen und sich uns auch zugesellt. Sie verfolgte das, was ich erzählte, mit großer Aufmerksamkeit und fiel jetzt mit der Frage ein:

   »Du bist der Ansicht, Sihdi, daß die Seele der Mutter deines Vaters damals ihren Körper verlassen habe?«

   »Ja,« antwortete ich.

   »Das ist mir von großer Wichtigkeit! Aus dem, was du erzähltest, folgt, daß deine Großmutter eine Seele gehabt hat?«

   »Allerdings.«

   »Glaubst du, daß sie die einzige Frau auf Erden war, welcher Allah eine Seele gab?«

   »Nein, denn jedes Weib erhielt dies Gottesgeschenk.«

   »Und der Islam lehrt, das Weib besitze keine Seele und könne also auch nicht teilnehmen an den ewigen Freuden des Paradieses. Der Islam sagt, das Weib sei nur zu dem Zwecke geschaffen, mit ihrem Körper Dienerin des Mannes zu sein, und darum habe mit dem Tode dieses Körpers für sie alles Leben aufgehört. Ich habe mit dir, Effendi, in jener Nacht hinter den Zelten über diesen uns beleidigenden Mißglauben gesprochen, und du erfülltest mein Herz mit Trost und Beruhigung, indem du mir die Ueberzeugung gabst, daß wir Frauen auch eine Seele besitzen und also ebenso wie ihr zur Seligkeit berufen sind. Du hast meine damalige heiße Bitte erhört und auch Halef, den Begründer meines


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irdischen Glückes, zum Glauben an diese meine unsterbliche Seele gebracht, und nun du heut von der Seele deiner von dir so sehr geliebten Großmutter erzählst, muß auch bei all den Männern, welche hier stehen und deine Worte gehört haben, der letzte Zweifel an unsere Unsterblichkeit schwinden. Ich danke dir! Ich möchte nun noch eins gern wissen. Wenn die Seele deiner Großmutter damals ihren Körper verlassen hat, so muß sie während der Zeit bis zu ihrer Wiederkehr an einem andern Ort gewesen sein. Weißt du, wo?«

   »Nein.«

   »Hast du sie nicht gefragt?«

   »Als Kind nie, weil mir die dazu nötige Einsicht fehlte; aber später, als ich nach den Geheimnissen des Glaubens zu forschen begann, die es für den, welcher wirklich glaubt, doch gar nicht giebt, weil die Erleuchtung die erstgeborene Tochter des wahren Glaubens ist, da erkundigte ich mich allerdings sehr oft und angelegentlich bei ihr, ob die zwischen dem Schwinden und der Wiederkehr ihres Bewußtseins liegende Lücke nicht vielleicht durch irgend eine wenigstens später erwachte Erinnerung auszufüllen sei. Sie wußte aber nichts.«

   »Das kann ich nicht begreifen. Nach dem, was ich von dir über die Menschenseele gehört habe, kann in ihrem Leben und in ihrem Bewußtsein niemals eine Pause eintreten.«

   »Pause? Das ist das richtige Wort! Du giebst mir da das Gleichnis in die Hand, welches dir, obgleich es nicht ganz treffend ist, doch wenigstens einigermaßen die Erklärung bringt. Du wirst mich verstehen, weil du die Uhteh *) zu spielen verstehst. Es waren während


*) Guitarreähnliches Saiteninstrument.
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der Abwesenheit der Seele in dem Gehirn der Scheintoten Pausen entstanden, leere, unempfindlich gewordene Stellen, welche sich auch später unempfänglich für die Töne der Erinnerung zeigten. Aber wenn sie sich auch nicht klar entsinnen konnte, ein nach rückwärts gerichtetes heiliges Ahnen, das fromme Gefühl eines gehabten, seligen Schauens war geblieben, und infolgedessen sah ich die größte Hoffnung ihres Erdenlebens, welches ein Leben in Armut und in Sorge war, auf das einstige Wiedererwachen der Herrlichkeit gerichtet, welche ihr schwaches, irdisches Gedächtnis nicht hatte festhalten können. Sie lebte bis zu ihrem Tode ein doppeltes Leben, indem sie in aufopfernder Treue und Selbstentsagung für die Ihren arbeitete und jeden von dieser Arbeit freien Augenblick dem Trachten nach der himmlischen Klarheit widmete. Diese ist ihr, wie ich überzeugt bin, nun schon längst geworden.«

   »Wie fest, wie fest du glaubst, Sihdi!« meinte Hanneh, indem sie in tiefer Rührung die Hände faltend ineinander legte. »Es giebt wohl nichts, gar nichts, was dich in diesem unerschütterlichen Glauben irremachen könnte?«

   »Nichts! Ich habe mit allen möglichen Unholden des äußeren und des Seelenlebens um ihn gerungen und bin auch jetzt noch in jedem Augenblicke bereit, für ihn zu kämpfen und mein Leben einzusetzen. Glaube mir, die in Menschengestalt sichtbaren Feinde sind nicht die stärksten und die schlimmsten Gegner dieser meiner seligmachenden Glaubenszuversicht; die heißesten Kämpfe werden vielmehr im verborgenen Innern ausgerungen, wo der Einfluß dunkler Mächte größer ist als im sichtbaren Leben, welches nur die Wirkungen dieses Einflusses zeigen kann. Wohl dir, meine liebe Hanneh, wenn deine


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Engel die Hände über dich breiten, um solche Mächte und solche Kämpfe von dir fernzuhalten! Nicht jeder besitzt die Ueberzeugungskraft, welche erforderlich ist, siegreich aus ihnen hervorzugehen.«

   Da lächelte sie mich herzig an und sagte:

   »Sihdi, warum sollte ich kämpfen, also etwas so Schweres thun, was ich ja gar nicht nötig habe? Du hast mir deinen herrlichen Glauben gebracht und mir ihn in mein Herz gelegt. Was du mir giebst, ist gut. Da liegt er nun wie eine Sonne, die mich und mein ganzes Leben hell erleuchtet und erwärmt, und wo es eine solche Sonne giebt, da können finstere Mächte doch nicht sein. Wir haben jetzt hier eine irdische Kijahma erlebt, die Auferstehung eines Leibes von den Toten; du aber hast mir durch deinen Glauben schon längst eine schönere, eine herrlichere Kijahma gebracht, eine Auferstehung der Seele von dem Tode, ein Hervorsteigen aus dem Grabe des Irrtums, in welchem es für mich kein Wiedererwachen, sondern nur Verwesung gab. Diese Kijahma ist für dich im Buche des Lebens aufgezeichnet und wird für dich zeugen, wenn einst deine Thaten, Worte und Gedanken abgemessen werden!«

   »Sie hat in Gottes Willen gelegen und ist das Geschenk seiner Liebe, die alle Menschen selig machen will; ich besitze kein Recht, mir einen Dank dafür anzumaßen. Es ist ja so leicht, den Glauben in ein Herz zu legen, welches ihm so sehnend, so willig und voll Vertrauen offen steht. Zwar ist dieses Sehnen in jede Menschenbrust gelegt, aber zugleich wohnen da auch die Geister des Hochmutes, der Selbstgefälligkeit, der Genußsucht, des Ungehorsams, der sich nicht strafen lassen will, und noch viele andere, die es nicht zu Worte kommen lassen.«


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   Da nahm Omar Ben Sadek das Wort, indem er sagte:

   »Effendi, du sagst die Wahrheit wenn du von diesen Geistern redest. Was war ich für ein Mann, als du mich kennen lerntest? Ein nach Rache, nach blutiger Vergeltung schnaubender Mensch, ein Anhänger des Islam, der nur sich selbst liebte, seine Feinde haßte und gegen alle andern Personen nichts als stolze Gleichgültigkeit empfand. Du warst der erste unter allen Leuten, der mich zur Achtung zwang. Darum wünschte ich, ebenso wie Hadschi Halef, unser jetziger Scheik, daß du Muhammedaner werden möchtest, denn wir hatten dir so viel zu verdanken und wollten dir den Himmel gönnen, den wir nur für die Anhänger des Propheten offen glaubten. Wir arbeiteten an dir ohne Unterlaß, zu jeder Zeit; du sagtest nichts dazu; ein Lächeln war alles, was dir unsere Bemühungen entlocken konnten. Ein anderer an deiner Stelle hätte uns mit den Lehren des Christentums bekämpft, und es wäre ein unerquicklicher Wortstreit entstanden, der uns verfeindet und unsere schließliche Trennung herbeigeführt hätte. Du aber warst zu klug, in das Verhalten der Prediger zu verfallen, welche, ohne unsere Lehren zu kennen, uns zumuten, die ihrigen als richtiger und besser anzunehmen. Du brachtest keine Lehren; du sagtest keine Worte, aber du sprachst in Thaten. Du lebtest ein Leben, welches eine hinreißende, eine überzeugende Predigt deines Glaubens war. Wir waren deine Begleiter und lebten also dieses dein Leben mit. Der Inhalt des deinigen war Liebe, nichts als Liebe. Wir lernten diese Liebe kennen und liebten zunächst auch dich. Wir konnten nicht von dir lassen und also auch nicht von ihr. Sie wurde größer und immer mächtiger in uns; sie umfaßte nicht bloß dich, sondern


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nach und nach auch alle, mit denen wir in Berührung kamen. Jetzt umfängt diese unsere Liebe die ganze Erde und alle Menschen, die auf ihr wohnen. Wir haben den Kuran vergessen; wir sind gleichgültig geworden für die Gesetze des Propheten, durch welche die Geister, von denen du sprachst, ihre Macht über uns gewannen. Unser Stamm ist groß und berühmt geworden durch das Beispiel, welches wir befolgten, weil es uns von dir, den wir liebten, gegeben wurde. Wir sind unabhängig geworden durch dich; wir kennen keinen Scheik und keinen Stamm der Dschesireh *), von dessen Willen wir uns bestimmen lassen. So haben wir uns auch von der Oberhand des Islam freigemacht. Wir wollten dich zu ihm bekehren, sind aber, ohne daß wir es nur merkten, durch die Predigt deiner Thaten, welche nichts als Liebe lehrten, von Muhammed fort und auf das hohe Minareh **) dieser Liebe hinaufgeleitet worden, von welchem aus es nur ein Gebot und eine Stimme giebt, nämlich die heiligen Worte, welche wir von dir lernten: "Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm!" So hast du in uns den Geist der Selbstsucht, des Hasses, der Rache besiegt; so hast du aus uns Menschen gemacht, welche die Friedenspfade Allahs wandeln, und so bin auch ich durch dich aus einem nach Vergeltung schreienden, unerbittlichen Bluträcher ein gläubiger und folgsamer Anhänger des Gottessohnes geworden, der seine Lehre von der ewigen Macht der Liebe durch sein ganzes Leben, durch sein Leiden und dann durch seinen Tod besiegelt und bestätigt hat. Hanneh, die Beglückerin unseres Scheikes, ist es nicht allein, welche von einer Kijahma sprechen kann, sondern wir


*) Insel, Land zwischen Euphrat und Tigris.
**) Gebetsturm.
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alle haben eine Kijahma gehabt, eine Auferstehung, eine Befreiung, eine Rettung aus dem Reiche des Hasses in das Reich der Liebe und des Friedens. Das, Effendi, wollte und mußte ich dir sagen, weil mein Herz mich dazu treibt, jetzt, wo wir auch eine Kijahma vor uns haben, welche der Schärfe deines Auges zu verdanken ist.«

   »Und noch eine Frage,« fiel Hanneh wieder ein. »Besitzt Emmeh, die freundliche Spenderin deiner Behaglichkeit, auch einen so festen Glauben, grad wie du?«

   »Ja,« antwortete ich.

   »Hat sie ihn stets gehabt?«

   »Sie hatte diesen Glauben schon, als ich sie kennen lernte; er lag in der Tiefe ihres Gemütes aufbewahrt.«

   »Und da brachtest du den Sonnenschein, der ihn hervorrief an das Tageslicht? Du hast ihn gepflegt mit liebevoller Hand und nun deine Freude daran, wie an einem Baume, an dessen Früchten man sich doppelt erquickt, weil man ihn mit eigener Hand emporgezogen hat. Sihdi, wie gern, wie so gern möchte ich deine Emmeh kennen lernen! Ich würde ihr zu liebe alles thun; ich wäre sogar bereit, mich mit ihr, wenn sie es wollte, in einen Wagen eurer Eisenbahn zu setzen, um mit ihr so weit zu fahren, wie es ihr beliebt!«

   »Ich aber mit!« bemerkte Halef schnell. »Frauen bedürfen stets der Unterstützung und des Schutzes, und das freundliche Lächeln, welches sie dann dafür geben, ist dem eigenen mehr als einem fremden Manne zu gönnen!«

   »Lächeln?« fragte sie. »Ein freundliches Lächeln? Was meinst du damit, lieber Halef? Wer lächelt da?«

   »Ihr!«

   »Wir? Also auch ich?«

   »Ja.«

   »Warum?«


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   »Weil der - - - der Schutz - - - der Schutz, den sie bedürfen,« stotterte er verlegen. Dann wendete er sich rasch und in resolutem Tone an mich: »Sag du es ihr, Effendi! Ich habe mich verritten, und du verstehst dich auf eure Eisenbahnen doch besser als ich, der ich ja noch gar keine gesehen habe!«

   Das Gesicht der »lieblichsten unter allen Lieblichkeiten« hatte einen ernsten, ja strengen Ausdruck angenommen. Nun sah sie mich erwartungsvoll an. Darum erklärte ich ihr, die von dem Lächeln ja gar nichts hatte erfahren sollen, an seiner Stelle:

   »Ich habe mit Halef von unsern Eisenbahnen gesprochen, auf denen auch unsere Frauen und Töchter fahren dürfen. Ihnen gefällt es in diesen Wagen so sehr, daß sie vor Vergnügen freundlich zu lächeln pflegen.«

   »Und das gefällt ihm wohl nicht?« fragte sie. »Warum soll eine Frau nicht lächeln dürfen, wenn ihr etwas Vergnügen macht? Ich würde auch lächeln, unbedingt lächeln! Hast du vielleicht etwas dagegen, Halef?«

   »Nein, gar nichts!« antwortete er, sehr erfreut darüber, daß es mir gelungen war, dieser »lächelnden« Angelegenheit eine unverfängliche Wendung zu geben. »Ich würde im Gegenteile sehr glücklich sein, die Strahlen deines Lächelns auf meinem Angesicht zu fühlen; das weißt du doch! Doch seht, ob ich mich irre! Der vom Tode Errettete scheint sich zu bewegen!«

   Er hatte recht, und das Erwachen des Mekkaners kam seinem Wunsche, den jetzigen Gesprächsgegenstand fallen zu lassen, sehr gelegen.

   »Wasser!« klang es wieder wie vorhin leise von den Lippen El Münedschi's, welcher sich mit dem Oberkörper aufzurichten versuchte, wobei ihn zwei Haddedihn schnell unterstützten.


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   Es wurde ihm gegeben, und er trank diesesmal mit vollen Zügen. Dann saß er da, ließ seine herrlichen Augen im Kreise gehen, holte tief, tief Atem und sagte dann langsam und wie geistesabwesend, indem er die Hände faltete: »Die Menschen schlafen; wenn sie aber sterben, dann wachen sie auf!«

   Dann schloß er die Augen und legte sich wieder nieder, wozu er keiner Unterstützung bedurfte. Seine Stimme hatte tief, aber doch sonor geklungen, wie von einer innern Resonanz verstärkt. Die von ihm gesprochenen Worte mögen einem Nichtkenner des Arabischen banal erscheinen; auf mich aber machten sie einen ungewöhnlichen Eindruck, und daß dieselbe Wirkung auch auf die Haddedihn stattfand, belehrte mich ein leises, andächtiges »Amin!« *), welches die meisten von ihnen, darunter auch Halef, dazu sagten. Diese Worte waren einer der berühmten »Hundert Sprüche« Alis, des Kalifen. Warum der soeben vom Tode Erstandene sie ausgesprochen hatte, ob aus Ueberlegung oder infolge eines momentanen, innern Antriebes, das wußte ich nicht; aber sie paßten so genau zu der gegenwärtigen Situation und den durch sie hervorgerufenen Gefühlen, daß ich von ihnen nicht nur oberflächlich ergriffen wurde, zumal die Art und Weise, in der sie erklangen, eine so ungewöhnliche war.

   Wir standen stumm im Kreise um den Münedschi und warteten, was er nun thun werde. Er lag einige Zeit bewegungslos, langsam und regelmäßig Atem holend. Dann richtete er sich wieder, ohne der Hilfe zu bedürfen, in sitzende Stellung auf, behielt aber die Augen noch geschlossen und sagte, mit der Hand neben sich deutend:

   »Setz dich zu mir!«

   Wir wußten nicht, wen er meinte, aber es schien


*) Amen!
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nicht nur mir, sondern auch allen andern ganz selbstverständlich zu sein, daß ich es war, der dieser Aufforderung folgte.

   »Hast du genau gehört, was ich vorhin sagte?« fragte er jetzt.

   »Ja,« antwortete ich.

   »Kennst du die Worte?«

   »Es war der zweite von den hundert Sprüchen des Kalifen Ali Ben Abi Taleb.«

   Er neigte den Kopf leicht nach meiner Seite, als ob er, nachdem ich schon gesprochen hatte, noch auf den Ton meiner Stimme lauschte. Dann sagte er, die Augen immer noch geschlossen:

   »Der zweite? Das sagst du? Es stimmt! Ich weiß, daß du mehrere dieser Sprüche kennst, aber nicht ihre Reihenfolge. Wie kommt es, daß du jetzt so genau die Nummer Zwei angiebst? Das wundert mich. Auch klingt deine Stimme anders als bisher. Die Erklärungen dieses Spruches aber kennst du nicht?«

   »Ich kenne sie.«

   Er neigte den Kopf noch weiter her zu mir, und sein Gesicht nahm während der folgenden Fragen und Antworten den Ausdruck immer größer werdenden Erstaunens an.

   »Alle beide?«

   »Die arabische und die persische.«

   »Wer hat sie gegeben?«

   »Der persische Dichter Reschid ed Din Abd el Dschelil, welcher den Beinamen Watwat bekommen hat.«

   »Wie? Du kennst ihn so ausführlich!«

   »Er lebte an den Höfen dreier Herrscher und starb im Jahre 578 *) der Hedschra **).«


*) 1182 n. Chr.
**) Juni 622 n. Chr.
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   »Maschallah! Wie lautet die arabische Erklärung dieses zweiten Spruches des vierten der Kalifen?«

   »So lange die Menschen in dieser Welt leben, sind sie ohne Sorge. Sie scheinen in einem so tiefen Schlummer zu liegen, daß sie darüber die Wonnen des Paradieses und die Flammenpein der Hölle vergessen. Aber wenn sie sterben, dann wachen sie auf von diesem Schlummer der Sorglosigkeit und bereuen ihre Saumseligkeit im Dienste dessen, der sie geschaffen hat, und machen sich selbst Vorwürfe über ihre Nachlässigkeit im Danke gegen den, der ihnen alles gespendet hat, aber erst dann, wenn die Reue zu spät kommt und die Selbstvorwürfe nutzlos sind!«

   »Und die persische Erklärung?«

   »Die Menschen sind während ihres Aufenthaltes auf dieser Erde unbekümmert um die Angelegenheiten der andern Welt. Erst wenn sie sterben, erwachen sie aus dem Schlafe der Gleichgültigkeit; dann erkennen sie, daß sie den Wert des Lebens nicht beachtet haben und nicht den rechten Weg gegangen sind, und bereuen ihre schlimmen Reden und verwerflichen Thaten; aber dann hilft und nützt ihnen dies nichts mehr!«

   Jetzt war seine ganze Körperhaltung und jeder Zug seines Gesichtes zum sprechendsten Ausdrucke aufmerksamen Lauschens geworden. Er wartete eine Weile und fragte dann:

   »Bist du El Ghani, mein Wohlthäter, von dem ich dachte, daß er jetzt bei mir säße?«

   »Nein.«

   »So sag, o sag, ob du mit diesen beiden Erklärungen einverstanden bist!«

   »Sie haben meinen Beifall nicht, denn sie sind zu oberflächlich. Den tiefen Sinn des Spruches lassen sie unberührt liegen.«


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   »Und welches ist dieser Sinn?«

   »Die Menschen schlafen; wenn sie aber sterben, dann wachen sie auf. Das heißt: Die Menschen leben wie Schlafende, mit geschlossenen Augen; sie sehen nicht die Beweise eines ewigen Lebens, und wenn sie die Stimmen Allahs und seiner Boten hören, so glauben sie, zu träumen, und folgen ihnen nicht. Aber dann, wenn der Tod sie aus diesem Schlafe rüttelt und sie die Augen öffnen müssen, dann sehen sie sich unvorbereitet jenseits der großen Grenze, über welche sie nicht zurückkönnen, um das Versäumte nachzuholen. Dann wird ihr Erwachen ein Beben und ihr Sehen ein Erschrecken sein.«

   »Allah, Allah!« rief er da aus. »Ich glaubte, auf die Erde zurückgekehrt zu sein, und befinde mich doch noch bei dir, der du mich geleitet hast! Nein, du bist nicht El Ghani, der niemals solche Worte hat. Nimm mich wieder bei der Hand, und sage mir, ob ich auch zu denen gehöre, die mit geschlossenen Augen leben und deren Erwachen so schrecklich sein wird!«

   »Hast du die Liebe?«

   Warum that ich grad diese Frage? Wohl weil ich kurz vorher mit den Haddedihn von der Liebe gesprochen hatte. Das Verhalten und die Worte des Arabers waren mir nicht klar. Ich wußte nicht eigentlich, wen er mit ihnen meinte. Die Scene war überhaupt eine ganz eigenartige. Rings um uns die verbrannte, unbegrenzte Wüste, über welcher auch noch jetzt die Geier hungrig schwebten, die während der Nacht wohl in unserer Nähe gesessen hatten, die grotesken Formen der hochbeinigen, höckerigen Kamele, der andächtige Kreis der phantastisch gekleideten Beduinen, der rätselhafte, fremde Mann hier neben dem offenen Grabe mit seinen mir unerklärlichen Reden, unser vorhergehendes, religiöses Gespräch und die Stimmung,


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in welcher ich mich infolgedessen befand, dazu die Bedeutung des wie mit aus dem Grabe auferstandenen Ali-Spruches, das alles zusammen mochte als Ursache wirken, daß ich nichts anderes als nur diese Frage brachte.

   »Die Liebe?« antwortete er. »Wird grad sie so wichtig für den Augenblick des Erwachens aus dem Schlafe sein?«

   »Nur sie allein ist wichtig. Sie ist das Oel der Lampe, ohne welche du den rechten Weg nicht finden kannst.«

   »Das Oel? Der Lampe?« fuhr er aus seiner noch immer wie lauschenden Haltung empor. »Das klingt ja wie der Gang der Jungfrauen zur Nikiah *)!«

   »Ja,« fiel ich unter dem Eindrucke dieses Wortes, ohne zu bedenken, daß ich einen Moslem vor mir hatte, der nicht wissen durfte, daß ich Christ war, schnell ein. »Das Himmelreich wird gleich sein zehn Jungfrauen, welche ihre Lampen nahmen, um auszugehen, dem Hochzeitszuge entgegen. Fünf von ihnen waren thöricht und fünf aber klug; die fünf Thörichten nahmen zwar ihre Lampen, aber sie nahmen kein Oel mit sich; die Klugen hingegen aber nahmen samt den Lampen auch Oel in ihren Gefäßen mit. Als nun der Bräutigam verzog, wurden alle müde und entschliefen. Um Mitternacht aber erhob sich ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; gehet heraus, ihm entgegen! Da standen alle diese Jungfrauen auf und richteten ihre Lampen zu. Die Thörichten aber sprachen zu den Klugen: Gebt uns von eurem Oele, denn unsere Lampen verlöschen! Da antworteten die Klugen und - - - - -«

   Bis hierher war ich gekommen, doch weiter kam ich nicht. Während ich erzählte, ging mit dem Münedschi


*) Hochzeit.
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eine ungewöhnliche Veränderung vor, ungewöhnlich wenigstens in Beziehung auf seinen Schwächezustand. Es war, als ob seine Adern sich mit neuem Blute füllten und seine Nerven neuen Lebensreiz bekämen. Er richtete seinen Oberkörper auf, höher und immer höher. Seine Augen öffneten sich und richteten ihren strahlenden, unbeschreiblichen Blick auf mich; die Falten seines Gesichtes schienen sich zu füllen, und das Spiel der Mienen wurde von Satz zu Satz, den ich sprach, immer lebhafter, bis er, beide Hände gegen mich ausstreckend, mich mit dem ängstlich abwehrenden Rufe unterbrach:

   »Halt ein; halt ein! Ich mag nichts weiter hören! Ich habe mich in dir geirrt. Du bist nicht der, der vorhin noch bei mir war und für den ich dich bis jetzt gehalten habe!«

   »So sag, wer du dachtest, daß ich sei!«

   »Ben Nur *), der Bote des Propheten.«

   »Der bin ich nicht und kenne ihn auch nicht. Sein Name steht in keinem Buche verzeichnet, welches von dem Propheten handelt.«

   »In keinem irdischen Buche, aber im Kitab et Tubanijin **) ist er zu finden. Nun weiß ich nicht, wo ich jetzt bin, denn du bist nicht Ben Nur und bist auch nicht El Ghani. Bin ich noch im Lande der Verstorbenen, oder kehrte ich schon wieder auf die Erde zurück?«

   Sonderbar, höchst sonderbar! Hatten wir es etwa mit einem Irren, einem Wahnsinnigen zu thun? Er schaute mit weit geöffneten, glänzenden Augen um sich, die unmöglich blind sein konnten, mußte uns also doch sehen. Und im Lande der Verstorbenen wollte er gewesen sein? Er wurde el Münedschi genannt, der Wahr-


*) Sohn des Lichtes.
**) Buch der Seligen.
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sager [Wahrsager]. Dieses türkische Wort bedeutet auch Sterndeuter. Wahrsager, Stern- und Zeichendeuter, diese Worte haben selbst für jemanden, der sonst nicht nach biblischen Verboten fragt, einen warnenden Beigeschmack. Ich mußte an den Hokuspokus der südafrikanischen Regenmacher, die indianischen Medizinmänner und ähnliche zweideutige Existenzen denken. Einen so tiefen, Ehrfurcht erweckenden Eindruck dieser Mann erst auf mich gemacht hatte, jetzt fühlte ich nur noch die Notwendigkeit, vorsichtig gegen ihn zu sein. Hanneh war weit zurückgetreten; Halef sah ihn mißtrauisch von der Seite an, und die Haddedihn schienen nicht im Klaren darüber zu sein, ob sie sich wundern oder über ihn lachen sollten.

   »Du bist natürlich auf der Erde,« beantwortete ich seine letzte Frage.

   »Wo da?«

   »Wo du vorher warst.«

   »Ich war bei El Ghani. Wo ist er? Ich höre ihn nicht.«

   »Aber du siehst doch uns!«

   »Euch? Sehen? Allah w'Allah! Deine Worte sagen mir, daß ich mich bei Leuten befinde, die mich gar nicht kennen. Seht ihr denn nicht, daß ich blind bin?«

   »Nein, das sehen wir nicht. Du scheinst vielmehr ganz vortreffliche Augen zu besitzen.«

   »Du irrst. Ich weiß, daß meine Augen glänzen, aber dieser Glanz ist Täuschung. Ich höre deiner Stimme an, wie weit du dich von mir befindest, aber ich kann dich nicht erkennen. Nur wenn du ganz nahe zu mir herankommst, kann ich dich wie die dunkle, verschwimmende Schattengestalt eines bösen Geistes erkennen.«

   »Du scheinst solche böse Geister gesehen zu haben?«

   »O, sehr oft! Aber wo ist El Ghani? Ich bin be-


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sorgt [besorgt] um ihn und also auch um mich. Er ist der Einzige, der mich verstehen und behandeln kann, er mein Wohlthäter, ohne den ich längst gestorben wäre. Sagt es mir! Ich bitte euch!«

   Das schien der Ton wirklicher, ungeheuchelter Angst zu sein. Ich wollte und mußte ihn prüfen. Darum legte ich die Hand um den Griff meines Messers, welches ich im Gürtel stecken hatte, zog es plötzlich heraus und stieß damit nach seinem Gesicht, als ob ich ihn ins Auge stechen wolle. Er zuckte, obgleich dieses letztere fast von der Spitze der Klinge berührt wurde, doch mit keiner Wimper und veränderte auch den Ausdruck des Gesichtes nicht im Geringsten. Ein Sehender hätte sich bei dieser meiner plötzlichen Bewegung doch wohl anders verhalten; er schien also doch wirklich blind zu sein. Darum antwortete ich in freundlicherem Tone als zuletzt:

   »Du wirst die gewünschte Auskunft erhalten, wenn du vorher uns welche über dich gegeben hast. Vor allen Dingen will ich dir sagen, daß du dich um dich nicht zu ängstigen brauchst. Du befindest dich bei guten Menschen, welche dich als Freund und Hilfsbedürftigen behandeln werden. El Ghani ist ein Mekkaner?«

   »Ja; wir alle sind aus Mekka. Aber ich bin blind und sehe euch nicht; ich weiß also nicht, ob und wie ich euch antworten soll und darf. Ich bitte euch also, nachsichtig gegen meine Unbehilflichkeit zu sein und mir zuerst zu sagen, wer ihr seid!«

   »Komm erst zu unserem Lagerplatz! Du hast nur höchstens fünfzig Schritte weit zu gehen.«

   »So führe mich!«

   Ehe ich ihn bei der Hand nahm, wiederholte Halef mein voriges Experiment mit seinem Messer. Der Blinde bemerkte es wirklich nicht. Dann, als wir gingen, nahm


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ich ihn so, daß das Grab grad vor ihm lag. Drei Schritte, und dann wäre er unbedingt hineingelaufen, wenn ich ihn nicht auf die Seite gezogen hätte. Der Ortswechsel wäre gar nicht notwendig gewesen, wenn ich ihn nicht vorgeschlagen hätte, um den Gang dieses Mannes zu prüfen. Er bewegte sich mit einer Unsicherheit, welche gewiß nicht bloß eine Folge der ausgestandenen Anstrengungen und Entbehrungen war. Obgleich er von mir geführt wurde, waren seine Schritte so vorsichtig suchend, wie man es nur bei Blinden beobachtet und ein Sehender es nicht nachmachen kann. Wir hatten es also nicht mit einem Simulanten zu thun.

   Die guten Folgen dieser bestandenen Prüfung gaben sich sofort im Verhalten der Haddedihn zu erkennen, die nun nicht mehr Mißtrauen gegen, sondern herzliches Mitleid für ihn fühlten. Sie bereiteten ihm einen weichen Sitz und fragten ihn nach Wünschen, die sie vielleicht erfüllen könnten. Er bat wieder um Wasser. Als er nun zum drittenmale seinen immer wiederkehrenden Durst gelöscht hatte und wir ihn fragten, ob er nicht auch Hunger habe, antwortete er:

   »Ich weiß nicht, wie lange ich nicht gegessen habe, denn ich war nicht in meinem Körper und habe keine Augen für den Unterschied zwischen Tag und Nacht. Der Morgen ist für mich grad wie der Abend, und nur wenn von einem mir ganz nahen Gegenstande der Sonnenstrahl in das Auge zurückgebrochen wird, kann ich ihn als Schatten mit verschwommenen Umrissen erkennen. Als ich zum letztenmale aß, wird es am Jom el Guma *) früh gewesen sein.«

   »Und heute ist Jom el Itnehn **),« rief Halef. »Du hast also drei volle Tage nichts genossen!«

*) Freitag.
**) Montag.


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   »Ich habe doch noch keinen Hunger. Aber Tabak, Tabak, den gebt mir, wenn ich euch darum bitten darf!«

   Da hatte er auch schon eine alte Pfeife mit kurzem Rohre und ungewöhnlich großem Kopfe aus der Tasche seiner weiten Hosen gezogen und steckte sie in den Mund. Seine Bitte wurde in, ich möchte sagen, inbrünstigem Tone ausgesprochen, und in seinem Gesichte drückte sich dabei eine Sehnsucht, ja fast eine Gier aus, welche die Erfüllung des Wunsches kaum erwarten konnte. Und als dies geschehen war, rauchte, nein, qualmte er mit einem Eifer, als ob sein Leben daran hänge, die Pfeife so bald wie möglich wieder stopfen zu können. Eine solche Leidenschaftlichkeit hätte ich einem Blinden niemals zugemutet. Sie würde mich wahrscheinlich auf den Gedanken gebracht haben, daß die Blindheit doch und doch erdichtet sei, aber ich hatte nun trotz der Kürze der Zeit die Beobachtung gemacht, daß der Blick dieser schönen Augen leer und seelenlos war und die Wimpern fast unbeweglich blieben.

   »Der arme, blinde Mann!« raunte Hanneh mir mitleidig zu. »Soeben erst vom Tode erstanden, von seinen Freunden verlassen, mitten in der Wüste! Sihdi, was hast du über ihn beschlossen?«

   Ich winkte ihr beruhigend zu und öffnete schon den Mund zum Sprechen, als Halef, welcher meine Absicht erriet, mir schnell die leise Frage vorlegte:

   »Effendi, du willst ihm sagen, wer wir sind?«

   »Ja,« antwortete ich ebenso leise.

   »Erlaube, daß ich dies thue! Ich kenne uns ja ebenso gut, wie du uns kennst!«

   Er setzte sich an die andere Seite des Blinden, zu dessen Linken ich saß, nieder und erklärte ihm:

   »Du wirst jetzt zwei sehr berühmte Männer kennen


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lernen; höre also mit Aufmerksamkeit, was ich dir sagen werde! Ich bin nämlich Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, der oberste Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar. Und der Mann an deiner andern Seite ist der größte Gelehrte des Morgen- und des Abendlandes. Er ist eigentlich der "Alim el 'Ulema" *), denn in seinem Kopfe befinden sich tausend Fächer, und in jedem Fache stecken über hundert vollständige Wissenschaften, die er auf zweihundertsechzig Medahris **) studiert und überwunden hat. Er stammt aus dem Lande des äußersten Moghreb, denn er ist im Wadi Draha geboren, woher bekanntlich die klügsten Leute kommen, und sein Name - - -«

   »Kutub!« unterbrach ich ihn.

   »Was? Was meinst du?« fragte er mich, in seinem Eifer nicht an die zwischen uns vereinbarte Bedeutung dieses Wortes denkend.

   »Kutub, Kutub!« wiederholte ich.

   »Wahajahti!« rief er aus, sich jetzt besinnend. »Bei meinem Leben, jetzt habe ich mich versprochen gehabt! Ich hätte mich hinterher und dann dich voransetzen sollen!«

   »Das hast du ja schon gethan!«

   »Was? Nein!«

   »Doch! Du hast dann mich vorangesetzt, nämlich dann!«

   »Wallahi fasl - das ist eine sonderbare Geschichte, bei Allah! Verzeihe mir, Effendi! Ich werde es sofort besser machen und wieder von vorn anfangen, indem ich zunächst deinen Namen und dann erst den meinigen nenne!«


*) Gelehrte aller Gelehrten.
**) Universitäten.
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   »Das ist nun nicht nötig. Nenne zuerst meinen, und dann lässest du deinen weg, weil du ihn schon genannt hast!«

   »Aber er muß doch unbedingt hinterher kommen, sonst beleidigt es dich!«

   »Aber wenn du ihn noch einmal sagst, so hast du den meinigen nur einmal und den deinigen aber zweimal genannt, was doch noch viel beleidigender ist!«

   »Gut, du sollst deinen Willen haben, weil du aus dem äußersten Moghreb stammst und im Wadi Draha das erste Licht der Welt erblickt hast! Also dein hochberühmter Name lautet Hadschi Akir Schatir el Megarrib Ben Hadschi Alim Schadschi er Rani Ibn Hadschi Dajim Maschhur el Azami Ben Hadschi Taki Abu Fadl el Mukarram.«

   Es war wirklich lustig anzuhören, wie schnell und fehlerlos er diese lange Schlange herunterleierte. Und ebensoviel Spaß machte mir dabei der Anblick der fünfzig Haddedihn, welche die zwei Dutzend Worte leise mitsagten und dabei die Lippen wie kauende Kaninchen bewegten. Da der Münedschi ein Beduine war, hatte ich nicht zu befürchten, daß der Name und die vorhergehende Zurechtweisung ihm lächerlich vorkommen würden. Er hatte mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit zugehört und fragte nun:

   »Bist du vielleicht derselbe Scheik Halef Omar der Haddedihn, welcher vor einigen Jahren den Schatz der Schmuggler in den Ruinen des Birs Nimrud im alten Babylon entdeckt hat?«

   »Ja, der bin ich allerdings!« antwortete der kleine Hadschi mit großem Selbstbewußtsein. »Du weißt also von dieser meiner Ruhmesthat? Wo hast du denn davon gehört?«


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   »In Meschhed Ali, der heiligen Stätte der Schiiten.«

   »Wann?«

   »Jetzt, als wir dort waren.«

   »Du und El Ghani?«

   »Ja!«

   »Aber ihr seid doch nicht Schiiten!«

   »Nein. El Ghani ging als Gesandter des Großscherifs hin und nahm mich mit.«

   »Darf ich fragen, was er dort sollte?«

   »Das weiß ich nicht; er hat es mir nicht gesagt. Es scheint eine religiöse Angelegenheit gewesen zu sein, von welcher nur der Großscherif und sein Bote wissen durften.«

   »Und dort habt ihr von mir gehört?«

   »Ja. Es waren Perser da, welche euer damaliges Erlebnis ganz genau kannten *). Die Schmuggler, welche von euch ergriffen wurden, sind, anstatt Strafe zu bekommen, mit der Anstellung als Zollbeamte begnadigt worden. Darum verkünden sie euern Ruhm, so oft und so weit sie nur können. So haben auch wir davon erfahren.«

   »Du sagst "euer", sprichst also nicht von mir allein?«

   »Weil noch jemand bei dir gewesen ist, ein Effendi aus dem Abendlande. Er war ein Christ und hat Emir Kara Ben Nemsi geheißen. Ist das richtig?«

   »Ja.«

   »In welchem Reiche des Abendlandes ist er geboren?«

   »In Dschermanistan.«

   »Das dachte ich mir allerdings, denn Ben Nemsi ist ja dasselbe wie Sohn von Dschermanistan. War er auch wirklich ein Christ?«


*) Siehe: Karl May, "Im Reiche des silbernen Löwen", Band II.
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   »Der beste, den es geben kann!«

   »Es wird von ihm erzählt, daß er, obgleich er ein Christ ist, den ganzen Kuran auswendig könne. Ist das wahr?«

   »Ja.«

   »Auch sollen ihm alle Auslegungen desselben besser und vollständiger bekannt sein als muhammedanischen Gelehrten.«

   »Auch das ist richtig.«

   »Ich bin ein armer Mann und habe keinen Besitz; aber wenn ich reich wäre, ich würde gern die Hälfte meines Vermögens dafür geben, wenn ich ihn einmal einige Tage bei mir haben und mit ihm sprechen könnte!«

   »Warum?«

   »Weil ich die heilige Schrift der Christen so kenne, wie er den Kuran kennt. Es würde mir eine Wonne sein, mit so einem Manne, wie er zu sein scheint, die wirkliche Wahrheit zu ergründen und ihn zu den Lehren des Islam zu bekehren.«

   Als er dies sagte, holte er tief, sehr tief Atem wie einer, dem die Sache, von welcher er spricht, außerordentlich am Herzen liegt und schon viele Sorgen bereitet hat. Schon das war für seinen Kuranglauben kein günstiges Zeichen. Dazu kam, daß er erst mit mir »die wirkliche« Wahrheit zu erforschen wünschte, sich also noch nicht im Besitze derselben wußte. Wenn er trotzdem davon sprach, mich zum Islam bekehren zu wollen, so war das wohl nur eine Redensart und dazu bestimmt, seine eigene Unsicherheit zu verhüllen. Dieser Mann schien zu den vielen Dürstenden zu gehören, welche die Quelle niemals finden, weil sie blind an ihr vorübergehen. Er kannte ja nach seiner eigenen Behauptung die heilige Schrift und also auch das Wort »Ich bin


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die Wahrheit und das Leben«, und doch war er bei diesem Brunnen der wahren Weisheit nicht geblieben! Diese meine Folgerungen und Schlüsse zog Halef jedenfalls nicht; er handelte und sprach ja meist nach seinem Gefühle; dies that er auch jetzt, und zwar in einer Weise, die außerordentlich charakteristisch für ihn war.

   »Wünsche das nicht, ja nicht!« warnte er.

   »Warum nicht?« erkundigte sich der Münedschi.

   »Du würdest von dem, was du hoffest, grad das Gegenteil erreichen.«

   »Wieso?«

   »Ich bitte dich, es dir durch ein Beispiel erklären zu dürfen. Wir waren in Erbil, einer in der Dschesireh liegenden Stadt, die du vielleicht nicht kennst, und gingen in die Moschee, um zu beten. Kara Ben Nemsi Effendi hält es nämlich für keine Sünde, auch in einem muhammedanischen Gotteshause ein christliches Gebet zu sprechen; er meint sogar, daß die Moschee dadurch nicht geschändet, sondern geheiligt werde. Niemand kannte ihn, auch der Mufti *) nicht, welcher neben uns kniete. Später erfuhr dieser aber, daß der Effendi ein Christ sei, und zeigte ihn wegen Entweihung des Heiligtums an. Wir wurden vor das Gericht beordert, wo der Kadi sich bemühte, das Verbrechen so streng wie möglich zu nehmen. Aber Kara Ben Nemsi gab solche Antworten, daß der Richter immer mehr in Zorn geriet und ihn endlich grimmig andonnerte: "Du hast dich wohl vor keinem Kadi zu fürchten?" Der Effendi antwortete ruhig: "Nein, sondern der Kadi hat sich vor mir zu fürchten!" Hierauf berief er sich auf eine vor kurzem erlassene Fetwa **) des Scheik ul Islam ***), nach welcher studierte Christen die Moscheen betreten


*) Beamter für religiös-juristische Angelegenheiten.
**) Entscheidung.
***) Oberste geistliche Behörde.
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dürfen, wenn es in frommer, andachtsvoller Weise geschieht, um die nachzueifernden Gebräuche unserer Anbetung kennen zu lernen. Als man uns infolgedessen sagte, daß wir gehen könnten, erklärte er, daß er noch bleiben müsse, um den Kadi wegen Schändung des Heiligtums anzuzeigen, weil er ihn jetzt als die Person erkannt habe, die mit uns zu gleicher Zeit in der Moschee gewesen sei, ohne die Pantoffel auszuziehen, wie es vorgeschrieben ist. Der Kadi war erschrocken und entrüstet, mußte aber die Wahrheit der Anzeige zugeben und entschuldigte sich damit, daß er die Dah ilmafasil *) in den Füßen habe und darum den kalten Steinboden nicht ohne Pantoffel betreten dürfe. Der Effendi riet ihm lachend, das nächste Mal sogar die Stiefel anzuziehen, und dann entfernten wir uns. Du ersiehst aus diesem Beispiele, daß es nicht geraten ist, mit ihm etwas vorzunehmen, was ihm nicht behagt; er pflegt es in das Gegenteil zu wenden. Ich kenne Moslemin, welche ihn zum Islam bekehren wollten, aber damit nur erreicht haben, daß sie selbst ihren Glauben geändert haben und Christen geworden sind.«

   »Ist das wirklich möglich?!«

   »Nicht nur möglich, sondern wahr! Wünsche also ja nicht, in dieselbe Gefahr zu kommen!«

   »Diese Gefahr würde es für mich nicht geben, selbst wenn seine Gelehrsamkeit noch größer wäre, als sie ist.«

   »Du würdest sie gar nicht bemerken; er sagt, Gott wohlgefällig zu leben, das sei seine Wissenschaft, und er höre ein frohes Lachen viel lieber als die trockenen Chitabat **) aller Ulama ***) des ganzen Morgenlandes.«

   »Dann ist es ja sehr gut, daß er sich nicht hier befindet!«


*) Rheumatismus.
**) Vorträge.
***) Gelehrten.
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   »Warum?«

   »Weil du mir gesagt hast, daß dein hier neben mir sitzender Gefährte Hadschi Akil Schatir der größte Gelehrte des Morgen- und sogar auch des Abendlandes ist.«

   »Oh, sie würden sich sehr gut zusammen vertragen, denn trotz der unzähligen Wissenschaften, welche im Kopfe dieses meines Freundes Unterkunft gefunden haben, ist ihm niemals etwas davon anzumerken.«

   »Ich habe es aber vorhin bemerkt, als er die Erklärungen zu dem Spruche Alis, des Kalifen, gab.«

   »Ja, so eine Erklärung entschlüpft ihm wohl zuweilen, gewöhnlich aber behält er sie für sich, und das ist sehr lobenswert von ihm, weil es so viele Erklärungen giebt, die man, um sie zu begreifen, sich wieder erklären lassen muß. Jetzt weißt du nun wohl, wer und was wir beide sind. Allah ist dir wohlgeneigt gewesen, indem er dich mit uns zusammenführte. Wir haben fünfzig tapfere Krieger der Haddedihn bei uns, und außerdem wirst du zuweilen auch eine weibliche Stimme vernehmen. Die, welche du da sprechen hörst, ist Hanneh, die wohlerzogene Gebieterin meines Frauenzeltes, deren Schönheit und Leutseligkeit zu den größten Vorzügen der Türkei und aller persischen Provinzen gehört. Allah gebe ihr ewige Jugend und hierauf dann ein mir und ihr gefälliges Alter! Was du sonst noch wissen willst, können wir dir später sagen. Jetzt nun sprich auch du! Oder soll ich lieber fragen?«

   Der Münedschi zögerte eine ganze Weile mit der Antwort. Dann, als er an einem wiederholten Husten des Hadschi hörte, daß dieser ungeduldig zu werden begann, sagte er:

   »Meine Rede über mich kann sehr kurz sein. Man zählt mich auch zu den gelehrten Leuten. Ich war ein


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gesunder und wohlhabender Mann, als ich vor mehreren Jahren nach Mekka kam. Mein Vermögen wurde mir von fremden Pilgern gestohlen. Ich wohnte bei El Ghani. Er nahm sich meiner an und behielt mich selbst dann bei sich, als ich erblindete. Jetzt lebe ich nur allein von seiner Güte. Als er vor zwei Monaten nach Meschhed Ali mußte, nahm er mich mit, weil dort meist Perser sind, deren Sprache er weder spricht noch versteht. Jetzt befanden wir uns auf dem Rückwege. Das Wasser ging uns aus, und fast verschmachtet mußten wir mitten in der Wüste halten bleiben. Wir waren überzeugt, daß Allah unsern Tod beschlossen habe. Mehr weiß ich nicht zu sagen; das andere wißt nur ihr.«

   Das war die ganze Auskunft, welche er uns erteilte. Ich sah Halef an, daß er wieder fragen wollte, winkte ihm aber ab. Es gab einige Punkte, über welche ich trotz der Schweigsamkeit und Zurückhaltung des Mekkaners gern Auskunft haben wollte. Er war unser Gast und dabei ein unglücklicher, blinder Mann, wahrscheinlich auch noch sonst beklagenswert, und gegen solche Leute ist man nicht gern zudringlich; aber wenn man bei Wohlthaten auch nicht grad zu wissen braucht, wem man sie erweist, so gab es hier doch andere, sehr triftige Gründe, es nicht bei dem bisherigen, ganz unzureichenden Aufschlusse bewenden zu lassen. Ich erkundigte mich also, jedoch in rücksichtsvollem Tone:

   »Möchtest du uns wohl sagen, welchem Berufe El Ghani angehört?«

   »Er ist Schech el Harah *),« antwortete er.

   »Und wie ist sein eigentlicher Name?«

   »Habt ihr ihn gesehen?«

   »Ja.«


*) Oberster eines Stadtviertels.
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   »Auch mit ihm gesprochen?«

   »Ja.«

   »Hat er euch seinen Namen nicht gesagt?«

   »Nein.«

   »So erlaube, daß ich ihn auch zurückbehalte! Er ist mein Wohlthäter, dem ich zur Dankbarkeit verpflichtet bin; ich habe also kein Recht, das zu sagen, worüber zu schweigen er seine Gründe gehabt haben wird.«

   »Ich achte diese deine Dankbarkeit, obwohl ich der Ansicht bin, daß ein ehrlicher Mann seinen Namen nicht zu verschweigen braucht. Du hast den deinen auch noch nicht genannt!«

   »Effendi, willst du mich der Unehrlichkeit zeihen?«

   »Nein. Es genügt mir, von El Ghani erfahren zu haben, daß man dich El Münedschi nennt. Aber wann ihr hier mitten in der Wüste Halt gemacht habt, das darf ich wohl erfahren?«

   »Es war am Jom es Sabt *) früh.«

   »Also vorgestern. Wann bist du da eingeschlafen?«

   »Sofort, als ich vom Kamele gefallen war; zum Absteigen fehlte mir die Kraft.«

   »Während dieses Schlafes hat dir von einem andern Leben, von einer andern Welt geträumt?«

   »Effendi, darüber laß mich schweigen! Ich träume nicht. Was du für Traum hältst, ist etwas ganz anderes. Du bist ein berühmter Gelehrter; aber alle deine Gelehrsamkeit reicht nicht aus, das zu begreifen, was ich dir darum lieber verschweige.«

   »Ich meine im Gegenteile, daß ich als Gelehrter es leichter begreifen würde als ein Ungelehrter.«

   »Nein. Du würdest es für eine Krankheit halten, während es doch grad ein Beweis der höchsten geistigen


*) Samstag.
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Gesundheit ist. Ich bitte dich, nicht in mich zu dringen, und mich jetzt wieder mit El Ghani zu vereinigen!«

   »Die Erfüllung dieses Wunsches ist leider jetzt nicht möglich. El Ghani ist fort.«

   »Fort? Wohin?«

   »Nach Mekka.«

   »Ohne mich?!«

   »Ja. Er hielt dich für tot und hatte dich schon eingescharrt. Als er mit seinen Leuten fortgeritten war, nahm ich dich aus dem Grabe und fand, daß du noch lebtest.«

   »Tot? Begraben schon?« fragte er entsetzt. »Allah sei mir gnädig! El Ghani weiß doch, daß ich stets sehr bald wieder zu mir zurückkehre!«

   Mit diesen Worten hatte er mir sein Geheimnis schon halb verraten, ohne es in seiner Aufregung zu bemerken; die andere Hälfte dachte ich mir hinzu. Darum fragte, wie man sich auszudrücken pflegt, ich ihn grad auf den Kopf:

   »Wie lange pflegtest du in solchen Fällen gewöhnlich nicht bei dir zu sein?«

   »Nur einige Stunden,« antwortete er prompt.

   »Du wußtest dann, wo du gewesen warst?«

   »Ja, ganz genau.«

   »Und dieses Mal hat es länger als zwei volle Tage gedauert. Es handelte sich auch nicht bloß um den bei dir üblichen Zustand, sondern du warst scheintot. Die Anstrengungen des langen Rittes und die Entbehrung des Wassers, der Einfluß deiner Nervenkrankheit, die ich allerdings nicht wie du als den "Beweis der höchsten geistigen Gesundheit" bezeichne, und dazu der Umstand, daß du ein außerordentlich starker, mit Tabak durch und durch vergifteter Raucher zu sein und darum sehr wenig zu


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essen scheinst, kurz, diese und vielleicht auch noch andere Gründe, welche ich nicht kenne, haben zusammengewirkt, den Zustand herbeizuführen, den wir als scheintot bezeichnen.«

   »Scheintot!« sagte er. »Zwei volle Tage habe ich gelegen! Solltest du recht haben. Es wäre entsetzlich gewesen, wenn ich begraben worden wäre, ohne wirklich tot zu sein! Scheintot! Es giebt ja überhaupt keinen wirklichen Tod, denn das, was ihr so nennt, das ist eben nichts anderes als scheinbarer Tod. Es ist das Ablegen des irdischen Kleides, welches wir unter dem Namen "Körper" hier getragen haben, aber niemals wieder tragen werden. Dieser Körper bleibt zurück, um sich in seine Grundbestandteile wieder aufzulösen, die Seele aber, die in ihn gekleidet war, wird auf ewig frei von ihm, der sie beengte.«

   Diese Weise, sich auszudrücken, machte mich stutzig. Er sprach da nicht wie ein frommer, gläubiger Muhammedaner; darum konnte ich es nicht unterlassen, einzufallen:

   »Damit befindest du dich mit den Lehren Muhammeds und allen Auslegungen des Kuran in direktem Widerspruch.«

   »Nein,« antwortete er. »Bedenke, daß der Prophet und seine Nachfolger nicht nüchterne Abendländer, sondern Orientalen waren und als solche die Gewohnheit hatten, sich nicht streng treffend, sondern bildlich auszudrücken! Wenn Hadschi Halef dich den größten Gelehrten des Morgen- und des Abendlandes nennt, so habe ich das nicht wörtlich, sondern nur in dem Sinne zu nehmen, daß du mehr gelernt hast und mehr weißt als viele andere gewöhnliche Gelehrten. Sogar die christliche Bibel hat man von diesem Gesichtspunkte aus zu lesen und zu


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beurteilen, weil die Verfasser der in ihr enthaltenen Bücher auch Orientalen waren.«

   »Damit leugnest du also, daß diese Bücher von dem Geiste Gottes eingegeben worden sind?«

   »Nein; aber er hat durch orientalische Zungen gesprochen, falls die Annahme dieser Eingebung nämlich nicht eine irrtümliche ist. Gottes Geist kann natürlich nicht ein spezifisch morgenländischer sein.«

   »So nennst du es also bildlich gemeint, daß die Elemente die aufgelösten und zerstreuten Körperteile bei der Auferstehung nicht zurückgeben werden? Daß der Auferstehende seine Gebeine von der Erde, sein Blut von dem Wasser, sein Fleisch und sein Haar von der Pflanze und sein Leben von dem Feuer zurückerhalte?«

   »Das ist eine altpersische Lehre; du kennst also den Parsismus?« fragte er erstaunt. »Warum nimmst du dein Beispiel nicht aus der Bibel, von welcher wir doch sprechen? Doch« - fuhr er schnell fort - »ich vergesse, daß du ja gar nichts aus ihr beweisen kannst, weil sie dir unbekannt ist!«

   Da fuhr ich fort:

   »Ich weiß, daß sie von der Auferstehung des Fleisches spricht.«

   Stellen anzugeben, glaubte ich, unterlassen zu müssen, weil es verheimlicht werden sollte, daß ich Christ war. Zu meiner Verwunderung antwortete er mir:

   »Der Apostel Paulus sagt: "Es wird gesäet ein irdischer Leib, und auferstehen wird ein geistiger Leib; giebt es einen irdischen Leib, so giebt es auch einen geistigen Leib."«

   Jetzt war die Reihe, zu erstaunen, an mir. Dieser Muhammedaner kannte die Briefe an die Korinther! Er fuhr gleich fort:


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   »Durch das Zusammenwirken der Seele und des Leibes in diesem Leben bildet sich ein zweiter, für uns unsichtbarer Leib, welcher, für uns unbemerkbar, die Poren des irdischen durchdringt und die Verbindung zwischen ihm und der Seele herstellt; er entsteht aus den unwägbaren Stoffen des sterblichen Leibes und geht nicht mit diesem verloren, sondern begleitet die Seele in die Ewigkeit. Dieser für unser Auge nicht erkennbare Leib ist es, welchen der Apostel, also auch die Bibel meint, wenn von der Kijahma des Leibes die Rede ist.«

   »Das war so ungefähr die Ansicht des Abu en Nasranija *) Origenes.«

   Jetzt wunderte wieder er sich über mich.

   »Du kennst Origenes?« rief er aus. »So bist du ja noch unterrichteter, als ich dachte! So wirst du mich also vielleicht verstehen, wenn ich sage, daß ich den Tod nicht fürchte, weil er nichts weiter ist als die Ablegung des groben Kleides, welches hier die Seele und den geistigen Leib zu schützen hatte. Beide bedürfen nach dem Tode dieses Schutzes nicht mehr. Freilich ist das Ablegen dieses groben Leibes, also der Tod, nicht so leicht und so schmerzlos wie das Entfernen eines gewöhnlichen Gewandes, und darum erschrak ich vorhin, als du sagtest, daß ich scheintot gewesen sei. Ich kann nicht glauben, daß dies richtig ist, sondern nehme vielmehr an, daß du dich geirrt hast. Mein Körper ist es gewöhnt, von der Seele zeitweilig verlassen zu werden, und wenn sie in diesem Falle zwei Tage abwesend gewesen ist, also viel länger als es sonst der Fall zu sein pflegte, so darf man dies doch noch nicht als Scheintod bezeichnen, von welchem es nur ein kleiner Schritt ins Grab hinunter ist.«


*) Kirchenvater.
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   Bei dieser Aeußerung, die geeignet war, unser um die Errettung des Münedschi wohlerworbenes Verdienst zu schmälern, nahm Halef das Wort. Der letzte Teil des Gespräches hatte ihm schon nicht gefallen, und nun er glaubte, um den Dank, welchen er beanspruchte, gebracht werden zu sollen, fuhr er in beinahe zornigem Tone auf:

   »Noch ein Schritt? Also denkst du, dich noch außerhalb desselben befunden zu haben? Du lagst ja schon drin, vollständig drin im Grabe, und es war auch schon fast ganz zugeworfen; nur dein Gesicht war noch frei! Wenn deine Seele die üble Angewohnheit hat, den Körper öfters zu verlassen, um neugierig in der Welt herum spazieren zu gehen, so kann ich nichts dagegen haben, denn sie ist nicht meine Seele, welcher ich solche Unbedachtsamkeiten freilich nicht gestatten würde, denn wenn sie einmal den Rückweg verlieren oder gar vielleicht vergessen sollte, wem sie angehört, so irrt sie dann als unernährte, gattenlose Witwe im Weltall herum, und ich liege da, ohne zu wissen, wo ich sie zu suchen habe und wen ich nach ihr schicken soll! Daß mir das, und warum es mir im höchsten Grade unangenehm sein würde, das brauche ich dir wohl nicht erst lange zu erklären! Es will doch jeder vernünftige Mensch im faktischen Besitze seiner rechtmäßigen Seele sein, ohne ihr gestatten zu müssen, mit freundlichem Lächeln wie die Frauen und Töchter des Abendlandes auf den Eisenbahnen herumzufahren. Beliebt es dir, von dieser vorsichtigen Behandlung der Bewohnerin deines Körpers eine Ausnahme zu machen, so habe ich, wie bereits gesagt, nichts dagegen einzuwenden, zumal du uns mitgeteilt hast, daß sie bisher stets schon nach kurzer Zeit und pünktlich wieder zurückgekehrt ist, obwohl für eine leichtsinnige Seele auch das


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schon vollständig genügt, verschiedene Allotria und sonstige Dinge zu treiben, die ihr eigentlich verboten sind. Aber bedenklich, höchst bedenklich wird die Sache, wenn sie auf einmal anfängt, gleich zwei volle Tage wegzubleiben! Das ist doch unbedingt gegen den inzwischen leblosen Körper eine Rücksichtslosigkeit, die er sich unmöglich gefallen lassen kann, zumal es ihm in seiner Pflichttreue und Ordnungsliebe niemals eingefallen ist, auch einmal ohne sie spazieren zu gehen und sie einsam und ohne Subsistenzmittel zu Hause sitzen zu lassen! Daß du dir auch das gefallen lassen willst, nun, ich kann es ja nicht ändern, sondern nur sagen, daß ich an deiner Stelle sehr energische Maßregeln ergreifen und ihr den Standpunkt so klar machen würde, wie es einer solchen, gern aufsichtslos herumstreifenden Seele gegenüber nur immer möglich ist. Das Schlimmste aber, ja das Allerschlimmste, was dabei zum Vorschein kommt, ist die Täuschung, in welcher du dich in Beziehung auf deinen von ihr so leichtfertig verlassenen Leib befindest! Du scheinst nämlich zu glauben, daß ihm diese ihre Flatterhaftigkeit nichts schaden könnte; ja, du stellst sogar die Behauptung auf, daß du gar nicht scheintot gewesen seiest. O, Münedschi, auf deine Seele ist selbst dann kein Verlaß, wenn sie sich daheim in deinem Körper befindet, denn sonst würdest du ganz gewiß anders sprechen! Ich sehe ein, daß ich dir zu Hilfe kommen muß, indem ich dir der Wahrheit nach berichte, wann, wo und wie wir dich gefunden und dann ausgegraben haben. Höre mich also an!«

   Es folgte nun ein sehr lebendiger und stellenweise sehr drastischer Bericht über die Begebenheit, von dem Augenblicke, an welchem wir die Geier bemerkt hatten, bis zum gegenwärtigen. Nun erst erfuhr der Blinde in ausführlicher Weise, daß und warum seine Gefährten


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ihn wirklich verlassen hatten, er sah ein, daß er wirklich begraben gewesen war, und nun stellte sich die Angst nachträglich bei ihm ein. Er holte den bis jetzt versäumten Ausdruck des Dankes in einer Weise nach, welche selbst den in dieser Beziehung sehr anspruchsvollen Halef befriedigte. Zu der Angst und dem Gefühle der Dankespflicht gesellte sich dann die schwere Sorge wegen seiner Hilflosigkeit. Was sollte nun aus ihm werden? Seine Bekannten hatten ihn begraben, und er befand sich blind und ohne alle Mittel zum Weiterkommen unter fremden Leuten! Da verstand es sich dann ganz von selbst, daß wir ihn unsers gern verliehenen Beistandes versicherten. Wir wollten ja auch nach Mekka, hatten also gleichen Weg mit ihm und brachten gar kein Opfer, wenn wir eines unserer Kamele für ihn bestimmten. Er war, als er dieses hörte, natürlich hoch erfreut und erklärte sich für kräftig genug, gleich mit uns aufzubrechen.

   Ich glaubte, Grund zu haben, dieser seiner vermeintlichen Kraft kein allzu großes Vertrauen schenken zu dürfen. Er hatte, seit wir von dem Grabe weggegangen waren und hier auf dem Teppiche saßen, gequalmt wie - um mich eines landläufigen Ausdruckes zu bedienen - wie ein Stadtsoldat und den Tschibuk achtmal ausgeraucht; ich mußte ihn zu den stärksten Rauchern zählen, die ich kennen gelernt hatte. Wahrscheinlich war sein ganzer Körper vom Gifte des Tabakes durchzogen und sein Magen vollständig verdorben worden. Daher die Behauptung, daß er selbst jetzt, nach so langem Fasten, keinen Hunger habe. Ich erklärte, daß wir den Weiterritt nicht eher antreten würden, als bis er tüchtig gegessen habe, und hielt auch Wort, obwohl es fast des Zwanges bedurfte, die reichliche Portion zu verzehren,


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welche Hanneh ihm aus unsern Vorratstaschen brachte. Ohne ein Augenarzt zu sein, konnte ich mich der Meinung nicht erwehren, daß auch seine Blindheit in enger Beziehung zu diesem starken Rauchen stehe, und daß ich da recht hatte, bewies mir dann die spätere Zeit.

   Uebrigens war es mir gar nicht unlieb, diesen Mann hier unterwegs getroffen zu haben. Obgleich blind, kannte er Mekka doch jedenfalls besser als wir und konnte uns also, wenn nicht durch die That, so doch durch seinen Rat wohl nützlich werden. Ferner war er an sich eine interessante Persönlichkeit. Und drittens besaß er für mich den Reiz des Geheimnisvollen. Ich hegte die Vermutung, daß er das nicht sei, als was er gelten wollte, und hatte meine Gründe dazu.

   Daß er ein Gelehrter, und zwar kein gewöhnlicher, war, hatte er bewiesen. Er kannte sogar die Bibel, ein höchst seltener Fall. Auch in der Theologie der alten Perser war er bewandert! Das mußte mehr als bloß meine Aufmerksamkeit erregen. Sodann hatte er erzählt, daß er als reicher Mann nach Mekka gekommen sei. Das wollte nicht mit den geringen Einnahmen eines morgenländischen Gelehrten stimmen. Auch seine Ausdrucksweise war mir aufgefallen. Sie war nicht die umschreibende, bilderreiche eines geborenen Orientalen, sondern eher diejenige eines Europäers, der sich allerdings schon seit langer Zeit im Morgenlande befunden hat. Er drückte sich bestimmt und ohne Anwendung von Tropen aus. Auch auf seine Aussprache einiger arabischer Laute war ich aufmerksam geworden. Die beiden Ha, das Ain, den Unterschied zwischen dem Sin und Sad, das Rain, Ren oder Ghen, das erste Kaf, das alles brachte er nicht so heraus, wie ein Eingeborener es bringt. Auch hatte er sich einiger Worte bedient, welche dem Araber zwar


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auch, aber nicht in dem gebrauchten Zusammenhange geläufig sind. Es ist da wohl kein Wunder, wenn ich sage, daß er mir ein Rätsel war.

   Wenn ich weitergehen will, so war mir auch sein Verhältnis zu El Ghani unklar geblieben, nicht etwa, weil er so wenig darüber gesagt hatte, denn diese Zurückhaltung war Fremden gegenüber wohl begreiflich; aber er schien außer der Dankbarkeit für empfangene Wohlthaten noch etwas für oder gegen diesen Mann zu empfinden, was er sich bemühte, zu verheimlichen. Warum hatte der vornehme Mekkaner den Blinden mit nach Meschhed Ali genommen, dem alten, gebrechlichen Manne also einen so weiten, beschwerlichen Weg zugemutet? Um sich seiner als Dolmetscher zu bedienen? Gewiß nicht! Es giebt in Mekka junge, kräftige Leute mehr als genug, welche des Persischen mächtig sind und unter denen er nur zu wählen brauchte. Hatte er das etwa aus Geiz nicht gethan, weil er einen Dolmetscher hätte bezahlen müssen? Vielleicht war dies ein Nebengrund, aber der Hauptgrund sicher nicht, denn jeder halbwegs gebildete Perser spricht auch Arabisch, und so wäre El Ghani in Meschhed Ali mit seinem Arabisch ganz gut ausgekommen. Es lag da jedenfalls etwas vor, was niemand, am allerwenigsten ein Fremder, erfahren sollte!

   Am meisten interessierte mich natürlich sein krankhafter Zustand, welchen er mit den Worten bezeichnet hatte: »Mein Körper ist es gewöhnt, von der Seele zeitweilig verlassen zu werden«. Tiefe und längere Ohnmachten kommen bei verschiedenen, auch habituellen, Krankheiten vor. War er epileptisch, hysterisch, gar somnambul, oder was sonst? Jedenfalls nervenkrank! Er behauptete, während dieser Ohnmachten in einer andern Welt zu sein und sich dessen ganz genau erinnern zu


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können. Um meine größte Teilnahme zu gewinnen, hätte er gar nicht mehr zu sagen gebraucht! Ich bin ein sehr nüchterner Mann und jeder Phantasterei abgeneigt; ich nehme nur das als wahr und richtig hin, was ich mit kalten Sinnen geprüft und als echt erkannt habe; aber trotzdem oder vielleicht grad darum

   

»schau ich gern in solche Ecken,
wo geheime Sachen stecken«,

selbst wenn es geistige Ecken oder Winkel sind, und hinter diesen Ohnmachten des Münedschi war etwas verborgen, was meine Neu- oder vielmehr Wißbegierde reizte. Ich gestehe es aufrichtig.

   Aus all diesen verschiedenen Gründen war mir das Zusammentreffen mit ihm ganz recht, und wenn ich auch gar nichts anderes zu erwarten gehabt hätte, er war eine Person, mit welcher ich mich unterhalten konnte. Trotz der scheinbaren Ueberzeugung, mit welcher er von den Lehren und Satzungen des Islam gesprochen hatte, glaubte ich bemerkt zu haben, daß der Boden, auf welchem er in Beziehung auf den Glauben stand, unter ihm ins Wanken geraten, vielleicht niemals fest und sicher gewesen war. Mit solchen nach der Wahrheit Strebenden verkehre ich gern, denn wer sein höchstes Glück bei Gott gesucht und auch gefunden hat, der möchte auch gern andere glücklich machen!

   Was El Ghani betrifft, welcher uns mit Drohungen verlassen hatte, so dachte ich jetzt mit weniger Sorge an ihn als vorher, falls der Ausdruck Sorge da der richtige gewesen wäre. Es war kein klares, bestimmtes, definierbares Gefühl, welches in mir lag, aber es machte sich doch bemerkbar und wurde auch verstanden, nämlich daß unsere Bekanntschaft mit El Münedschi uns in dieser


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Beziehung von Nutzen sein werde. Derartige Vorgefühle, und wenn sie sich noch so leise bemerkbar machten, haben mich fast nie getäuscht.

   Es wurde dem Alten der bequemste Sattel, den wir hatten, mit Decken und weichen Tüchern so vorgerichtet, daß er da behaglich wie in einem Lehnstuhle sitzen konnte. Ehe er aufstieg, bat er uns, ihn an das Grab zu führen; wenn er es auch nicht sehen könne, so wolle er doch wenigstens mit den Händen einmal nach dem Orte schauen, welcher beinahe sein Grab geworden wäre. Nicht einer von uns, sondern Hanneh nahm ihn bei der Hand, um ihn hinzuleiten, indem sie sagte:

   »Diese deine jetzige Kijahma ist eine irdische, bei welcher dir deine Augen nicht den Ort der Auferstehung zeigen; wenn aber einst deine wirkliche, deine himmlische Kijahma kommt, so werden sie geöffnet sein, und du wirst mit ihnen das Land der Herrlichkeit sehen, welches Allah allen denen bereitet hat, die reinen Herzens sind und ihn und seine Menschenkinder lieben. Allah jekuhn ma' ak - Gott sei mit dir!« - - -


Kapitel 2


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Einführung zu "Am Jenseits"


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