Jahrgg. 16, Nummer 32, Seite 506
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Lopez Jordan

(El Sendador, Theil I.)

Reiseroman von Karl May.
29. Fortsetzung

»War es euer junger Sennor?« fragte der Bruder weiter.

»Nein, sondern Sennor José Monteso von der Estanzia del Yerbatero. Er war am Abende gekommen, um am nächsten Morgen heimzureiten. Er kam aus Santa Fé herüber.«

»Das ist mein Sohn!« erklärte Monteso. »Ich bin der Besitzer der Estanzia. Erzählt uns alles sehr genau! Wir wissen bereits, daß mein Sohn und mein Bruder Gefangene der Bolamänner sind, und befinden uns unterwegs, sie zu befreien.«

»Wenn das so ist, Sennor, so nehmen Sie uns mit, damit wir diesen Kerlen heimzahlen können, was sie an uns getan haben.«

»Das geht nicht, denn dazu seid ihr zu schwach und werdet hier notwendig gebraucht. Ihr könnt doch unmöglich eure Herrschaft verlassen!«

»Sie haben recht, Sennor. Also nehmen Sie die Vergeltung für uns mit in Ihre Hand!«

»Das verspreche ich euch. Doch muß ich natürlich alles erfahren, was hier geschehen ist. Kanntet ihr meinen Sohn?«

»Er hatte uns am Abende gesagt, wer er ist. Er wollte mit Anbruch des Tages fort. Darum weckten wir ihn, als der Tag graute. Als er dann aus dem Hause kam, erkannte er in dem Gefangenen seinen Oheim. Er forderte dessen Freiheit, aber der Erfolg war, daß er selbst gefangen genommen wurde.«

»Konntet ihr das nicht verhüten?«

»Wir? Vier Männer und eine Frau gegen über fünfzig solchen Kerlen! Wir sind hier vier Gauchos. Der vierte ist mit unserem jungen Sennor hinauf nach Salto. Wir waren viel zu schwach und wußten auch gar nicht, wer recht hatte.«

»Gut, weiter!«

»Die beiden Gefangenen wurden in die Stube geschafft, wo man heimlich mit ihnen verhandelte. Dann mußte unser Sennor Schreibzeug und Papier geben. Es wurde ein Brief geschrieben. Ich glaube, der ältere Sennor, der Yerbatero, mußte ihn schreiben. Und dann machten sich drei, von denen einer als Lieutenant bezeichnet wurde, auf, um den Brief fortzuschaffen. Ich hörte, daß der Major ihm nachrief, er solle sich beeilen, daß er noch zur Mittagszeit am Ziele ankomme. Welches Ziel dies sei, wußten wir nicht.«

»Es war meine Estanzia. Der Brief galt mir. Was geschah dann?«

»Dann ließen sich die Leute einen Ochsen von uns geben, den sie schlachteten. Sie blieben während des ganzen Tages hier und erklärten, auch noch die Nacht da warten zu wollen. Unser Sennor aber glaubte, ihnen nicht trauen zu dürfen. Es waren rohe Leute. Wie leicht konnten sie des Nachts fortreiten, ohne den Ochsen bezahlt zu haben. Darum bat sie der Sennor, als es spät Abend geworden war und er zur Ruhe gehen wollte, um das Geld. Aber sie erklärten die Worte unsers Herrn für eine große Beleidigung, und verlangten, er solle Abbitte tun, und als er sich dessen weigerte, fielen sie über ihn her.«

»Und ihr?«

»Wir eilten ihm sogleich zu Hilfe, wurden aber niedergerissen und gebunden. Auch den Herrn und die Sennora fesselte man. Dann wurden wir nach dem Korral geschafft, in welchem Sie uns gefunden haben und dort angebunden, nachdem man uns drei geschlagen hatte, daß das Blut von uns lief.«

»Schändlich!«

»Ja, es war schändlich; aber wir konnten nichts tun, als mit den Zähnen knirschen. Im stillen aber habe ich geschworen. Rache zu nehmen. Ich habe sie alle so genau angesehen, daß ich jeden einzelnen kenne. Wehe dem von ihnen, der mir begegnen sollte! Meine Bola würde ihm Arme und Beine zerschmettern.«

»Dann brannten sie wohl die Alqueria an?«

»Noch nicht. Erst öffneten sie die Korrals und trieben alle Rinder fort. Das beste aber suchten sie sich vorher heraus, um es zu schlachten und das Fleisch als Proviantvorrat mitzunehmen. Während sie damit beschäftigt waren, wurden alle Stricke und Riemen, welche es im Hause gab, zusammengesucht.


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Man schnitt auch Riemen aus den Fellen, welche wir daliegen hatten; zu welchem Zwecke, das sollten wir bald sehen. Sie fingen nämlich unsere sämtlichen Pferde und banden sie zu einer Tropa zusammen.«

»Die beiden Gefangenen wurden wohl mitgenommen?«

»Wahrscheinlich. Sehen konnten wir es freilich nicht. Aber ich habe gehört, daß ihnen mit dem Tode gedroht wurde, falls die drei, welche mit dem Briefe fortgeritten sind, bis morgen ihren Zweck nicht erreicht haben.«

»So ist es, ganz genau so,« ergriff der alte Sennor zum ersten Male das Wort. »Denken Sie sich, meine Pferde gestohlen, meine prächtigen, guten Pferde, und dann das Haus ausgeraubt und verbrannt! Ich bin dadurch zum Bettler geworden!«

»Trösten Sie sich, Sennor!« antwortete der Estanziero. »Wir reiten den Banditen nach. Vielleicht läßt sich noch etwas retten.«

»Dazu ist keine Hoffnung vorhanden!«

»Selbst in diesem Falle dürfen Sie den Mut nicht verlieren. Sie fangen eben von neuem an. Ich bin reich. Die Anwesenheit meines Sohnes und Bruders hat Ihnen Unglück gebracht. Ich halte es für meine Schuldigkeit, Ihnen beizustehen, und werde auf dem Rückwege Sie wieder besuchen. Dann können wir ja über Ihre Angelegenheit sprechen. Sie sollen nicht zu Grunde gehen. Das Geld, welches Sie brauchen, um Ihre Verluste nach und nach wieder einzubringen, will ich Ihnen sehr gern vor strecken.«

»Wollten Sie das wirklich, Sennor?«

»Ja. Damit Sie sehen, daß ich Ihnen nicht dieses Versprechen mache, nur um Sie zu trösten und Sie dann sitzen zu lassen, will ich Ihnen gleich jetzt eine Summe geben, über deren Anwendung Sie nachdenken können, bis ich wieder zu Ihnen komme.«

Er hatte für den Fall, daß er seinen Sohn und seinen Bruder nur durch Loskauf frei bekommen könne, die dazu nötige Summe eingesteckt. Jetzt zog er seine Brieftasche heraus und gab dem Alten mehrere Banknoten in die Hand. Dieser letztere warf einen Blick auf dieselben und rief erstaunt:

»So viel ist gar nicht - -«

»Still!« unterbrach ihn Monteso. »Ich habe jetzt keine Zeit, Ihre Bedenken anzuhören. Wir müssen fort. Gern würden wir hier bleiben, um Ihnen zu helfen, Ihre Rinder einzufangen. Aber die Gauchos werden sich bald erholt haben, daß sie es tun können. Die Tiere sind gezeichnet und können Ihnen nicht verloren gehen. Übrigens werden wir bei Ihrem nächsten Nachbar vorsprechen, um Ihnen von dort aus Hilfe zu senden.«

So schnitt der brave Mann alle Einwendungen und Dankesworte ab. Wir stiegen auf und ritten davon. Es war nicht schwer, die Spuren der Bolamänner aufzufinden; aber wir verzichteten darauf, ihnen zu folgen. Der Frater wollte uns auf dem kürzesten Wege zu dem Indianer Petro Aynas führen, von welchem zu erfahren war, wo die gesuchte Halbinsel lag. Wir ritten weit über eine Stunde im Galoppe, bevor wir die nächste Besitzung erreichten. Dort hielten wir die Ruhe, auf welche der Estanziero verzichtet hatte, um den Danksagungen des Abgebrannten zu entgehen. Wir teilten den Leuten das Unglück mit, welches den letzteren betroffen hatte, und es wurden augenblicklich mehrere Leute abgeschickt, um den armen Leuten wenigstens die notwendige erste Hilfe zu bringen. So waren wir über diese Angelegenheit beruhigt. Auf der Hazienda, auf welcher wir uns jetzt befanden, hatte man die Bolamänner nicht gesehen.

»Sie sollen nach Süd geritten sein,« sagte Monteso. »Warum?«

»Um nicht wissen zu lassen, wohin sie eigentlich wollen,« antwortete ich.

»Sennor, diese Kerle treiben eine Pferdeherde mit sich. Sie haben keine Zeit zu verlieren.«

»Ja, aber sie dürfen sich auch nicht sehen lassen. Darum schlagen sie einen Bogen.«

»Sollten sie doch nach einem andern Orte wollen, als wir denken? Haben Sie wirklich alles ganz genau gehört, als Sie gestern die beiden belauschten?«

»Ganz genau. Es ist gar kein Irrtum möglich. Übrigens brauchen sich die Kerle gar nicht so zu beeilen, wie Sie denken.«


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»Aber sie müssen doch immer mit dem Falle rechnen, daß wir sie verfolgen!«

»Ganz richtig. Aber sie können es sich sehr gut ausrechnen, daß sie da sehr weit vor uns sind. Sie sind gestern am Spätabende von der Brandstätte fortgeritten und haben also einen Vorsprung von vielleicht sechs Stunden vor uns. Dazu kommt, daß sie sich nach einem Orte begeben, von dem sie meinen, daß wir gar nichts von ihm wissen, daß wir weder seinen Namen, noch seine Lage kennen. Sie sind jedenfalls der Ansicht, daß sie ganz unbesorgt sein können. Wie weit liegt der Uruguay von hier?«

»Von meiner Estanzia aus hat man über zwanzig Stunden zu reiten. Wir kommen wohl am Abende hin.«

»Das ist richtig,« stimmte der Frater bei. »Da wir aber erst den Indianer aufsuchen müssen, so kann es auch später werden. Er wohnt in der Nähe des Flusses; aber er ist nur selten daheim. Wenn sein Weib uns keine Auskunft geben kann, so werden wir zu warten haben, bis er kommt, oder wir sind gezwungen, ihn zu suchen.«

»Indessen kommen unsere Gegner über den Fluß.«

»Gewiß nicht, denn sie müssen ja die Rückkehr des Lieutenants erwarten. Brechen wir jetzt auf! Die Pferde haben sich erholt.«

So ging es also wieder weiter, immer nach Westen zu. Am Mittag rasteten wir kurze Zeit auf einem Rancho, wo man von den Bolamännern kein Wort wußte und auch den Namen der Krokodilshalbinsel nie gehört hatte. Am Nachmittage kamen wir noch an andern Siedelungen vorüber, konnten aber nirgends eine Auskunft erhalten. Wir befanden uns jetzt im Gebiete zweier kleiner Flüsse, welche in den Uruguay gehen. Wir ritten ungefähr in der Mitte zwischen ihnen, und da bot sich eine ganz andere Vegetation unsern Augen dar. Der Boden trug zwar immer noch das Camposgras, aber es erschienen Büsche und später auch Bäume, welche das Bestreben hatten, einen Wald zu bilden, was ihnen aber freilich nicht gelingen wollte. Das, was Wald sein wollte, konnte besser Park genannt werden, denn die Bäume standen licht und nicht in der Weise, welche der Deutsche fordert, wenn er von einem geschlossenen Forste sprechen soll. Nun passierten wir noch mehrere Bäche und die schmalen Ausläufer von Lagunen, welche an ihrem anderen Ende mit dem Flusse in Verbindung standen. Das Camposgras hörte auf. Schilf und Bambuse traten an seine Stelle. Die Bäume waren meist Laubhölzer, welche von dichten Schlingpflanzen umrankt waren. Die letzteren Gewächse umklammern ihr Opfer, mischen ihre Blätter mit den seinigen und bilden oft vom Boden bis zur Spitze des Baumes eine dichte, grüne Hülle, unter welcher der Baum vollständig verschwindet.

Die Dämmerung wollte sich niedersenken, und wir befanden uns auf einem Terrain, mit welchem im Dunkel der Nacht nicht zu scherzen war. Der Fluß mußte in ziemlicher Nähe sein, denn er schickte schmälere oder breitere Buchten zu uns herüber, welche teils eine helle Wasseroberfläche, oft aber auch eine trügerische Pflanzendecke zeigten, auf welche man in der Dunkelheit sehr leicht geraten konnte. Ich sah ein eigentümliches dickplumpes Tier in einer dieser Buchten plätschern. Es floh bei unserer Annäherung.

»Das war ein Wasserschwein,« erklärte der Frater auf meine Frage.

In einer anderen Bucht sah ich dunkle Baumstämme liegen, deren Enden aus dem Wasser ragten.

»Das sind Krokodile,« belehrte er mich jetzt.

»Und da reiten wir so nahe vorüber?«

»Wir haben von ihnen nichts zu fürchten. Freilich hineinsteigen in so einen Tümpel möchte ich nicht; da könnten mir ihre Rachen doch gefährlich werden.«

»Mir scheint unser jetziger Pfad überhaupt nicht recht geheuer zu sein!«

»Das ist richtig. Reiten wir einzeln hinter einander, ich voran. Wir kommen jetzt auf ein Terrain, wo man leicht einen Fehltritt tun kamm, der einen in den Sumpf bringt.«

»Gibt es keinen andern, bessern Weg zu dem Indianer?«

»Nein, Sennor. Er wohnt so, daß man nur auf diese Weise und von dieser Seite an seine Hütte kommen kann. Sie ist eine kleine Festung für ihn.«


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Nun ging es still und langsam auf dem weichen, wankenden Boden weiter. Der Frater mußte den Weg sehr genau kennen, da er es wagte, uns hier durchzuführen. Er stieg nicht einmal vom Pferde, was ich an seiner Stelle jedenfalls getan hätte. Nun war es ganz dunkel geworden. Ich konnte nur notdürftig den vor mir reitenden Führer sehen. Dennoch ging es fast noch eine ganze Viertelstunde so fort, bis wir etwas wie einen Lichtschein vor uns sahen.

»Jetzt müssen wir absteigen,« sagte der Bruder. »Jeder nehme sein Pferd beim Zügel und folge seinem Vordermanne, ohne nach rechts oder links abzuweichen. Der Pfad ist sehr schmal; er geht mitten durch tiefen Sumpf.«

Wir taten so, wie er angeordnet hatte. Ich fühlte, daß die weiche Erde mir über den Füßen zusammenging wie Teig, und auch mein Pferd setzte nur langsam und zögernd den einen Fuß vor den andern. Das Licht wurde heller. Wir erreichten wieder festen Boden und brauchten den Gänsemarsch nicht mehr einzuhalten. Dann waren wir an Ort und Stelle.

Unter einem nicht hohen, aber breitästigen Baum stand eine Hütte, deren Wände aus Rasen erbaut waren. Das Dach bestand aus Schilf. Fenster gab es nicht, sondern nur eine Türe, welche jetzt geöffnet war. Auf einem primitiven, auch aus Rasenerde gebildeten Herde brannte ein kleines Feuer, welches uns durch die offene Türe entgegen geleuchtet hatte. Über dem Feuer stand ein eiserner Topf, in welchem eine dicke, übelriechende Masse brodelte. Kein Mensch war in der Hütte.

»Hier wohnt der Indianer?« fragte ich.

»Ja.«

»So ist er daheim. Man kocht hier, folglich muß jemand zu Hause sein.«

»Höchst wahrscheinlich seine Frau. Lassen Sie uns sehen, was sie da zusammenbraut!«

Wir traten in den engen Raum. Der Bruder sah in den Topf und sagte:

»In diesem Gefäße steckt der Tod für mehrere hundert Geschöpfe. Es ist Pfeil Gift.«

»Wirklich! Das berühmte oder vielmehr berüchtigte Gift der Indianer! Lassen Sie mich sehen!«

Ich sah freilich nichts als die schon erwähnte Masse, welche eine grünliche Farbe hatte und beinahe die Konsistenz des Sirups besaß. Ein Stück Holz steckte in dem Topfe, um als Rührlöffel zu dienen. Der Frater rührte, zog das Holz heraus, an welchem ein Teil der Masse kleben blieb, nahm mit der Fingerspitze ein wenig weg, kostete es und sagte

»Ja, es ist Pfeilgift. Ich kenne den Geschmack.«

»Sie essen davon?!«

»Das ist nicht gefährlich. Im Magen schadet das Gift gar nichts. Es äußert seine entsetzliche Wirkung nur dann, wenn es in das Blut kommt.«

»Kennen Sie das Rezept?«

»Nein. Der Indianer verrät es selbst seinem besten Freunde nicht. Man nimmt den Saft der Wolfsmilch, die Giftzähne und den Giftbeutel von Schlangen und die grünen Ranken einiger Kräuter und Schlingpflanzen, deren Namen ich nicht kenne. Diese Ingredienzen werden bis auf Sirupsdicke eingekocht und bilden nach dem Erkalten eine harz- oder seifenartige Masse, welche vor dem Gebrauche stets wieder aufgewärmt wird.«

»Hält sie sich lange Zeit?«

»Bis anderthalb Jahre, nämlich, wenn sie nicht schimmelig oder brüchig wird. Die Spitzen der Pfeile werden damit vergiftet. Hier sind welche.«

Der Frater schien in der Hütte genau bekannt zu sein. Er trag in eine Ecke und hob ein kleines Schilfbündel empor und öffnete es. Nun sahen wir, daß das Schilf eine Anzahl von wohl fünfzig Pfeilen umschlossen hatte, die aus den harten und nicht viel über fingerlangen Dornen einer Schlingpflanze bestanden. Die Spitzen waren, wie wir an der Färbung sahen, in das Pfeilgift getaucht. Die andern Enden waren, um die Geschosse flugfähiger zu machen, mit der Wolle von Bombax Ceïba befiedert. Die kleinen, niedlichen Waffen sahen gar nicht so gefährlich aus, wie sie waren.

Vom Boden der Hütte bis zur Spitze der trichterförmigen Decke lagen drei oder vier schwache, runde Stangen, deren Zweck


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ich nicht erriet. Der Bruder nahm eine derselben, zeigte sie mir und sagte:

»Sie ist hohl, nicht wahr? Das sind Blasrohre, durch welche die Giftpfeile geschossen werden. Man fertigt sie entweder aus einem glatten, geraden Palmentrieb oder aus Colihué-Rohr.«

»Wie weit schießen die Indianer mit so einem Dinge?«

»Über vierzig Schritte und zwar sicher und völlig lautlos.«

»Binnen welcher Zeit tötet es?«

»Affen und Papageien binnen wenigen Sekunden, den Jaguar und den Menschen in zwei bis höchstens drei Minuten.«

»Und welches Gegenmittel gibt es?«

»Keins.«

»Das ist ja eine schreckliche Waffe! Warum duldet man es, daß die Indianer sich derselben bedienen?«

»Erstens, weil man keine Macht hätte, einem solchen Verbote Nachdruck zu geben, und zweitens, weil der Indianer nur mit Hilfe dieses Giftes Herr seiner Feinde aus dem Tierreich zu werden vermag. Ohne das Pfeilgift wären die Wälder unbewohnbar. Die Raubtiere, denen der Wilde im sichern Verstecke auflauert, würden sich so vermehren, daß die Menschheit fliehen müßte. Ein Jaguar, ein Puma braucht von so einem Pfeile nur ganz leicht geritzt zu werden; die Spitze desselben braucht nur das kleinste Haaräderchen zu treffen, so ist das Tier dem sichern Tode geweiht.«

»Aber es ist vergiftet und also unbrauchbar!«

»Sie meinen ungenießbar? O nein. Das Gift wirkt nur dann, wenn es direkt, also durch eine Wunde mit dem Blute in Berührung kommt. Das Fleisch eines Wildes, welches mit einem solchen Pfeile erlegt wurde, ist vollständig genießbar. Sie können getrost davon essen. Ich habe es viele hundert Male getan, ohne daß es mir Schaden gebracht hat.«

Er hielt inne, denn gerade in diesem Augenblick tauchte eine Gestalt unter uns auf, welche ich beim ersten Blicke kaum für ein menschliches Wesen gehalten hätte. Die Person sah wie eine jener Mißgeburten aus, welche man zuweilen auf Jahrmärkten zu sehen bekommt. Klein, fast wie ein Kind, hatte sie doch die Züge eines alten Weibes. Die Backenknochen standen weit vor und die Augen waren schief geneigt. Auf dem Kopfe hatte sie ein dichtes, verworrenes Gestrüppe, welches ich wohl für trockenen, dürren Besenginster, aber nicht für Haare gehalten hätte. Sie war so mager, daß es schien, als ob kein Lot Fleisch an ihr vorhanden sei.

»Daya, du bist es?« fragte der Frater. Sie nickte und schlug ein Kreuz.

»Ist dein Mann hier?«

Sie nickte und schlug wieder ein Kreuz.

»So sprich doch!« forderte er sie auf.

»Gib mir was!« ließ sie sich nun vernehmen.

»Nachher, Daya! Erst mußt du mir meine Fragen beantworten.«

»Ich weiß nichts!«

»Lüge nicht! Du weißt, ich verzeihe dir das nicht!«

Sie sah mit einem eigentümlichen, affenartigen, dummdreisten Gesichte zu ihm auf und antwortete:

»Du vergibst alles, du bist gut!«

»Du hast noch nicht gesehen, daß ich zornig zu werden vermag, kannst es aber heute sehr leicht erfahren. Waren heute Männer bei euch?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hm! Ich sehe wohl, daß ich dir etwas schenken muß. Was willst du denn haben?«

»Daya braucht einen schönen, glänzenden Knopf für ihr Kleid.«

»Du sollst einen haben.«

Er schien auf dergleichen Wünsche seiner Bekannten genügend vorbereitet zu sein, denn er zog einen Beutel aus der Tasche und gab ihr einen blankgeputzten Messingknopf, den sie sofort an einen Faden nahm und mit Hilfe desselben an ihr »Kleid« befestigte. Dabei funkelten ihre Augen vor Vergnügen, und ihr Gesicht nahm einen kindlich fröhlichen Ausdruck an, welcher einen fast zu rühren vermochte.

(Fortsetzung folgt.)
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