Drittes Kapitel.

Die Brüder Jesu.

Es war an demselben Abende. Der nach der Hauptstadt gehende Schnellzug mußte bald kommen, und die Reisenden im Wartezimmer erster und zweiter Klasse machten sich allmählich zum Aufbruche fertig.

An einem der entfernt stehenden Tische saßen zwei Männer, deren Äußeres nicht kontrastirender gedacht werden konnte. Der Eine, welcher die Uniform eines Obersten der Infanterie trug, war mit beinahe herkulischen Gliedmaßen begabt und überragte den andern, welcher außerordentlich klein und schwächlich gebaut war, beinahe um das Doppelte. Seine Gesichtszüge waren, wenn nicht roh, so doch außerordentlich eckig und kantig geschnitten und zeigten jene intensive Röthe, welche die Folge einer wohlbesetzten Tafel und eines ebenso gut gefüllten Kellers zu sein pflegt. Wenn es zugegeben werden muß, daß es Physiognomien gibt, welche zu einem zoologischen Vergleiche auffordern, so mußte man zugestehen, daß dieses Gesicht an denjenigen Wiederkäuer erinnerte, welcher in den Savannen der westlichen Hemisphäre wild gejagt und in Spanien zu aufregenden Kämpfen benutzt wird. Gewalt und Eigenwille waren deutlich in demselben ausgeprägt, und stier, wie die Augen blickten, mußte auch der Charakter sein, der wohl durch keine klärende und läuternde Schule gegangen war. Der Offizier machte |18B ganz den Eindruck eines Mannes, der sich durch rohe Tapferkeit und Hintansetzung aller Gefahr vom niedrigsten Grade, wo eine bessere Bildung nicht verlangt wird, zu einer Charge emporgeschwungen hat, welcher er in intellektueller Beziehung sich nur mit Mühe gewachsen zeigen kann. Der Andere, dessen Bewegungen außerordentlich leicht und lebhaft waren, trug eine feine, durchweg schwarze Kleidung. Das bleiche, bartlose Gesicht hatte etwas freundlich Lauerndes und das Auge einen sicheren, durchdringenden Blick, dem wohl schwer etwas entgehen konnte, was es sich zu erfassen bemühte.

"Also ein self-man sind Sie, Herr Oberst," meinte der Kleine, "der Alles, was er ist und hat, sich selbst verdankt. Dann ist Ihr Weg voller Dornen gewesen und wird es später wohl noch mehr sein. Gerade in Ihrer Branche ist die Konnexion der Hauptfaktor des Vorwärtsschreitens."

"Der Teufel soll mich holen, wenn dies nicht wahr ist! Konnexion, Protektion und noch so manche andere "ion" bringt manchen Laffen in die Höhe, der nichts vorzustellen vermag, als einen betreßten und bebrouillonten Taugenichts. Nur gut, daß es auch gewisse "ions" gibt, bei denen diese Schlingels spurlos verschwinden, weil da nur der gebraucht werden kann, der einen ganzen Mann abgibt!"

"Und diese "ions," welche sind es?"

Der Offizier blickte sich vorsichtig um und flüsterte:

"Dieselben, welche auch Sie meinen: Rebellion, Revolution. Lassen Sie es nur so bald wie möglich losgehen; ich bin mit Leib und Seele dabei und werde die mir angewiesene Stelle zur vollsten Zufriedenheit ausfüllen."

"So schnell, wie Sie wünschen, geht es allerdings nicht. Ein so großes und gefährliches Werk bedarf der sorgsamsten und umfassendsten Vorbereitungen."

"Pah! Ich bin vorbereitet und meine Jungens machen alle mit. Der Teufel soll mich holen, wenn ein einziger zurückbleibt!"

"Sind Sie dessen sicher?"

"Sicher? Welche Frage! Ich bin Oberst, und mein Regiment hat mir zu gehorchen."

"Gewiß, in den gegenwärtigen regulären Verhältnissen. Ob es Ihnen aber auch dann gehorcht, wenn diese Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden, das ist eine Frage, welche nicht so leicht beantwortet werden kann."

"Dann bin ich erst recht meiner Sache sicher."

"Auch Ihres Offizierskorps?"

"Vollständig. Es besteht aus lauter Männern, die, dem Bürgerstande entsprossen, in der Hefe stecken bleiben müssen, weil Ihnen die Vetter im Kriegsministerium fehlen. Gebt mir und Ihnen eine Gelegenheit zum Avancement, und der Teufel soll mich holen, wenn wir nicht unsere Schuldigkeit thun! Gibt es ja Einen oder den Andern, dessen man nicht vollständig sicher ist, so bekommt er Urlaub, die beste Methode, quere Köpfe einstweilen auf die Seite zu bringen. Ich bin hier Oberstkommandirender, habe ein Regiment Infanterie, eine Kompanie Schützen und zwei Feldbatterien zu befehligen und werde mit ihnen zur rechten Zeit am Platze sein so gewiß, als ich hier sitze und auf das Gelingen des Unternehmens mit Ihnen anstoße."

|19A Sie ließen die Gläser zusammenklingen; dann meinte der Kleine:

"Und die Bevölkerung Ihres Kreises?"

"Ist mit der jetzigen Regierung höchst unzufrieden. Wir befinden uns hier im bevölkertsten Fabrikdistrikte des Landes; Handel und Gewerbe stocken nicht blos, sondern liegen ganz und vollständig darnieder; der Arbeiter hungert mit seiner Familie; die Sozialdemokratie erhebt ihr Haupt und heult um Rache und Hülfe überall, am kleinsten Orte tagen Meetings und Versammlungen, in denen der Kreuzzug gegen die Aristokratie, gegen die besitzenden Klassen gepredigt wird. Was wollen Sie? Ich höre schon den muthigen Schritt der Arbeiterbataillone, welcher alles Widerstrebende zertreten und zermalmen wird. Die Schaaren der Turner, die Vereine der Bürgergarden, sie bedürfen nur der brauchbaren Waffe, um nach der Residenz geführt zu werden. Das |19B hiesige Zeughaus birgt viele tausend Gewehre: ich lasse sie vertheilen und stelle mich an die Spitze der Bewegung; der Teufel soll mich holen, wenn dieses Beispiel nicht sofort im ganzen Lande Nacheiferung findet!"

"Dazu bedarf es einer tüchtigen Vorbereitung des Landes, mit welcher wir leider noch nicht genugsam vorgeschritten sind. Wir dürfen unser Exempel nicht mit Hoffnungen machen, die uns betrügen können, sondern müssen mit Thatsachen arbeiten, deren wir sicher sind. Über Ihren Kreis, Herr Oberst, bin ich vollständig beruhigt; ich glaube Ihren Versicherungen und werde dem geheimen Komité einen befriedigenden Bericht abstatten. Mit dem Augenblicke des Losschlagens dürfen Sie die Generalsepauletten anlegen, und Ihre weiteren Chancen haben Sie dann in der eigenen Hand. Sie sind einer von den wenigen Stabsoffizieren, denen wir unbedingtes Vertrauen schenken, und ich bin |20A überzeugt, daß Sie dieses Vertrauen vollständig rechtfertigen werden. - Doch - da kommt der Zug. Ich bitte, mich nicht nach dem Perron zu begleiten; man muß vorsichtig sein. Weitere Ordres werden Ihnen auf dem bisherigen Wege zugehen."

Er erhob sich, reichte ihm die Hand und verließ das Wartezimmer. Draußen war der Train bereits vorgefahren. Er verlangte nach erster Klasse und erhielt ein Coupé angewiesen, in welchem bereits ein Herr saß, welcher allem Anscheine nach dasselbe schon längere Zeit innegehabt hatte.

Es begann zu dämmern, doch konnte man sich gegenseitig noch ganz genau erkennen.

Der Fremde trug durchweg einen graukarrirten Anzug; seinen Kopf bedeckte ein breitrandiger Panamahut, und auf der Spitze seiner Adlernase balancirte in verwogener Stellung ein blauglasiges Pincenez, welches mit dem feinen Teint des Angesichtes scharf kontrastirte. Die feinen Bockstiefeletten und die fleischfarbenen Gummihandschuhe zeigten ebenso wie der wohlgepflegte Backenbart und die schwergoldene Uhrkette, daß er gewohnt sei, auf seine äußere Erscheinung die möglichste Sorgsamkeit zu verwenden. Man mußte auf den ersten Blick den Engländer in ihm erkennen.

"Guten Abend!" grüßte der Schwarze.

"Good evening!" antwortete der Graue und drehte den Kopf langsam dem Eingestiegenen zu.

Kaum hatte er ihn erblickt, so ergriff er den blauen Zwicker und ließ ihn von der Nasenspitze nach der gehörigen Stelle zurückretiriren. Der Blick, welchen er jetzt scharf durch die blauen Gläser warf, war erstaunt, verächtlich und feindselig zugleich. Hatte er in dem kleinen Manne eine ihm verhaßte Persönlichkeit erkannt?

"Sie reisen auch nach der Residenz, Sir?" frug dieser, als er es sich bequem gemacht hatte.

Der Gefragte zog statt der Antwort ein goldenes Etui hervor, entnahm demselben eine Cigarette und steckte sie in Brand.

"Ich freue mich, bis dahin Gesellschaft zu finden. Eine Reise ohne Unterhaltung gehört zu den größten Unannehmlichkeiten, welche ich kenne."

Der Graue ließ das Fenster nieder, wandte sich gleichmüthig von seinem Gegenüber ab und blickte hinaus auf die in optischer Täuschung vorüberfliegende Landschaft."

Hier meine Karte, Sir! Darf ich wissen, mit wem mich der glückliche Zufall zusammenführt?"

Auf der kleinen Karte war in feinen Zügen "Aloys Penentrier, Rentier" zu lesen. Der Engländer hielt es nicht der Mühe werth, einen Blick darauf zu werfen, sondern behielt beharrlich seine Stellung bei.

"Sie scheinen mehr nachdenklich als unterhaltend gestimmt zu sein, Sir. Oder soll ich vielleicht in der Nichtbeachtung meiner Karte eine absichtliche Beleidigung erkennen?"

Der Graue steckte jetzt den Kopf ganz zum Fenster hinaus; das bleiche Gesicht des Kleinen röthete sich. Er legte die Hand auf den Arm des Engländers und frug:

"Wollen Sie die Güte haben, zu hören, was ich sage?"

Der Engländer zog unter dieser Berührung den Kopf zurück. Die Lorgnette war ihm unter dieser raschen Bewegung wieder vor auf die Nasenspitze gerutscht.

"Very well, uoll' Sie flieg' aus das Uagen hinaus in das Luft? Uas uag' Sie, anzugreif meinen Person!"

"Ich frage nur, ob Sie die Absicht haben, mich zu beleidigen?"

"Stand off, bleib' Sie mir von das Leib! Uas frag ich nach Ihr' Kart', Ihr Personage und Ihr Beleidigung! Halt' Sie das Mund; ich uill hab' Ruhe!"

Diese Worte waren in einem Tone gesprochen, welcher dem Kleinen ganz wider Willen imponirte. Er zog sich in seine Ecke zurück, murmelte etwas von "Unverschämtheit" und "Spleen", warf noch einen giftigen Blick auf den Grauen und schloß dann die Augen.

Die Reise wurde schweigend fortgesetzt. An jeder bedeutenderen Station blickte der Schwarze aus dem Wagen und nahm dann jedesmal von einer Person, welche den Zug erwartet haben mußte, ein Couvert in Empfang, welches er öffnete, um den Inhalt zu überfliegen. Dieser Umstand fiel dem Engländer auf, doch ließ er sich nicht das Mindeste davon merken. Nach der jedesmaligen Lektüre, die durch das im Coupé brennende Licht ermöglicht wurde, legte der Kleine das Schriftstück neben sich auf den Sitz. So lagen acht bis neun dieser Skripturen neben ihm, als man die letzte Station an der Residenz erreichte. Auch hier bog er sich durch das Fenster, um ein Couvert in Empfang zu nehmen und mit dem Überbringer desselben einige Worte zu wechseln. Der Engländer benutzte diesen Augenblick; mit einer blitzschnellen Bewegung hatte er eins der Papiere ergriffen und in seiner Tasche verborgen.

|20B Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und hielt nach kaum einer Viertelstunde auf dem Bahnhofe der Hauptstadt. Der Schwarze nahm die Schriftstücke zusammen und steckte sie, ohne das Fehlen des einen zu bemerken, zu sich. Ohne Wort und Gruß verließ er den Wagen.

Der Graue stieg schnell hinter ihm aus. Ein Diener, welcher zweiter Klasse gefahren war, wartete bereits auf ihn, und neben demselben stand Doktor Brandauer, welcher, von seiner Kahnfahrt zurückgekehrt, sich nach dem Bahnhofe begeben hatte, um den Sohn des Lord Halingbrook zu empfangen.

"Emery!"

"Max!"

Sie begrüßten einander durch eine herzliche Umarmung, welche sich aber Emery schnell zu lösen beeilte.

"Have care! Siehst Du dort den kleinen schwarz gekleideten Menschen mit dem Gepäckschein in der Hand?"

Er konnte jetzt sehr gut deutsch sprechen. Hatte er sich vorhin nur verstellt?

"Du meinst den, welcher mit dem Kofferträger verhandelt?"

"Yes, denselben."

"Was ist mit ihm?"

"Komm! Wir müssen ihm folgen; wir müssen sehen, wo er wohnt!"

"Warum?"

"Später! Unterwegs sollst Du es erfahren."

"Der Wagen wartet draußen auf Dich."

"Können ihn nicht gebrauchen. Go on, vorwärts!"

Er warf dem Diener einen kurzen Befehl hin, nahm den Freund unter den Arm und folgte mit ihm dem Schwarzen, welcher nach dem Ausgange schritt und dort einen Fiaker nahm.

In der Nähe hielt eine Equipage mit dem Peerswappen der Familie Halingbrook. Sie schritten an ihm vorüber und nahmen eine Droschke.

"Dem Fiaker dort nach, aber ohne daß es bemerkt wird!" befahl Emery beim Einsteigen.

Dann nahmen sie Platz.

Der Weg ging durch mehrere Straßen und über einige Plätze der Stadt. Während der Fahrt konnte Emery seine Mittheilung machen. Max sagte sich, daß der kleine Mann eine sehr beachtenswerte Persönlichkeit sein müsse, da der junge Lord nach einer langen und beschwerlichen Reise nicht zur Wohnung fuhr, sondern diesen Unbekannten sofort vom Bahnhofe weg verfolgte.

"Du kennst ihn?" frug er.

"Yes, und zwar sehr. Er ist ein Jesuit, eines der hervorragendsten Mitglieder dieser Brüderschaft."

"Ah!"

"Er hat in Freiburg, wo ich ihm begegnete und von ihm sprechen hörte, ohne daß er mich bemerkte, seine Erziehung genossen und gilt als der feinste Schlaukopf der ganzen Kongregation. Später sah ich ihn in Paris, Brüssel, London und Washington, und überall war mit seinem Erscheinen ein Streich verbunden, welchen die heiligen Väter der Regierung spielten. Heut nun fuhr er mit mir in demselben Coupé, und zwar unter Umständen, welche mich schließen lassen, daß er nicht nur hier bereits heimisch ist, sondern an einer Aufgabe arbeitet, welche jedenfalls eine den Interessen des Thrones feindliche ist."

"Den Jesuiten ist der Aufenthalt im Lande streng untersagt."

"All right! Nehmen wir diesen Umstand, die Politik des Herzogs von Raumburg, die Gerüchte, welche mit immer größerer Deutlichkeit ihre Stimme erheben und die im Auslande besser gekannt werden als von Euch selbst, und dazu die Anwesenheit dieses Menschen, welcher an jeder Station schriftliche Berichte entgegennimmt, so ergibt sich jedenfalls die Nothwendigkeit, wenigstens seine Wohnung kennen zu lernen."

"Und ihm auch noch etwas näher auf die Finger zu sehen. Ich weiß sehr genau, daß der Herzog die Aufnahme der Jesuiten eifrig befürwortet."

"Behold! Ich schätze sehr, daß er mit diesem Ungeziefer in Verbindung steht. Vater und ich sind in Folge unserer hiesigen Besitzungen Unterthanen Seiner Majestät, und so habe ich die Verpflichtung, das Thun und Treiben solchen Gezüchtes nicht unbeachtet zu lassen. Woher kennst Du diese Befürwortung?"

"Der König selbst hat gegen uns davon gesprochen."

"Well. Der Hofschmied erfährt mehr als mancher Rath und Minister. Du hast bessere Chancen als Mancher, dessen Stammbaum bis in die antediluvianische Zeit hinaufreicht, und ich begreife nicht, daß Du - - - have care, er hält! Wem gehört dieses Boarding-house?"

"Wahrhaftig, er hält bei unserer guten Barbara Seidenmüller! |21A Jetzt kannst Du mir ihn getrost überlassen. Ich bin hier bekannt; die Wirthin ist meine Spezialgönnerin und wird mir jedwede Auskunft gern ertheilen. Deine Anwesenheit aber würde auffallen."

"Fair! So fahre ich nach Hause. Hier hast Du ein Schreiben, welches ich ihm weggekapert habe. Ich konnte es bisher nicht lesen, und da Du ihm folgst, ist es Dir vielleicht nöthiger als mir."

"Kennst Du seinen wahren Namen? Ich nehme natürlich an, daß er hier einen falschen trägt."

"Pater Valerius, deuce take it, der Teufel hole ihn! Er hatte zwar die Güte, mir seine Karte zu präsentiren, doch hatte ich nicht Lust, mich mit derselben zu beschmutzen. Good night!"

"Gute Nacht!"

Die Droschke lenkte um, und Max trat in die Gaststube der ehrsamen Wittfrau und Kartoffelhändlerin Barbara Seidenmüller.

Der erste Gast, welcher ihm in die Augen fiel, war Baldrian, der Exgrenadier. Als dieser ihn bemerkte, erhob er sich respektvoll von seinem Stuhle. Der Doktor trat zu ihm.

"Bist Du schon lange hier?"

Der Gefragte nickte bejahend.

"Das ist am den. werde gleich gehen!"

"Willst Du mir einen Gefallen thun?"

Ein zweites Nicken erfolgte.

"Auch das ist am den!"

"Es muß hier ein Fremder logiren, der an seiner kleinen, schwächlichen Gestalt und seiner schwarzen Kleidung leicht zu erkennen ist."

"Sogar dieses ist am den. Ist bereits vier Wochen hier."

"Du kennst ihn?"

Ein energisches Nicken diente als Antwort.

"So stelle Dich einmal gegenüber in das Dunkle, wo Du nicht gesehen wirst. Wenn er das Haus verläßt, benachrichtigst Du mich schleunigst. Du hast doch gute Augen?"

"Das ist am den!"

Er trank sein Bier aus und verließ das Lokal.

Jetzt bemerkte die Wirthin den neuen Gast und kam sofort auf ihn zugeschritten. Sie war eine korpulente, noch junge Frau, und ihr geröthetes Gesicht glänzte vor Freude, als sie ihm die Hand entgegenstreckte.

"Willkommen, tausendmal willkommen, Herr Doktor! Ich habe Sie wohl ein Jahr lang nicht zu sehen bekommen. Wo sind wir denn überall herumgelaufen?"

"In Italien, Frankreich, England, Holland und so weiter."

"Herrjesses, muß das fürchterlich sein! Da lobe ich mir meinen "blauen Adler"; von ihm komme ich nicht weg, so lange ich lebe. Daheim ist daheim! Ich soll doch ein Fläschchen vom Besten bringen?"

"Ja. ich brauche zunächst einen guten Schluck und sodann Sie selbst."

"Mich?"

"Allerdings. Ich muß eine Erkundigung einziehen, womöglich unter vier Augen."

"Unter vier Augen? So kommen Sie heraus in das leere Hinterstübchen, wo wir vollständig ungestört sind, Herr Doktor!"

"Ich muß hier bleiben, da ich jeden Augenblick einen Boten erwarte, der mich dann nicht sehen würde. Bringen Sie mir den Wein hier an den Tisch zunächst der Thür!"

Die Wirthin beeilte sich, diesem Gebote Folge zu leisten und befahl dem Kellner, auf die übrigen Gäste Achtung zu haben.

"Sie haben seit vier Wochen einen fremden Herrn im Logis," begann Max, als sie bei ihm Platz genommen hatte, "dessen Namen und Charakter ich gerne wissen möchte, ohne daß er etwas über meine Erkundigung erfährt."

"Welchen meinen Sie?"

"Er ist klein und hager, bleich und bartlos und trägt sich schwarz gekleidet. Irre ich mich nicht, so ist er vor wenigen Augenblicken von einer Reise zurückgekehrt."

"Ach, Sie meinen den Herrn in Nummer eins bis vier!"

"Er hat vier Piècen inne? Dann muß er wohl situirt sein."

"Allerdings; er ist Rentier, zahlt außerordentlich prompt und nobel und hat einen französischen Namen, den ich vielleicht nicht richtig aussprechen kann. Geschrieben wird er Aloys Penentrier."

"Verreist er oft?"

"Er ist sehr wenig daheim und oft mehrere Tage nicht hier."

"Korrespondirt er viel?"

"Wenn er zu Hause ist, schließt er sich gewöhnlich ein. Was er da thut und ob er schreibt, weiß ich nicht; wenn er es thut, so muß er sich seine Briefe selbst besorgen, aber er erhält deren täglich mehrere."

|21B "Woher? Sie sehen dies wohl am Poststempel."

"Aus Paris, Petersburg, London, meist aber aus dem Inlande."

"Mit wem verkehrt er?"

"Kann ich nicht sagen. Er empfängt allerdings öfter Besuch von Herren, die ich aber leider nicht kenne."

"Welcher Klasse gehören sie an?"

"Allem Vermuthen nach nicht der unteren. Einige hatten, obgleich sie in Civil gingen, etwas entschieden Militärisches. Andere sahen mir aus wie Geistliche, so fromm und salbungsvoll traten sie auf. Zwei oder drei Male war auch ein Diener des Herzogs von Raumburg hier. Er trug zwar auch Civil, aber ich kannte ihn doch."

"Geht er viel aus?"

"Nur des Abends."

"Wann kehrt er da zurück?"

"Sehr spät! ich bemerke dies, trotzdem ich ihm einen Hausschlüssel zur Verfügung stellen mußte. Auch heut scheint er gehen zu wollen; er hat ein Abendbrod bestellt und um Beschleunigung gebeten."

"Ist ihm bereits servirt worden?"

"Ja; kalte Küche. Er ißt sehr schnell und wird wohl nun fertig sein."

Sie hatte recht, denn eben öffnete sich die Thür und die lange Gestalt Baldrians schob sich in möglichster Eile herein.

"Ist er fort?" frug Max.

"Ja, das ist am den."

"Wohin? Rechts in die Straße?"

"Nein, das ist nicht am den, sondern links."

"So trinke Du meinen Wein, Baldrian. Gute Nacht!"

Er legte ein Geldstück auf den Tisch und ging.

"Ein guter Herr, nicht wahr, Baldrian?" frug die Wirthin.

Der vormalige Grenadier konnte blos nicken. Er hatte das Weinglas bereits an den Mund gesetzt und that einen Zug, der es bis auf die Nagelprobe leerte.

"Hast wohl draußen aufpassen müssen?"

Er nickte und schenkte sich ein zweites Glas ein.

"Auf den kleinen Rentier?"

Das Glas wieder am Munde, ließ er sich zu einem abermaligen Nicken herbei; dann goß er sich den bei ihm so seltenen Trank in den Mund.

"Was muß er denn mit ihm haben?"

Wieder einschenkend zuckte er die Achsel. Die kleine, propre Wittfrau hatte ihm sein Herz geraubt, aber daß sie ihn jetzt in seinem Genusse störte, wollte ihm nicht im Geringsten gefallen.

"Du weißt es nicht, Baldrian?"

Er schüttelte den Kopf und führte das Glas zum dritten Male zum Munde.

"Schmeckt der Wein?"

Er trank, machte die Augen zu und nickte dabei mit einem so verklärten Gesichte, als trinke er den Nektar der griechischen Götter.

"Das glaube ich; es ist meine beste Sorte. Aber da hat er mir zuviel hergelegt. Was thue ich? Gebe ich Dir heraus oder - ja, ich werde mir den Überschuß merken, bis er wiederkommt."

Baldrian hatte sich den Rest eingeschenkt und stand schon im Begriffe, das Glas zu erheben; jetzt aber ließ er es wieder sinken.

"Donnerwetter, das ist ja gar nicht am den!"

"Du meinst, das Geld sei Dein?"

Er nickte trinkend, setzte das Glas auf den Tisch, strich das zurückgegebene Geld ein und stülpte sich die Mütze auf den Kopf.

"Gute Nacht, Bärbel!"

"Gute Nacht, Baldrian!"

Mit stolzen Schritten ging er nach Hause. Nicht jeder, der heut dasselbe that, hatte eine Flasche vom Besten aus Frau Barbara Seidenmüllers Weinkeller getrunken. -

Als der Doktor aus der Thür des Gasthauses trat, konnte er die Gestalt des sich entfernenden Rentiers gerade noch im Scheine einer Laterne erkennen. In kurzer Zeit hatte er ihn soweit erreicht, daß er ihn fest im Auge behalten konnte.

Der Kleine ging schnellen Schrittes mitten auf der Straße; er aber hielt sich hart an der einen Häuserreihe, in deren Schatten er nicht so leicht bemerkt werden konnte. Sie befanden sich in einem der äußeren Viertel der Residenz und näherten sich immer mehr den äußersten Häusern desselben. Als diese erreicht waren und nun auch der Lampenschimmer aufhörte, zog sich die Landstraße eine Strecke weit längs des Flußes hin, um dann an den sich allmählich erhebenden Bergen langsam emporzusteigen.

Dort oben, in etwa drei Viertelstunden Entfernung von der |22A Stadt, hatte früher ein Kloster gestanden, dessen Ruinen noch heut die Kuppe des Berges schmückten. Sie bildeten des Sonntags den gesuchten Zielpunkt zahlreicher Spaziergänger aus der Residenz. |22B Max kannte sie sehr genau. Er war schon als Knabe beinahe täglich in dem alten Gemäuer herumgekrochen und hatte jeden Winkel desselben durchstöbert.

|22C "Er geht nach der Ruine," murmelte er, "und zwar auf dem breiten Wege. Ich bin heut zum Lauschen prädestinirt, wie es scheint, und werde hier an der Seite aufsteigen, um ihm zuvorzukommen!"

|22D Der gewöhnliche Weg führte in zahlreichen Windungen empor; da aber, wo Max jetzt einlenkte, stieg ein schmaler, wenig betretener Pfad in gerader Richtung steil in die Höhe. Die Steilung war so bedeutend, daß man an den ihn besäumenden Büschen Halt |23A suchen mußte. Der Doktor hatte ihn so oft benutzt, daß er trotz der Dunkelheit keinen Fehltritt that und nach wenigen Minuten die Kuppe des Berges erreicht hatte.

|23B Hier schlich er sich der Stelle zu, an welcher der Aufweg in die Ruine mündete.

Die angewandte Vorsicht, mit welcher er seine Schritte möglichst |23C unhörbar zu machen suchte, erwies sich als nothwendig. Hinter einem der letzten Büsche stand eine Gestalt, in welcher er mit Recht einen zur Sicherheit ausgestellten Posten vermuthete. Er trat unweit |23D desselben hinter die Sträucher und wartete. Bald ließen sich nahende Schritte vernehmen.

"Woher?" frug der Posten mit halblauter Stimme.

|24A "Aus dem Kampfe," ertönte die ebenso gegebene Antwort.

"Wohin?"

"Zum Siege."

"Wodurch?"

"Durch die Lehre Loyola's."

"Der Bruder kann passiren!"

Der kleine Rentier schritt an dem Posten vorüber. Max folgte ihm.

|25A Mitten in dem ehemaligen Klosterhofe gähnte die Öffnung des Brunnens. Eine nach der Stadt führende Wasserleitung, welche die ganze Feuchtigkeit des Berges an sich zog, hatte den Erfolg gehabt, daß er vollständig ausgetrocknet war. Aloys Penentrier stieg auf den Rand desselben und verschwand dann im Innern. Der Doktor wußte genau, daß bis noch vor kurzer Zeit weder eine Leiter noch eine sonstige Vorrichtung hinabgeführt hatte. Er trat hinzu und bemerkte ein an einem Felsblock befestigtes Seil, welches über die Umfassung des Brunnens führte und dann hinunterhing. Zu seinem Erstaunen war es nicht scharf angespannt. Er zog es empor und bemerkte, daß es nur die Länge von einigen Ellen hatte. Es mußte also doch eine Leiter, eine Fahrt oder etwas Ähnliches geben, auf welcher man hinabgelangen konnte.

Er ließ das Seil wieder hinuntergleiten und bog sich vor, um einen Blick in die Tiefe zu werfen. Er mußte dies so vorsichtig wie möglich thun, da man sonst seinen Kopf trotz der nächtlichen Dunkelheit von unten hätte bemerken können. Der Brunnen war vor langer Zeit in Folge eines Unglücksfalles bis zur Hälfte seiner Höhe ausgeschüttet worden, besaß aber dessenungeachtet eine Tiefe von immer noch beinahe sechzig Fuß. Ein schneller, blitzartiger Lichtschein flammte unten auf; dann blieb die Tiefe in stetes Dunkel gehüllt, bis er seine Beobachtung aufgeben mußte, da ihm ein Geräusch das Nahen eines Kommenden verrieth.

Er zog sich hinter einen nahen Mauervorsprung zurück und beobachtete nach und nach vierzehn Gestalten, welche in den Brunnen stiegen.

Es drängte ihn, zu wissen, was diese geheimnißvollen Männer mit ihrer Zusammenkunft bezweckten; aber es war unmöglich, ihnen zu folgen. Er konnte sie nur von außen beobachten und mußte die Untersuchung des Brunnens bis auf eine Tagesstunde verschieben.

Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Es dauerte fast zwei Stunden, ehe er den ersten wieder Emporsteigenden bemerkte. Es war der Rentier, welchem hart auf dem Fuße zwei Andere folgten.

"Ihr wißt, weshalb ich mit Euch vorangestiegen bin?" frug der Erstere.

"Ja," antwortete der Eine.

|25B "Er ist ein Verräther. Ich erfuhr es heut und erhielt seinen Brief zu Handen gestellt. Ich verzieh ihm unten, um ihn sicher zu machen; aber er darf seiner Strafe nicht entgehen. Die Brüder Jesu dürfen sich nicht an ihrem Herrn versündigen, indem sie ein räudiges Schaf in ihrer Mitte dulden. Er wird ausgeschieden."

"Auf welchem Wege?"

"Auf dem gewöhnlichen. Geht an Euren Platz! Man kommt."

Die beiden Männer verschwanden hinter dem Gemäuer. Dem Brunnen entstiegen nach und nach die elf Übrigen. Der Letzte von ihnen löste das Seil vom Felsen und nahm es zu sich.

"Der Herr behüte unseren Ausgang und Eingang!" grüßte der Rentier.

"Jetzt und in Ewigkeit, Amen!" antworteten die Anderen, worauf sie sich entfernten.

Ein Einziger war geblieben. Der Rentier hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt.

"Bruder Ambrosius, ich habe noch mit Dir zu sprechen!"

Der Angeredete hatte schon wie die Übrigen im Begriffe gestanden, zu gehen. Er wandte sich wieder zurück.

"Trotz des Verdachtes, welcher heut gegen Dich ausgesprochen wurde," meinte der Rentier, "besitzest Du mein vollständiges Vertrauen. Ich habe Dich dem Pater Provinzial empfohlen und einen Auftrag für Dich bekommen, welcher Dir beweisen wird, wie sehr ich in schwierigen Fällen auf Deine Befähigung rechne. Bist Du bereit, ihn zu hören?"

"Ich werde hören und gehorchen."

"So komm! Ich werde Dich einweihen in das tiefste Geheimniß, welches die Erde trägt, und ich bin überzeugt, daß kein Wort davon über Deine Lippen kommen wird."

Er entfernte sich mit ihm in derselben Richtung, welche die beiden Anderen eingeschlagen hatten.

Max hatte jedes Wort vernommen. Dem Manne drohte jedenfalls eine Gefahr. Welcher Art konnte dieselbe sein? War er der Hülfe würdig? Und wie sollte diese Hilfe geleistet werden, da Max die Art und Weise der Gefahr nicht kannte? Er mußte sich sagen, daß er die dringendste Veranlassung habe, seine Anwesenheit nicht zu verrathen, und beschloß, sich ruhig abwartend zu verhalten.

Nach einer Weile war es ihm, als vernehme er einen leisen, unterdrückten Ruf. War es ein Hülferuf? Er lauschte eine Weile in die stille Nacht hinein, doch blieb jetzt alles ruhig. Erst nach |26A einer längeren Frist vernahm er das Geräusch von Schritten. Der Rentier kehrte mit den Zweien zurück. Der, welchen er einen Verräther genannt hatte, fehlte.

"Ihm ist sein Recht geschehen," meinte er salbungsvoll. "Möge seine Seele durch das Fegefeuer gereinigt werden, obgleich ihm die heiligen Sterbesakramente entgangen sind!"

"Es ist schwer zu beklagen, daß selbst der gebenedeiete Leib Jesu solche Glieder hat," ließ sich einer seiner Begleiter vernehmen.

"Darum befolgt die Gesellschaft Jesu die Lehre des Erlösers: Ärgert Dich Deine rechte Hand, so haue sie ab und wirf sie von Dir! Er ist bereits der Zweite, den die gerechte Hand der Strafe ereilt. Möge er der Letzte sein! Geht jetzt und empfangt meinen Segen, Ihr frommen und gehorsamen Kinder des Herrn!"

Er erhob seine Arme; sie verneigten sich ehrerbietig und entfernten sich dann. Er wartete, bis das Geräusch ihrer Schritte vollständig verschollen war, und folgte ihnen dann langsam nach. Die frommen Brüder Jesu verfolgten die Taktik, den Ort ihrer nächtlichen Zusammenkunft einzeln zu verlassen, um die Erregung jeden Verdachtes zu vermeiden.

Jetzt trat der Doktor hinter seinem Verstecke hervor.

"Sie haben ihn gemordet. Ich muß sehen, auf welche Weise!"

Er verließ die Ruine in derselben Richtung, welche sie vorhin eingehalten hatten, und untersuchte das ganze Plateau des Berges, ohne auf die geringste Spur irgend eines gewaltthätigen Ereignisses zu treffen.

"Die Finsterniß ist schuld. Ich werde am Tage zurückkehren und dann sicher finden, was ich suche."

Seine vergebliche Nachforschung hatte eine ziemliche Zeit in Anspruch genommen, so daß er annahm, daß sich keiner der geheimnißvollen Männer mehr in der Nähe befinde. Daher durfte er es wagen, den Ort auf dem gewöhnlichen Wege zu verlassen, und schritt nach einem ebenso aufregenden wie ereignißvollen Abende der Residenz wieder zu. - - -


Einführung "Scepter und Hammer"

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