Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Zweiter Band


Lieferung 26.

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»Nun, Sie sind Binder, der Wirth dieses Hauses, früher Diener beim Baron Otto von Helfenstein, dessen Tochter mich zu Ihnen sendet.«

»Mir saust's um die Ohren, als ob ich unter einem Baume stände, von welchem man Kürbisse schüttelt!«

»So machen Sie den Mund zu! Fällt ja ein Kürbis hinein, so ist es schwer, ihn wieder herauszubringen!«

»Mir ist's ganz so, als ob ich ihn schon verschluckt hätte!«

»Na, dann verdauen Sie ihn gesund! Jetzt aber setzen Sie sich her, und sagen Sie mir, ob Sie in letzter Zeit einen Brief von der Baronesse Alma von Helfenstein erhalten haben!«

»Ja, ich habe ihn.«

»Was stand darin?«

»Daß ein Geheimpolizist, Herr Arndt, aus der Residenz kommen, beim Förster Wunderlich absteigen und auch mich besuchen werde. Ich soll ihm allen Vorschub leisten.«

»Dieser Mann bin ich, mein lieber Binder!«

»Donnerwetter! Dann ist's aber nicht mehr geheim!«

»Wieso?«

»Der Schwarze wußte es bereits!«

»Das hat nicht viel zu sagen. Er verräth kein Wort.«

»Aber er will paschen!«

»Das ist möglich; aber wenn er wirklich pascht, so thut er es nur, um den Waldkönig zu fangen.«

Da wurde dem Wirthe das Herz leicht.

»Jetzt, jetzt geht mir ein Licht auf!« rief er. »Sie sind wohl gar Collegen?«

»Ja, und noch mehr als das.«

»Dann ist Alles gut! Ich dachte, daß er wirklich paschen wollte. Ich beabsichtigte, ihn zu täuschen, und habe daher ihn gegen Sie und Sie gegen ihn schlecht gemacht.«

»Gewiß!« lachte der Blonde. »Sie haben die Ansicht, daß er kein geistreicher Kerl sei, und ich noch viel weniger.«

»Verzeihung! Es war gut gemeint! Aber wo ist er hin?«

»Hier in meinem Überzieher steckt er.«

Der Wirth schüttelte den Kopf.

»Das begreife, wer es begreifen kann!« meinte er.

»So passen Sie auf!«

Er schlug die Schöße des Überrocks ein und zog ihn an, that einen Griff an den Gürtel, und sofort gingen zwei schwarze Hosenbeine nieder, ein schwarzer Bart aus der Tasche mit dem blonden vertauscht, eine blaue Brille aufgesetzt und die Mütze umgewendet - der Schwarze stand vor dem Wirthe. Sogar die Gesichtszüge schienen ganz andere geworden zu sein. Binder schlug die Hände zusammen und rief:

»Nein! Wer läßt sich so Etwas träumen! Es ist ganz Derselbe! Auf


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diese Weise allerdings war es möglich! Aber ich bin Ihnen ja nachgelaufen und habe Sie nicht auf der Straße gesehen! Dort konnten Sie übrigens diese Prozedur auch gar nicht vornehmen!«

»Das ist natürlich! Ich bin gar nicht auf die Gasse gekommen.«

»Wohin sonst?«

»Ich bin allemal eiligst in Ihre Küche gelaufen.«

»Dort ist aber meine Frau, mein Sohn und meine Tochter!«

»Allerdings! Die haben mir geholfen.«

»Was! Die haben es gewußt?«

»Längst vor Ihnen; noch bevor ich hinauf zu den Künstlern ging. Als ich hier ankam, waren Sie nicht anwesend, und so stellte ich mich den Ihrigen vor. Die drollige Umwechslung unternahm ich nur, um mich zu überzeugen, ob meine Verkleidung sich bewährt oder nicht.«

»So, so ist es! Also eine Verschwörung zwischen Ihnen und meiner Familie! Ich mußte getäuscht und dupirt werden! Na, wartet nur, jetzt komme ich!«

Er rannte in die Küche, aus welcher bald ein vierstimmiges, lustiges Lachen erscholl. Dann kehrte er zurück.

»Sind Sie nun befriedigt und beruhigt?« fragte Arndt.

»Ja, vollständig.«

»So nehmen Sie bei mir Platz! Ich freue mich, daß wir allein sind, Wir können also ohne Sorgen sprechen.«

»Ganz ohne Sorgen. Jetzt kommen keine Gäste, außer es fällt droben den Künstlern ein, herabzukommen.«

»Das werden sie bleiben lassen! Höchstens die Frau könnte Veranlassung nehmen, uns zu stören. Die Baronesse von Helfenstein hat mich an Sie adressirt, weil sie Ihre Anhänglichkeit und Treue kennt und darum überzeugt ist, daß wir uns nicht vergeblich an Sie wenden werden.«

»Diese Überzeugung kann sie vollständig hegen. Ich weiß zwar noch nicht genau, um was es sich handelt, glaube aber, es errathen zu können, da Sie mir bereits eine Andeutung gegeben haben.«

»Nun, was denken Sie?«

»Sie wollen den Pascherkönig fangen?«

»Das ist allerdings das Richtige, lieber Binder. Halten Sie es für möglich, daß ich ihn bekomme?«

»Für möglich wohl, aber für sehr schwer und gefährlich.«

»Das darf mich nicht zurückhalten.«

»Aber, was hat die Baronesse dabei zu thun?«

»Sie interessirt sich für die Sache um eines Mannes willen, den auch Sie gekannt haben; ich meine Gustav Brandt.«

»Ah, Brandt! Der brave, arme Kerl! Herr, ich kenne Sie nicht und weiß auch nicht, wie das zusammenhängt; aber wenn es sich um Brandt handelt, so thue ich für Sie Alles, was mir nur möglich ist!«

»Es handelt sich in Wirklichkeit um ihn.«


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»Lebt er denn noch?«

»Man hofft es. Und herzlich wünschenswerth wäre es, da sich eben jetzt erwarten läßt, daß seine Unschuld doch noch an den Tag kommen wird.«

»Herrgott! Welch eine Freude wäre das! Und nicht nur für mich, sondern auch für Wunderlich, den alten Förster. Werden Sie es ihm auch sagen?«

»Er weiß es bereits. Ich wohne ja bei ihm. Ich habe eine Ahnung, daß der Mörder des Barons und des Hauptmanns sich jetzt unter der Schmugglerbande des Waldkönigs befindet.«

»Das wäre! Herrgott, wenn man es herausbringen könnte!«

»Hoffen wir es! Der König aber muß auf alle Fälle mein werden! Ich gehe nicht eher von hier fort!«

»Wie aber wollen wir das anfangen?«

»Ich habe bereits eine Art von Plan fertig, kann mich aber darüber noch nicht verlauten.«

»Und was habe ich dabei zu thun?«

»Jetzt fast nichts. Ich erscheine in verschiedener Kleidung; ich muß bald hier, bald dort sein, bald in dieser und bald in jener Gestalt. Darum bedarf ich an einigen Orten bei verschwiegenen Leuten eines Absteigequartiers.«

»Das wünschen Sie auch von mir?«

»Ja.«

»Sie sollen es haben!«

»Ein Zimmer, welches außer mir kein Mensch betritt?«

»Kein Mensch nicht einmal ich.«

»Den Hausschlüssel, um zu jeder Minute hereinzukommen?«

»Gern, sehr gern!«

»Das ist Alles, was ich, außer dem tiefsten Stillschweigen, jetzt verlange. Lassen Sie mir das Zimmer vorrichten. Ich habe verschiedene Verkleidungsstücke mitgebracht, welche da aufbewahrt werden müssen. Übrigens, wenn Sie einen fremden Menschen in Ihrem Hause sich bewegen sehen, so brauchen Sie nur leise das Wort "Fürst" zu ihm zu sagen; antwortet er "des Elendes", so bin ich es. Es ist das gewisser Vorkommnisse wegen. Theilen Sie das auch den Ihrigen mit!«

»Fürst des Elendes? Ah, kennen Sie ihn vielleicht?«

»Ja. Ich bin sogar in seinem Auftrage hier.«

»Wirklich? Herrjesses, ist das eine frohe Überraschung! Vielleicht bekommen wir da hier den mächtigen, geheimnißvollen Herrn auch einmal zu sehen?«

»Sehr wahrscheinlich, aber nur, wenn Sie die größte Verschwiegenheit beobachten.«

»Daran werden wir es gewiß nicht fehlen lassen.«

»Das erwarte ich. Jetzt gehe ich. In vielleicht einer Stunde bin ich wieder da. Es würde mir lieb sein, wenn dann mein Zimmer bereit stände. Ich will da ein Wenig schlafen und gehe erst am Abende wieder fort.«


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Er ging. Jetzt endlich konnte der Wirth ihn über die Straße schreiten sehen. Sein Weg führte ihn nach dem Gerichtsamte, wo er sich nach dem Beamten erkundigte, welcher die Untersuchung gegen den Schreiber Beyer und dessen Tochter zu führen hatte. Da derselbe gerade nicht bei einem Verhöre beschäftigt war, so wurde Arndt sogleich vorgelassen.

Der Actuar betrachtete den Eintretenden, bot ihm einen Stuhl und fragte dann:

»Was wünschen Sie?«

»Ich komme in der Angelegenheit des Schreibers Beyer, welcher gestern hier eingeliefert wurde.«

»Haben Sie vielleicht Etwas für oder gegen ihn zu den Acten zu geben?«

»Nein. Ich möchte mir nur die Erkundigung gestatten, ob er und seine Tochter nicht auf Handgelöbniß entlassen werden könnten.«

Das Auge des Beamten ruhte wieder forschend auf dem Sprecher; dann fragte er:

»Welches Interesse haben Sie dabei?«

»Ein rein menschliches, kein persönliches.«

»Wer sind Sie?«

»Erlauben Sie mir, Ihnen dies noch zu verschweigen! Aber fragen möchte ich dürfen, ob Sie wissen, was gestern nach der Abführung der beiden Gefangenen geschehen ist?«

»Die Frau ist gestorben.«

»Das ist das Eine. Und das Andere?«

»Das Eine ist höchst traurig und das Andere im höchsten Grade interessant. Der sogenannte Fürst des Elendes soll beim Pfarrer gewesen sein, und zwar im Interesse der betreffenden Familie.«

»Soll? Er ist wirklich dagewesen!«

»Ich erfuhr es nicht amtlich, sondern nur gesprächsweise.«

»Ich komme in seinem Auftrage.«

Da fuhr der Actuar vom Stuhle auf.

»Im Auftrage des Fürsten des Elendes?«

»Ja, mein Herr.«

»So kennen Sie ihn?«

»Ich habe keine Erlaubniß, mich über diesen Punkt zu äußern. Vielleicht bin ich ein Diener von ihm oder einer seiner Agenten. Er hat mich beauftragt, die vorhin ausgesprochene Frage an Sie zu richten.«

»Welchen Grund hat er dazu?«

»Wie ich bereits sagte, einen rein menschlichen. Er fühlt inniges Mitleiden mit der Familie.«

»Wissen Sie, daß ich Ihnen nicht zu antworten brauche?«

»Ich weiß das, hoffe aber dennoch, eine Antwort zu erhalten.«

»Oder daß ich Sie für verdächtig erklären und in Folge dessen festhalten könnte?«

»Wer sich für Untersuchungsgefangene interessirt, kann allerdings verdächtig


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erscheinen. Von einem Festhalten aber ist keine Rede. Hier meine Legitimation!«

Er zog eine Karte hervor, welche nur die Worte enthielt: »In meinem Auftrage.« Darunter aber stand der wohlbekannte Namenszug und das Siegel des Justizministers.

»Das ist allerdings etwas Anderes, mein Herr!« sagte der Actuar, indem er die Karte mit einer tiefen Verbeugung zurückgab. »Ich vermuthe also in Ihnen einen Collegen?«

»Vielleicht vermuthen Sie nicht unrichtig. Also bitte, die Antwort auf meine Frage.«

»Hm! Nach dem, was das erste Verhör ergeben hat, sind beide Gefangene schuldig.«

»Welcher Verbrechen oder Vergehen?«

»Er des Widerstandes gegen die Staatsgewalt und sie des Diebstahls, vielleicht nicht einmal des einfachen. Das Mädchen kann auf keinen Fall entlassen werden, wenigstens nicht, bevor die Zeugen vernommen sind.«

»Aber der Vater?«

»Er ist geständig; er hat vor Aufregung nicht recht gewußt, was er that. Er könnte gegen eine Caution entlassen werden.«

»Wie hoch würde dieselbe sein?«

»Ich müßte mit dem Vorstande sprechen, glaube jedoch, daß hundert Gulden genügen werden. Wünschen Sie, daß ich diese Erkundigung einziehe«

»Ich bitte darum.«

»Wie soll ich Sie nennen, wenn ich nach Ihrem Namen gefragt werde?«

»Nennen Sie mich gar nicht, sondern zeigen Sie diese Karte vor, welche ich Ihnen zu diesem Zwecke wieder einhändige.«

»Und wenn der Vorstand Sie zu sehen und zu sprechen wünscht?«

»Ich glaube, ein amtlicher Grund zu diesem Wunsche ist nicht vorhanden!«

»Ich verstehe! Sie wünschen Ihr Incognito zu bewahren. Erwarten Sie mich hier.«

Er ging und kehrte bereits nach kurzer Zeit zurück.

»Ihr Wunsch ist erfüllt,« sagte er, »und zwar soll Beyer gegen die Hälfte der von mir vermutheten Caution auf Handgelöbniß entlassen werden.«

»Also blos fünfzig Gulden?«

»Ja.«

»Hier sind dennoch die hundert. Die übrige Hälfte soll ein Geschenk für ihn sein. Der Arme wird des Geldes bedürfen.«

Der Actuar betrachtete lächelnd den Hundertguldenschein, schob ihn leicht zurück und meinte:

»Wenn Sie wirklich ein College von mir sind, so müssen Sie wissen, daß ich dieses Geld nicht annehmen darf.«

»Ah! Warum?«

»Ich weiß nicht, von wem es ist.«


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»Vom Fürsten des Elendes, wie ich die Ehre hatte, Ihnen zu sagen.«

»Dieser geheimnißvolle Mann ist keine gerichtlich oder amtlich legitimirte Persönlichkeit. Ich brauche einen Namen.«

»Ja, die Obrigkeit hat ihre streng vorgeschriebenen Wege und Gebräuche. Aber da der Fürst des Elendes sich eben in's Geheimniß hüllt, und auch ich nicht befugt bin, mich zu nennen, so denke ich, daß wir uns an meine Legitimation halten müssen. Schreiben Sie also, daß die fünfzig Gulden gezahlt sind im Auftrage Sr. Excellenz des Herrn Justizministers!«

»Das wäre allerdings ein Ausweg.«

»Gut! So darf ich unsere Conferenz wohl als beendet betrachten?« .

»Noch nicht, denn ich habe Ihnen erst noch die Empfangsbescheinigung auszustellen.«

»Und wann wird der Gefangene entlassen?«

»Sofort. Ich werde ihn vorführen lassen, sobald Sie die Bescheinigung erhalten haben.«

Dies geschah aber doch nicht, sondern als Arndt kaum die Thür hinter sich zugemacht hatte, eilte der Actuar zunächst zu dem Vorstande.

»Er geht!« sagte er, hastig bei diesem eintretend. »Schnell, wenn Sie ihn sehen wollen!«

Der Vorstand trat rasch an das Fenster. Arndt ging langsam über den Platz.

»Dieser ist es,« erklärte der Actuar.

»Dieser also!« nickte der Vorstand. »Und Sie haben ihn genau angesehen?«

»Ja. Er war verkleidet.«

»Wieso?«

»Er trug Beinkleider nach Art der Kunstreiter, wenn diese sich im Sattel verwandeln. Ein einziger Zug genügt, die Hose erscheinen und verschwinden zu machen. Ich kenne das.«

»Sonderbar, höchst sonderbar! Waren Haar und Bart echt?«

»Wenn sie nicht echt waren, so war doch die Fälschung eine meisterhafte. Die Farbe derselben paßte genau zu dem Teint, doch schien gerade dieser mir ein Werk der Kunst zu sein, obgleich ich es zu beschwören nicht vermöchte.«

»Und diese Legitimation von unserer Excellenz! So ganz außerordentlich. Das läßt mich vermuthen, daß er der Fürst des Elendes selber ist.«

»Auch meine Ansicht.«

»Merken Sie sich den Mann genau. wVielleicht sehen wir ihn wieder. Jetzt aber ist er verschwunden. Entlassen Sie den Gefangenen!«

Der Actuar folgte dieser Weisung. Er kehrte in sein Zimmer zurück und ließ den Schreiber vorführen. Dieser trat herein, todtesbleich und mit niedergeschlagenen Augen. Der Actuar musterte ihn mit mitleidigem Blicke und fragte:

»Ich vermuthe, daß Sie sich nach der Freiheit sehnen, Beyer?«


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»Oh, wie sehr, Herr Actuar!« antwortete der Gefragte. »Was soll aus meiner Frau und den Kleinen werden, wenn ich gefangen bin!«

»Sie sind Alle versorgt.«

»Versorgt? Wieso?«

»Die Kinder befinden sich in Pflege beim Weber Hauser. Ein Wohlthäter hat die nöthigen Gelder gespendet.«

»Bei Hauser? Der ist brav. Aber warum sind sie nicht daheim?«

»Hm! Ich werde es Ihnen doch sagen müssen, damit Sie bei der Heimkehr nicht zu sehr erschrecken.«

»Erschrecken? Worüber? Mein Gott, was ist geschehen, was werde ich hören müssen!«

»Fassen Sie sich! Leid und Freud treffen sehr oft zusammen. Es hat Sie allerdings ein schwerer Verlust betroffen, aber Gott hat für den rechten Trost gesorgt. Ihre Kinder werden nicht mehr Hunger zu leiden brauchen!«

»Ein schwerer Verlust!« sagte der arme Mann. »Spannen Sie mich nicht lange auf die Folter, Herr Actuar! Sagen Sie es lieber gleich! Nicht wahr, meine Frau ist gestorben?«

»Ich kann diese Frage leider nicht verneinen!«

Da sank der Gefangene auf den Stuhl, neben welchem er stand, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte laut. Der Beamte ließ ihn einige Zeit gewähren, mahnte aber dann:

»Fassen und trösten Sie sich! Bei der langwierigen Krankheit der Verstorbenen mußten Sie immer auf den Tod gefaßt sein. Das müssen Sie bedenken!«

»Ja,« schluchzte der Arme. »Auf ihren Tod gefaßt, auf ein sanftes, leises Einschlafen in Gegenwart ihres Mannes und ihrer Kinder; auf ein Einschlafen, nachdem sie uns Gute Nacht gesagt hatte. Aber wie anders ist das gekommen!«

»Ein rascher Tod ist auch ein Glück!«

»So aber nicht! Sie ist vor Schreck gestorben! Ihre Tochter eine Diebin, und ihr Mann ein Aufrührer; Beide gefangen, in den Händen des Gensd'armes! Das hat ihr den Tod gegeben! Was liegt mir nun an der Freiheit und am Leben! Ich möchte mich zu ihr in den Sarg legen und auch sterben!«

»Fassen Sie Muth! Auch dieser Schmerz wird sich überwinden lassen!«

Beyer schüttelte den Kopf und sagte:

»Und wie wird man sie gebettet haben! In ein altes Tuch gewickelt, wird sie im Communesarg liegen! Herrgott! Eine Frau wie diese, und in einem solchen Sarge!«

»Sie irren! Der bereits erwähnte Wohlthäter hat auch für das Begräbniß der Todten gesorgt.«

»Wer ist er?«

»Man nennt ihn den Fürsten des Elendes.«


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»Dieser? Gott segne es ihm; Gott lohne es ihm in alle Ewigkeit! Könnte ich die Todte doch noch einmal sehen!«

»Sie können es. Es ist eine Caution für Sie erlegt worden. Ich kann Sie auf Handschlag entlassen, wenn Sie mir Ihr Wort und Ihre Unterschrift geben, sich der Urtheilsvollstreckung nicht durch die Flucht zu entziehen.«

»Wie gern, wie gern will ich es geben! Aber, wie wird meine Strafe ausfallen?«

»Sie werden eine kurze Kerkerhaft erhalten.«

»Und meine Tochter? Darf sie auch mit?«

»Nein.«

»Herrgott! Sie soll ihre Mutter nicht noch einmal sehen?«

»Es ist das leider nicht möglich!«

»So gehe ich auch nicht, Herr Actuar!«

»Handeln Sie nicht unsinnig! Bedenken Sie doch, daß Sie noch andere Kinder haben!«

»Andere Kinder! Ja! Aber ihre Mutter ist todt; ihre Schwester ist eine Diebin, und ihr Vater wird im Kerker sitzen.«

»Vielleicht nimmt die Untersuchung gegen ihre Tochter ein unerwartet besseres Ende.«

»Herr Actuar, ich erwarte Nichts. Sie ist unschuldig, unschuldig wie die liebe Sonne am Himmel; aber ich kenne Die, welche sie verderben wollen. Ich bin so unvorsichtig gewesen, von dem Ringe zu plaudern, und da sind sie mir zuvorgekommen. Sie kennen weder Gnade noch Barmherzigkeit.«

»Man soll die Hoffnung nicht sinken lassen. Sehen Sie diesen Hundertguldenschein! Die Hälfte davon gehört Ihnen.«

»Mir. Von wem?«

»Auch vom Fürsten des Elendes.«

Der arme Mann blickte freudlos auf das Geld.

»Herr,« sagte er, »was nützt mir alles Geld! Mein Weib ist todt, und unsere Ehre ist dahin. Kann die Todte auferstehen? Kann die Ehre wiederkommen?«

»Sie sehen zu schwarz. Die Arretur hat Sie erschreckt, und im Kerker ist Ihnen der Lebensmuth verloren gegangen. Sobald Sie hinauskommen, werden Sie Hoffnung schöpfen.«

»Ich will es versuchen. Also ich darf gehen?«

»Nachdem Sie das Entlassungsprotocoll unterschrieben und mir dazu Ihren Handschlag gegeben haben!«

Dies geschah. Er wurde entlassen und erhielt vom Actuar eine Anweisung über fünfzig Gulden an die Amtskasse. Als er die Thür bereits in der Hand hatte, fragte er nochmals:

»Also, Herr Assessor, meine Tochter darf nicht mit mir gehen?«

»Leider nein.«

»Und ich darf sie auch jetzt nicht sehen?«

»Nein, das darf ich nicht gestatten.«


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»So sei der liebe Gott mit ihr!«

Er senkte den Kopf und ging. Er vergaß, sich nach der Kasse zu verfügen. Er dachte gar nicht daran. Er ging nicht durch die Stadt, sondern machte einen weiten Umweg um dieselbe. Er, der noch in Untersuchung stand, der Vater einer Diebin, wollte sich nicht sehen lassen.

Es war Winter, und die Tage waren noch kurz. Noch aber war es hell, und daher mied er die gebahnte Straße. Kein Mensch sollte ihn sehen, ihn, der gestern gefesselt fortgeschleppt worden war.

Er watete durch den tiefen Schnee. Die immer steigende Kälte drang durch seine schlechten Stiefel und das dünne, abgetragene Röckchen. Er fühlte es nicht.

»Todt! Todt! Vor Schreck gestorben!« murmelte er immer vor sich hin. »Auch ich bin todt! Moralisch gestorben! Ich habe keine Ehre mehr! Ich muß in den Kerker!«

Er hatte nichts gegessen; er hatte ja stets, stets gehungert! Er wurde müde; er setzte sich. Der Schlaf, der gefährliche Schlaf wollte ihn übermannen, aber ein Gedanke war stärker noch als die Müdigkeit:

»Sie ist todt!« flüsterte er. »Sie hat mit mir gedarbt und gehungert, mit mir gelitten und gekummert, und nun ist sie gestorben ohne mich. Ich muß zu ihr, hin zu ihr!«

Er raffte sich auf und schleppte sich weiter. Die Nacht brach herein. Die Luft war still, aber die Kälte wurde schneidig. Er bog nach der Straße ein. Kaum als er diese erreicht hatte, kam ein Schlitten gesaust. Beyer trat auf die Seite; aber der Lenker des Schlittens hielt vor ihm an; er hatte die schlotternde Gestalt des Frierenden erkannt.

»Donnerwetter! Kennst Du den, Onkel?« fragte er.

Es war Fritz Seidelmann. Sein Oheim, der fromme Schuster, saß neben ihm, Beide in warme Pelze gehüllt. Sie wollten die »Künstlervorstellung« besuchen.

»Der?« fragte der Vorsteher der Seligen. »Ah! Ist das nicht Euer Schreiber?«

Ker, wo kommst Du her? »Der Gewesene natürlich! Kerl, wo kommst Du her? Du bist doch nicht etwa aus der Gefangenschaft entflohen?«

»Man hat mich entlassen,« antwortete Beyer monoton.

»Und Ihre Tochter mit, die Sünderin?« fragte der Oheim.

»Nein.«

»So laß ihn, Fritz! Das Böse ist mächtig in der Welt, aber die Gerechtigkeit ist schneller. Siehst Du, wie er bebt, wie er zittert? Hörst Du das Klappern seiner Zähne? Das böse Gewissen hat ihn gepackt und wird ihn nicht wieder fahren lassen. Es wird für ihn sein Heulen und Zähneklappern jetzt und in alle Ewigkeit. Fahr zu!«

Der Schlitten setzte sich wieder in Bewegung. Beyer sagte Nichts und dachte Nichts; er schlotterte taumelnd weiter. Er wollte umsinken vor Hunger


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und vor Müdigkeit, aber der eine Gedanke, der Gedanke an die Todte trieb ihn vorwärts.

So erreichte er das Heimathstädtchen. Der Athem stockte ihm in der Brust vor Kälte.

»Bei Hausers sind die Kinder,« murmelte er. »Ich muß sie einmal hören, einmal sehen. Aber mich sehen, nein, das soll man nicht!«

Auch hier ging er um den Ort herum und stieg von hinten über den Zaun in Hausers kleines Gärtchen ein. Der Schnee ging ihm bis über die Kniee empor. Er näherte sich dem Fensterladen, in welchem sich ein Astloch befand. Er blickte durch dasselbe. Die Familie saß beim Abendessen; seine Kinder waren dabei. Auf dem Tische dampfte eine Suppe, in welche die Löffel fleißig langten.

»Sie essen!« flüsterte er. »Oh, sie werden satt, satt, satt! Ich habe - keinen Hunger, keinen, keinen!«

Und doch hielt er sich an der Ladenquerstange fest, um nicht umzufallen. Er beobachtete jede Bewegung seiner Kinder. So verging eine Viertelstunde, dann flüsterte er:

»Horch, jetzt betet er! Jetzt liest er vor!«

Und da erscholl die Stimme des alten, frommen Webers:

»O laß den Gram nicht mächtig werden,
Du tief betrübtes Menschenkind!
Wiß, daß die Leiden dieser Erden
Des Himmels beste Gaben sind.
Und daß, wenn Sorgen Dich umwogen,
Und Dich umhüllt des Zweifels Nacht,
Dort am vom Glanz umflossnen Bogen
Ein treues Vaterauge wacht!«

Einige Augenblicke blieb es still. Der Alte räusperte sich und mochte seine Brille zurecht rücken. Dann fuhr er fort:

»O, laß Dir nicht zu Herzen steigen
Die lang verhaltne Thränenflut!
Wiß, daß grad in den schmerzensreichen
Geschicken tiefe Weisheit ruht.
Und daß, wenn sonst Dir nichts verbliebe,
Die Hoffnung doch Dir immer lacht,
Da über Dich in ewger Liebe
Ein treues Vaterauge wacht!«

»Ein treues Vaterauge!« flüsterte Beyer. »Ja, Kinder, ein Vaterauge hat Euch gesehen, ohne daß Ihr es ahnt. Gute Nacht! Schlaft wohl! Gottes Vaterauge wird weiter über Euch wachen!«

Seine Beine, seine ganzen Gelenke waren steif geworden. Er vermochte kaum, sich zu bewegen. Endlich ging es. Er stieg über den Zaun zurück und watete weiter fort.

»Wo wird sie sein?« fragte er. »Auf dem Gottesacker! Im Leichenhause! Hin, hin zu ihr!«

So arbeitete er sich weiter, immer weiter! Er erreichte die Pforte des


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Friedhofes. Sie war nicht verschlossen. In jenen Gegenden haben die Todten vor den Lebenden Ruhe; man braucht die Thore, welche aus dem Dasein führen, nicht mit Schlüsseln zu versperren. Er trat ein und schritt auf das Leichenhaus zu.

Auch dieses war nicht verschlossen. Der Mond schien hell, und als Beyer die Thür öffnete, fielen die falben Strahlen in das Innere.

»Da liegt sie, da!« sagte er.

Es gab in dem kleinen Städtchen kein Sargmagazin, also keine fertigen Särge zu kaufen. Starb Jemand, so wurde der Sarg beim Tischler bestellt, und dieser hatte sich zu sputen, um ihn bis zur Stunde des Begräbnisses fertig zu bringen. Die Leiche lag auf einer Bank, zugedeckt mit einem Leinentuche.

Beyer trat hinzu, zog die Bank dahin, wo der Schein des Mondes sich an der Mauer abzeichnete, und nahm das Tuch hinweg. Er fürchtete sich nicht vor dem hageren, ausgemergelten, eiskalten und steifen Körper, auch nicht vor den starren Zügen, welche ihm im Mondscheine scharf entgegentraten.

Er nahm die Todte in seine Arme, preßte sie an sich und weinte leise, als ob er sie erwecken könne.

»Martha, Martha,« flüsterte er dann. »Weißt Du, wie ich Dich zum ersten Male in den Armen hielt? Du warst so lieb und so gut, und wir waren so glücklich, so selig! Unsere Herzen waren warm, und wir glaubten an die Menschen. Dann kam es anders, anders, anders! O Gott, Du lieber, lieber Gott, ist es denn möglich, daß es so ganz, ganz anders kommen kann? Wir haben gehungert, damit die Kinder nicht verhungern sollten! Die Entbehrung, das nackte Elend hat an unserem Leben genagt, und Andere, die reich wurden durch uns, schwelgten im Überfluß und stießen uns mit Füßen. Dich warf der Hunger auf das Krankenlager, der Hunger, der Hunger allein, o Gott! Und ich stand am Pulte, summirte die Reichthümer und schlang meine glühenden Thränen hinab. Nun sind wir die Eltern einer Diebin, und ich soll in den Kerker zurück. Dich hat der Schreck erschlagen, und ich halte Dich zum letzten, zum allerletzten Male in den Armen. Was einst so glücklich war, so warm, das Herz, es ist jetzt so starr, so kalt, kalt, kalt! Komm, ich will Dich fester umfassen; ich will Dich umschlingen, umarmen! Du bist mein Weib, mein treues, gutes Weib, und wir verlassen uns nicht, weder im Leben noch im Tode!«

Er drückte sie an sich und küßte sie auf den bleichen, starren Mund, als ob sie noch am Leben sei. Dann fuhr er fort:

»Horch, Martha! Hörst Du, wie ich für uns bete? Ich sollte nicht beten, sondern fluchen! Aber nein! Ich denke an Niemand; ich habe jetzt Dich, nur Dich allein, und ich segne Dich! Ja, Du Gute, Du Liebe, Du Treue! Der Herr segne und behüte Dich! Der Herr erleuchte sein Angesicht auf Dich und sei Dir gnädig! Der Herr erhebe sein Angesicht über Dir und gebe Dir Frieden! Amen!«

Nun wurde es still in der Todtenhalle. Nur zuweilen erklang ein leises


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Rascheln wie von steif gefrorenen Kleidern. Der Mond ging seinen Gang; sein Schein glitt von der Gruppe fort, nach rechts, immer an der Wand hin und endlich zur Thür hinaus, durch welche die grimmige Kälte der Wintersnacht hereindrang. -

Am Morgen erzählte man sich im Orte eine seltsame Kunde. Der Todtengräber hatte das Grab der Schneidersfrau beginnen wollen und war dabei in die Leichenhalle gekommen. Dort hatte er die Todte gefunden - in den Armen ihres Mannes liegend. Auch er war todt. Aber noch vor dem Scheiden hatte er seinem Weibe die Anweisung auf fünfzig Gulden in die erstarrte Hand gedrückt.

Viele, viele gingen hinaus auf den Kirchhof, um das seltsame Paar zu sehen. Auch der Arzt kam. Er constatirte, daß der Schreiber erfroren sei - ob seit Jahren langsam verhungert? Pah! Niemand glaubt mehr, daß ein Mensch wirklich verhungern kann! - -

Das Weib des Akrobaten hatte, während der Knabe vor Schwäche, Jammer und Weinen in Schlaf versunken war, bei den drei Bewußtlosen gesessen, um ihr Erwachen ruhig abzuwarten. Zuerst allerdings hatte sie ernstlich besorgt, daß sie todt seien; aber bald hatte sie bemerkt, daß ihr Athem ruhig ging und ihre Pulse deutlich schlugen. Dadurch war sie beruhigt worden.

Und gerade so, wie der Fremde es gesagt hatte, so geschah es. Eine Stunde vor der Kassenöffnung zu der beabsichtigten Vorstellung erwachte Einer nach dem Anderen. Keiner konnte sich zunächst auf Das besinnen, was geschehen war; als aber die Frau ihrem Gedächtnisse zu Hilfe kam, konnte sich der Riese vor Wuth kaum lassen. Er fluchte und tobte. Er schlug mit der Peitsche auf den Kleinen ein, dem er die Schuld an dem Vorgefallenen ganz allein beimaß. Dann begab er sich in den Saal, wo noch einige Vorbereitungen zu treffen waren. Er ließ sich hier Branntwein geben, um seinen Ärger hinab zu spülen, wie er sich ausdrückte, und trank so schnell und viel, daß ihm die beiden Anderen die Flasche endlich wegnahmen, da sie befürchteten, er möchte so betrunken werden, daß die Vorstellung nicht stattfinden könne.

Während dann die Frau sich an die Kasse setzte, begaben die Anderen sich hinauf, um ihre Flitter anzulegen.

In abgelegenen Gegenden ist es selten, daß sich einmal »Künstler« sehen lassen; geschieht dies aber doch, dann ist diesen herumziehenden Wanderern fast immer ein zahlreicher Besuch gewiß. So auch hier.

Der Saal war nicht sehr groß. Er füllte sich nach kurzer Zeit, und die Frau wagte es sogar, einige kleine Silberstücke für heimlichen Gebrauch zu annectiren.

Da, wo sich sonst das Orchester öffnete, war heute ein Vorhang zu sehen, zwar nicht aus Meisterhand stammend, aber doch von Leinwand und mit hübschen, bunten Farben bemalt. Das Publikum, welches vor diesem Vorhange zu warten hatte, war ein ungeduldiges. Noch war die Zeit des Beginnes nicht gekommen, als man bereits durch Pochen, Klopfen und Strampeln den Anfang zu beschleunigen versuchte.


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Die Herrschaften, welche auf den vorderen Bänken saßen, nahmen an dieser Demonstration allerdings nicht theil. Strampeln kann nur der Plebs. Sie aber, die Honoratioren des Ortes, die Angehörigen des Casino, wußten, wie man an öffentlichen Orten seine Distinction zu bewahren habe. Sie blieben ruhig, bis der heisere Ton einer Schelle ertönte und der Vorhang sich in die Höhe bewegte.

Man erblickte einen schwarz verhängten Tisch, auf welchem verschiedene Gegenstände, Büchsen, Gläser, Messer, Kugeln, lagen, mit denen die Künstler ihre Productionen begannen. Dann folgten Karten= und andere Kunststücke, bis im letzten Theile die eigentlichen Leistungen der Athletik beginnen sollten. Dieser Theil sollte, wie das Programm verkündete, mit der weltberühmten und erstaunlichen »Pyramide« anfangen.

Der Knabe erschien, in glitzernde Tricots gekleidet. Er sollte, nach der Ankündigung, die Vorstellung durch seine eminenten Kautschukkünste beschließen. Der Eindruck, welchen er auf die Zuschauer machte, war ein recht guter.

»Der kleine Junge! Ein hübscher Knabe! Ein allerliebstes Kind!« konnte man flüstern hören. »Wie gut gewachsen! Wie blaß er aussieht! Er scheint sich vor dem Riesen zu fürchten!«

Dieser Letztere hatte während der ganzen Vorstellung eine auffallende Unsicherheit gezeigt. Er wankte stark; er taumelte sogar zuweilen, und schließlich hatte die Ansicht, daß er betrunken sei, im Publikum Wurzel geschlagen. Jetzt verkündete er mit beinahe lallender Stimme den Beginn der Pyramide.

Er stellte sich breitspurig auf, wankte aber.

»So steh doch fest!« hörte man ihm von dem Einen zuraunen.

Dies mochte dem Knaben Muth geben. Man hörte seine zwar nur halblaute, aber doch klare Stimme bitten:

»Oh, nicht da hinauf! Ich fürchte mich so sehr!«

Der Riese faßte ihn bei den Haaren, riß ihn hin und her und antwortete, auch ziemlich vernehmlich:

»Verfluchte Kröte! Soll ich Dich endlich todtschlagen? Hinauf mußt Du, und wenn Du zehnmal den Hals brichst!«

Und mit lauter Kommandostimme fügte er hinzu:

»Achtung! Eins! Zwei! Drei!«

Bei Eins und Zwei sprangen ihm seine Gefährten auf die Achseln. Bei Drei erfaßte er den Knaben und schnellte ihn empor. War's sein Zorn oder seine Betrunkenheit oder auch Beides zugleich - er hatte zu viel Kraft angewendet. Der Knabe flog hoch bis zur Decke empor, ohne daß er von den Beiden ergriffen werden konnte.

Ein einziger Schrei, aber aus allen Kehlen, erscholl im Saale; dann that es einen lauten, fürchterlichen Krach. Der Kleine war aus dieser Höhe herabgestürzt, und zwar mit dem Kopfe auf das Geländer des Orchesters.

Einen Augenblick lang gab es die Stille des Todes. Dann aber gab es ein geradezu fürchterliches Durcheinander von Stimmen und Personen. Alle wollten nach der Stelle hin, wo der Knabe ohne Bewegung lag, und ein Jeder


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und Jede wollte der oder die Erste sein. Einige der vorn Sitzenden hatten die Geistesgegenwart, die Menge zurück zu drängen und mit lauter Stimme zur Ruhe zu ermahnen. Unter ihnen befand sich auch Doctor Werner, der bekannte Knappschafts= und Armen Arzt. Er näherte sich dem Knaben und that, als ob er ihn untersuche. In Wahrheit aber war es nur ein gleichgiltiger Blick, den er auf ihn warf.

Auch der Amtmann war anwesend. Er hatte sich herbeigedrängt und kniete vor dem Kleinen nieder.

»Ohnmächtig nur! Nicht wahr, Herr Doctor?« fragte er

Der Arzt zuckte die Achsel, bückte sich nieder, befühlte den Hals des Knaben und antwortete:

»Todt!«

»Um Gotteswillen! Das wollen wir nicht befürchten!«

»Pah! Den Hals gebrochen!«

»Ist das gewiß und wirklich wahr?«

»Glauben Sie, daß ich ein Pfuscher bin, Herr Amtmann?«

Der Genannte legte dem Knaben in der Gegend des Herzens die Hand auf den dünnen Trikot=Stoff. Er fühlte nicht die mindeste Bewegung dieser Lebensmuskel.

»Wahrhaftig, er ist todt!« rief er. »Welch ein entsetzlicher Fall!«

Alle Anwesenden hörten es, und der Aufruhr, welcher jetzt entstand, war unbeschreiblich. Einige Damen fielen in Krämpfe oder hysterisches Lachen. Sie mußten entfernt werden. Der Bürgermeister, als Inhaber der höchsten Polizeigewalt im Städtchen, eilte herbei, gefolgt von dem anwesenden Schutzmann und Gensdarmen.

»Der Todesfall muß constatirt werden, gerichtlich constatirt!« sagte er. »Man hat nach dem Gerichtsarzte zu senden!«

Dadurch fühlte sich Doctor Werner beleidigt:

»Herr Bürgermeister,« sagte er, »meinen Sie vielleicht, daß ich einen Todten von einem Lebendigen nicht zu unterscheiden vermag?«

»So habe ich das nicht gemeint,« erklärte das Oberhaupt der Stadt. »Aber der Herr Amtmann wird auch sagen, daß ich hier meine Pflicht zu thun habe. Sie aber sind nicht Gerichtsarzt!«

»Ah, so halten Sie eine gerichtliche commission für nöthig?«

Bei diesen Worten des Arztes blickte der Bürgermeister betroffen empor.

»Ah,« sagte er, »so allerdings habe ich das nicht gemeint!«

»Wie sonst?«

»Ich meine nur, daß der Tod zu constatiren sei.«

»Dazu ist das Zeugniß eines jeden Arztes zureichend.«

»Außer es handelt sich um ein Verbrechen!«

Diese letzteren Worte hatte ein Herr gesagt, dem es gelungen war, sich durch die Menge herbei zu drängen. Die drei Herren blickten ihn an; sie kannten ihn nicht. Der Bürgermeister betrachtete ihn mit einem forschenden Blicke, zuckte die Achseln und fragte abweisend:


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»Sie meinen?«

»Daß nur im Falle eines Verbrechens eine gerichtliche Leichenschau nothwendig sein würde.«

»Das wissen wir auch. Dazu bedürfen wir keines fremden Rathes. Oder wollen Sie sagen, daß hier ein Verbrechen vorliege?«

»Ja,« nickte der Fremde.

»Herr, bedenken Sie, was Sie thun!«

»Herr Bürgermeister, ich weiß ganz genau, was ich sage.«

»Das scheint aber nicht der Fall zu sein. Wir Alle sind Zeugen des Ereignisses gewesen. Wir Alle haben gesehen und müssen gesehen haben, daß hier nur ein höchst unglückseliger Zufall vorliegt.«

»Ich denke, daß Sie sich irren,« sagte der Fremde in kaltem Tone.

»Herr, wer sind Sie?«

Es war still im Saale geworden. Alles schwieg, um der Unterhaltung zu lauschen. Auch die Künstler standen starr und lautlos, noch unter dem Einflusse des Schreckes. Der Riese war augenblicklich nüchtern geworden. Aller Augen waren auf den Fremden gerichtet. Er hatte rothes Haar, rothen Vollbart, trug die gewöhnliche Kleidung der dortigen Gegend, machte aber doch nicht den Eindruck, als ob er ein Mitglied der arbeitenden Klasse sei. Die Frage des Bürgermeisters machte ihn nicht im Geringsten verlegen. Er zuckte die Achseln, ganz so wie dieser vorhin, und antwortete:

»Ich werde nachher die Ehre haben, mich zu legitimiren. In Gegenwart so vieler Zeugen habe ich das natürlich nicht nothwendig. Haben Sie gehört, was der unglückliche Knabe vor Beginn der Production sagte, Herr Bürgermeister?«

»Allerdings!«

»Und was ihm sein Gebieter antwortete?«

»Auch.«

»Der Knabe wollte sich nicht an der Pyramide betheiligen!«

»Es schien so!«

»Sein Herr aber zwang ihn!«

»Hm!«

»Das Kind besaß jedenfalls nicht die Übung und Körperkraft, welche zu einer solchen Schaustellung unumgänglich nothwendig ist.«

»Was geht das uns an?«

»Ihnen jedenfalls wenigstens ebenso viel wie mir. Ich ersuche Sie, sich dieser sogenannten Künstler zu bemächtigen.«

»Was fällt Ihnen ein?«

»Nur das, was Ihnen bereits vor mir eingefallen sein sollte!«

»Herr!« braußte der Bürgermeister auf.

»Bitte, bleiben wir ruhig! Es versteht sich ganz von selbst, daß diese Leute unter die Anklage der fahrlässigen Tödtung zu stellen sind. Ich nehme an, daß dies auch Ihre Ansicht ist, Herr Amtmann?«

Dieser nickte zustimmend. Der Fremde fuhr fort:


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»Wir Alle haben gesehen, daß dieser Chef der Künstlertruppe, welcher sich Bormann nennt, betrunken war.«

»Das ist wahr!« ließen sich einige Stimmen vernehmen.

»Er wankte und taumelte zusehends.«

»Wir sind Zeugen!« riefen noch mehrere.

»Er warf den Knaben zu hoch. Dies konnte eben nur ein ganz Betrunkener thun!«

»Herr!« rief jetzt Bormann, in dem er näher trat. »Ich bin nüchtern, vollständig nüchtern! Oder wollen Sie mich untersuchen?«

»Pah!« antwortete der Fremde. »Sie stinken nach Schnaps. Der Schreck hat Sie nüchtern gemacht.«

»Was geht Sie überhaupt die ganze Sache an?«

»Sehr viel, wie Sie sogleich sehen werden!«

Er bückte sich nieder, knöpfte die Tricotjacke des Kleinen auf, entblößte den Rücken, deutete mit der Hand nach demselben und rief mit erhobener Stimme:

»Sehen Sie her, meine Herren! Ist das menschlich?«

Ein dunkelblaues, blutrünstiges Fleisch war zu sehen.

»Herrgott!« sagte der Amtmann. »Wovon ist das?«

»Von den Schlägen, welche das arme Kind erhalten hat. Enthüllen wir die Leiche weiter.«

Dies geschah, und hundert Rufe des Entsetzens ließen sich rundum hören. Nicht nur der Rücken des armen, gemarterten Kindes, sondern der ganze Körper zeigte die Spuren der fürchterlichen Peitsche. Hieb lag neben Hieb, und es gab Stellen, an denen die dicken Schwielen aufgeplatzt waren, so daß das rohe Fleisch zwischen den Hautrissen hervorblickte. Es war ein scheußlicher Anblick.

»Wollen Sie auch jetzt noch diese Unmenschen frei laufen lassen, Herr Bürgermeister?« fragte der Fremde.

»Nein,« antwortete der Gefragte. »Aber wie haben Sie von diesen Mißhandlungen erfahren können?«

Da ließ der Fremde ein geheimnißvolles Lächeln sehen und antwortete:

»Ich bin allwissend, mein Herr.«

»Allwissend? Wie meinen Sie das?«

»Der Herr Amtmann mag es Ihnen unter vier Augen sagen. Hier, wollen Sie meine Legitimation lesen?«

Er griff in die Tasche, zog eine Karte hervor und gab dieselbe dem Amtmanne. Dieser las, wie bereits heute einmal: »In meinem Auftrage. Der Justizminister.«

Der Beamte warf einen Blick des Erstaunens auf den Fremden.

»Herr,« sagte er. »Es ist mir heute schon eine solche Karte gezeigt worden.«

»Eine solche? Nein. Es war ganz dieselbe.«

»Dieselbe? Wie? Dient sie denn mehreren Personen als Legitimation?«


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»Nur einer einzigen.«

»Aber Der, in dessen Hand ich sie erblickte, war ein Anderer als Sie!«

»Wohl nicht, ich selbst hatte die Ehre, sie dem Herrn Actuar zu präsentiren, der sie nachher Ihnen zeigte.«

»Aber der Herr, von dem Sie sprechen, war doch -«

Er hielt inne, denn ein lauter Schrei war erschollen.

Der riesige Künstler war nämlich jetzt zu der Ansicht gekommen, daß seine Lage eine gefährliche sei. Er blickte sich um und wischte sich dabei auf eine eigenthümliche Weise im Auge. Das hatte ganz und gar das Aussehen, als ob er mit dieser an und für sich bedeutungslosen Bewegung eine besondere Absicht verbinde. Diese Absicht schien erreicht zu sein, denn er nickte heimlich nach einer bestimmten Gegend hin.

Heimlich? Er dachte es wohl, aber es war doch bemerkt worden. Das scharfe Auge des Fremden hatte, trotzdem er mit dem Amtmanne und dem Bürgermeister sprach, die Bewegung und das Nicken gesehen. Rasch drehte er sich nach der Richtung um, welche der Blick des Riesen genommen hatte und gewahrte - Fritz Seidelmann, welcher ganz ebenso sich das Auge wischte.

Kannten sich die Beiden? Oder war das im Auge Wischen ein Erkennungs=, ein geheimes Zeichen? Der Fremde hatte keine Zeit darüber nachzudenken, da er gerade jetzt im Begriffe stand, dem Amtmanne seine Karte abzunehmen.

Der Riese wendete sich zu seinen beiden Collegen und raunte ihnen zu:

»Wir lassen uns nicht arretiren! Schnell durch die beiden Fenster und hinauf auf den Boden!«

»Aber da fangen sie uns!« flüsterte Einer der Beiden.

»Dummkopf! Können wir in den Tricots fort? Eins! Zwei! Drei!«

Dies war der Augenblick, an welchem der vielstimmige Schrei im Saale erschollen war. Von dem Platze aus, welcher als Bühne diente, führten zwei Fenster hinaus in den Hof. Sie waren zwar verschlossen, aber der Riese that einen Satz nach dem Einen, holte aus und zertrümmerte mit einem einzigen Schlage das Fensterkreuz. Ein Sprung, und er stand im Hofe.

Der Zweite folgte ihm. Der Dritte war an das andere Fenster getreten, hatte einen Flügel desselben aufgerissen und sprang auch hinaus. Bis jetzt war es gelungen.

»Sie fliehen! Sie reißen aus!« rief es rundum.

»Haltet sie fest!« schrie der Bürgermeister.

Er wendete sich nach der Saalthüre.

»Halt! Nicht dort hin, sondern ihnen durch's Fenster nach!« rief der Fremde in gebieterischem Tone. »Das geht schneller!«

Er riß dem Amtmanne, welcher vor Überraschung ganz steif dastand und die Karte in der Hand hielt, dieselbe aus den Fingern, steckte sie ein und sprang zum Fenster hinaus. Er kam gerade zur rechten Zeit, um zu sehen, daß der Letzte der Drei in der Thüre verschwand, welche nach dem Boden führte, auf welchem die Künstler wohnten.


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Im Hofe stand auf einer leeren Tonne eine brennende Laterne. Er ergriff sie um nachzueilen. Aber als er die Thüre erreichte, bemerkte er, daß dieselbe von Innen verriegelt sei. Er trat mit dem Fuße dagegen; aber sie war stark und gab nicht nach.

Unterdessen kamen Andere dazu, unter ihnen der Wirth.

»Wo sind sie hin?« fragte er.

»Hier hinein.«

»Dann rasch nach!«

»Sie haben die Thür hinter sich verriegelt.«

»Dann dort durch den Stall! So kommen wir auch hinauf! Sie werden durch das Seiten= nach dem Hauptgebäude wollen. Man mag ihnen im Hausflur und auf der Straße den Weg verlegen, damit sie dort nicht zu den vorderen Fenstern herausspringen können!«

Dies geschah augenblicklich. Er glaubte, einen guten Rath gegeben zu haben, und doch war es der schlechteste, den es gab.

Die Drei waren nämlich die Treppe emporgesprungen. Sie hatten die Bodenkammer erreicht, welche ihnen als Aufenthalt diente. Dort brannte ein kleines Lämpchen.

»Was nun?« fragte der Eine.

»Zunächst die Thüre verrammeln!« gebot der Riese. »Sie werden nicht lange auf sich warten lassen; wir aber müssen sie aufhalten.«

Er ergriff einige starke Stangen, welche in einer Ecke lehnten, und legte sie gegen die Thür, während er sie an die nahe Fenstermauer stemmte. Jetzt war es schwer, den Eingang zu erzwingen.

»Die Kleider und Stiefel an!« gebot er dann.

Die Anzüge wurden in fieberhafter Eile über die Tricots geworfen. Dabei fragte der Eine:

»Aber ohne Geld?«

»Donnerwetter! Die Alte ist mit der Abendeinnahme unten!«

»Und Kasse haben wir nicht!«

»Macht Euch keine Sorge! Kasse wird! Rasch dort die Wäschleine herab und zum Fenster hinaus!«

»Ah! So geht es! Das ist das Beste!«

»Ja. Wir sind dann in den Gärten, und ich möchte Den sehen, der uns fängt!«

Die Leine war stark. Sie konnte mehr als nur einen Menschen tragen. Sie wurde an einem Balken befestigt, und eben als die Drei sich anschickten, aus dem Fenster zu steigen, hörten sie die polternden Schritte ihrer Verfolger, welche mit den Fäusten und Füßen an die Thür polterten.

»Umgekehrt!« rief Einer. »Sie wollen hinten hinab in die Gärten!«

»Verdammt!« flüsterte der Riese. »Das ist dieser unbekannte Hallunke! Der Kerl hat tausend Teufel im Leibe! Macht rasch!«

Es bedurfte seiner Mahnung nicht. Eine Minute später hatten sie glücklich den Boden erreicht, sprangen über mehrere Zäune und hatten dann das freie Feld vor sich.


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»Wohin jetzt?« lautete die Frage.

»Dort hinüber in den Wald,« antwortete der Große. »Da sind wir sicher. Aber lauft Galopp, damit sie uns auch nicht von Weitem erblicken, wenn sie in den Garten kommen!«

Es begann ein Dauerlauf, der sie nach zehn Minuten durch den tiefen Schnee unter die schützenden Bäume des Waldes brachte. Dort blieben sie stehen. Ihr Athem flog.

»Verdammte Geschichte!« fluchte der Eine. »Was nun machen? Wir sind flüchtig, ohne Geld und ohne Alles!«

»Dummkopf!« antwortete der Riese. »Denkst Du denn nicht an den Hauptmann?«

»An den? Der ist ja in der Residenz? Wie sollte der uns helfen können?«

»Und doch wird er uns helfen! Er ist überall!«

»Unsinn!«

»Ich weiß, was ich sage. Er ist überall, das heißt, er hat allüberall seine Verbündeten.«

»Mag sein! Aber wir kennen sie leider nicht.«

»Das ist nicht nöthig, denn wir werden sie kennen lernen.«

»Aber wie? Es ist überhaupt eine ganz verfluchte Patsche, in welcher wir da stecken! Und wer ist schuld daran?«

»Nun, wer?« fragte der Riese in giftigem Tone.

»Du natürlich!«

»Ich? Ah! Wie meinst Du das, he?«

»Hättest Du den Jungen nicht so malträtirt!«

»Der Bube verdiente es. Übrigens, bin ich es allein gewesen, der ihm die Peitsche hat kosten lassen?«

»Aber nicht in der Weise wie Du! Und warum hast Du heute gesoffen, bis Du nicht mehr konntest?«

»Hört, macht mir den Kopf nicht warm! Ihr wißt, daß ich in dieser Weise nicht mit mir reden lasse! Man muß die Pflaumen nehmen, wie sie wachsen. Wir gehen über die Grenze, bis die Geschichte vergessen ist.«

»Das wird lange dauern. Und die Alte?«

»Pah! Die macht, was sie will! Ich bin ganz glücklich, daß ich sie losgeworden bin.«

»Das ist noch das einzig Gute bei der Geschichte. Aber woher nun Geld nehmen? Denn ohne dieses geht es nicht.«

»Das werden wir womöglich heute noch bekommen.«

»Möchte wissen, von wem?«

»Nun, rathe einmal!«

»Da ist sehr leicht rathen: Von Niemandem!«

»Oho! Es ist ein verdammt berühmter Kerl, der uns aus der Patsche helfen wird! Nämlich der - Pascherkönig!«

»Donnerwetter!«


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»Ja, ja! Jetzt staunt Ihr!«

»Du weißt ja gar nicht, wo er zu finden ist!«

»Wer hat Dir das weiß gemacht? Ich bin in die Geheimnisse des Hauptmannes viel besser eingeweiht als Ihr, sogar viel besser als mein Bruder, der so dumm gewesen ist, sich in der Residenz fangen und einstecken zu lassen. Ihr müßt nämlich wissen. daß der Hauptmann mit dem Waldkönig in Verbindung steht. Es giebt gewisse Orte, wo man anklopfen kann, und wir Eingeweihten kennen sie.«

»Dann müßte einer hier in der Nähe sein!«

»Das ist er auch.«

»Wo?«

»Ganz in der Nähe der Nachbarstadt, wo ein großes Bergwerk ist. Der Ort, welcher zum Anklopfen benutzt wird, ist allemal die größte Eiche der betreffenden Gegend.«

»Da klopft man an den Baum?«

»Dummkopf! In allen diesen Eichen giebt es ein geheimes Kästchen, welches als Auskunftsbureau gebraucht wird. Man findet zu jeder Zeit den Namen Dessen darin, an den man sich zu wenden hat.«

»Das klingt sehr romantisch.«

»Ist aber ebenso wahr wie practisch.«

»Und da drüben steht eine solche Eiche?«

»Ja. Ich kenne sie genau. Ich habe sie bereits einmal gesehen, aber leider bevor ich das Geheimniß kannte.«

»So wollen wir machen, daß wir hinkommen!«

»Ja; es wird Zeit. Aber wir müssen jeden gebahnten Weg vermeiden, sonst werden wir gesehen und erwischt!«

Sie brachen auf und hielten sich immer mitten im Walde.

Unterdessen hatten die Verfolger, als sie den Garten erreichten, bemerkt, daß sie zu spät gekommen seien. Man erging sich in Verwünschungen. Man hielt Rath, was zu thun sei, um sie einzufangen. Der Fremde aber zog sich rasch zurück und gab dem Wirthe einen Wink, ihm zu folgen. Sie traten mit einander hinter die offene Kellerthür.

»Wer sind Sie, Herr?« fragte der Wirth.

»Fürst -«

»Des Elendes? Ah, Herr Arndt! Aber, zum Teufel, in wie vielerlei Gestalten laufen Sie denn eigentlich in der Welt herum?«

»In nicht mehr, als nöthig sind, mein Lieber. Aber, ich habe keine Zeit. Sagen Sie, haben Sie nicht ein Pferd für mich?«

»Hm! Einen alten Klepper, ja. Wozu?«

»Zum Reiten.«

»Sapperment, das ist wagehalsig! Der Braune hat noch keinen Menschen auf dem Rücken gehabt.«

»Thut nichts! Ich muß schnell nach Hause. Ich bringe oder schicke das Pferd morgen wieder.«


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»Aber, ich habe keinen Sattel.«

»Ich reite auch ohne Sattel. Führen Sie den Gaul heraus, ganz so, wie er im Stalle steht.«

»Na, ich möchte es nicht versuchen! Aber, warum wollen Sie so eilig fort, und zwar zu Pferde?«

»Es ist mir ein Gedanke gekommen. Sind die Seidelmann's schon fort?«

»Sie haben bei mir gar nicht ausgespannt. Warum?«

»Darum. Bringen Sie das Pferd!«

Der Wirth gehorchte, und wenige Minuten später jagte Arndt zum Städtchen hinaus.

Fritz Seidelmann hatte unter den Zuschauern einige Bekannte getroffen, Mitglieder des Casino, unter ihnen auch den Sohn des Kaufmannes Strauch. Dieser schloß sich ihm an, als er sich jetzt mit dem frommen Schuster nach der Ausspannung begab.

»Das war ein Schauspiel, wie ich keines wieder sehen möchte,« bemerkte Strauch während des Gehens.

»Ja; es ist schade um den Kleinen!« antwortete Fritz.

»Schade?« fragte der Fromme. »Das will ich nicht sagen. Die Wege des Herrn sind wunderbar, und er führet Alles herrlich hinaus! So sagt die heilige Schrift.«

»Nennen Sie das herrlich, was wir heute gesehen haben?«

»Es kann herrlich sein.«

»Um Gotteswillen!«

»Der Allgütige hat den Knaben zu sich gerufen, damit er vor noch größerer Verwahrlosung verschont bleibe. Er war ein Kind der Gottlosen. Der Teufel hatte seine Krallen bereits nach ihm ausgestreckt. Ihm ist sehr wohl geschehen!«

Sie hatten die Ausspannung erreicht.

»Kehrst Du noch einmal mit ein?« fragte Fritz den Bekannten.

»Danke! Mir ist ganz übel geworden.«

»Wegen des Jungen? Mache Dich nicht lächerlich!«

»Es war mir schon vorher nicht recht wohl zumuthe!«

»Also fühlst Du Dich unwohl?«

»Ja, allerdings!«

»Aber doch nicht etwa bedeutend? Ich hoffe, daß Du morgen die Maskerade nicht zu versäumen brauchst!«

»Ich komme.«

»Schön! Also, gute Nacht!«

»Gute Nacht! Aber halt, noch eine Frage!«

»Was denn?«

»Hm! Man hat mir da heute eine eigenthümliche Legende aufgebunden. Sage einmal, Fritz, glaubst Du wirklich, daß es einen Pascherkönig giebt, oder gehört er in das Reich der Phantasie?«

»Sapperment! Warum fragst Du nach ihm?«

»Es wurde über Tische von ihm erzählt.«


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»Was?«

»Verschiedenes! Mein Vater behauptete da sogar: Wenn der Waldkönig irgend Jemandem einen Befehl gäbe, so müsse man gehorchen, wenn man nicht verloren sein wolle. Glaubst Du das?«

»Hm! Ja.«

»Auch wenn der Befehl ein schriftlicher ist?«

»Auch dann. Ich würde nicht wagen, zu widerstehen. Hat denn Jemand einen solchen Befehl bekommen?«

»Wer soll das wissen. Der ihn erhält, ist ja gezwungen, das tiefste Schweigen zu bewahren.«

»Sehr richtig! Man sagt, daß der Waldkönig jede Plauderei mit dem Tode bestraft. Aber Du scheinst einen Grund zu haben, Dich nach diesen Dingen zu erkundigen. Nicht wahr?«

»O nein, nein, nein! Ich dachte nur so daran, weil heute so viel erzählt worden war. Gute Nacht!«

Er ging. Und als er um die nächste Ecke getreten war, brummte er leise vor sich hin:

»Eine verdammte Geschichte! So komme ich um das ganze Vergnügen. Der Waldkönig hat geschrieben; ich muß gehorchen und darf nicht einmal darüber sprechen, nicht einmal zu meiner Braut! Was er nur für einen Grund haben mag? Aber den Anzug wenigstens werde ich aufsagen dürfen. Hm! Wunderbar!«

Und als die beiden Seidelmann's im Schlitten saßen und die Stadt hinter sich hatten, sagte der Fromme:

»Du, Dein Freund kam mir sehr verdächtig vor!«

»Mit seiner Frage nach dem Pascherkönige?«

»Ja. Er hatte eine Absicht, einen gewissen Grund. Das habe ich ihm ganz genau angehört.«

»Das glaube ich nicht. Er ist sehr aufrichtig.«

»Aber heute war er es nicht. Mache Dich morgen an ihn und suche seine Absicht zu erfahren. Man muß sehr vorsichtig sein.«

»Zu dieser Vorsicht habe ich heute anderweit viel größeren Grund als bei ihm.«

»Das wäre? Ist Etwas passirt, was ich nicht weiß?«

»Hast Du es denn nicht bemerkt?«

»Was?«

»Das Zeichen, welches mir der große Akrobat gegeben hat?«

»Der? Du, wie kommt der dazu, Dir das Zeichen zu geben?«

»Weiß ich es?«

»Wenn er es Dir gegeben hat, so muß er doch genau wissen, daß -«

»Daß - nun, was?«

»Daß gerade Du zu den Eingeweihten gehörst.«

»Nein, das weiß er nicht, wie ich glaube. Als er sich das Auge wischte, blickte er sich suchend im Saale um.«


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»Und Du hast geantwortet?«

»Ja.«

»Höre, das ist mehr als Unvorsichtigkeit; das ist geradezu Unverstand!«

»Es war ein Wenig voreilig gehandelt; das gebe ich zu. Man ist es gewöhnt, sofort zu antworten.«

»Aber hier hättest Du es nicht thun sollen. Du wirst ihn nun auf dem Pelze haben und nicht wieder los werden.«

»Wer weiß, ob er mich gekannt hat.«

»Ich wollte, Du wärest ihm fremd gewesen. Du wirst Dich einige Tage nicht auf der Straße sehen lassen dürfen.«

»Aber wie nun, wenn er die Eiche kennt?«

»Das ist unwahrscheinlich. Er ist ja nicht von hier!«

»Aber er ist vielleicht in der Residenz gewesen und kennt das geheime Zeichen. Das läßt vermuthen, daß er mit dem Hauptmann zusammengetroffen ist.«

»Wollen es abwarten. Aber vorsichtig und zurückhaltend müssen wir sein. Ich wollte heute den großen Zug mitmachen, nun aber werde ich mich hüten. Ich bleibe daheim.«

»Und ich ziehe mich auch zurück, wenn ich die Befehle gegeben habe.«

»Aber ein Anführer muß ja doch sein.«

»Hast Du den Schmied vergessen?«

»Ach ja, der Schmied von Helfenstein stößt mit seinen Leuten zu uns. Weiß er von uns?«

»Nein. Er weiß nur von der Eiche. Bis jetzt weiß noch kein Mensch, wer der hiesige Pascherkönig ist.«

»Das wird heute ein Fischfang, größer als der von Petrus, von dem die Bibel erzählt. Hast Du aber die Grenzer benachrichtigt?«

»Ja. Sie gehen nach dem Finkenfang, während wir durch den Haingrund brechen. Sie mögen warten, bis sie schimmelig werden.«

Als Arndt das kleine Städtchen erreichte, ritt er im Galopp durch dasselbe und bog dann nach der Forsthausstraße ein. Er hatte dieselbe noch nicht lange verfolgt, so sah er einen Mann vor sich, den er bald einholte und erkannte. Er hielt das Pferd an.

»Ah! Sie sind es?« fragte er. »Guten Abend!«

Eduard Hauser war es, der erstaunt den fremden Reiter betrachtete, der ihn zu kennen schien.

»Guten Abend!« antwortete er. »Womit kann ich dienen?«

»Dienen? Ach so! Sie kennen mich nicht. Der Fürst -«

»Des Elendes!« fügte Eduard sofort hinzu. »Wer hätte gedacht, daß Sie es sind! Ich wollte zu Ihnen.«

»Warum?«

»Ich war in der Schenke. Da saßen Zwei, welche mir höchst eigenthümlich vorkamen. Als ich eintrat, guckte mich der Eine sehr scharf an und wischte sich dabei das Auge mit der Hand.«


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»Ah! Das fiel Ihnen auf?«

»Beim ersten Male noch nicht, aber es kamen Mehrere, und allemal wischte sich der Mann das Auge.«

»Gab es Jemand, welcher antwortete?«

»Zwei. Sie fuhren sich, gerade wie er, mit der Hand nach dem Auge.«

»Mit welcher Hand und nach welchem Auge?«

»Beides rechts.«

»Das ist allerdings eine sehr wichtige Entdeckung. Haben Sie vielleicht diese Beiden, von denen Sie sprechen, erkannt?«

»Ja. Es waren zwei hiesige Einwohner, zwei Nichtsnutze, mit denen Niemand einen Verkehr haben mag.«

»Schön! Merken Sie sich diese Beiden! Und die Zwei, von denen der Eine das Zeichen gab? Waren auch diese Ihnen bekannt?«

»Nein. Sie waren nicht von hier.«

»Alt oder Jung?«

»Der Eine war ein Greis mit grauem Haar, aber kräftig. Der andere schien sein Sohn zu sein.«

»Suchen Sie zu erfahren, wer sie gewesen sind.«

»Soll ich zurückkehren?«

»Nein. Sie können ja morgen den Wirth fragen. Ich brauche Sie jetzt. Kommen Sie mit nach dem Forsthause. Ich muß weiße Betttücher für uns holen. Wir beobachten heute.«

»Ich habe ein Betttuch bei mir.«

»Einstecken?«

»Hier unter dem Rocke.«

»Das ist gut. Da ersparen Sie den Weg. Also gehen Sie jetzt sogleich nach - hm! Nein, das geht nicht. Ich kenne Sie noch nicht genau und weiß nicht, ob Sie vorsichtig sein können.«

»O, was das betrifft, so können Sie sich auf mich verlassen!«

»Sie glauben, sich unbemerkt anschleichen zu können?«

»An die Eiche, meinen Sie? Gewiß! Kein Mensch wird mich bemerken. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

»Nun, so wollen wir es einmal versuchen. Gehen Sie also zur Eiche und beobachten Sie dort, was geschieht. Ich komme nach.«

»Sie denken, daß es heute dort Etwas zu erlauschen giebt?«

»Ja; ich habe eine Ahnung davon. Doch, hören Sie! Ich glaube mich zu besinnen, daß fast in unmittelbarer Nähe der Eiche eine ziemlich große Tanne oder Fichte steht. Nicht?«

»Es ist eine Fichte.«

»Ja. Ihre Zweige sind sehr dicht. Die untersten sind gar nicht weit vom Boden entfernt und reichen weit herüber.«

»Das giebt ein gutes Versteck.«

»Ich sehe, Sie verstehen mich. Aber während Sie darunter kriechen, nehmen Sie sich in Acht, daß der Schnee auf den Zweigen bleibt. Ich


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