Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Vierter Band


Lieferung 63.

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»Ja. Sie befindet sich in sicherem Gewahrsam.«

»Und Laura? Was wird unterdessen mit ihr? Muß sie bis zum Ende der Untersuchung in Haft bleiben?«

»Hm! Ich möchte daran zweifeln.«

»Wirklich? Sie meinen, daß man sie freilassen werde?«

»Ja, das ist freilich meine Meinung, Es ist sogar möglich, daß man bereits Schritte gethan hat, sie aus ihrer unverdienten Gefangenschaft zu entlassen.«

»Was Sie sagen! Hört, Kinder, hört! Unsere Laura ist unschuldig! Sie soll entlassen werden! Sie wird wieder kommen! Aber, mein liebster, mein bester Herr Holm, von wem sind diese Schritte gethan worden?«

»Von Emilien.«

»Von Em - - - welche Emilie meinen Sie denn?«

»Nun, die Ihrige natürlich!«

»Meine Tochter? Ich verstehe Sie nicht. Welche Schritte soll denn die gethan haben?«

»Das ist doch sehr einfach: Sie ist nach Rollenburg gemacht, um ihre Schwester nach Hause zu bringen.«

»Wie? Was? Wie kommen Sie mir vor? Sie hat sich ja vermiethet, und ist da ganz zufällig nach Rollenburg, weil die Truppe dort auftritt.«

»Und ich bin überzeugt, daß sie nach Rollenburg ist, um Laura zu holen. Ich habe es aus einem sehr sicheren Munde.«

»Sie werden immer räthselhafter. Sie wissen doch, daß sie als Kassirerin angestellt ist.«

»Nein, das ist sie nicht.«

»Was denn? Ich habe ja das vierteljährliche Gehalt pränumerando ausgezahlt erhalten.«

»Ja, geschenkt haben Sie es bekommen!«

»Herr Holm, ich kenne Sie als Ehrenmann, sonst würde ich behaupten, daß Sie sich einen dummen Spaß mit mir machen!«

»Ich spreche sehr im Ernste. Ich traf mit einem Herrn zusammen, der heute mit Ihrer Emilie gesprochen hat.«

»Wer ist es?«

»Ein sehr gescheidter Arzt, der auch heute noch zu Ihnen kommen wird, um zu untersuchen, ob Ihre Frau noch Heilung zu finden vermag.«

»Mein Gott! Bei diesen Reden werde ich nur wüster im Kopfe. Wie kommen Sie zu diesem Arzte? Wie kommt er auf meine Frau? Und wie kommt er mit Emilie zusammen?«

»Er hat sie in Rollenburg getroffen und da von ihr gehört, daß sie mit Laura nach Hause fahren werde.«

»Das begreife, wer da kann!«

»Dann sind die beiden Schwestern mit ihm eingestiegen.«

»Eingestiegen? Wo?«

»In den Zug natürlich!«


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»Beide Schwestern, sagen Sie?«

»Ja.«

»Da wäre ja auch Laura dabei!«

»Freilich, ja!«

»Und Sie haben hier mit ihnen gesprochen? Sie sind also hier?«

»Natürlich sind sie mit da!«

Der Theaterdiener war ganz perplex. Er bat:

»Herr Holm, legen Sie mich doch nicht auf das glühende Rost! Was Sie da sagen, ist ja vollständig unmöglich!«

»Unmöglich? Überzeugen Sie sich doch selbst!«

Er öffnete die Thür, trat hinaus, schob die beiden Mädchen herein und machte die Thür hinter ihnen zu.

»Laura!« schrie drinnen Werner laut auf.

»Laura, Laura!« erscholl es von allen ihren Verwandten.

»Jetzt ist Freude und Seligkeit!« flüsterte Holm für sich hin. »Nun kann Unsereiner gehen.«

Er stieg die vier Treppen hinab. Unten stand der Hausverwalter Solbrig. Er stellte sich dem jungen Manne in den Weg und fragte ihn:

»He, sagen Sie einmal, kamen Sie nicht eben mit zwei Frauenzimmern über den Hof?«

»Ja.«

»Wer waren die Beiden?«

»Warum fragen Sie?«

»Ich bin der Stellvertreter des Wirthes. War nicht die Emilie Werner dabei?«

»Ja.«

»Ich denke, die hat sich vermiethet! Und wer war die Andere?«

»Ihre Schwester.«

»Die Zuchthäuslerin?«

»Ja.«

»Ist die begnadigt?«

»Nein, sie ist unschuldig und also entlassen worden. Und nun geben Sie den Weg frei. Wenn Sie noch Weiteres wissen wollen, so gehen Sie hinauf zu Werners.«

Er ging. Draußen auf der Straße blieb er einen Augenblick lang überlegend stehen.

»Dieser Circusdirector ist der Bruder des Intendanten. Ich muß unbedingt wissen, ob er bei ihm gewesen ist,« sagte er sich. »Aber wie dies erfahren? Am Besten ist es, ich wende mich an diesen liebenswürdigen Jean.«

Er wendete sich nach der Wohnung des Intendanten und fand den Diener im Vorzimmer. Jean begrüßte ihn in vertraulich vornehmer Weise und sagte, stolz lächelnd:

»Ich weiß, weshalb Sie kommen, Herr Holm!«

»Da müßten Sie allwissend sein!«


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»Gegenwärtig bin ich es!«

»Nun also, weshalb komme ich?«

»Sie sind Reporter. Sie wollen mich interviwen!«

»Dieser Gedanke ist sehr wohlfeil.«

»Aber jedenfalls richtig.«

»Worüber meinen Sie denn, daß ich Sie ausfragen werde?«

»Über die Leda.«

»Hm! Möglich.«

»Aber ich kann Ihnen keine Auskunft geben.«

»Warum nicht?«

»Niemand weiß, wo sie ist. Dieses Frauenzimmer hat den Teufel im Leibe. Sie macht sich den romantischen Scherz, zu verschwinden, um sich suchen zu lassen. Der Herr Intendant schickte mich bereits zweimal nach dem Hotel Kronprinz, aber vergebens.«

»Gab man denn keine Auskunft?«

»Man sagte, Mademoiselle Leda sei auf sehr kurze Zeit verreist. So ein Gedanke von ihr!«

»Ja, ja, es ist sehr abenteuerlich von ihr. Ist der Herr Intendant zu Hause?«

»Nein. Er ist zum Musikdirector, um sich mit diesem über das Verschwinden der Tänzerin zu besprechen.«

»Aber sein Bruder ist doch anwesend?«

»Welcher Bruder?«

»Der Herr Circusdirector Baumgarten.«

»Kennen Sie ihn denn?«

»Sehr gut. Ich habe mit ihm zu sprechen.«

»O, den finden Sie nicht mehr. Er ist bereits vorgestern fort. Er war gar nicht lange Zeit hier.«

»Sapperment! Wie dumm von ihm!«

»Dumm? Wieso denn?«

»Er sagte mir, daß ich ihn wegen der Emilie Werner aufsuchen solle. Er wollte sie engagiren, und ich sollte ihm dabei behilflich sein, weil ihr Vater auf mein Wort viel giebt.«

»Da kommen Sie zu spät, bester Herr.«

»Wieso?«

»Er hat sie.«

»Wirklich? Wissen Sie das genau?«

»Ja. Die Sache war überhaupt spaßhaft. Er hat sie sich nämlich vorher auf der Bühne genau angesehen.«

»Hm! War sie denn auf der Bühne?«

»Ja, zur Probe. Da haben die beiden Brüder hinter dem Vorhange gesteckt. Höchst interessant, denn sie hat gar nichts als nur Tricots getragen.«

»Waren denn Sie dabei?«

»Nein.«


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»Wie können Sie da die Angelegenheit so genau wissen?«

Da steckte Jean die Hand in die Weste, richtete sich stolz auf und antwortete in gemessenem Tone:

»Herr Holm, Sie beleidigen mich!«

»Wieso?«

»Sie halten mich für einen Dummkopf.«

»Das bestreite ich sehr. Ich halte Sie vielmehr für einen sehr erfahrenen und umsichtigen Herrn.«

»Und doch wissen Sie sich meine Allwissenheit nicht zu erklären? Ich habe mit dem Regisseur gesprochen.«

»Ach so, da ist allerdings alles leicht zu erklären.«

»Na, also! Ich muß Ihnen leider sagen, daß der Herr Director Baumgarten sich nicht mehr hier befindet. Ich bin sehr beschäftigt. Haben Sie noch Etwas?«

Er sagte dies in der Art einer Audienz ertheilenden fürstlichen Persönlichkeit. Holm hätte ihm am Liebsten laut in das Gesicht gelacht. Doch blieb er ernst und sagte:

»So verzeihen Sie gütigst die Störung, Monsieur Jean. Ich empfehle mich!«

»Adieu, Herr Holm! Ein anderes Mal länger! Adieu!«

Holm lachte in sich hinein. Er hatte seinen Zweck erreicht und begab sich nun in die Expedition des Commissionsrathes, von dem er einen ungewöhnlichen Empfang zu erwarten hatte.

Er bemerkte bei seinem Eintritte sofort, daß er sich allerdings mit dieser Vermuthung nicht geirrt habe, denn als der Rath ihn erblickte, fuhr er von seinem Stuhle empor und fragte unter Stirnrunzeln:

»Endlich, endlich! Warum lassen Sie sich nicht früher sehen?«

»Ich war zu beschäftigt.«

»Zu beschäftigt? Ihre Beschäftigung hätte Sie doch gerade zu mir führen müssen. Sie haben jedenfalls die heutige Nummer des Residenzblattes gelesen.«

»Nein.«

»Was! Noch nicht?«

Der Rath zog in zorniger Verwunderung die Brauen hoch empor. Holm zuckte die Achsel und meinte:

»Es war mir nicht möglich, weil ich keine Zeit hatte.«

»Keine Zeit! Aber, Herr Doctor, gerade darauf sollen Sie Ihre Zeit doch am Ersten verwenden!«

»Entschuldigung! Es gab heute früh viel Nöthigeres.«

»So begreife ich Sie nicht. Für mich giebt es nichts Eiligeres, als zu erfahren, in welcher Weise Sie diese Sippe vom Residenztheater ad coram nehmen werden.«

»Gerade deshalb war ich von hier abgehalten.«


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»So! Wirklich? Na, dann könnte es allerdings als Entschuldigung gelten.«

Holm ließ ein leises Lächeln hören und bemerkte:

»Zudem ich mir wohl sagen darf, daß es mir erlaubt sein wird, über meine Zeit zu verfügen!«

»Natürlich! Sie sind Mitarbeiter und nicht Bureaudiener. Aber Sie wissen ja, daß ich mich für diese Angelegenheit fast fieberhaft interessire, und so dachte ich, daß Sie Rücksicht nehmen und mich nicht warten lassen würden. Hier ist die heutige Nummer des Residenzblattes. Da!«

Er deutete mit dem Finger auf die betreffende Stelle. Holm nahm das Blatt und las:

»Der gestrige Abend brachte auf unserer Bühne eine Vorstellung, wie Sie interessanter wohl niemals gegeben worden ist. Es schien in unserer Stadt sich im Stillen eine Spaltung vollzogen zu haben. Man hatte sich in zwei Lager getheilt. In dem einen schwor man zur Leda und im anderen zur Amerikanerin.

Die Ersteren waren es, welche es mit der Kunst ernst nehmen, und zu diesen haben wir zu aller Zeit gehört. Was wir erwartet und vorausgesehen hatten, geschah. Mademoiselle Leda glänzte in einer Leistung, welche Alles in's höchste Entzücken versetzte. Sie ist eine Künstlerin von Gottes Gnaden und wird wohl nie ihres Gleichen finden.

Im anderen Lager hatten sich die Stillen im Lande, die Schleicher gesammelt. Unter diesen bemerkten wir natürlich auch die Vertreter desjenigen hiesigen Blattes, welches von Hochmuth strotzt, weil es meint, von Seiten der Aristokratie, der Regierung inspirirt zu sein. Auch sie waren auf den Bänken erschienen, aber nur, um zu sehen, welch' einen jämmerlichen Fall die Amerikanerin that. Wir hatten dieser Miß Starton bereits den Platz in der Kunst angewiesen, welcher ihr gehört, nämlich gar keinen. Und ganz so, wie wir es vorausgesetzt hatten, zeigte es sich, daß sie nicht werth sei, die Schuhriemen der Leda auch nur zu berühren.

Diese Letztere erreichte einen so ausgesprochenen Triumpf, daß an betreffender Stelle sofort beschlossen wurde, ihr noch an demselben Abende ihr Engagement zu erklären. Es begab sich zu diesem Zwecke eine Deputation nach ihrer Wohnung, welche aber leider die gefeierte Künstlerin nicht anwesend fand. Wenn unsere freundlichen Abonnenten diese Zeilen lesen, wird aber Mademoiselle Leda bereits wissen, daß wir glücklich sind, sie als ersten Stern an unserem Theaterhimmel festhalten zu dürfen.

Wir sind überzeugt, daß unsere Gegner hiermit eine Lehre erhalten haben, welche ihnen ebenso nöthig wie unvergeßlich sein wird. Man kann leicht Rath sein, ohne Rath zu wissen, und nicht jeder sogenannte Leiter eines sogenannten Regierungsblattes hat das Zeug, seine Commissionen richtig auszuführen.«

Holm legte die Zeitung von sich und schüttelte den Kopf.

»Nun, was sagen Sie dazu?« fragte der Commissionsrath.


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»Daß ich diese Leute für frivol, für gewissenlos, nie aber für so dumm gehalten habe.«

»Dumm? Können Sie ihnen nachweisen, daß sie dies sind?«

»Ja.«

»Öffentlich?«

»Gewiß.«

»Das ist höchst wünschenswerth. Wer ist der Verfasser?«

»Der Chefredacteur. Ich kenne seinen Styl.«

»Was sagen Sie besonders zu dem letzten Passus?«

»Daß er ebenso unverschämt wie deutlich ist.«

»Natürlich bin ich gemeint.«

»Diese Überzeugung liegt nahe.«

»Donnerwetter! Ein Rath, der keinen Rath weiß!«

»Wollen Sie sich ärgern?«

»Fast möchte ich! Gerade in diesem Augenblicke kommt es mir vor, als ob dieser Mensch recht habe. Ich weiß nämlich im Moment wirklich nicht, wie ich ihn am Allerbesten fassen, greifen und züchtigen soll.«

»Ich bitte, das mir zu überlassen.«

»Haben Sie denn einen Gedanken?«

»Eine ganze Reihe von Gedanken!«

»Herrlich! Lassen Sie hören!«

»Ich bitte um Geduld!«

»Geduld? Morgen muß aber in unserer Nummer dieser pöbelhafte Angriff auf das Energischeste zurückgewiesen werden. Und jetzt sprechen Sie noch von Geduld!«

»O, ich werde ihn nicht nur zurückweisen, sondern ich werde diese Jungens züchtigen, wie man eben nur Jungens züchtigt.«

»Sie schaffen also einen Aufsatz herbei?«

»Ja.«

»Ist er bereits stylisirt?«

»Nein.«

»Sapperlot, so beeilen Sie sich.«

»Am Liebsten würde ich die Zeilen gleich jetzt und hier bei Ihnen schreiben.«

»Das ist das mir Allerangenehmste. Dort ist der Schreibtisch. Setzen Sie sich.«

»Schön! Vorher aber erst eine nothwendige Frage! Ich will ehrlich und offen sein. Man greift uns aus dem Verstecke an; ich aber öffne mein Visier. Darf ich?«

»Ja. Thun Sie das.«

»Schön! So kann es beginnen.«

Er nahm an dem Tische Platz, legte sich einen Bogen Papier zurecht, und dann glitt seine Feder mit leisem, raschem Knistern über das weiße Blatt.

Der Commissionsrath befand sich in einer leicht erklärlichen Aufregung.


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Er war noch nie auf eine so infame Weise angegriffen worden und brannte nun von Begierde, Holm's Eingabe zu lesen. Darum ging er unruhig im Zimmer auf und ab und verfolgte dabei mit seinen Blicken die gewandte Hand des früheren Reporters.

Da endlich legte dieser die Feder weg, stand auf und hielt dem Rathe den Bogen entgegen.

»Fertig!« sagte er. »Es sollte mich freuen, wenn diese Zeilen Ihre Zustimmung fänden, da sie ja die ersten sind, welche ich für Sie verfasse.«

»Wollen sehen.«

Der Rath machte ein höchst erwartungsvolles Gesicht, trat an das Fenster und begann zu lesen. Bereits nach den ersten Zeilen unterbrach er die Lectüre, wendete den Kopf zurück und sagte:

»Brav so! Sie sagen gleich, wo Sie sind und was Sie wollen. Das ist ehrlich und mannhaft.«

Er las weiter. Seine Brauen stiegen höher und höher; sein Gesicht zeigte eine von Secunde zu Secunde wachsende Spannung; er stellte sich von einem Beine auf das andere; er begann, unruhig und immer unruhiger zu werden, stieß die seltsamsten Ausrufe aus und drehte sich endlich, als er zu Ende war, mit einem raschen, energischen Rucke wieder zu Holm herum.

»Mensch! Mann! Holm! Doctor! Sind Sie verrückt?«

Der Gefragte stieß ein kurzes aber herzlich klingendes Lachen aus und antwortete:

»Diese Frage läßt mich vermuthen, daß mein Aufsatz Ihren Beifall leider nicht findet.«

»Beifall? Wie kann ich solchen Phantasieen meinen Beifall geben?«

»Phantasieen? Es sind Wirklichkeiten!«

»Unmöglich!«

»Ich kann Wort für Wort beweisen!«

»Das wäre! Es ist ja gar nicht menschenmöglich, daß die Punkte, welche Sie hier aufzählen, auf Wahrheit beruhen können! So Etwas kommt ja gar nicht vor!«

»Ich wiederhole, daß ich bereit bin, Ihnen die untrüglichsten Beweise zu bringen.«

»Wenn es Ihnen ja gelingen sollte, mich an die Wahrheit dieser Behauptung glauben zu lassen, so enthielte allerdings ein jedes Ihrer Worte einen Keulenschlag für unsere Gegner. Ihre Erstlingsarbeit wäre ein Meisterstück; trotz der kurzen Zeit, die Sie darauf verwendet haben, würde ich es doch mit hundert Gulden honoriren, die ich Ihnen auszahlen ließ!«

»Danke! Ich quittire ergebenst. Bei so anständigem Honorar bleibe ich treuer Mitarbeiter.«

»Also Sie bleiben wirklich bei der Behauptung, daß Sie das volle Recht besitzen, zu sagen, was Sie hier geschrieben haben?«

»Ja.«


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»Na, ich will bei ruhigem Blute bleiben! Prüfen wir also vorsichtig Alles, was Sie bringen!«

Er las:

»Ein so hämisches Machwerk wie der gestrige Bericht des Residenzblattes über die Vorstellung der "Königin der Nacht" ist wohl kaum jemals gelesen worden. Ich glaube, behaupten zu können, daß kein Anderer als der Chefredacteur des genannten Blattes der Verfasser ist. Ebenso klar ist es wohl jedem Leser, wer unter jenem "Rathe, der keinen Rath weiß" gemeint ist. Der betreffende, hochachtbare Herr hält es natürlich unter seiner Würde, auf eine so bubenhafte, schriftliche Anrempelung eine Antwort zu geben. Da aber eine solche Gemeinheit unbedingt an den Pranger zu stellen ist, so übernehme ich es, die geehrten Leser unseres Journales über die Art und Weise, in welcher man bei uns "Sterne" engagirt, aufzuklären. Ich fühle mich dazu berufen, weil ich in meiner früheren Stellung zum Residenzblatte am besten Gelegenheit hatte, Erfahrungen zu sammeln. Und entgegen dem verdeckten, hinterlistigen Angriffe, werde ich Namen nennen und auch so ehrlich sein, den meinigen unter diese Zeile zu setzen.«

Hier hielt der Rath inne.

»Bis hierher ist es gut. Da hat ein jedes Wort meinen Beifall,« sagte er. »Aber weiter!«

Er fuhr fort:

»Bemerken muß ich vorher, daß ich, als das Residenzblatt den ersten Vergleich zwischen Mademoiselle Leda und Miß Ellen Starton anstellte, den Chefredacteur dieses Blattes aufsuchte, um ihm in untrüglichen Unterlagen den Beweis zu liefern, daß er über die letztgenannte Dame nichts weiter als einfach frech gelogen habe. Ich wurde abgewiesen und brach mein Verhältniß zu ihm ebenso ab.«

»So, auch das ist gut! Aber weiter! Jetzt kommt es nun so unglaublich, daß Einem die Haare zu Berge steigen möchten.«

Er warf einen forschen Blick auf Holm, ob dieser doch wie ein zurechnungsfähiger Mensch aussehe. Dann fuhr er fort:

»Ich stelle folgende Behauptungen auf und bin bereit, den Beweis hier und an jeder Stelle zu liefern. Der Herr Intendant der Residenzbühne und der Chefredacteur des Residenzblattes haben sich in Küssen u.s.w. das Engagement der Leda vorher bezahlen lassen. Dem Herrn Balletmeister, welcher sich zugleich Kunstmaler nennt, hat sie als Medea=Modell gesessen und dabei zugleich die Gelegenheit wahrgenommen, ein armes, unbescholtenes Mädchen durch körperliche Mißhandlungen zu zwingen, als Psyche=Modell zu stehen. Es hat dabei eine Katzbalgerei gegeben, wobei dem Herrn Kunstmaler sämmtliche Farben verlorengingen, weil er sich mit seiner Frau und der Leda in ihnen herumwälzte. Der verehrte Chef der Claqueurs, Herr Léon Staudigel, kann die Umarmung der Leda nicht genug rühmen und hatte sie, um sich für die Anstrengungen seiner Untergebenen bezahlt zu machen, zu einem Souper nach der Vorstellung auf das Bellevue bestellt. Man wollte demascirt speisen. Als


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man sich nach dem Souper demaskirte, zeigte es sich, daß der sogenannte Herr "Baron" einen im Tivoli wegen seiner lustigen Streiche sehr wohl bekannten Paukenschläger umarmt hatte.«

Jetzt hielt der Leser inne.

»Wie wollen Sie das Alles beweisen?« fragte er.

»Durch Zeugen.«

»Wer sind sie?«

»Bei dem Chefredacteur hat der Redactionsdiener gelauscht, bei dem Intendanten dessen Jean.«

»Die Scene beim Balletmeister?«

»Meine Schwester.«

»Ah! War sie das Mädchen, welches man zwingen wollte?«

»Ja. Übrigens ist die Amerikanerin dazu gekommen.«

»Aber im Bellevue?«

»War ich zugegen. Der Paukenschläger hatte sich als Dame verkleidet. Das Arrangement stammte von mir.«

»Tausendsassa! Na, ich will es glauben! Also weiter!«

Er las weiter:

»Nachdem die Leda Herrn Staudigel für seine Protection eine gewisse Summe versprechen mußte, begab sie sich zum Musikdirector. Dieser fragte nicht nach Liebenswürdigkeiten, wurde also durch das Versprechen einer Orchestertantiéme kirre gemacht.«

»Können Sie das beweisen?«

»Ja.«

»Na, also weiter: Der geehrte Herr Capellmeister hatte nun nichts Eiligeres zu thun, als eine Veränderung der Partitur vorzunehmen, um es Miß Ellen Starton unmöglich zu machen, im Tacte zu bleiben. Ich fordere ihn also wegen einer Fälschung der Partitur vor das Forum der Öffentlichkeit?«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich hörte es während der Vorstellung. Ich bin Musiker. Heute früh begab ich mich zu einem mir bekannten Mitgliede der Capelle, dessen gefälschte Violinstimme zu erlangen ich so glücklich war.«

»Das ist recht! Bisher erfolgte Schlag auf Schlag! Was aber nun kommt, das ist nicht glaubhaft.«

»Ich beweise es.«

»Daß die Leda gefangen ist?«

»Ja.«

»Als Kindesmörderin?«

»Ja.«

»Und als Diebin?«

»Sie hat fünftausend Gulden gestohlen, welche vor einigen Jahren Herrn Baron von Scharfenberg abhanden kamen.«

»Wie wollen Sie das beweisen?«

»Sie sitzt mit ihrer Mutter im Bezirksgericht.«


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»Alle Teufel!«

»Aber dann soll der Intendant ein braves Mädchen seinem Bruder, dem Circusdirector, zu unzüchtigen Zwecken in die Hände gespielt haben?«

»Es ist die Tochter des Theaterdieners Werner, welche gezwungen werden sollte, als Tau=ma aufzutreten.«

»Und dabei ist man in genau so schamloser Weise verfahren, wie Sie es andeuten?«

»Ja. Der Circusdirector ist mit sämmtlichem Personal arretirt worden. Ich war in Rollenburg und habe das arme Mädchen hierher begleitet. Ihre Schwester hat volle vier Jahre lang unschuldig im Zuchthause gesessen, weil die Leda den Kindesmord auf sie geschoben hat.«

»Und das können Sie beweisen, wirklich beweisen?«

»Ja.«

»Beleidige ich Sie, wenn ich bemerke, daß ich mich denn doch erkundigen möchte, bevor ich diesen Aufsatz in unseren Spalten erscheinen lasse?«

»Ich spreche Ihnen gerne das Recht zu, vorsichtig zu sein.«

»Schön! Aber bei wem soll ich mich erkundigen?«

»Bei einem Herrn, dessen Versicherung Sie sofort festen Glauben schenken werden.«

»Wer ist das?«

»Der Fürst von Befour.«

»Sapperment! Weiß der von diesen Angelegenheiten?«

»Wenigstens ebenso viel wie ich. Er war ja mit in Rollenburg, um die unschuldig Gefangene zu befreien.«

»Aber, wird er mich empfangen?«

»Gern. Ich begleite Sie. Er wird Ihnen auch bestätigen, was ich weiter schreibe, nämlich, daß Miß Ellen Starton von Seiten der Majestäten aufgefordert wird, die "Königin der Nacht" auf der Hofbühne zu geben. Das ist eine Satisfaction, wie sie gar nicht besser gewünscht werden kann.«

»Ist das eigene Initiative der höchsten Herrschaften?«

»Der Fürst von Befour hat die Veranlassung gegeben.«

»Ah, da muß ich wirklich zu ihm. Wann ist er zu sprechen?«

»Ich vermuthe, daß er jetzt daheim sein wird.«

»Wollen wir gehen?«

»Ja.«

»Dann gut! Ich sage noch einmal, daß Sie mir diese Vorsicht nicht übel nehmen dürfen. Es handelt sich hierbei ja um so viel, daß jede kleinste Nachlässigkeit gar nicht verantwortet werden könnte.« - -

Um dieselbe Zeit saß der Lieutenant Bruno von Scharfenberg, finster vor sich hinbrütend, am Fenster und warf häufige, forschende Blicke auf die Straße hinab. Er schien mit großer Ungeduld irgend Etwas oder irgend Wen zu erwarten. Da endlich heiterte sich sein Blick momentan ein Wenig auf. Er begann, in der Richtung nach der Thüre zu lauschen. Schritte ließen sich ver=


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nehmen, und es trat ein junger, sehr elegant gekleideter, aber trotz seiner Jugend doch schon ziemlich abgelebt aussehender Herr ein.

»Nun?« fragte Scharfenberg erwartungsvoll.

»Nichts!«

»Alle Teufel!«

»Nichts und wieder nichts!«

»Selbst bei fünfzehn Procent nicht?«

»Nein. Man scheint eben Deine Verhältnisse für außerordentlich derangirt zu halten.«

»Unsinn! Wer kennt meine Verhältnisse?«

»Jedermann, wenigstens jeder Geldmann!«

»Ich habe bisher nur bei zwei oder drei Juden geborgt.«

»Aber diese Wucherer stehen in enger Verbindung unter einander und gewähren einander Einsicht in ihre Bücher.«

»Verdammt! Wenn ich nur so viel hätte, um heute Abend eine Bank legen zu können!«

»Und ich so viel, um pointiren zu können. Ich war so froh, als Du mir hundert Gulden für das Auffinden eines bereitwilligen Darleihers botest, finde aber leider keinen Menschen, der es thun will.«

»Der Teufel hole alle diese Mammonsdiener! Früher riskirten sie Etwas; jetzt aber wenden sie sogar den einzelnen Kreuzer zehnmal um, ehe sie ihn ausgeben!«

»Hm! Ein Mittel wüßte ich noch.«

»Wirklich? Welches denn?«

»Siehe in die Blätter! Wie oft wird Geld ausgeboten!«

»Das nennst Du noch ein Mittel?«

»Man könnte es wenigstens versuchen.«

Der Lieutenant griff nach der neben ihm auf dem Tische liegenden Zeitung, schob sie dem Anderen zu, deutete auf eine Stelle und sagte:

»Da, lies!«

Der Aufgeforderte las:

»Ein Cavalier, Sohn eines reichen Hauses sucht für augenblicklich zu hohen Zinsen ein Darlehen im Betrage von einigen tausend Gulden. Offerten unter F.P. in die Expedition dieses Blattes erbeten.«

»Sapperment! Das bist Du wohl?«

»Ja. Ich habe also inserirt, wie Du siehst,« antwortete der Lieutenant.

»Und der Erfolg?«

»Dieser hier!«

Er streckte die Hand aus und blies darüber hin.

»Also nichts?«

»Kein einziger Halunke hat sich gemeldet. Lies nun, was gerade darunter steht!«

Die angedeutete Stelle lautete:


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»Offizieren, höheren Beamten und Standespersonen werden augenblicklich und zu billigen Bedingungen Darlehne zu jeder gerechtfertigten Höhe gewährt.«

Dabei war die Adresse angegeben, an welche man sich zu wenden hatte.

»Auf diese Annonce bist Du wohl geritten?« fragte der Freund. »Auch das habe ich versucht.«

»Antwort bekommen?«

»Nein.«

»So hast Du wohl Deine Adresse gar nicht angegeben?«

»Pah! Mit der Pseudonymität hätte ich doch nur meine Zeit verschwendet. Ich habe also meinen Namen gesagt.«

»So ist keine Antwort erfolgt, weil der Betreffende sich erst erkundigt.«

Und als ob die Bestätigung dieser Ansicht nur auf diese Worte gewartet habe, trat der Diener Heinrich Kreller, Sohn des Hausmannes ein, um einen Brief zu überreichen.

»Von wem?« fragte der Lieutenant.

»Von einem fremden Menschen.«

»Wie sah er aus?«

»Wie ein Lohndiener.«

»Ist gut!«

Der Diener entfernte sich wieder. Scharfenberg öffnete und las den Brief und gab ihn dann dem Freunde hin. Die Zeilen lauteten:

»Bitte, sich in der betreffenden Geldangelegenheit gütigst zu mir zu bemühen. Willibald Schönlein.«

Dabei war die Straße und eine Hausnummer genannt.

»Endlich!« seufzte der Lieutenant, indem er sich von seinem Sitze erhob.

»Ja, endlich! Jetzt ist der Knoten gerissen, und die Hoffnung lächelt wieder! Du gehst doch sofort?«

»Das versteht sich!«

»Soll ich unterdessen warten?«

»Du würdest Dich langweilen. So gar schnell wird man mir das Geld nicht vor die Füße werfen!«

»Gut, ich gehe. Wann soll ich wieder nachfragen?«

»In der Dämmerung. Deine hundert Gulden sollst Du auf alle Fälle haben. Eine Hand wäscht die andere.«

»Danke, danke, lieber Bruno! So edle Grundsätze lasse ich natürlich gern gelten.«

Er ging. Der Lieutenant aber brummte hinter ihm her:

»Blutegel! Diese Sorte beißt sich so sehr fest bei Einem ein, daß man sie nie wieder los werden kann. Aber ich habe ihm zu viel Vertrauen geschenkt und muß also immer freundlich zu ihm sein. Sonst plaudert er aus!«

Er kleidete sich zum Ausgehen an. Gerade als er das Zimmer verlassen wollte, öffnete sich die Thür des Vorzimmers. Ein schwarz gekleideter Herr trat ein. Der Lieutenant kannte ihn per Distance; er hatte ihn hier und da gesehen und »Herr Assessor« nennen hören.


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»Entschuldigung!« sagte der Besuch. »Ich sehe, daß Sie zum Ausgehen bereit sind?«

»Allerdings! Zu wem wünschen Sie?«

»Zu Herrn Lieutenant von Scharfenberg.«

»Dauert es lange?«

»Ich denke, nicht.«

»Ich bin der Gesuchte. Treten Sie ein!«

Er trat in sein Zimmer zurück. Der Assessor folgte ihm, zog die Thür hinter sich zu und reichte ihm seine Karte.

»Bitte, meine Karte, da ich durch Ihr Erscheinen verhindert wurde, mich anmelden zu lassen.«

Scharfenberg warf einen oberflächlichen, fast geringschätzenden Blick auf den Namen, welchen das kleine Kärtchen zeigte, machte eine leichte, frostige Verbeugung und sagte im Tone eines Mannes, der sich behindert fühlt:

»Habe die Ehre! Was wünschen Sie?«

»Eine Unterredung unter vier Augen.«

»Wir befinden uns unter vier Augen. Hoffentlich eine Angelegenheit, welche mich nicht bedauern läßt, meinen sehr nothwendigen Ausgang aufgeschoben zu haben!«

»Ich pflege Niemand ohne Grund zu belästigen.«

»Also! Privatangelegenheit?«

Der Assessor ließ einen kalten, forschenden Blick über den Offizier gleiten und antwortete:

»Sind Sie vielleicht im Besitze eines Stuhles, Herr von Scharfenberg?«

Der Gefragte erröthete ein Wenig und meinte:

»Sie sehen deren sechs hier stehen.«

»Und uns dabei!« erklang es scharf.

»Hm! Ich glaubte, wir würden schnell fertig sein! Also, nehmen wir Platz, Herr Assessor!«

Er setzte sich, und der Jurist folgte seinem Beispiel. Als er dabei seinen forschenden Blick durch das Zimmer gleiten ließ, ohne sofort zu sprechen, stieß der Lieutenant ungeduldig hervor:

»Ich glaube, bereits gefragt zu haben, ob Sie in einer privaten Angelegenheit kommen.«

»Ein wenig privat, mehr noch aber amtlich.«

»Ah! Was hätte ich mit der Civilbehörde zu thun?«

»Ich möchte Sie gern ersuchen, mir einige Fragen zu beantworten, Herr Lieutenant.«

»Die hoffentlich keine müßigen sein werden!«

»O, man ist gewöhnt, den Fragen diejenige Form zu geben, welche ihrem Zwecke entspricht. Waren Sie vielleicht gestern in der Vorstellung des Residenztheaters?«

Der Lieutenant biß sich in den Bart. Der junge Assessor zeigte ein so


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kaltes, sicheres, überlegenes Wesen, daß der Offizier sich höchst unangenehm berührt fühlte. Er antwortete daher in scharfem Tone:

»Sind Sie gekommen, um mich zu fragen, ob ich das Theater besuche, Herr Assessor?«

»Ja. Daher erlaube ich mir diese Erkundigung.«

»Nun, dann hätten Sie nicht nöthig gehabt, mich zu incommodiren. Ich bin nicht gewöhnt, fremden Leuten Rechenschaft über die Art und Weise, in welcher ich meine freie Zeit verwende, abzulegen. Ich spreche niemals solche müßige Fragen aus und werde sie ebenso wenig beantworten, wenn sie an mich gerichtet werden.«

»Ich denke, daß Sie mir dennoch Antwort geben werden!«

»Auf solche Fragen nicht.«

»Ich bemerkte bereits, daß ich in amtlicher Angelegenheit komme. Meine Frage wurde also keineswegs aus dem Grunde privater Neugierde ausgesprochen.«

»Dann ersuche ich Sie, mir den amtlichen Grund zu nennen, bevor ich sie beantworte.«

»Ich komme, um amtlich zu erfahren, ob Sie im Residenztheater waren, also fragte ich. Sind Sie befriedigt?«

»Und warum wollen Sie das wissen?«

»Bitte, bitte! Ich komme, um Fragen auszusprechen, nicht aber solche an mich richten zu lassen!«

»Nun, so sind wir mit einander fertig! Ich werde eben nicht antworten, Herr Assessor!«

Er erhob sich von seinem Stuhle. Der Assessor that dasselbe, warf einen halb verächtlichen, halb mitleidigen Blick auf den Lieutenant und meinte in ruhigem Tone:

»Ganz so, wie Sie es wünschen, Herr von Scharfenberg! Da ich aber meine Fragen dennoch beantwortet haben muß und zwar zu der Zeit, die mir gefällig ist, so bitte ich um die Erlaubniß, mich für einen Augenblick hier Ihres Schreibzeuges bedienen zu können.«

Er zog einen Zettel, der sichtlich ein gedrucktes Formular enthielt, aus der Tasche, nahm die Feder, tauchte ein, füllte die Lücken des Zettels aus und gab den Letzteren dem Lieutenant.

»Hier, bitte, Notiz davon zu nehmen!«

Scharfenberg las, trat einen Schritt zurück und sagte:

»Wie? Ein Bestellzettel in's Bezirksgericht?«

»Wie sie sehen!«

»Und zwar bestellen Sie mich zu sich selbst?«

»Weil ich mit dieser Angelegenheit betraut wurde.«

»Und zwar augenblicklich, ohne Verzug?«

»So ist es.«

»Bei Vermeidung der Arretur?«

»Ich glaube, zu dieser verschärften Form berechtigt zu sein.«


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»Herr! Sie vergessen, daß ich Offizier bin!«

»Eben, weil ich Ihren Stand berücksichtigte, bemühte ich mich zu Ihnen. Da Sie aber den meinigen vernachlässigen, so bemühe ich nun Sie zu mir.«

»So aber behandelt man nur Verbrecher!«

Der Assessor zuckte mit der Achsel und fügte hinzu:

»Verbrecher und Individuen, welche sich weigern, dem Gesetz die schuldige Achtung zu zollen.«

»Ah! Sie nennen mich Individuum!«

»Ich sprach im Allgemeinen. Übrigens enthält dieses Wort keineswegs eine Beleidigung. Es bedeutet Einzelnwesen, und das sind Sie ebenso, wie ich es bin. Ich hoffe, Sie in spätestens zehn Minuten bei mir zu sehen. Adieu!«

Er schritt nach der Thür. Jetzt begann der Lieutenant doch, den Ernst der Situation zu begreifen. Er sagte:

»Aber, zum Kukuk, ist diese Angelegenheit denn eine gar so wichtige?«

»Das werden Sie erfahren!«

»Bitte, bleiben Sie! Ich halte es allerdings für besser, die Unterhaltung hier zu beenden.«

»Daran thun Sie wohl!«

Er nahm ebenso ruhig wieder auf seinem Stuhle Platz, wie er von demselben aufgestanden war und fuhr fort:

Also bitte, waren Sie im  Theater? »Also, bitte, waren Sie im Theater?«

»Müssen Sie denn dies gerade so absolut wissen?«

»Ja.«

»Nun gut, ich war da.«

»Wie hat Ihnen die Leda gefallen?«

»Hm! Nicht zum Besten! Abgestandene Waare!«

Der Assessor zuckte bei dieser frivolen Antwort die Achsel und fuhr in ruhigem Tone fort:

»Hatten Sie sie schon einmal gesehen?«

»Nein.«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Sie trat ja zum ersten Male hier auf. Oder sollte Dies Ihnen vielleicht unbekannt sein?«

»Wenn Sie behaupten, sie vorher nicht gesehen zu haben, so meinen Sie doch wohl: Nicht als Tänzerin?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß Sie sie als Privatperson gesehen haben.«

»Niemals.«

»Herr Lieutenant, Sie verheimlichen die Wahrheit!«

»Donnerwetter! Wollen Sie mich zum Lügner machen?«

»Es thut mir um Ihretwillen leid, daß Sie selbst jetzt noch den Ernst der Situation nicht begreifen. Ich komme wirklich nur, um Ihrem Stande


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und Ihrer Familie eine ganz ungewohnte Rücksicht zu erweisen. Eigentlich aber müßte ich Sie sistiren lassen.«

Scharfenberg fuhr zornig auf.

»Arretiren meinen Sie?«

»Ja,« antwortete der Beamte kalt.

»Donnerwetter! Das muß ich mir verbitten!«

»Nun, ich will Ihnen einfach sagen, daß Sie zweier mit einander concurrirender Verbrechen verdächtig sind.«

»Verbrechen? Himmelbataillon!«

»Ja, es ist so!«

»Welches sind denn diese Verbrechen, wenn ich ergebenst fragen darf, mein Herr Assessor!«

»Kindesmord und - «

»Kindesmord? Alle Teufel! Ich soll ein Kind ermordet haben? Ich? Das ist wahnsinnig!«

»Kindesmord und Unterschlagung.«

Bei dem letzten Worte erbleichte der Lieutenant.

»Herr, Sie glauben doch nicht etwa,« sagte er, »daß ich ein Spitzbube bin!«

»Ich glaube und behaupte nichts, sondern ich untersuche. Daß Sie Ihre Bekanntschaft mit der Leda leugnen, ist kein Grund für mich, Sie für unschuldig zu halten.«

»Immer ärger! Wer in aller Welt vermag denn, mir diese Bekanntschaft nachzuweisen?«

»Ich.«

»Ah, da bin ich denn doch neugierig!«

»Diese Neugierde kann befriedigt werden.«

Er zog ein Portefeuille aus der Tasche, entnahm demselben eine Anzahl Briefe und sagte:

»In diesen Briefen zeigt ein gewisser Lieutenant Bruno von Scharfenberg einer gewissen Editha von Wartensleben an, daß er ein gewisses Ziehgeld eingezahlt habe. Kennen Sie diese Briefe?«

Der Offizier war so betroffen, daß er zunächst gar nichts zu sagen vermochte. Dann stieß er hervor:

»Aber was haben Sie denn mit diesen Briefen zu schaffen?«

»Weil ich mit der Empfängerin zu schaffen habe.«

»Sie selbst hat Ihnen dieselben gegeben?«

»Nein. Wir haben sie in ihrer Wohnung gefunden.«

»Gefunden? Das klingt ja so, als ob Sie dort gesucht hätten?«

»Das haben wir allerdings. Die Leda ist eingezogen worden. Sie befindet sich in Untersuchung.«

»Weshalb?«

»Eben wegen Kindesmordes und Unterschlagung.«

»Alle tausend Teufel!«


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»Sie sehen also wohl ein, daß ich in sehr ernster Angelegenheit bei Ihnen bin. Ich kann Ihnen nur die Mahnung ertheilen, mir unumwunden die Wahrheit zu sagen.«

Scharfenberg wischte sich über die Stirn. Er fühlte, daß diese naß zu werden begann. Er wollte aufbrausen, aber die Verlegenheit, welche sich seiner bemächtigte, verhinderte ihn daran.

»Wegen Kindesmord?« fragte er. »Wann soll sie denn ein Kind getödtet haben?«

» Vor etwa über vier Jahren; Ihr Kind, Herr Lieutenant.«

»Das lebt ja noch!«

»O nein!«

»Ich bezahle ja noch heute dieses Ziehgeld!«

»Hm! Das ist ein Umstand, der zu Ihren Gunsten spricht. Sie wissen also von dem Tode des Kindes nichts?«

»Kein Wort!«

»Wo lernten Sie die Leda kennen?«

»Im Bade.«

»Wie nannte sie sich?«

»Editha von Wartensleben.«

»Das ist ein falscher Name.«

»Ich kenne keinen anderen. Ich weiß nur, daß sie sich später den Künstlernamen Leda beilegte.«

»Also bitte, aufrichtig! Sie sind der Vater jenes Mädchens, welches sie vor circa vier Jahren gebar?«

Der Assessor - natürlich der bekannte Assessor von Schubert - unterdrückte ein leises Lächeln und fragte weiter:

»Sie waren also der einzige intime Bekannte von ihr?«

»Ja.«

»Sie pflegte weiter keinen vertraulichen Umgang?«

»Nein.«

»Ich glaube aber, gehört zu haben, daß sie auch zu den Freundinnen des Barons von Helfenstein gehört hat.«

»Vor mir. Sie brach mir zu Liebe den Verkehr ab. Aber, Ihre Fragen sind nicht ohne Grund. Sollte -«

Der Beamte nickte ihm zu und sagte:

»Ein Kind pflegt erst nach neun Monaten geboren zu werden!«

»Daran dachte ich später oft.«

»Man hat Briefe des Barons bei ihr gefunden, welche beweisen, daß auch er Ziehgeld zahlt.«

»Verdammt!« entfuhr es dem Offizier.

»Ich bin sehr geneigt, anzunehmen, daß Sie der Dupirte sind. Sie haben nicht die mindeste Veranlassung, dieses Frauenzimmer zu schonen. Mit


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dem Eingeständnisse der Wahrheit sind Sie nur sich selbst zum Nutzen. Kannte Ihr Vater Ihr Verhältniß zu der Leda?«

»Er erfuhr davon.«

»Was that er?«

»Er verbot mir jeden Umgang.«

»Sie gehorchten?«

»Pah! Pflegt ein Verliebter zu gehorchen? Ich ließ, um unbeobachtet zu bleiben, sie einfach verschwinden.«

»Wohin?«

»Nach - nach - - nach einem kleinen Dörfchen,« antwortete er stockend.

»Wirklich?«

»Ja.«

»Hm! Sie scheinen hier eine kleine Abweichung zu machen. Doch, wir treffen am richtigen Orte wieder zusammen. Auf jenem Dorfe hat sie geboren?«

»Ja.«

»Und dann?«

»Dann ging sie mit dem Kinde nach Paris.«

»Nicht sogleich. Sie tödtete das Kind vorher.«

»Teufel! Davon habe ich keine Ahnung.«

»Sie schob den Verdacht auf eine Andere, welche bis heute unschuldig im Zuchthause gesessen hat.«

»Wirklich?«

»Ja.«

»Ein verfluchtes Frauenzimmer!«

»Eine Teufelin! Aber bitte, nahmen Sie vielleicht vor ihrer Übersiedelung nach Paris Abschied von ihr?«

»Nein.«

»Besaß sie die Mittel, um eine solche Reise unternehmen und dann auf einige Zeit leben zu können?«

»Sie mochte sich von meinen Geschenken so viel gespart haben.«

»Hm! Wollen Sie mir das Dorf nennen, wo sie wohnte?«

»Der Name ist mir entfallen.«

»Das kommt vor, schadet aber nichts, da es uns gelungen ist, dieses Dörfchen ausfindig zu machen. Es ist allerdings ein kleines, sehr kleines Dörfchen. Wollen Sie vielleicht die Güte haben, es sich von mir zeigen zu lassen?«

Er stand auf und schritt nach der Thür.

»Wohin?« fragte der Lieutenant bestürzt.

»Bitte, folgen Sie mir!«

Scharfenberg konnte sich selbst jetzt noch dieses Verhalten nicht erklären; er schritt hinter dem Assessor her, welcher dem Corridore nach der andern Seite


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des Hauses folgte, dort vor einer Thür stehenblieb, zwei Schlüssel aus der Tasche zog und dann öffnete.

»Wetter noch einmal! Wie kommen Sie zu diesen Schlüsseln?«

»Ich habe sie vom Herrn Gerichtsrath erhalten. Man muß ja immer vorbereitet sein. Bitte, treten Sie ein!«

Der Lieutenant folgte dem Juristen, welcher auch die zweite, nach dem Schlafzimmer führende Thür öffnete und dann sagte:

»So! Hier ist das kleine, winzige Dörfchen, wo sich Fräulein Editha von Wartensleben aufhielt. Nicht?«

Der Lieutenant schluckte und schluckte, als habe er Etwas in der Kehle, was ihm sehr zu schaffen machte. Dann fragte er:

»Wer hat Ihnen dies verrathen?«

»Wir wissen es; das ist genug. Ebenso sind wir auch über die Ersparnisse aufgeklärt, welche die Mittel zur Reise bildeten. Das waren nämlich die fünftausend Gulden, welche in Petermanns Casse fehlten.«

Jetzt war es mit der Fassung des Lieutenants zu Ende. Er sank auf das Sopha nieder und sagte kein Wort. Diesen Eindruck mußte nun der Assessor erfassen. Er trat an das Fenster, ergriff die Rouleauxschnur und bemerkte:

»Von dieser Schnur hat sie ein Stück abgerissen und damit das Kind erdrosselt, Herr von Scharfenberg!«

»Das - das ist - ich bin unschuldig daran. Ich weiß von diesem Morde nicht das Geringste!«

»Wenn ich auch annehmen will, daß Sie Recht haben, warum zwingen Sie mich da, Ihnen nicht zu glauben?«

»Zwingen?«

»Ja. Sie sprechen von einem Dorfe, welches aber gar nicht existirt, und Sie reden von Ersparnissen, die gar nicht vorhanden waren. Wie soll ich da das Andere glauben?«

Er stand in aufrechter Haltung vor dem auf seinem Sitze zusammengesunkenen Lieutenant, welcher nichts zu sagen wußte, und fuhr nach einer Weile fort:

»Ich bin Criminalist und als solcher auch Psycholog. Ich gewöhne mich, in das Innere derjenigen Menschen gewaltsam einzudringen, welche mir dieses Eindringen nicht freiwillig gestatten. So liegt nun auch Ihre Seele offen vor mir. Ich weiß, daß Sie an dem Morde unschuldig sind, und daß Sie nur in Beziehung des Geldes nichts sagen, weil Sie dann eine recht, recht schwere Unterlassungssünde einzugestehen hätten. Aber dieses Geständniß bleibt Ihnen nicht erspart. Sie müssen es machen, heute oder morgen, freiwillig oder gezwungener Weise. Und so sage ich Ihnen, daß es besser ist, Sie offenbaren sich jetzt mir, als daß Sie an Gerichtsstelle und öffentlich davon sprechen müssen. Wollen Sie?«

»Fragen Sie!« seufzte der Lieutenant

»Waren Sie, als die Leda von hier verschwand, hier anwesend?«


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»Ja.«

»Warum entfloh sie?«

»Mein Vater hatte geschrieben, daß er kommen werde.«

»Dem wollte und mußte sie natürlich aus dem Wege gehen. Gab es kein anderes Mittel, als diese Flucht?«

»Ich wollte sie einstweilen ausquartieren und suchte nach einer passenden Wohnung. Am Abend war sie verschwunden. Wohin, das erfuhr ich erst durch den ersten Brief, den Sie mir aus Paris sandte.«

»Und mit ihr waren die fünftausend Gulden verschwunden?«

»Ja.«

»Hat sie diesen Diebstahl irgend einmal erwähnt?«

»Sie schrieb mir, ich solle mich nicht wundern, daß sie sich aus der Casse des Inspectors versorgt habe.«

»Besitzen Sie diesen Brief noch?«

»Ja.«

»Sie werden mir ihn geben.«

»Muß das sein?«

»Ich muß ihn unbedingt fordern! Petermann wollte von der Leda nichts verrathen; Sie waren zu schwach, Ihrem Vater ein offenes Geständniß abzulegen, und so fiel er als Opfer.«

»Ich glaubte, Vater werde Nachsicht walten lassen. Ich wollte von Tag zu Tag gestehen, kam aber nie dazu.«

»Ich bin in dieser Angelegenheit nicht Ihr Richter. Wo haben Sie den erwähnten Brief?«

»Drüben bei mir.«

»Gehen wir also hinüber. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß diese beiden Zimmer nicht betreten werden dürfen. Die Schlüssel nehme ich mit.«

Als er drüben den alten und doch so wichtigen Brief erhalten hatte, schickte er sich zum Gehen an. Der Lieutenant hatte seinen ganzen Stolz verloren. Ihm war nur angst vor seinem Vater. Darum fragte er endlich kleinlaut:

»Wird die Leda wegen dieses Diebstahles ebenso wie wegen des Mordes in Anklage gesetzt?«

»Ja.«

»Und bestraft?«

»Das versteht sich.«

»Dann wird aber auch offenbar, daß Petermann unschuldig ist.«

»Gewiß! Ich selbst werde dafür sorgen, daß dies durch die Presse soweit wie möglich veröffentlicht wird.«

»Um Gotteswillen! Denken Sie dabei an meinen Vater!«

»Der Alles, Alles erfahren wird.«

»Ja, Alles!«

»Es wird eine fürchterliche Scene geben!«


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»Jedenfalls.«

»Entsetzlich! Ich möchte mich erschießen!«

»Herr Lieutenant, ich darf hierbei nur an den unschuldigen Petermann denken!«

»Warum dürfen Sie nicht auch mich berücksichtigen? Petermann ist frei. Er hat es ja nun hinter sich!«

»Und seine Ehre? Nein, er muß vollständig rehabilitirt werden. Sie sind Offizier; aber Sie sind Egoist und - - - ein ganz gehöriger Feigling!«

»Herr Assessor!«

»Pah! Ich werde Ihnen und Jedem die Wahrheit sagen. Sie fürchten sich vielleicht nicht, eine Schanze zu stürmen, denn dabei sind hundert Möglichkeiten vorhanden, daß Sie unversehrt bleiben. Handelt es sich aber um ein Übel, welches unvermeidlich ist, dem Sie nicht entgehen können, so fehlt Ihnen der Muth. Sie hätten das fürchterliche Opfer, welches Petermann brachte, niemals annehmen dürfen. Er hat wohl von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute gehofft, daß Sie den bitteren Kelch von ihm nehmen würden; er hat noch bei der Verhandlung "Ja" gesagt, wohl in der festen Überzeugung, daß Sie aus dem Kreise der Zuhörer hervorspringen würden, um ein lautes "Nein" zu rufen - vergeblich! Er wurde abgeführt und trug die unverdiente Schande. Er hat einen riesenhaften Heldenmuth bewiesen, Sie aber eine ebenso große Feigheit. Ich sage Ihnen das unter vier Augen. Wollten Sie mich fordern, so würde ich mich mit Ihnen nicht schlagen. Der Grund liegt auf der Hand. Ich gebe Ihnen den einzigen guten Rath: Gestehen Sie Ihrem Vater Alles, noch ehe wir die Verpflichtung haben, ihm die betreffende Mittheilung zu machen. Adieu!«

Der Offizier blieb wortlos. Er wagte nicht zu antworten. Der Assessor ging. Er hatte hier nichts mehr zu thun. Freilich war seiner Pflicht noch nicht Genüge geschehen. Er hatte noch eine zweite Unterredung zu suchen und begab sich nach dem Palais des - Barons Franz von Helfenstein.

Dieser war anwesend und konnte sich nicht denken, was ein Assessor von Schubert bei ihm wolle. Er sprach ihn so zu sagen nur von oben herab an und bedeutete ihm, seine Angelegenheit in möglichster Kürze vorzubringen.

»Verzeihung, Herr Baron,« antwortete der Assessor; »ich muß dieser Angelegenheit gerade so viele Zeit widmen, wie sie verdient. Es handelt sich um eine Erkundigung nach einer Person, welche in Ihren Diensten gestanden hat.«

»Wer ist das?«

»Eine gewisse Laura Werner.«

»Kenne sie nicht.«

»Wollen der Herr Baron vielleicht versuchen, sich zu erinnern? Es würde mir lieb sein.«

»Ich merke mir dergleichen nicht. Gehen Sie zum Hausmeister; der


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wird Ihnen Auskunft ertheilen. Wer behält die Namen der Dienstboten im Gedächtnisse!«

»Ich gebe das zu. Darum bin ich überzeugt, daß Sie sich desto besser einer anderen Person erinnern werden, welche nicht in Ihren Diensten gestanden hat.«

»Wer soll das sein?«

»Eine gewisse Aurora Bormann.«

»Kenne sie nicht.«

»Auch nicht ein Fräulein Editha von Wartensleben?«

Der Baron hatte sich so in der Gewalt, daß er nicht mit der Wimper zuckte, obgleich er sofort wußte, daß sich hier ein Gewitter zusammengebraut habe. Er antwortete scheinbar ganz unbefangen:

»Habe auch diesen Namen nie gehört.«

»Hm! Wollen Sie die Güte haben, sich einmal diese Couverts zu betrachten!«

Er zog mehrere Briefe aus dem Portefeuille. Der Baron warf einen Blick auf sie und meinte:

»An eine Editha von Wartensleben adressirt? Geht mich ganz und gar nichts an.«

»Leider aber sind die darin enthaltenen Briefe mit Ihrem Namen unterzeichnet!«

»So giebt es einen Zweiten meines Namens, oder es hat sich Jemand einen dummen Scherz gemacht. Von wem haben Sie diese Briefe?«

»Sie sind Eigenthum einer Untersuchungsgefangenen.«

»Wer ist das?«

»Die Tänzerin Leda.«.

Jetzt zuckte er doch zusammen, faßte sich aber schnell wieder und fragte im Tone des Erstaunens:

»Die Leda gefangen? Nach ihren gestrigen Triumphen? Erstaunlich! Da behält der alte Rabbi Ben Akiba doch einmal Unrecht: Es giebt wirklich Dinge, welche noch nicht dagewesen sind!«

»Ich bestätige das. Unangenehm aber ist es für Unsereinen, wenn man so etwas nie Dagewesenes in's Dasein rufen soll, ohne es zu vermögen. So soll ich zum Beispiel jetzt beweisen, daß ein gewisser Baron zu gleicher Zeit von zwei Mädchen zwei außereheliche Kinder erhalten hat, nämlich von einer späteren Tänzerin und von der Tochter eines armen Theaterdieners.«

»Nun, so versuchen Sie es wenigstens!«

»Ich muß ja. Ferner soll ich nachweisen, daß diese beiden Kinder umgetauscht worden sind, und zwar nach der Ermordung des einen und dem Tode des anderen.«

»Grausig!« höhnte der Baron.

»Und sodann soll ich eine Scheune suchen, unter welcher eins dieser Kinder von der Tänzerin und einer Riesendame vergraben worden ist.«

»Die werden Sie schwerlich finden!«


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»Habe sie schon!«

»Wirklich?« fragte er, halb höhnisch, halb besorgt.

»Ja. Und ich habe nicht nur die Scheune, sondern auch das Kind, die Riesendame, die Tänzerin und die beiden Mütter derselben.«

»Pest! Sind Sie glücklich!« zischte er. Er war doch bleich geworden, fügte aber in befremdetem Tone hinzu: »Aber was hat dies Alles mit Ihrem gegenwärtigen Besuche zu thun?«

»Ich wollte Sie ersuchen, diese Personen zu recognosciren.«

»Wie kommen Sie auf diesen abenteuerlichen Gedanken?«

»Weil sie behaupten, von Ihnen gekannt zu sein.«

»Lassen Sie mich in Ruhe; ich habe nicht einen Augenblick Zeit für Tänzerinnen und Riesendamen!«

»Sie wissen auch nicht, was die Riesin eines Tages bei einer gewissen Scheune zu thun hatte?«

»Herr, ich bin kein Hexenmeister und sehe nicht ein, weshalb gerade ich es sein soll, der belästigt wird!«

»Nun, vielleicht gelingt es, diese unangenehme Belästigung nun von Ihnen fernzuhalten.«

Er machte eine Verbeugung und entfernte sich.

»Verflucht!« murmelte der Baron, als er sich allein befand. »Die Leda und die Riesin gefangen, und ihre Mütter dazu! Was hat das zu bedeuten? Ist das Zufall, oder geschieht es in Folge eines zielbewußten Planes? Darüber muß ich mir klar werden. Ich werde sofort recognosciren gehen!«

Der Lieutenant von Scharfenberg war völlig eingeschüchtert zurückgeblieben. Er stierte gedankenlos vor sich hin, bis er durch irgendein Geräusch der Außenwelt aus seinem Hinbrüten gerissen wurde. Da kam ihm in's Gedächtniß, was er zuletzt hatte anhören müssen.

»Feigling!« sagte er zu sich. »Feigling bin ich genannt worden, ohne daß ich den Menschen sogleich niedergeschlagen habe. Ich werde - ja, was werde ich denn? Ah, pah! Die Sache ist nicht so sehr ängstlich; sie eilt nicht. Die Hauptsache ist vielmehr, Geld zu bekommen. Habe ich das, so kommt alles Andere dann ganz von selbst. Suchen wir also schleunigst diesen guten Willibald Schönlein auf!«

Er trat nun den Gang an, den er vorhin nicht hatte ausführen können. Die angegebene Adresse wies ihn in eine der anständigsten Straßen. Das Logis lag nur eine Treppe hoch, wo er den Namen an einer Messingplatte las.

Er klingelte und wurde eingelassen. Man führte ihn durch einige prachtvoll ausgestattete Zimmer und bat ihn dann, einen Augenblick Platz zu nehmen.

Im Nebenzimmer befanden sich zwei Personen, welche mit einander flüsterten - Mann und Frau.

»Laß ihn nur noch warten,« meinte die letztere. »Desto nachgiebiger wird er. Und die Möbel müssen erst ihren Eindruck machen.«


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»Haha! Er wird uns für sehr reich halten.«

»Und ist doch Alles erst geliehen, eben dieses Eindruckes wegen. Wenn er nur mitmacht!«

»Ich denke, daß er auf die Bedingungen eingeht.«

»Er wäre dumm, wenn er nicht Ja sagte. Wir haben wirklich keinen rothen Heller mehr. Was sagte denn dieser alte Salomon Levi?«

»Er hat bereits ein Papier von ihm, will aber das Geld geben. Der Vater des Lieutenants ist sehr reich.«

»So wird der Sohn das Geld klar machen. Na, jetzt kannst Du gehen, denke ich.«

Der Mann betrachtete sich im Spiegel, zog die Cravatte zurecht, schob die Papiermanchetten aus den Rockärmeln hervor, nahm eine möglichst imposante Haltung an und trat dann bei dem Lieutenant ein.

Dieser hatte sich niedergelassen. Er erhob sich, machte ein militärisches Honneur und fragte:

»Gewiß, Herr Schönlein?«

»Habe die Ehre!« antwortete der Gefragte in herablassender Weise. »Herr Lieutenant von Scharfenberg?«

»Zu dienen!«

»Bitte, nehmen Sie wieder Platz!«

Sie setzten sich einander gegenüber, und der Lieutenant fragte, als der Andere zu beginnen zögerte:

»Die Ursache meiner Anwesenheit ist Ihnen bekannt?«

»Ja. Sie theilten Sie mir ja mit.«

»Und Sie sind bereit - hm! Ja?«

Herr Schönlein räusperte sich und meinte dann in einem sehr selbstgefälligen Tone:

»Vielleicht. Man kann ja darüber sprechen. Eigentlich habe ich es nicht nöthig. Ich lebe von meinen Ersparnissen und brauche doch nicht Zins auf Zins zu häufen. Nun wurde mir vor Kurzem ein Capitälchen flüssig, welches ich erst in einiger Zeit wieder fest anlegen kann. Bis dahin läge es im Schranke, ohne irgend einen Nutzen zu bringen. Da dachte ich, daß vielleicht Jemandem damit gedient sein könne, und so ließ ich die Annonce einrücken.«

»Haben sich Reflektanten gemeldet?«

»O, eine Unsumme! Aber ich habe doch gezögert und gezögert. Es vermochte Keiner, mir Vertrauen einzuflößen. Man bot mir hohe, sehr hohe Zinsen und außerdem ansehnliche Vergütungen. Aber ich brauche das nicht. Was helfen mir gute Bedingungen, wenn ich mein Geld nicht wieder bekomme!«

»Da haben Sie sehr Recht!«

»Lieber suche ich mir einen sicheren Mann heraus, der mir das Geld pünktlich zurückgiebt, und lasse es ihm zu dem Bankiersatze.«

»Wie ist dieser?«


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