Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Vierter Band


Lieferung 70.

- 1657 -


»Ich will in meine Heimath, wo ich in einer kleinen Familienangelegenheit anwesend sein muß.«

Die beiden Anderen tauschten einen Blick aus, welcher nichts Anderes besagte, als:

»Aha! Er hat angebissen. Er will mit dem Hauptmann fort.«

Und da kam auch schon der Wirth herbei, brachte das Glas Bier, welches der Diener beim Platznehmen verlangt hatte, und sagte:

»Vorhin war Jemand da und hat mir diesen Brief übergeben.«

»Für mich?«

»Ja.«

»Hm! Das wundert mich. Das muß ein Versehen sein. Das Couvert hat ja gar keine Adresse!«

»Die fehlt allerdings.«

»Wer war denn dieser Jemand?«

»Ein Mann, den ich nicht kannte.«

»Er muß doch einen Namen genannt haben, und ich glaube nicht, daß Sie den meinigen wissen.«

»Er sagte, der Brief sei für den Diener der amerikanischen Tänzerin, welcher hier zu verkehren scheine. Sind Sie das?«

»Ja freilich.«

»Nun, so ist die Sache ja in Richtigkeit!«

Der Polizist that noch immer so, als ob er zweifle. Er betrachtete den Brief von allen Seiten und schüttelte den Kopf. Die beiden Andern dachten im Stillen: Der Kerl spielt seine Rolle nicht übel. Und dann meinte der Agent:

»Was überlegen Sie noch? Der Brief ist ohne allen Zweifel an Sie gerichtet; Sie können ihn also getrost öffnen!«

»Na, ich will's versuchen!«

Er brach das Couvert auf, las den Zettel, nickte mit dem Kopfe und sagte dann lächelnd:

»So ist es! Man ist vergeßlich. Ich hatte mich um eine Anstellung beworben und dem Agenten gesagt, daß er den Brief hierher schicken solle. Das hatte ich vergessen, da ich indessen eine Anstellung gefunden habe. Herr Wirth, haben Sie vielleicht ein Couvert und Papier?«

Der Wirth brachte das Verlangte. Der Polizist legte den Briefbogen auf den Tisch und schrieb so offen, daß die Andern es deutlich sehen konnten, ein 'Ja' darauf. Er steckte dann den Bogen in das Couvert und fragte:

»Soll die Antwort abgeholt werden?«

»Ja.«

»Hier ist sie. Die Schreiberei ist gar nicht nöthig!«

Diese letzteren Worte waren doppelzüngig gesprochen, was aber gar nicht beachtet wurde. Er trank sein Bier baldigst aus, bezahlte und verabschiedete sich.

Nun brachte der Wirth den Brief. Er sagte lachend.

»Sie werden bereits gesehen haben, was er antwortete. Er scheint nur ein Wort geschrieben zu haben.«


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»Allerdings. Der Witz ist gelungen.« - -

Der Fürst war unterdessen im Findelhaus gewesen und hatte gebeten, betreffs Robert Bertram in den Büchern nachzuschlagen. Er hatte das Datum und die Art und Weise erfahren, unter welcher man den Knaben in der Drehscheibe gefunden hatte. Die Kette mit dem Medaillon war ganz genau beschrieben, und zuletzt stand die Bemerkung, daß der Findling dem Schneider und Musikus Bertram ausgehändigt worden sei.

Über die Person gab es also keinen Zweifel mehr. Es fehlte nur noch das Geständniß der Schmiede, daß sie den Knaben in das Findelhaus gebracht hatten und daß dieser der Sohn des ermordeten Barons von Helfenstein sei.

Als der Fürst nach Hause kam, wartete Adolf auf ihn. Er sah es dem Gesichte desselben an, daß er eine gute Nachricht bringe.

»Nun? Hast Du bereits Erfolg gehabt?«

»Ja, diesen hier.«

Der Polizist zeigte ihm das Schreiben, welches er von dem Wirthe erhalten hatte. Der Fürst las es und fragte:

»Was hast Du geantwortet?«

»Ein "Ja" natürlich.«

»Ganz recht. Du wirst Dich also drei Uhr bereit halten.«

»Ich allein?«

»Nein. Ich fahre auch mit, wenn auch anderer Wagenklasse.«

»Recht so. Aber wie fangen wir das Ding an?«

»Wir kommen noch vor Abend hin. Du wirst Dich mit ihm wohl in irgend eine Kneipe begeben müssen, um die Zeit abzuwarten.«

»Natürlich. Vor Mitternacht kann nichts geschehen.«

»Unterdessen spreche ich mit dem Gerichtsamtmann. Man wird Euch nichts in den Weg legen. Ihr holt den Schlüssel aus der Expedition; der Gefängnißwärter muß sich durch den Garten entfernen, ganz so, als ob er wirklich zu seiner Geliebten gehe, und dann bringst Du ihn herein.«

»Und drin wird er sofort festgenommen.«

»Natürlich!«

»Na, dann haben wir ihn endlich!«

Das war in einem frohen Tone gesagt. Der Fürst aber ging einige Male auf und ab und fragte dann:

»Du glaubst also, daß er wirklich kommt?«

»Natürlich! Er schreibt es ja!«

»Ich glaube nicht daran. Es handelt sich hier um eine wahre Mausefalle, und es sollte mich wundern, wenn er so bereitwillig den Kopf hineinsteckte. Ich denke, er wird einen Andern schicken.«

»Das wäre dumm!«

»Für uns ja, von ihm aber sehr gescheidt.«

»Dann bin ich neugierig, zu erfahren, wen er sendet.«

»Den Agenten, denke ich.«

»Hm! So nehmen wir den gefangen!«


- 1659 -


»Das geht nicht. Das wäre eine Dummheit.«

»Warum?«

»Wir brauchen ihn. Er giebt an seinem Fenster das Zeichen zu den Zusammenkünften. Wir müssen froh sein, dies entdeckt zu haben. Dadurch bekommen wir Gelegenheit, zu erfahren, wenn die ganze Bande beisammen ist. Nehmen wir ihn aber gefangen, so geht uns das verloren.«

»Das ist wahr. Wie dumm! Also, den Fall gesetzt, daß an Stelle des Hauptmannes ein Anderer kommt, was thue ich dann? Das muß ich natürlich wissen.«

»In diesem Falle sagst Du ganz einfach, daß Du nur dem Hauptmann zur Verfügung stehst, aber keinem Andern.«

»Also in das Gefängniß soll ich ihn nicht führen?«

»Nein. Die Hauptsache ist, daß Du den Betreffenden erkennst.«

»Keine Sorge! Den Baron von Helfenstein erkenne ich unter jeder Verkleidung, vorausgesetzt, daß ich ihn genau betrachten kann und auch seine Stimme höre. Das wird ja heute der Fall sein. Und diesen Agenten Bauer habe ich mir angesehen. Er mag sich verkleiden und verstellen wie er will; auf den Gedanken, seine rechte Hand zu verändern, wird er aber wohl schwerlich kommen.«

»Ist sie gezeichnet?«

»Ja. Ich habe es beim Kartenspiel gesehen. Er scheint einmal einen sehr bösen Finger gehabt zu haben, vielleicht den Fingerwurm, denn der Zeigefinger ist viel dunkler gefärbt als die andern. Daran erkenne ich ihn sicher.«

»So wäre es mir wünschenswerth, noch bevor ich zu dem Amtmanne gehe, zu erfahren, mit wem wir es zu thun haben.«

»Das wird schwer gehen.«

»Warum?«

»Der Kerl wird mich beobachten und mich wohl nicht aus seiner Nähe lassen.«

»Das steht allerdings zu erwarten. Ich werde Euch von Weitem folgen. Vielleicht fällt mir ein Mittel ein.«

»Es wird am Besten sein, wir machen es folgendermaßen: Er empfängt mich am Bahnhofe. Erkenne ich ihn sofort, so kann ich gleich das Zeichen geben. Erkenne ich ihn aber nicht gleich, so veranlasse ich ihn, in die Bahnrestauration zu treten.«

»Und wenn er das nicht thut?«

»Ich werde ihn schon hinein zu bringen wissen. Während des Trinkens komme ich in's Klare über ihn. Also, entweder gehe ich mit ihm direct vom Bahnhofe oder nach einem kurzen Besuche der Restauration nach der Stadt. In beiden Fällen werde ich mich, sobald wir den Bahnhof im Rücken haben, mich meines weißen Taschentuches bedienen. Stecke ich dasselbe dann in den rechten Rockschooß, so ist's der Hauptmann, also der Baron; stecke ich es in den linken, so ist's dieser Agent Bauer; stecke ich es aber in die Hosentasche, so ist es irgend ein Anderer.«


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»Gut. Im ersteren Falle kann das Abenteuer vor sich gehen; in den beiden letzteren Fällen aber wird nichts daraus. Es bringt uns keinen Nutzen.«

»Was thue ich dann?«

»Du machst Dich von ihm los. Wir fahren dann mit dem nächsten Zuge wieder zurück und treffen uns auf dem Bahnhofe.«

Somit war die Sache abgemacht. Um drei Uhr befand Adolf sich auf dem Bahnhofe. Er löste sich ein Billet dritter Klasse und ging in das Wartezimmer. Dort saßen bereits viele Leute, unter denen es ganz unmöglich war, den Betreffenden herauszufinden. Aber Adolf vermuthete mit Recht, daß dieser ganz sicher dasselbe Coupé mit ihm aufsuchen werde. Und so geschah es auch.

Als das Zeichen gegeben wurde und Adolf eingestiegen war, kam zu denen, welche mit Platz genommen hatten, noch ein Mann, welcher ein Musikus zu sein schien. Er hatte eine große Glatze, trug eine Brille und brachte einen Violinkasten mit, welchem er große Sorgfalt widmete.

Er kam Adolf gegenüber zu sitzen, so daß dieser ihn genau zu beobachten vermochte. Der Blick des Polizisten fiel sofort auf den Zeigefinger der rechten Hand und siehe da, es war ganz der Finger des Agenten!

Nun betrachtete Adolf das Gesicht seines Gegenübers. Er mußte sich gestehen, daß der falsche Bart mit wirklicher Meisterschaft angebracht worden war.

Nachdem einige kleine Anhaltepunkte zurückgelegt worden waren, kam eine größere Station, an welcher der Zug mehrere Minuten zu halten hatte. Adolf stieg aus. Er war überzeugt, daß der Fürst aufpassen werde, und er hatte sich nicht getäuscht. Sie trafen am Büffet zusammen, wo der Letztere sofort fragte:

»Wohl der Geiger?«

»Errathen!« meinte der Polizist verwundert.

»Das ist keine Kunst. Ich sah ihn einsteigen. Seine Haltung war eine so gezwungene, daß ich gleich erkannte, daß die Person imitirt sei. Hast Du ihn erkannt?«

»Ja. Der Agent ist es.«

»Er hat den Finger?«

»Ja. Das ist zu dumm!«

»Allerdings. Aber es fragt sich, ob nicht doch auch der Hauptmann da ist. Vielleicht in einem anderen Coupée.«

»Möglich kann es sein.«

»Wüßten wir, daß er nicht dabei ist, so könnten wir gleich hier zurückbleiben. Aber wir müssen es doch abwarten. Wenn Dich der Geiger auf dem Ankunftsbahnhofe anredet, so ist der Hauptmann nicht da. In diesem Falle ist uns die Expedition verdorben.«

Es läutete und sie stiegen wieder ein. Als sie das Ziel erreichten und ausgestiegen waren, blieb Adolf wartend stehen. Niemand kam. Aber neben ihm stand der Geiger, der ebenso that, als ob er Jemand erwarte. Aber als er sah, daß die Passagiere sich entfernten, so daß Niemand seine Worte hören konnte, sagte er:


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»Sie erwarten wohl Jemand, mein Herr?«

»Nein,« antwortete Adolf, »sondern ich glaubte, erwartet zu werden.«

»Von einem Bekannten?«

»Was geht das Sie an?«

»Vielleicht doch mehr, als es scheint. Ich erlaube mir, Sie zur That hier willkommen zu heißen!«

»Donnerwetter!« meinte der Polizist, scheinbar überrascht. »Sie sind es? Sie?«

»Ja, wenn Sie erlauben.«

»Sie sind also der Hauptmann?«

»Natürlich!«

»Aber warum diese Geige?«

»Die gehört zur Verkleidung. Aber wir können hier doch nicht stehen bleiben. Kommen Sie herein nach der Stadt!«

»Meinetwegen! Es ist noch zu früh zum Handeln. Was thun wir unterdessen?«

»Wir kneipen ein und machen ein Spielchen. Vorwärts!«

Sie gingen. Adolf bemerkte, daß er von dem Fürsten, welcher auf dem Perron stehen geblieben war, beobachtet wurde. Er zog also sein Taschentuch hervor, wischte sich das Gesicht und steckte es dann in die linke Tasche seines Rockschooßes. Das war das Zeichen, daß die heutige Expedition allerdings mißlungen sei.

Der Fürst überlegte, ob er gleich hier auf den nächsten Zug warten oder sich nach dem Gerichtsgebäude begeben solle, um mit dem Amtmanne über die beiden Schmiede zu sprechen. Da bemerkte er mehrere Personen, welche vor einem an die Ecke angeklebten Placate standen und dabei so augenfällig debattirten, daß ein wichtiges Ereigniß zu vermuthen war. Er ging hin und las:

»Heute früh elf Uhr sind die beiden aus Tannenstein gebürtigen Schmiede Wolf, Vater und Sohn, unter erschwerenden Umständen während des Verhöres aus dem Fenster des Verhörzimmers entsprungen. Auf die Ergreifung derselben wird hiermit ein Preis von 300 Gulden gesetzt. Signalement wie folgt.«

Nämlich am Vormittage bei Beginn der Expeditionszeit war der Amtmann zu dem Actuar gekommen, welchem die Untersuchung gegen die Schmiede anvertraut war, und hatte ihm unter finsterem Kopfschütteln ein Actenstück mehr hingeworfen als hingelegt.

»Ich habe Einsicht genommen,« sagte er. »Wie lange Zeit gedenken Sie diese Sache noch hinzuschleppen?«

Der Actuar war erschrocken; er antwortete:

»Entschuldigung! Ich glaube, nichts versäumt zu haben. Die Kerls gestehen eben nichts!«

»Das ist keine Entschuldigung. Sie haben ja Indizien genug in den Händen, mit denen Sie die Angeklagten förmlich erdrücken können!«


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»Sie sagen, daß sie sich zum Scherze verkleidet hätten. Was kann ich dagegen thun?«

»Pah! Es giebt in den Aussagen der Beiden genug Punkte, in denen sie sich widersprechen. Das sind Handhaben, bei denen Sie sie fassen müssen. Warum confrontiren Sie die Beiden nicht?«

»Ich glaubte die Untersuchung noch nicht reif genug dazu. Es kann zu nichts führen.«

»In der jetzigen Weise bringen Sie die Reife niemals zu Stande. Ich hoffe, daß das anders wird!«

Nach diesen Worten hatte sich der Amtmann entfernt. Der Actuar war überzeugt, seine Pflicht gethan zu haben. Er schritt erzürnt und beleidigt im Zimmer auf und ab, that einige Blicke in die Acten und murmelte dann vor sich hin:

»Unsinn! Confrontation! Dadurch verrathe ich doch nur dem Einen die Aussagen des Anderen. Aber, er will es, und so will auch ich.«

Er zog an der Glocke und befahl, die beiden Schmiede vorzuführen. Der Amtsdiener fragte:

»Beide zugleich, Herr Actuar?«

»Natürlich!«

»Ist das nicht gefährlich?«

»Warum sollte es gefährlich sein?«

»Die Kerls sind verwegen!«

»Pah! Haben sie sich denn schlecht geführt?«

»Nein. Sie sind im Gegentheil lammfromm gewesen. Aber gerade solchen Folgsamen ist nicht zu trauen. Soll ich vielleicht mit hereinkommen?«

»Nein. Sie wissen ja, daß während der Voruntersuchung über die Aussage der Gefangenen nichts verlauten darf, und darum -«

»Ich verrathe nichts!«

»Das weiß ich. Aber ich brauche Sie nicht. Übrigens habe ich ja, wie ein jeder anderer Untersuchungsbeamter, hier meinen Revolver.«

»So werde ich mich wenigstens in der Nähe der Thür aufhalten. Sollte etwas geschehen, so rufen Sie!«

Er ging, und der Actuar zuckte lächelnd die Achsel. Dennoch aber nahm er den Revolver aus dem Kasten und legte ihn neben das aufgeschlagene Actenheft hin.

Der alte Schmied war der Erste, welcher in das Wartezimmer gebracht wurde. Er schritt sofort auf die wohlbekannte Thür zu, hinter welcher er den Actuar wußte, aber der Amtsdiener sagte:

»Noch nicht. Ich habe erst Ihren Sohn zu holen. Setzen Sie sich einstweilen da auf die Bank!«

Der Alte gehorchte. Kein Zug seines Gesichtes bewegte sich; aber als er sich setzte, dehnte und reckte er seine Glieder, als ob er sich überzeugen wolle, ob sie noch kräftig genug seien zu dem, was er sich im Augenblicke vorgenommen hatte.


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Als sein Sohn gebracht wurde, blieb dieser bei in Anblicke des Vaters überrascht stehen.

»Du auch hier« fragte er.

»Ja,« brummte der Alte, ohne aufzusehen.

»Sie sollen confrontirt werden,« sagte der Diener mit wichtigem Tone. »Treten Sie jetzt ein!«

Er öffnete die Thür. Dabei drehte er ihnen nur einen Augenblick lang den Rücken zu; aber dieser Moment genügte vollständig. Ein gegenseitiger schneller Aufblitz der Augen und die Beiden wußten, was geschehen werde. Als sie eintraten, war ihr Aussehen so unbefangen und demüthig, daß der Actuar dem Amtsdiener durch ein Achselzucken andeutete, für wie ungerechtfertigt er seine vorhin ausgesprochene Besorgniß halte.

Dennoch aber postirte sich der Letztere draußen an die Thür, um beim geringsten Zeichen, daß der Untersuchende sich in Gefahr befinde, diesem zu Hilfe zu eilen. Leider aber durfte er seine anderen Obliegenheiten nicht versäumen, und so kam es, daß er seinen Platz sehr bald verlassen mußte.

Später stellte er sich freilich wieder hin. Er hörte nicht das mindeste Auffällige; auffällig fand er nur die tiefe Stille, welche da drinnen herrschte. Er hörte kein Wort, während er doch vorhin die Stimme des Actuars und auch diejenigen der Antwortenden gehört hatte, wenn es ihm auch unmöglich gewesen war, die Worte selbst zu verstehen.

Dies kam ihm je länger desto mehr verdächtig vor. Sollte er öffnen? Das durfte er nicht. Aber als jetzt zufälliger Weise der Amtswachtmeister in das Wartezimmer trat, sagte er zu diesem:

»Herr Wachtmeister, geben Sie mir einen Rath. Die beiden Schmiede befinden sich seit einer Stunde zur Confrontation bei dem Herrn -«

»Das weiß ich,« fiel ihm der Vorgesetzte in die Rede. »Was ist's mit ihnen?«

»Ich höre sie nicht sprechen.«

»Natürlich! Das Brüllen würde man ihnen bald verbieten!«

»O, sie brauchen nicht zu brüllen, um gehört zu werden. Es ist aber todesstill da drin!«

»Horchen wir einmal!«

Er legte das Ohr an die Thür und brummte nach einer Weile:

»Kein Wort! Der Herr Actuar wird schreiben.«

»Da müßte er bereits seit einer halben Stunde geschrieben haben, ohne zu sprechen. Und das kommt bei einem Kreuzverhör doch wohl niemals vor.«

Jetzt schien der Wachtmeister auch unruhig zu werden.

»Warten wir noch ein Weilchen,« sagte er.

Beide legten die Ohren an die Thüre, aber als sich auch jetzt noch mehrere Minuten lang kein Ton hören ließ, sagte der Amtsdiener:

»Ich schlage vor, nachzusehen.«

»Es wird allerdings das Beste sein.«

Er klopfte an und als auch jetzt keine Antwort erfolgte, da machte er


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die Thür auf, um einzutreten. Er hatte aber den Fuß kaum erhoben, so rief er:

»Herr Gott! Was ist das?«

Und der Diener, welcher hinter ihm stand und über seine Achsel in das Zimmer blickte, schrie mit dröhnender Stimme:

»Hilfe! Mord! Mord! Mord!«

Im Nu öffneten sich die Thüren sämmtlicher Zimmer und die Insassen der letzteren eilten herbei. Sie sahen den armen Actuar gebrochenen Auges auf der Diele liegen. Gerade in seinem Herzen stak die eine Klinge der langen, spitzen Papierscheere. Er war eine Leiche. Das Fenster stand offen und - der Revolver war verschwunden.

Die beiden Gefangenen hatten die Fragen des Untersuchenden ganz demüthig beantwortet. Er hatte sie gebeten, der Wahrheit die Ehre zu geben; er war dann strenger geworden und hatte sie auf die Widersprüche in ihren früheren Aussagen aufmerksam gemacht.

»Widersprüche?« hatte der Alte gefragt. »Ich kann darauf schwören, daß ich mir nicht widersprochen habe.«

»Sich selbst allerdings nicht, aber Ihrem Sohne!«

»Das ist nicht möglich. Er kann nichts Anderes sagen, als was ich ausgesagt habe.«

»Nun, so will ich es Ihnen beweisen. Ihr Sohn sagt zum Beispiel hier, daß Sie am Abende Ihrer Gefangennahme zu Fuße von Tannenstein gekommen seien. Sie aber haben gesagt, daß Sie unterwegs einen Schlitten getroffen hätten, dessen Eigenthümer Sie mitgenommen hatte.«

»Das? Das sollte ich gesagt haben?« fragte der Alte kopfschüttelnd und im Tone des Zweifels.

»Ja.«

»Da kann ich mich nicht besinnen.«

»Ah, Sie wollen diese Aussage verleugnen, zurücknehmen?«

»Was ich gesagt habe, das bleibt gesagt. Aber ich glaube wirklich nicht, daß ich von einem Schlitten gesprochen habe. Ich pflege doch nicht zu phantasiren!«

»Aber hier steht es ja!«

»Hm! Das ist ein Irrthum, Herr Actuar!« meinte er im treuherzigsten Tone.

»Sie haben das Protocoll ja unterschrieben!«

»Wo?«

»Hier! Kommen Sie her! Sehen Sie es sich an!«

Er schob ihm das Actenheft hin. Der Alte bückte sich nieder und las seine eigene Unterschrift.

»Nun? Haben Sie das geschrieben?«

»Ja, Herr Actuar.«

»Und jetzt wollen Sie Ihre damaligen Worte - Gott -«

Er konnte nicht weiter sprechen. Seine Stimme erstarb in einem leisen


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Röcheln. Der Alte hatte ihm die Hände wie einen Schraubstock um die Gurgel gekrallt, so daß er dunkelblau im Gesicht wurde und Arme und Beine von sich streckte.

»Halt fest!« flüsterte der Sohn.

Er nahm die Papierscheere vom Tische, öffnete sie und stieß ihm die eine Klinge derselben in das Herz.

»Jetzt nieder mit ihm und wir zum Fenster hinaus!«

Während dieser Worte öffnete der Sohn das Fenster. Der Alte, welcher weitsehender war, meinte:

»Hier, den Revolver mit; dann seine Uhr, seine Ringe und sein Geld. Wir brauche es.«

Sie steckten die erwähnten Gegenstände im Nu zu sich. Dann blickte der Sohn zum Fenster hinaus.

»Geht es?« fragte der Alte.

»Es ist nicht sehr hoch.«

»Unsinn! Darnach frage ich nicht. Springen können meine alten Knochen noch! Ich meine, ob es Leute unten giebt?«

»Nur ein Mädchen holt dort am Troge Wasser.«

»Warte, bis sie fort ist!«

»Jetzt geht sie. Dort zur Thür hinein. Rasch!«

»Höre, Junge! Wenn ich mir Schaden thue und nicht fliehen kann, schießt Du mir eine Kugel durch den Kopf!«

»Und Du mir eben so, wenn ich vielleicht nicht fort kann. Jetzt. Hinunter!«

Der Sohn stand auf dem Fensterbrete. Er verschwand. Einige Augenblicke später sprang ihm der Alte nach. Er kam zwar auch mit den Händen zur Erde, erhob sich aber sofort wieder. Sie warfen einen Blick umher.

»Niemand hat's gesehen!« sagte der Sohn, fast athemlos vor Aufregung.

»Also fort!«

»Wohin?«

»Zur Bergstraße hinaus, in den Wald.«

»Gut! Aber langsam, damit es nicht auffällt.«

Es war um die Zeit, in welcher die Bewohner der kleinen Stadt mit dem Mittagsessen beschäftigt waren. Die Gassen waren leer. Die Bergstraße war bald erreicht und nicht lang. Bereits kaum zwei Minuten nach dem Sprunge befanden sich die Beiden vor der Stadt.

»Und wohin nun?« fragte der Sohn.

»Zum Bergwirth. Er war unser Hehler, er muß uns helfen. Aber nicht hinein zu ihm. Es könnten Bekannte da sein. Wir müssen durch den Wald, bis wir uns seiner Schänke gegenüber befinden.«

»Wie bekommen wir ihn heraus?«

»Er kennt doch den Pascherpfiff!«

»Gut! Aber wir wollen uns theilen.«

»Warum?«


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»Da beachtet man uns weniger, wenn man uns ja bemerken sollte. Eile Du da links in's Gebüsch. Ich gehe noch ein Stück langsam nach dem Gehölze rechts. Hinter der Straßenkrümmung kommen wir wieder zusammen.«

Das wurde gemacht.

Wer jetzt den jungen Wolf so langsam dahinschlendern sah, der konnte unmöglich denken, daß er ein flüchtiger Mörder sei, der soeben aus der Gefangenschaft entsprungen war.

Da, wo die Straße eine andere Richtung annahm und nun eine Entdeckung von der Stadt aus unmöglich machte, trafen sie wieder aufeinander. Hier gab es Wald.

»Jetzt im Galopp nach der Schänke!« meinte der Sohn.

»Man wird unsere Spuren sehen.«

»Nein. Unter den Tannen giebt es keinen Schnee. Er ist zum Glück selbst im Freien nicht sehr hoch.«

Sie rannten in höchster Eile im Walde parallel mit der Straße dahin, bis drüben auf der andern Seite der letzteren sich ein Gebäudecomplex zeigte, neben dessen Vorderthür einige Pferdekrippen standen. Über dieser Thür waren die Worte »Zur Bergschänke« zu lesen.

Der alte Schmied steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen nicht sehr lauten, aber durchdringenden und eigenthümlich trillernden Pfiff aus. Bereits nach kurzer Zeit wurde drüben die Thür geöffnet und der Wirth trat heraus. Er blickte sich forschend um.

Wolf pfiff abermals, aber viel leiser als vorher. Da kam der Wirth über die Straße herüber geschritten. Er trat zwischen die Bäume herein.

»Tausend Teufel! Wolf!« rief er erschrocken.

»Brüll' nicht so!« antwortete der Alte.

»Seit Ihr ausgerissen?«

»Ja. Du mußt uns helfen.«

»Wie denn?«

»Wir müssen nach der Hauptstadt.«

Wie seit Ihr denn entkommen ? »Wie seid Ihr denn entkommen?«

»Das zu erzählen, ist jetzt keine Zeit. Man wird uns gleich auf den Fersen sein.«

»Na ja, also schnell. Ich bin ganz froh, daß Ihr frei seid. Wir steckten in fürchterlicher Angst, daß Ihr schwatzen würdet. Dann wäre es um uns geschehen gewesen!«

»Fällt uns nicht ein. Sind Deine Pferde daheim?«

»Ja.«

»Spanne rasch an!«

»Hm! Eine verteufelte Geschichte! Gut, daß meine Alte nicht daheim ist. Der würde die Sache auffällig sein.«

»Nimm viel Stroh mit, damit wir uns verstecken können; bringe auch zwei Hüte oder Mützen mit, auch einiges Geld und Proviant. In der Residenz bezahlen wir.«


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»Wollt Ihr denn hier warten?«

»Wie lange dauert es?«

»Eine halbe Stunde immerhin.«

»So lange Zeit können wir uns unmöglich herstellen!«

»So lauft fort und sagt, wo ich Euch treffen soll.«

»Hinter dem nächsten Dorfe, wenn Du bei der Windmühle vorüber bist, im Walde.«

»So macht, daß Ihr fortkommt!«

Sie gingen, und er kehrte in die Stube zurück. Dort saß sein Sohn und fragte neugierig:

»Nicht wahr, es war der Pascherpfiff?«

»Ja. Du hattest richtig gehört.«

»Wer war es denn?«

»Ein Bote von drüben herüber.«

»Endlich wieder einmal! Wir haben lange genug feiern müssen. Giebt's ein Geschäft?«

»Ja. Ich soll etwas abholen. Wir müssen sofort einspannen. Gehe in den Stall. Schirre die Pferde ein!«

»Das schwere Geschirr?«

»Das leichte. Ich nehme den Rollwagen.«

Der Sohn begab sich nach dem Stalle, und der Vater ging nach dem Hofe, wo der Rollwagen stand. Er steckte einige Strohbündel hinein, that ein paar Decken hinzu und zog ihn zum Thore hinaus. Er hatte Einiges an dem Wagen herum zu wischen und zu putzen und beachtete da die Straße nicht. Darum erschrak er fast, als er angeredet wurde.

»Guten Morgen, Bergwirth!«

Er drehte sich um. Vor ihm stand ein Gensdarm, welcher öfters bei ihm einkehrte.

»Guten Morgen!« antwortete er. »Auch auf den Beinen?«

»Ja. Haben Sie Gäste drin?«

»Keinen Menschen.«

»Auch nicht gehabt?«

»Noch nicht.«

»Seit welcher Zeit sind Sie hier vor dem Hause?«

»Hm,« antwortete der schlaue Wirth, »ich habe wohl über eine halbe Stunde hier an dem Wagen herumhantiert.«

»Kam während der Zeit Jemand vorüber?«

»Nein.«

»Wirklich nicht?«

»Gewiß nicht. Ich müßte es gesehen haben. Sie fischen wohl nach irgend Jemandem?«

»Freilich, freilich! Ich will es Ihnen sagen, damit Sie mir vorkommenden Falles einen Wink geben können. Kennen Sie die beiden Wölfe?«

»Wölfe? Was für Wölfe? Giebt's hier solches Raubzeug!«


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»Ich wollte sagen, die beiden Wolfs, die Schmiede aus Tannenstein da drüben.«

»Ach, Sie meinen die Schmuggelbrüder?«

»Ja.«

»Nun, wenigstens den Alten habe ich einmal gesehen.«

»Würden Sie ihn wieder erkennen?«

»Ich denke es. Aber, sie sind doch gefangen!«

»Sie sind vor einer Viertelstunde entsprungen.«

»Heiliges Sapperment! Wie ist das möglich?«

»Sie haben den Actuar erstochen und sind durch das Fenster auf die Gasse herabgesprungen.«

Der Alte schlug, jetzt wirklich erschrocken, beide Hände zusammen, fuhr einige Schritte zurück und rief:

»Herr, mein Heiland? Doch nicht?«

»Ja. Die ganze Stadt ist auf den Beinen, und die Polizei rennt zunächst nach allen Seiten hinaus, um zu erfahren, nach welcher Richtung sie geflohen sind. Also, Sie haben wirklich Niemand gesehen?«

»Hier nicht.«

»Was soll das heißen, hier nicht?«

»Nun - aber, ich habe alte Augen, auf die ich mich nicht mehr verlassen kann!«

»Heraus damit! Sie wissen Etwas!«

»Etwas Genaues freilich nicht. Das ist aber nicht vor einer Viertelstunde, sondern Etwas länger her.«

»Nun, meinetwegen eine halbe Stunde. Man kann das nicht so genau sagen. Also was ist es?«

»Meine Uhr war stehen geblieben -«

»Zum Teufel mit Ihrer Uhr! Kommen Sie zur Sache!«

»Ich bin ja bei der Sache! Also meine Uhr war stehen geblieben. Ich wollte sie richtig stellen und trat da ein Stück hinter das Haus hinüber, wo ich den Kirchthurm sehen kann und das Zifferblatt dran.«

Dies erzählte er breit und langsam. Der ungeduldige Gensdarm stampfte mit dem Fuße und sagte:

»Jetzt bringen Sie gar den Kirchthurm. Da hinauf sind die Wolfs sicher nicht gelaufen!«

»Nein, da wären sie schön dumm! Aber als ich nun so nach der Uhr schaute, sah ich links auf der hohen Straße, die nach der Grenze geht, zwei Menschen rennen.«

»Ach! Sapperment! Zwei?«

»Ja.«

»Fiel Ihnen irgend Etwas auf?«

»Ja. Sie hatten nämlich nichts auf den Köpfen, obgleich wir keine Hundstage haben. Sie rannten so sehr, daß ich dachte, der Eine wolle den Anderen fangen.«


- 1669 -


»Konnten Sie die Kleidung erkennen?«

»Die Farbe nicht, aber Jacken hatten sie an, wie sie hier bei uns getragen werden. Und - da fällt mir ein - -«

»Was denn?«

»Der Eine, der Hintere, der dem Vorderen nicht gut nachkommen konnte, hatte helles Haar. Ob grau, ob blond, das konnte ich nicht genau erkennen.«

»Sie sind es, sie sind es! Also die hohe Straße hinaus?«

»Ja, nach der Grenze zu.«

»Da müssen wir sofort nach - zu Pferde - damit wir ihnen den Weg abschneiden. Danke sehr, Bergwirth! Adieu.«

»Gern geschehen. Adieu.«

Der Gensdarm rannte im Trabe nach der Stadt zurück. Der Bergwirth aber brummte zufrieden vor sich hin:

»Das war pfiffig, Alter! Das hätte ich Dir beinahe gar nicht zugetraut. Nun mögen sie grad in entgegengesetzter Richtung nach diesen beiden Kerlen suchen!«

Und sich die Pelzmütze nach hinten schiebend, fuhr er fort:

»Den Actuar erstochen! Donnerwetter! Verwegene Menschen! Aber sonst hätten sie nicht entfliehen können! Ich muß ihnen forthelfen, es geht nicht anders!«

Er zog einen Pelz an, schaffte einigen Proviant, Cigarren und Schnaps, auch zwei Mützen in den Wagen und war damit eben fertig, als sein Sohn die Pferde brachte.

»Wohin geht es denn?« fragte dieser.

»Nach Trippsdrille, wo die Pfütze über die Weide geht!«

»Oho! Man wird doch wohl fragen dürfen!«

»Halte das Maul, Junge! In solchen Sachen braucht nicht ein Jeder Alles zu wissen.«

»Aber wenn die Mutter kommt und fragt! Was soll ich ihr da antworten?«

»Sage ihr, daß ich gradewegs hinauf in den Himmel gefahren bin. Wenn sie heute Abend hinaufguckt, wird sie grad neben dem Mond meine Pelzmütze sehen.«

Er stieg auf, nahm Zügel und Peitsche in die Hände und fuhr davon. Sein Sohn aber lachte vor sich hin:

»Ein alter Schlauberger! Der hat es hinter den Ohren. Aus dem bringt Keiner Etwas heraus, was er nicht freiwillig sagen will. Aber es ist gut so!«

Der Bergwirth ließ die Pferde tüchtig ausgreifen. Er kam durch das nächste Dorf, an der Windmühle vorüber, und als er dann langsamer durch den Wald fuhr, kamen die beiden Schmiede zwischen den Bäumen hervor und stiegen auf den Wagen, wo sie mit Freuden die Vorbereitungen bemerkten, welche er getroffen hatte.


- 1670 -


»Hast Du Etwas bemerkt?« fragte der alte Wolf.

»Ja, freilich!«

»Was?«

»Der Gensdarm war bei mir! Was für Dummheiten habt Ihr Kerls denn gemacht!«

»Ausgerissen sind wir! Weiter nichts!«

»So, so! Und der Actuar?«

»Ah! Sprach der Gendarm von ihm?«

»Natürlich! Ihr habt ihn erstochen!«

»Unsinn!«

»Na, vor mir braucht Ihr Euch nicht zu fürchten. Mir soll es nur lieb sein, wenn sie Euch nicht erwischen.«

»Das denke ich auch. Also man sucht bereits nach uns!«

»Ja. Die ganze Stadt ist rebellisch. Zum Glück habe ich Euch laufen sehen.«

»Sapperment! Du hast doch keine Dummheiten gemacht!«

»Glaube nicht. Ich habe zwei die hohe Straße hinaus rennen sehen, nach der Grenze zu. Jetzt holt sich der Gensdarm ein Pferd, um ihnen den Weg zu verlegen.«

»Recht so, recht! Das hast Du gescheidt gemacht.«

»Also nach der Hauptstadt wollt Ihr?«

»Ja.«

»Da kommen wir erst gegen Abend an. Habt Ihr denn dort Jemand, der Euch aus der Patsche hilft?«

»Das will ich meinen.«

»Wer ist's denn?«

»Der - Hauptmann.«

»Sapperment! Kennt Ihr denn auch den?«

»Ja. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir werden Dir diese Fuhre gut bezahlen.«

»Bezahlt oder nicht, ich thue Euch den Gefallen. Basta! Jetzt aber grabt Euch in das Stroh hinein. Es darf kein Mensch sehen, daß sich außer mir noch Zwei im Wagen befinden. Später, wenn wir in andere Gegenden kommen, dürft Ihr dann die Nasen wieder herausrecken.« - -

Der Fürst von Befour war nicht wenig erstaunt, als er das erwähnte Plakat gelesen hatte. Das Erste, was er that, sich nach Adolf umzudrehen. Aber dieser war bereits hinter den ersten Häusern der Stadt verschwunden. Der Fürst aber ging zum Bahnhofsvorstande.

»Herr Inspector, haben Sie eine geheitzte Locomotive hier?« fragte er.

»Zwei sogar.«

»Kann ich Extramaschine nebst Wagen nach der Residenz bekommen?«

»Das ist nicht möglich, mein Herr.«

»Warum nicht?«

»Die Strecke ist jetzt nicht frei. Thut mir leid.«


- 1671 -


»Wann wird sie frei?«

»In einer Stunde. Aber dann geht ja auch der fahrplanmäßige Personenzug ab.«

»Danke!«

Er schritt davon. Der Beamte aber blickte dem Manne nach, welcher so reich war, einen Extrazug zu bestellen. Der Fürst begab sich nun in das Telegraphenbureau und gab folgende, an seinen anderen Diener, den Polizisten Anton, adressirte Depesche auf:

»Die zwei Schmiede entflohen. Jedenfalls nach der Residenz. Wohnung des Baron streng bewachen.«

Nun ging er nach der Stadt, natürlich nach dem Gerichtsgebäude, wo er seinen Namen nannte und um Auskunft bat, welche ihm auch bereitwilligst gegeben wurde.

Adolf hatte das Plakat gar nicht bemerkt. Er war von seinem Begleiter in ein kleines, enges Gäßchen geführt worden, in welchem sich ein nicht sehr einladendes Bierlokal befand. Dort setzten sie sich mit einander an einen Tisch und ließen sich zwei Gläser Bier geben.

Adolf kostete dasselbe, setzte aber das Glas sofort wieder ab und sagte, sich schüttelnd:

»Pfui Teufel! Wer soll das genießen?«

»Schlecht?«

»Miserabel!«

»Lassen Sie es stehen.«

»Das sagen Sie in solcher Gemüthlichkeit?«

»Ja. Was wollen Sie anders machen?«

»Ein besseres Local aufsuchen, in welchem man genießen kann, was man bezahlt.«

»Das werden wir bleiben lassen.«

»Warum?«

»Ich habe mit Absicht diese abgelegene Kneipe aufgesucht. Sie begreifen doch, daß wir uns hier nicht breit machen dürfen.«

»Das haben wir gar nicht nöthig; aber Sie können sich wohl ebenso denken, daß die Polizei auf derartige Spelunken ein schärferes Auge hat, als auf anständige Restaurationen.«

Der andere hätte geantwortet. Da aber trat die Wirthin herein und grüßte. Der Wirth, welcher das Bier gebracht hatte, war in ein Nebenzimmer gegangen. Seine Frau schien erregt zu sein. Sie wendete sich mit vielgeschäftiger Miene an die beiden Gäste und sagte:

»Wieder einen Falschen.«

»Was?« fragte Adolf.

»Nun, wieder einen Falschen. Das ist nun der Vierte.«

»Welcher Vierte?«

»Na, erst Einen, dann Zwei auf einmal, und nun jetzt diesen Letzten, der also der Vierte ist.«


- 1672 -


»Aber, liebe Frau, ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Sie wissen das nicht? Diesen Vierten haben sie für den jungen Schmied gehalten. Er hat sich in einem Nachbardorf herumgetrieben und keine Mütze gehabt. Bei seiner Einlieferung hier aber hat sich's herausgestellt, daß er auch ein Falscher ist. Die Richtigen sind viel zu gescheidt. Die sind längst über alle Berge.«

»Sie reden von Falschen und Richtigen. Wer sind denn diese Falschen und diese Richtigen.«

»Nun, die Richtigen sind doch die beiden Schmiede.«

»Welche Schmiede?«

»Die Wolfs aus Tannenstein!«

»Die Wolfs - - ah, Sapperment! Was ist mit ihnen?«

»Wie? Was? Das wissen Sie nicht?«

»Nein.«

»Das ist aber stark!«

»Wir sind hier fremd, gute Frau!«

»Ach so! Nun, dann ist es freilich nicht zu verwundern, daß Sie nicht wissen, was geschehen ist. Aber das wissen Sie vielleicht, daß die Schmiede hier gefangen waren?«

»Ja, zufällig.«

»Nun, die sind fort.«

»Was? Fort?«

»Ja, ausgerissen. «

»Entflohen?« fragte Adolf, indem er vom Stuhle aufsprang.

Auch sein Gefährte erhob sich rasch von seinem Sitze. Hastig frug er die Wirthin:

»Wissen Sie genau, daß die beiden Schmiede entkommen sind?«

»Ja, entflohen sind sie, alle Beide,« antwortete die Frau.

»Wann?«

»Gegen elf Uhr am Vormittage.«

»Wie ist denn das möglich?«

»Sie sind mit einander im Verhör gewesen. Da haben sie den Actuar erstochen und sind durch das Fenster herab auf die Straße gesprungen und dann verschwunden.«

»Welch eine Verwegenheit! Welch eine Tollkühnheit!«

»Freilich! Sie konnten Hals und Beine brechen!«

»Haben sie denn als Gefangene Waffen gehabt?«

»Sie haben die Papierscheere genommen.«

»Herrgott! Hat man keine Spur von ihnen entdeckt?«

»Nein. Aber Viere hat man bereits arretirt; freilich sind es nicht die Richtigen. Von dem Vierten weiß mein Mann noch gar nichts. Ich muß hinaus, um es ihm zu sagen.«

Sie ging. Die Beiden standen da und sahen einander an.


- 1673 -


»Glauben Sie es?« fragte der maskirte Agent.

»Es klingt, wenn auch nicht unglaublich, aber doch fürchterlich.«

»Einen Actuar erstochen!«

»Mit der Papierscheere!«

»Und dann zum Fenster herabgesprungen!«

»Am hellen, lichten Tage.«

»Diese Kerls müssen verwegene Menschen sein! Kamen sie Ihnen denn auch so vor, als Sie hier gefangen waren?«

»Gar nicht. Da waren sie ganz das Gegentheil.«

»Die haben es hinter den Ohren gehabt!«

»Nun aber in den Beinen!«

»Man wird sie doch nicht erwischen!«

»Dann wäre es freilich um sie geschehen. Bis jetzt haben sie noch nichts Todeswürdiges vollbracht. Der heutige Mord aber geht ihnen an das Leben.«

»Und unser schöner Plan ist zu schanden!«

»Leider! Ich dachte mir dabei Etwas zu verdienen.«

»Das ist nun freilich aus. Vielleicht aber giebt der Hauptmann Ihnen eine andere Gelegenheit, sich Geld zu holen.«

»Auf welche Weise?«

»Hm! Ich habe so eine Ahnung.«

»Ahnung? Ah, Sie sind der Hauptmann gar nicht.«

»Wieso?«

»Sie haben nur so eine Ahnung von Dem, was er vorhat. Und soeben sagten Sie: Vielleicht giebt der Hauptmann Ihnen eine andere Gelegenheit. Sie sprachen von ihm in der dritten Person. Sie sind also ein Anderer.«

»Man kann sich versprechen.«

»Ja, versprochen haben Sie sich allerdings. Sie sind aus der Rolle gefallen.«

»Nein. Ich bin wirklich der Hauptmann. Da es aber sehr häufig vorkommt, daß ich dies nicht zugebe, so verspreche ich mich zuweilen. So auch jetzt.«

»Na, meinetwegen. Welche Gelegenheit meinen Sie also?«

»Hm! Davon sprechen wir später!«

»Jetzt wäre es mir lieber!«

»Es hat Zeit.«

»O nein. Ich will aufrichtig sein: Ich brauche Geld.«

»Wozu?«

»Ich muß eine Schuld tilgen, welche mir sehr viel zu schaffen macht. Dieser Schuld wegen beging ich den Fehler, welcher mich hier in das Gefängniß brachte. Es glückte nicht, und so ist die Summe viel höher und der Gläubiger viel dringender geworden.«

»Ist es viel?«

»Leider, leider!«


- 1674 -


»Ich denke, Sie haben eine gute Stelle.«

»Der Gehalt ist allerdings fein. Aber bis ich mir so viel, wie ich brauche, gespart habe, hat mich der Gläubiger längst beim Kragen genommen.«

»Das klingt gefährlich. Ich ahne es, um was es sich handelt. Doch wohl um ein Wechselchen?«

»Richtig! So ist es.«

»Sie haben quer geschrieben, aber einen falschen Namen?«

»Verdammt! Sie haben eine feine Nase.«

»Na, vielleicht läßt sich helfen. Wann müssen Sie das Geld haben?«

»Leider diese Woche noch.«

»O wehe! Wollen Sie es sich nicht bei Ihrer Herrin borgen?«

»Wo denken Sie hin! Ich bin bei ihr so kurze Zeit in Stellung und sollte sie anborgen? Die würde mich jedenfalls sofort zum Teufel jagen.«

»Ich will mir die Sache überlegen. Kommen Sie morgen um Mitternacht wieder an die betreffende Stelle. Da will ich Ihnen Bescheid sagen.«

»Danke! Ich hoffe, daß Sie mich nicht verlassen werden, nachdem ich Ihnen heute gezeigt habe, daß ich brauchbar bin.«

»Ich werde mich Ihrer annehmen. Jetzt aber müssen wir an den Augenblick denken. Unser Vorhaben ist mißglückt. Was bleibt uns nun zu thun?«

»Nichts wohl, als daß wir nach der Residenz zurückkehren.«

»Ja, was wollen wir sonst thun. Aber, wissen Sie, da es so steht, braucht man uns gar nicht neben einander zu sehen. Wir wollen uns also trennen. Nicht?«

»Wie Sie befehlen!«

»Sie haben doch Geld?«

»Wenig genug.«

»Nun, so will ich Ihnen auf Abschlag hier diese zehn Gulden geben. Morgen Abend hoffe ich, mit Ihnen ein Geschäft zu entriren, welches Ihnen mehr einbringen wird.«

Er gab ihm die erwähnte Summe und dann ging Adolf. Er begab sich natürlich sofort nach dem Bahnhofe. Er sah den Fürsten nicht dort, wartete aber, da er ahnte, daß dieser nach dem Gerichtsgebäude gegangen sei, um sich zu erkundigen, aber sicher vor dem Abgange des nächsten Zuges zurückkehren werde.

Nach einiger Zeit kam auch der Agent in das Wartezimmer, setzte sich aber nicht zu Adolf, that vielmehr, als ob er denselben gar nicht kenne. Dieser aber ging an die Kasse und löste sich ein Zuschlagsbillet, um mit dem Fürsten in demselben Coupee fahren zu können. Er sagte sich, daß er mit ihm hier auf dem Bahnhofe nicht reden dürfe, um dem Agenten nicht Anlaß zum Mißtrauen zu geben.

Die Zeit verging und der Zug stand bereit. Der Agent war bereits eingestiegen. Da kam der Fürst, als es eben zum zweiten Male läutete, erblickte ihn, gab einen Wink und stieg in ein Coupee. Adolf folgte sofort.


- 1675 -


»Hast Du Billet?« fragte Befour.

»Ja, Durchlaucht.«

»So bist Du also vorbereitet gewesen, mit mir zu fahren?«

»Ja. Ich habe mich von dem Agenten los gemacht, oder vielmehr er sich von mir.«

»Ihr habt natürlich erfahren, was geschehen ist?«

»Ja und zwar in der Restauration.«

»Ich las es schon auf dem Bahnhofe und habe sofort nach Hause telegraphirt.«

»Ah! Ich errathe. An Anton?«

»Allerdings.«

»Sie glauben, daß die Flüchtlinge sich nach der Hauptstadt wenden werden!«

»Unbedingt. Sie haben keinen Menschen, der ihnen die Mittel zur weiteren Flucht geben kann, als den Baron.«

»So suchen sie ihn auf. Aber bis zur Residenz ist es weit. Sie haben kein Geld, vielleicht nicht einmal vollständige Kleidung.«

»Das wird sie wenig kümmern. Was ihnen da fehlt, das werden sie zusammenbringen. Auch laufen werden sie nicht; eher stehlen sie sich ein Geschirr. Ich kenne die beiden Schmiede. Sie werden darnach trachten, noch heute nach der Hauptstadt zu kommen, ehe sie durch ihr Signalement weiter bekannt werden.«

»Hält Anton Wache?«

»Jedenfalls. Weißt Du nicht, ob er sein früheres Verhältniß zur Zofe der Baronin aufgelöst hat?«

»Das fällt ihm nicht ein!«

»So ist sie noch seine Geliebte?«

»Ja. So lange wir den Baron zu beobachten haben, giebt Anton dieses Mädchen nicht auf.«

»Ist sie denn noch im Dienste?«

»Ja. Ihre Herrin ist zwar verschwunden; der Baron hat aber vom weiblichen Dienstpersonale noch Niemand entlassen.«

»So wird Anton sich heute vielleicht an ihre Hilfe wenden.«

Der Fürst hatte damit richtig gerathen. Anton hatte speziell die Bewachung der Baronin Ella überbekommen. Daher ging er jetzt weniger aus und war stets zu Hause. Die Depesche kam also sofort nach ihrer Ankunft in seine Hand.

Als er sie gelesen hatte, überlegte er einen Augenblick, dann steckte er verschiedene Kleinigkeiten zu sich und begab sich nach dem Helfenstein'schen Palais.

Er kannte das Fenster des Stübchens seiner Geliebten sehr genau, und ebenso kannte sie das Zeichen, welches er ihr zu geben pflegte. Es war dunkel geworden. Er klatschte in die Hände und da zeigte sich der Schatten des Mädchens am Fenster. Das war das Zeichen, daß sie herabkommen werde.

Nun begab er sich nach der vorderen Seite des Palais, wo er sie bald


- 1676 -


heraustreten sah. Sie schritt nach dem Brunnen zu, welcher auf dem Platze stand, und er folgte ihr.

»Endlich!« begrüßte sie ihn. »Wie lange ist es her, daß ich Dich nicht zu sehen bekommen habe!«

»Eine wahre Ewigkeit, mein Schätzchen. Aber ich konnte nicht, liebes Herz; heute ist der erste Abend, an welchem ich frei habe, und da komme ich natürlich auch gleich zu Dir.«

»Das ist schön, das ist hübsch von Dir, das freut mich. Aber jetzt habe ich leider keine Zeit.«

»Wann denn?«

»Kannst Du nicht in zwei Stunden wiederkommen?«

»So spät?«

»Es geht nicht anders. Wir haben mit dem Souper zu thun.«

»Ist Dein Herr zu Hause?«

»Nein.«

»Er will aber zu Hause speisen, wie ich vermuthe, da Ihr so sehr viel zu thun habt?«

»Ja. Er wird in einer Stunde kommen.«

»Wo er ist, weißt Du nicht?«

»Nein. Ich erfahre jetzt überhaupt gar nichts mehr. Früher, als die gnädige Frau noch da war, da war es anders.«

»Besser?«

»Viel, viel besser!«

»So wünschest Du sie zurück?«

»Von ganzem Herzen!«

»Hat denn bei Euch Niemand eine Ahnung, wo sie ist?«

»Kein Mensch.«

»Auch der Baron selbst nicht?«

»Das weiß ich nicht.«

»Hm!« meinte er in bedenklichem Tone. »Wenn ich doch nur genau wüßte, ob Du schweigen kannst!«

»Was wäre da?«

»Ich würde Dir Etwas mittheilen.«

»Du thust ja recht geheimnißvoll!«

»Ja, freilich.«

»Also ist's ein Geheimniß?«

»Allerdings, und zwar ein großes.«

»Welches meine Herrin betrifft?«

»Hm!«

»Ah, pah! Sei nicht so zurückhaltend!«

»Man darf nicht davon sprechen.«

»Aber doch gegen mich!«

»Eigentlich auch nicht.«


- 1677 -


»Aber ich werde doch schweigen, zumal Du da sagst, daß es sich um meine Herrin handelt.«

»Wenn ich nur auch wirklich überzeugt sein könnte!«

»Anton, ich schwöre Dir, daß ich schweigen werde.«

»O, Ihr Mädchen schwört zu Allem, und dann, grad wenn es gilt, macht Ihr Euch mit Euren Geheimnissen wichtig und plaudert Alles, Alles aus.«

»Ich nicht, Anton, gewiß nicht! Du sollst es mir auch nicht umsonst mittheilen. Ich gebe Dir Etwas dafür.«

»Ah! Was denn?«

»Was Du lange gewünscht hast.«

»Was wäre das?«

»Nun, weißt Du, ich habe ganz genau beobachtet, als der Baron einmal die Beinkleider gewechselt hatte und dann im Speisesaale aß, da schlich ich mich in seine Gemächer -«

»Sapperment! Nach dem Schlüssel etwa?«

»Ja.«

»Hast Du ihn?«

»Er steckte noch in der Hose, die er abgelegt hatte. Und da habe ich ihn heraus genommen.«

»Das hätte ich eher wissen sollen!«

»Warum? Da wärst Du wohl eher einmal gekommen?«

Er sah, daß er sich beinahe vergallopirt hatte, und lenkte also schnell wieder um, indem er antwortete:

»Das nicht. Ich hätte auf keinen Fall eher kommen können, aber ich hätte mich doch riesig gefreut. Natürlich hat er den Verlust bemerken müssen?«

»Freilich wohl. Er hat aber nicht gefragt. Jedenfalls hat er geglaubt, den Schlüssel verloren zu haben. Ich weiß, daß ein anderer gemacht worden ist.«

»Du hast ihn noch?«

»Natürlich!«

»Und Du weißt gewiß, daß es der richtige ist?«

»Ja. Ich bin des Abends hinter das Palais gegangen und habe probirt. Der Schlüssel schließt famos.«

»Wo ist er?«

»Ich habe ihn einstecken.«

»Herrlich! Nun kann ich zu Dir, wann es mir beliebt! Bitte, gieb ihn her!«

»Halt! Nicht so rasch! Du bekommst ihn nur dann, wenn Du mir Dein Geheimniß mittheilst.«

»Na, da es so ist, sollst Du es erfahren. Aber vorher muß ich den Schlüssel haben.«

»Weiter nichts?«

»Was noch?«

»Weißt Du, Anton, daß Du in neuester Zeit recht gleichgiltig geworden


- 1678 -


bist? Nicht einmal "guten Abend" hast Du gesagt, und von einem Kusse ist erst recht gar keine Rede gewesen. Also, den Schlüssel und einen Kuß!«

»Daß Ihr Mädchens doch immer und immer geküßt sein wollt! Schmeckt denn ein Schnurrbart gar so ausgezeichnet? Na, komm her! Einen, zwei, drei! Ist das genug?«

»Noch drei solche! Weißt Du, solche herzhafte!«

»Gut! Werde mir Mühe geben! Also: Eins, zwei und drei! Da sind sie! Amen!«

»Schön! Hier ist der Schlüssel!«

»Danke, mein liebes Kind!«

Er steckte diesen wichtigen Gegenstand sofort in die Tasche.

»Nun aber das Geheimniß!«

»Gleich! Aber ich denke, Du hast keine Zeit!«

»Für Geheimnisse allemal!«

»So will ich Dir sagen, daß Du vielleicht Deine Herrin baldigst wiedersehen wirst.«

»Herrgott! Lebt sie noch?«

»Wie es scheint.«

»Wo ist sie?«

»Ja, das ist schwer zu sagen. Ich habe nämlich zwei Menschen belauscht, welche von ihr sprachen.«

»Wer waren sie?«

»Polizisten.«

»O weh! Hat die Polizei damit zu schaffen?«

»Natürlich! Wenn ein Mensch verschwindet oder gar geraubt wird, so ist es Sache der Polizei, nach ihm zu forschen.«

»Und man hat sie gefunden?«

»Ja. Sie hat sich nämlich selbst finden lassen.«

»Erkläre das!«

»Nun, sie ist nämlich gar nicht krank gewesen.«

»O doch, und zwar sehr! Das weiß ich am Besten!«

»Nichts weißt Du! Ich will Dir sagen, daß der Baron sie hat los werden wollen. Er hat ihr ein Gift eingegeben, welches den Starrkrampf bringt.«

»Herrgott!«

»Dann hat er sie nach der Irrenanstalt geschafft, wo er sie sterben lassen wollte. Das hat aber der Fürst des Elendes erfahren, und er hat sie gerettet, indem er sie aus der Irrenanstalt entführen ließ.«

»Ist das wahr?«

»Wirklich und wörtlich.«

»Hat sie den Starrkrampf noch?«

»Nein. Sie ist hergestellt. Sie hat ihre volle Besinnung. Sie spricht sehr viel von Dir.«

»Von mir? Mein Gott! Weißt Du, sie hat mich oft gescholten und


- 1679 -


gepeinigt; aber dennoch ist sie mir tausendmal lieber gewesen, als der Baron. Ich wollte, ich könnte wieder bei ihr sein. Kommt sie nicht wieder?«

»Nein, auf keinen Fall.«

»So wünsche ich, ich könnte zu ihr!«

»Vielleicht ist das möglich zu machen.«

»Man müßte wissen, wo sie ist.«

»Freilich!«

»Haben die beiden Polizisten nicht davon gesprochen?«

»Sie thaten das, und ich habe mich sodann überzeugt, ob es auch wirklich wahr ist.«

»Ist es wahr?«

»Ja.«

»Aber Du sagtest doch, daß Du den Ort nicht weißt!«

»Na, man muß nicht Alles sofort ausplaudern! Ja, ich weiß, wo sie ist, liebes Kind.«

»Bitte, bitte, sage es mir!«

»Jetzt nicht. Sie hat es mir verboten. Sie muß erst wissen, ob Du ihr treu sein wirst.«

»Das will ich, gewiß, gewiß.«

»Aber dann müßtest Du vom Baron fort!«

»Ich würde sogleich gehen.«

»So schnell ist das nicht möglich. Vorher muß die Baronin Einiges erfahren, was zu wissen ihr sehr nothwendig ist.«

»Was ist das?«

»Verschiedenes. Wir werden nachher, wenn Du Zeit hast, davon sprechen. Hier ist es nicht gut, länger stehen zu bleiben.«

»Du hast recht. Ich werde dafür Sorge tragen, daß Du unbemerkt zu mir hinaufkommen kannst. Ich komme, sobald der Weg frei ist und hole Dich.«

Sie kehrte in das Palais zurück, und er postirte sich so, daß er das Portal scharf im Auge behielt. - -

Die Zeit verging. Der Zug, mit welchem der Fürst mit Adolf zurückkehrte, näherte sich der Residenz.

»Du wirst,« sagte der Fürst zu dem Letzteren, »direct vom Bahnhofe weg Anton aufsuchen, um mit ihm Wache zu stehen, während ich nach meiner Wohnung fahre, um mich zu verkleiden. Ich komme dann rasch nach.«

Anton hatte während der letzten Zeit nachdenklich in seiner Ecke gesessen. Jetzt sagte er:

»Durchlaucht, ich habe einen Gedanken, welcher vielleicht nicht ganz schlecht zu nennen ist.«

»So heraus damit.«

»Es ist für uns von Wichtigkeit, zu wissen, ob die Schmiede wirklich nach der Residenz kommen.«

»Ich bin überzeugt davon.«

»Es ist immer noch besser, wirkliche Sicherheit zu haben.«


- 1680 -


»Weißt Du einen Weg, sie zu erlangen?«

»Ja.«

»Ich nicht. So wärst Du also scharfsinniger, als ich.«

»O, es ist nur ein zufälliger Gedanke. Ob er Erfolg hat, muß erst abgewartet werden.«

»Nun, so laß hören.«

»Es muß den Schmieden daran gelegen sein, den Baron auch wirklich zu treffen -«

» Das versteht sich!«

»Sie werden also dafür sorgen, daß er heute zu Hause ist.«

»Ah! Du denkst sie benachrichtigen ihn?«

»Ja.«

»Das könnte nur durch eine Depesche geschehen sein. Ein Brief wurde zu spät kommen.«

»Das eben denke ich auch.«

»Aber es ist gefährlich für sie.«

»O, sie werden sich doch nicht unterschreiben.«

»Hm! Du meinst, daß ich im Telegraphenamte nachfrage?«

»Ja. Man muß Ihnen Auskunft ertheilen.«

»Dein Rath ist nicht ganz übel. Ich werde ihn befolgen.«

»Es sollte mich freuen, wenn ich das Richtige getroffen hätte. Jetzt kommen wir an. Bitte, Durchlaucht, erlauben Sie mir, eher auszusteigen. Dieser Agent Bauer braucht nicht zu wissen, welche Klasse ich gefahren bin.«

Der Zug hielt an und Adolf sprang sofort hinaus, um zu verschwinden. Der Fürst bestieg eine Droschke und ließ sich nach dem Telegraphenamte bringen. Dort nannte er seinen Namen, zeigte die vom Minister unterschriebene Karte vor und fragte, ob heute ein Telegramm an den Herrn Baron Franz von Helfenstein angekommen sei.

»Ja,« antwortete der Beamte.

»Mit welchem Wortlaute?«

»Hier ist die Depesche.«

Er las:

 »Bitte, ganz bestimmt heute Abend Punkt zehn Uhr in Ihrer Wohnung zu sein!« 

Eine Unterschrift gab es nicht. Der Aufgabeort war halbwegs zwischen dem Gebirgsstädtchen und der Residenz. Daraus ersah der Fürst, daß die Schmiede sich allerdings eines Fuhrwerkes bedienten.

Er fuhr nun nach Hause, legte eine Verkleidung an und begab sich nach dem Helfenstein'schen Palais. An dem hinteren Pförtchen hielt Adolf Wacht.

»Waren Durchlaucht beim Telegraphen?« fragte er.

»Ja. Dein Gedanke war gut. Punkt zehn Uhr Audienz.«

»Freut mich! Die haben wir also! Nehmen wir sie sofort gefangen?«

»Nein. Ich will den Baron heute noch nicht packen. Ich muß erst


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