Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Fünfter Band


Lieferung 76.

- 1801 -


Da endlich hielt die Droschke. Sie stiegen aus, und Holm erkundigte sich beim Kutscher:

»Nun, wo hat er gehalten?«

»Hotel Union.«

»Ist er hineingegangen?«

»Ja.«

»Ah! Sapperment! Fahren Sie noch eine Straße weiter und erwarten Sie uns dort! Hier ist Geld!«

Der Mann steckte das große Silberstück zufrieden ein und fuhr weiter.

»Sie thaten doch ganz erschrocken!« sagte Hauck.

»Das bin ich auch.«

»Warum?«

»Im Hotel Union wohnt Miß Ellen Starton, und ich weiß zufälliger Weise, daß man es auf ihre Brillanten abgesehen hat.«

»Was Sie sagen! Die Spitzbuben werden sich wohl hüten, es Ihnen mitzutheilen!«

»Dennoch weiß ich es. Ich war heute im Palais des Fürsten von Befour; dort wurde davon gesprochen.«

»So müssen wir in's Hotel, um die Dame, wenn es nöthig sein sollte, zu warnen.«

»Nicht so hitzig! Wollen erst sehen, ob es nöthig ist. Es genügt nicht, die That zu vereiteln, wenn sie wirklich geplant werden sollte, sondern wir müssen uns zugleich Mühe geben, die Thäter in unsere Hände zu bekommen.«

»Das wäre ein Abenteuer! Wie aber es anfangen?«

»Wollen zunächst sehen, ob der Riese da steht. Wir kehren also um. Sie gehen auf der rechten und ich auf der linken Seite der Straße. Behalten Sie alle Thüren scharf im Auge! Thun Sie aber ja nicht so, als ob Sie eine Absicht dabei hätten.«

Sie trennten sich. Holm ging auf der Seite, auf welcher das Hotel lag. Die Thür desselben war trotz der späten Stunde noch offen. Er erreichte das Ende der Straße, ohne etwas Verdächtiges bemerkt zu haben. Von der anderen Seite kam jetzt Hauck herüber.

»Nun?« fragte Holm.

»Er steht dort.«

»Ah! Wo?«

»Unter der Thür, schief gegenüber. Er hatte sich ganz hinangedrückt, und ich that, als ob ich ihn gar nicht bemerke. Der Kerl hat wirklich Etwas vor!«

»War es der lange Mensch?«

»Ja. Ich bemerkte im Vorübergehen, daß er um einen Kopf länger ist als ich.«

»Gut! Er darf uns nicht wiedersehen, wenigstens Sie nicht. Machen wir also einen Umweg nach der Droschke zurück!«


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Und als sie bei derselben anlangten, fuhr er, zu seinem Begleiter gewendet, fort:

»Sie setzen sich jetzt mit hinein. Ich steige am Hotel ab; Sie aber fahren schleunigst nach dem Palais des Fürsten von Befour und sagen dort, die Diener Anton und Adolf sollen sofort nach Hotel Union kommen, Miß Starton befinde sich in Gefahr.«

»Wenn man aber bereits zu Bette ist?«

»So klingeln Sie.«

»Soll ich nicht lieber nach der Polizei gehen?«

»Nein. Dort ist man nicht so unterrichtet, wie die beiden Diener es sind. Man könnte Alles verderben. Erzählen Sie ihnen, was wir gesehen und beobachtet haben.«

Sie stiegen ein, nachdem der Kutscher seine Weisung empfangen hatte. Er hielt vor dem Hotel, wo Holm ausstieg, und fuhr dann schleunigst weiter.

Holm ging in das Restaurationszimmer und ließ sogleich den Wirth zu sich kommen.

»Ist Miß Starton daheim?« fragte er.

»Ja. Sie war heute bei Hofe, kam aber zeitig wieder. Ich glaube, daß sie bereits zur Ruhe gegangen ist.«

»Nein; ich sah noch Licht in ihren Fenstern. Ist der neu engagirte Diener da?«

Der Wirth warf ihm einen schnellen, beobachtenden Blick zu und antwortete:

»Nein. Seine Anwesenheit ist nicht nöthig.«

»Wohl weil der Hauptmann gefangen ist?«

»Ah! Sie kennen die Angelegenheit?«

»Ja. Der Diener wird in einigen Minuten kommen.«

»Warum?«

»Weil eben seine Anwesenheit sehr nöthig ist.«

Der Wirth entfärbte sich und fragte ängstlich:

»Sie meinen doch nicht etwa, daß Miß Ellen Starton sich in Gefahr befindet?«

»Gerade dieses meine ich. Aber bitte, bleiben Sie ruhig! Lassen Sie sich nichts merken! Jetzt hat es noch keine Gefahr. Man wird nichts unternehmen, bevor Ihr Thor geschlossen ist. Halten Sie es also jetzt noch offen.«

»Sie meinen einen Einbruch?«

»Ich vermuthe es.«

»Mein Gott! Der Ruf meines Hauses ist in Gefahr!«

»O nein, denn die That wird ja verhütet.«

»Wer soll denn der Thäter sein?«

»Vor zehn Minuten ist ein Fremder angekommen?«

»Ja. Dieser also?«

»Dieser ist es. Hat er sich bereits ausgewiesen?«


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»Nein. Ich lasse das Fremdenbuch erst am nächsten Morgen vorlegen. Das erfordert die Höflichkeit.«

»Wo logirt er?«

»Erste Etage.«

»Nach vorn?«

»Ja, fast neben den Gemächern der Miß.«

»Hat er sich schon ganz zurückgezogen?«

»Nein. Er hat sich noch Essen bestellt, welches er, da es so spät ist, erst in einer Viertelstunde bekommen kann.«

»So haben wir noch Zeit. Also lassen Sie sich nichts merken. Der Diener Leonhardt wird mit noch einem Herrn kommen. Er mag hier auf mich warten. Jetzt aber lassen Sie mich bei der Miß melden.«

»Soll sie so spät gestört werden?«

»Soll sie lieber beraubt und ermordet werden?«

»Sie haben Recht. Bitte, einen Augenblick Geduld!«

Er entfernte sich, und nach einiger Zeit kam das Zimmermädchen, um Holm zu sagen, daß er angemeldet worden sei und von der Miß empfangen werden solle. Als er bei der Geliebten eintrat, stand sie in erwartungsvoller, fast erstaunter Haltung mitten im Zimmer. Sie war wohl eben im Begriffe gewesen, sich zur Ruhe zu legen, denn sie trug ein Négligé, in welchem sie ihm reizender und herrlicher vorkam, als er sie jemals gesehen hatte.

Herr Doctor! Ich heiße Sie willkommen! »Herr Doctor!« sagte sie. »Ich heiße Sie willkommen! Es muß aber ein außerordentlicher Beweggrund gewesen sein, der Sie veranlaßte, sich zu so später Stunde noch zu mir zu bemühen.«

»Das ist er auch. Ich habe um Entschuldigung zu bitten, hoffe aber, Ihre Verzeihung zu erhalten.«

»Gewiß gern! Sprechen Sie.«

»Der Wirth hat Ihnen nichts mitgetheilt?«

»Meinen Sie jetzt?«

»Ja.«

»Er war nicht bei mir. Er sendete mir das Mädchen, um mir sagen zu lassen, daß Sie mir eine höchst wichtige und höchst schleunige Mittheilung zu machen hätten. Sie sehen, daß ich in Folge dessen nicht einmal Zeit fand, an meiner Toilette eine Änderung vorzunehmen.«

»Es kommt allerdings sehr darauf an, keine Minute Zeit zu verlieren. Darf ich sprechen, ohne befürchten zu müssen, Sie allzusehr zu erschrecken?«

»Ah! Ich ahne. Ich bin bereits vorbereitet. Schweben etwa meine Juwelen in Gefahr?«

»Ich glaube es; vielleicht auch Sie selbst.«

»Haben Sie Grund zu dieser Vermuthung?«

»Ja. Soeben ist ein Fremder angekommen, welcher neben Ihnen einlogirt wurde und den ich sehr in Verdacht habe, daß er Ihnen während der Nacht einen Besuch machen werde. Und drüben auf der Straße steht sein Helfershelfer.«


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»Ich danke Ihnen! Was rathen Sie mir?«

»Bitte, lassen Sie zunächst die Vorhänge herab. Ich darf es nicht thun, da mich sonst der Mann auf der Straße bemerken würde.«

Sie folgte seiner Aufforderung, dann fuhr er fort:

»Ich ersuche Sie, schleunigst eine Etage höher ein Zimmer zu beziehen, dabei aber jedes Geräusch zu vermeiden. Man wird diese beiden Menschen hier empfangen.«

»Dieser Plan ist freilich gut; aber, Herr Doctor, Sie überlassen das doch der Polizei!«

»Ich werde meine Pflicht thun.«

»Ihre Pflicht ist nicht, Einbrecher zu ergreifen. Ich bitte Sie sehr, sich keiner Gefahr auszusetzen. Versprechen Sie mir das?«

Sie hielt ihm das kleine, schöne Händchen entgegen. In ihrem Auge leuchtete Etwas, was sein Herz höher klopfen machte. Er ergriff ihre Hand und antwortete:

»Ich versichere Ihnen, daß keinerlei Gefahr für mich vorhanden ist. Ich habe bereits polizeiliche Hilfe requirirt.«

»Wohl meinen Pseudo=Leonhardt?«

»Ja. Er wird in kurzer Zeit mit Begleitung hier sein. Ihr Umzug muß natürlich in der Weise bewerkstelligt werden, daß Ihr gefährlicher Nachbar nichts davon bemerkt. Ihre Kostbarkeiten nehmen Sie natürlich mit. Darf ich den Wirth benachrichtigen?«

»Ja. Er mag mir nur fünf Minuten Zeit lassen; dann bin ich bereit.«

»So gestatten Sie mir, mich zu verabschieden!«

Er verbeugte sich ehrerbietig und wollte sich entfernen. Sie aber hielt ihm abermals die Hand entgegen und sagte:

»Es giebt jetzt, wie ich sehe, keine Zeit, Ihnen meinen Dank abzustatten, aber ich hoffe, daß wir uns wiedersehen.«

Er zog ihre Hand an seine Lippen und antwortete:

»Ich werde mir morgen erlauben, persönlich nachzufragen, wie Sie die jetzige Unruhe überwunden haben.«

»Nein. Das ist es nicht, was ich meine. Verlassen Sie vielleicht jetzt das Hotel?«

»Nein.«

»Sie bleiben also hier, bis der mir zugedachte Besuch geschehen ist?«

»Ja.«

»Nun, ich werde auch wach bleiben. Unter solchen Umständen bleibt natürlich der Schlaf fern. Ich bitte Sie also, mich zu benachrichtigen, wie das Abenteuer geendet. Wollen Sie das, Herr Doctor?«

»Sie befehlen, und ich werde gehorchen.«

»Nein, gehorchen sollen Sie nicht. Sie sollen es gern thun.«

»Das thue ich auch. Es wird mich sehr glücklich machen, Ihnen melden zu können, daß eine Gefahr, welche Ihnen drohte, glücklich vorübergegangen ist.«


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»Ich danke Ihnen! Also exponiren Sie sich nicht! Sie tragen Ihre Hand im Verbande; Sie müssen sich schonen!«

Ein herzlicher Händedruck und er ging.

Unten wartete der Wirth auf ihn. Er fragte:

»Also Sie sind überzeugt daß man die Beraubung der Miß wirklich vor hat?«

»Ja.«

»Wie nahm sie diese Nachricht auf?«

»Mit großer Fassung. Sie war ja vorbereitet.«

»Gott sei Dank! Was aber thun wir nun?«

»Ist noch Niemand gekommen?«

»Nein.«

»Quartiren Sie die Dame schleunigst aus, zur Sicherheit gleich eine Treppe höher. Aber dieser Fremde darf nichts merken. Unterdessen wird die Polizei kommen.«

»Schön, schön! Er soll gar nichts merken; ich werde ihn mit dem Essen so beschäftigen, daß er weder Etwas sehen noch Etwas hören soll. Weiß die Miß, daß sie andere Zimmer erhält?«

»Ja. In fünf Minuten ist sie bereit. Aber instruiren Sie Ihr Personal. Es muß Alles so unauffällig wie möglich geschehen.«

»Ganz wie Sie befehlen! Aber, bitte, darf ich vielleicht Ihren Namen erfahren?«

»Doctor Holm. So haben Sie mich ja anmelden lassen.«

»Ja, ja! Daran dachte ich nicht. Ich bin so erregt, daß ich selbst das bereits vergessen habe. Es steht für mich ja so viel auf dem Spiele. Der Ruf meines Hauses - - -!«

»Wird nur gewinnen, wenn man hört, daß es hier selbst dem schlauesten, raffinirtesten Menschen nicht möglich ist, ein Verbrechen zur Ausführung zu bringen. Eilen Sie jetzt.«

Als der Wirth aus dem Zimmer hinaus in den Flur trat, hielt eine Droschke vor der Thür. Er trat unter den Eingang und sah, daß neben dem Kutscher ein großer Reisekorb befestigt war. Zwei Damen und zwei Herren stiegen aus. Der eine Herr fragte:

»Das ist hier Hotel Union?«

»Ja, mein Herr.«

»Können wir Beide mit unsern Frauen hier wohnen?«

»Gewiß; nur liegen die Familienzimmer zwei Treppen hoch.«

»Das genirt uns nicht. Komm, Emilie; komm, Henriette!« Dieser Herr hatte das mit sehr lauter Stimme gesprochen. Die Vier traten in das Haus. Und jetzt fragte dieser Herr:

»Haben Sie unten einstweilen eine Stube, in welcher sich jetzt keine Gäste befinden?«

»Mein eigenes Wohnzimmer.«


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»Schön! Führen Sie uns hin. Befindet sich Herr Doctor Holm im Gastzimmer?«

»Ja,« antwortete der Wirth erstaunt.

Der fremde Herr öffnete die Thür und gab Holm einen Wink, welcher sofort befolgt wurde. Sie traten Alle in das Zimmer, und nun bemerkte der Wirth, als die beiden Damen sich entschleierten, zu seiner großen Überraschung, daß sie tüchtige Schnurrbärte hatten.

Der, welcher bisher gesprochen hatte, sagte lachend:

»Herr Wirth, erlauben Sie, daß wir uns Ihnen vorstellen! Ich bin der Fürst von Befour, allerdings in einer Kleidung, welche ich für gewöhnlich nicht zu tragen pflege - - -«

»Welche Ehre, welche Ehre!« stammelte der Hotelbesitzer, indem er sich tief verneigte.

»Dieser andere Herr ist der Herr Assessor von Schubert, Amtsanwalt hier in der Residenz.«

»Habe die Ehre, habe die Ehre!«

»Kennen Sie diese bärtige Dame?«

»Nein, habe die Ehre noch nicht gehabt.«

»O doch! Es ist Herr Leonhardt, welcher bereits das Vergnügen hatte, als Diener Miß Startons bei Ihnen zu wohnen.«

»Sapperment!« entfuhr es dem Wirthe. »Das ist ja ein ganz anderes Gesicht.«

»Aber doch derselbe Mann. Und diese andere Dame ist ein College von ihm. Wir erfuhren, daß draußen auf der Straße ein Aufpasser steht; darum wählten wir für diese beiden Herren Frauenüberkleider, damit wir nicht etwa Verdacht erregten. Wollen hier ablegen!«

Die beiden Polizisten Adolf und Anton nahmen ihre Damenhüte ab und zogen ihre Damenmäntel aus und zeigten sich nun in ihrer Männerkleidung.

»Jetzt, Herr Doctor, erzählen Sie vor allen Dingen,« wendete sich der Fürst an Holm.

»Hat der Musikus nicht genau berichtet?« fragte dieser.

»Doch, aber ich möchte es auch von Ihnen hören.«

»Erlauben Sie zunächst, daß der Wirth meiner Weisung folgt. Miß Starton muß schnell ausquartirt werden.«

»Natürlich! Das mag geschehen, während wir uns hier instruiren. Gehen Sie also!«

Der Wirth entfernte sich. Der Zimmerkellner war eben bereit, dem verdächtigen Fremden das Essen zu serviren. Damit wurde dieser Letztere so beschäftigt, daß er gar nicht Zeit fand, das indessen Vorgehende zu bemerken.

Die Tänzerin erhielt mit ihrer kleinen Negerin andere Zimmer angewiesen und nahm ihre sämtlichen Effecten mit nach oben. Als der Wirth dann in seine Wohnstube zurückkehrte, sagte der Fürst eben:

»Der Riese kann es nicht sein; aber es ist die Möglichkeit vorhanden,


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daß es sein Bruder ist. Wer aber ist der Andere? Können Sie ihn mir beschreiben?«

Diese Frage war an den Wirth gerichtet, welcher ein möglichst genaues Signalement des Fremden lieferte.

»Hm! Kenne ihn nicht,« sagte der Fürst.

»Jedenfalls ein Verbündeter des gefangenen Hauptmannes,« meinte der Diener Adolf.

»Anders nicht. Wie aber wollen sie bei der Miß eindringen? Sollten sie die Schlüssel besitzen?«

»Jedenfalls.«

»Hm! Wüßte ich nicht, daß wir den Hauptmann fest haben, so würde ich behaupten, daß er es sei. Na, wir werden ihn ja kennen lernen. Jetzt fragt es sich nur, wie der Riese in das Hotel kommen soll.«

»Vielleicht soll er sich einschleichen.«

»Das glaube ich nicht; das wäre zu gewagt. Eher nehme ich an, daß er zum Fenster einsteigen soll. Hat der Fremde Gepäck bei sich?«

»Ja, eine Reisetasche in Kofferform.«

»Vielleicht befindet sich eine Strickleiter darin. Wollen dies einmal beobachten. Haben Sie noch Gäste vorn in der Restauration?«

»Nein. Der Letzte ist vor fünf Minuten fort.«

»Ist noch Licht in der bisherigen Wohnung der Miß?«

»Nur im Schlafzimmer.«

»Recht so! Diese Kerls werden natürlich nicht eher beginnen, als bis Alles dunkel ist. Wir werden sie in der Wohnung der Miß erwarten. Sie bringen uns jetzt hinauf, ohne daß der Gast es bemerkt. Dann verlöschen Sie alle Lichter und schließen die Thüren so fest zu, daß Niemand passiren kann. Sie selbst verhalten sich mit Ihrem Personale vollständig passiv. Wir bringen die Angelegenheit ganz allein in Ordnung. Herr Assessor, brennen wir uns die Laternen an!«

Sie steckten zwei Blendlaternen an, die sie dann in ihre Taschen verbargen. Der Wirth ging voran, um sich zu überzeugen, daß der fremde Gast nichts bemerke, und führte sie in das Logis der Tänzerin.

Dort angekommen, verriegelte der Fürst von den drei nach dem Corridore führenden Thüren zwei, während er die dritte nur verschloß und dann den Schlüssel abzog.

»Auf diese Weise können sie nur zu dieser einen Thür eindringen,« sagte er. »Wir wissen also genau, wo wir sie zu erwarten haben. Jetzt, Herr Wirth, lassen Sie uns allein und machen Sie Ihr Haus dunkel!«

Als der Wirth gegangen war, fuhr der Fürst fort:

»Also wir haben drei Zimmer: Vor=, Wohn= und Schlafzimmer. Die beiden letzteren sind von innen verriegelt; man kann nur zum Vorzimmer herein. Das Geld und die Juwelen sind im Schlafzimmer zu suchen. Die Diebe werden also durch die beiden anderen Räume in das Letztere kommen. Dort erwarten wir sie. Da ein Bormann dabei ist, müssen wir uns auf einen


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kräftigen Widerstand gefaßt machen; doch sind wir fünf Personen; entkommen werden sie uns also voraussichtlich nicht.«

»Wohin stecken wir uns?« fragte der Assessor.

»Fünf Männer können sich in diesem kleinen Raume nicht verstecken. Es bleibt uns nichts Anderes übrig, als uns so lange in die Ecken zu schmiegen, bis sie hereingetreten sind. Dann heraus mit unseren Laternen, und wir haben sie.«

»Gut! Löschen wir also aus?«

»Ja. Dann öffnen wir ein Fenster, um zu beobachten, wie der Riese es anfängt, in das Haus zu kommen.«

»Wird er das nicht bemerken?«

»Nein. Die Gaslaternen brennen heute so schlecht, daß wir ohne Sorge für kurze Augenblicke öffnen können, ohne von unten bemerkt zu werden.«

Er löschte das in der Schlafstube brennende Licht aus, und dann traten sie an die Fenster, um die Straße zu beobachten.

Es verging doch über eine halbe Stunde, da endlich sagte Adolf zu den Harrenden:

»Aufgepaßt! Da unten bewegt sich Etwas.«

»Ja,« antwortete der Fürst. »Es kommt näher. Ah, welch langer, starker Mensch!«

»Jetzt ist er über die Straße herüber.«

»Der Andere wird ihm ein Zeichen gegeben haben. Sehen wir einmal nach, was er thut!«

Er öffnete einen Fensterflügel und steckte den Kopf vorsichtig hinaus, zog ihn aber bereits nach einigen Augenblicken wieder herein und berichtete:

»Es muß ein Seil herunter gelassen worden sein. Er turnt sich empor. Nun wird unsere Geduld nicht mehr lange auf die Probe gestellt werden.«

Er machte das Fenster wieder zu, und dann zogen sie sich erwartungsvoll in die Ecken zurück.

Die größte Geduldsprobe hatte natürlich Bormann auszustehen gehabt. Es war keine Kleinigkeit, bei diesem Wetter eine solche Zeit ruhig zu warten. Endlich bemerkte er, daß sich das letzte noch erleuchtete Fenster öffnete. Der Baron erschien an demselben, winkte und ließ den Strick hinab. Bormann ging über die Straße hinüber und zog kräftig an dem Stricke, um sich zu überzeugen, daß er gut befestigt sei. Dann griff er sich zum Fenster empor und stieg ein. Das hatte ihm, dem starken Manne und Akrobaten, gar keine Mühe gemacht.

In der Stube war es schnell finster geworden.

»Warum haben Sie das Licht ausgelöscht?« fragte er, indem er den Strick hereinzog und das Fenster verschloß.

»Das sehen Sie nicht ein?« antwortete der Baron.

»Nein.«

»Denken Sie sich, daß da drüben, in einer der gegenüberliegenden Wohnungen, zufälliger Weise Jemand erwacht und herüberblickt! Er würde Sie


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einsteigen sehen, wenn ich das Licht brennen hätte. Ich werde es übrigens wieder anzünden. Setzen Sie sich, damit man Ihren Schatten nicht bemerken kann!«

Als das Licht wieder leuchtete und der Baron Bormann betrachtete, hatte er Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.

»Mensch, wie sehen Sie denn aus!« sagte er, natürlich so leise, daß nur Bormann ihn verstehen konnte.

»Nun, wie denn?« antwortete dieser, ziemlich verdrossen.

»Als hätten Sie Schwimmstunde gehabt.«

»Ist's ein Wunder? Diese lange Zeit in solchem Regengusse zu stehen! Ich bin nicht nur bis auf die Haut, sondern sogar bis auf die Knochen naß. Haben Sie nichts Warmes?«

»Hier stehen zwei angestochene Flaschen Wein. Ich habe sie Ihretwegen kommen lassen. Trinken Sie!«

Bormann setzte die eine Flasche an den Mund und trank sie auf einmal aus. Dann sagte er, mit der Zunge schnalzend:

»Nicht übel! Aber ein Schnaps wäre mir doch lieber.«

»Könnte aber nur schaden. Wir müssen nüchtern sein.«

»Wie ist's gegangen?«

»Ganz gut. Im Hause ist es still geworden. Es scheint Alles zu Bett gegangen zu sein. Gab es noch erleuchtete Fenster an der Fronte?«

»Nein. Das letzte, welches verlöscht wurde, war nebenan.«

»Das ist das Vorzimmer der Tänzerin.«

»Daß Sie sich nur nicht irren!«

»Nein. Ich habe mich bei dem Kellner ganz genau erkundigt. Die Dame hat Vor=, Wohn= und Schlafzimmer. Diese drei Räume hängen durch Verbindungsthüren zusammen und aus jedem derselben führt zugleich eine Thür nach dem Corridore. Es giebt also im ganzen fünf Thüren.«

»Durch welche kommen wir hinein?«

»Das müssen wir erst probiren.«

»Wie nun, wenn alle drei von innen verriegelt sind?«

»Das wäre fatal. Dem Riegel könnten wir mit dem Schlüssel gar nicht beikommen.«

»Dann säßen wir da!«

»Nicht doch! Ich würde klopfen.«

»Und Andere aufwecken.«

»Nein. Ich klopfe so leise, daß nur sie es hörte. Ich würde sagen, ich sei das Zimmermädchen und hätte ihr etwas Wichtiges mitzutheilen.«

»Und wenn wir eintreten, schreit sie laut und weckt sämmtliche Bewohner des Hauses auf!«

»Wir geben ihr einen einzigen Klapps, dann ist sie für immer ruhig.«

»Besser ist's doch, der Schlüssel öffnet. Wann beginnen wir?«

»Jetzt noch nicht. Wenn sie vor so kurzer Zeit das Licht verlöscht hat, schläft sie ja noch nicht.«


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»Gut, so warten wir! Aber, wo ist der Ort, an welchem wir dann theilen werden?«

»Draußen in der Vorstadt, ein verlassenes Gebäude.«

»Wäre es nicht besser, gleich hier zu theilen?«

»Warum?«

»Wir könnten uns dann gleich hier trennen.«

»Das geht nicht. Die Gegenstände müssen mit Muse taxirt werden, damit Keiner zu kurz kommt.«

»Pah! Auf hundert Gulden mehr oder weniger kann es bei Millionen doch nicht ankommen. Wir theilen die Sachen in zwei Haufen. Jeder nimmt einen Theil und dann sind wir fertig.«

»Nein, nein, so geht das nicht. Wollen uns überhaupt jetzt nicht streiten. Wir werden noch eine Zeit lang ganz ruhig sein und dann beginnen. Löschen wir einstweilen das Licht aus.«

»Wir sollten dann eine Blendlaterne haben!«

»Die habe ich. Nur keine Sorge«

Er löschte au, und nun warteten sie im Dunkel. Dabei gab Jeder seinen Gedanken Audienz.

»Esel!« dachte der Baron. »Ich mit Dir theilen! Was Du Dir einbildest! Habe ich Dich erst mit dem Schatze in der Eisengieserei, so bekommst Du eine Kugel vor den Kopf. Während dieses Orcanes hört kein Mensch den Revolverschuß und ich bin dann alleiniger Herr des Vermögens.«

Und Bormann dachte bei sich:

»Er denkt wirklich, daß ich ihm glaube! Der und mit mir theilen! Warum will er nicht gleich hier theilen? Ich soll ihm die Kastanien aus dem Feuer holen und dann schießt er mich nieder, wie einen Hund. Millionen theilt dieser Mann nicht mit mir. Bin ich nur erst überzeugt, daß wirklich solche Kostbarkeiten da sind! Erst bekommt die Tänzerin ihren Hieb und dann schlage ich ihn vor den Kopf, daß ihm der Athem mit einem Male ausgeht. Den Hammer habe ich ja noch bei mir.«

Nach längerer Zeit flüsterte der Baron:

»Jetzt können wir es versuchen. Nicht?«

»Meinetwegen! Also, wenden wir Gewalt an, wenn es nothwendig ist?«

»Natürlich! Ohne Beute gehe ich nicht.«

»Ich auch nicht.«

»So wollen wir anbrennen.«

Er zündete seine Laterne an, die er aus dem Reiseköfferchen genommen hatte, und steckte sie in die Tasche. Dann öffnete er leise die Thür und blickte forschend hinaus.

»Wie ist's?« fragte Bormann hinter ihm.

»Alles gut. Eine einzige Gasflamme brennt. Vorwärts!«

Sie traten auf den Corridor hinaus und begaben sich zur nächsten Thür, welche in das Vorzimmer führte. Der Baron zog den Schlüssel hervor; steckte den Bart desselben in den Mund, um ihn mit Speichel anzufeuchten, damit er


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im Schlosse kein Geräusch verursache, und schob ihn dann unhörbar in das Schlüsselloch.

»Geht es?« flüsterte Bormann.

»Warten!«

Er drehte langsam, leise, leise. Ein ganz geringes, kaum wahrnehmbares Knirschen, dann sagte er.

»Die Thür geht auf. Da!«

Er zog sie mit einem raschen Rucke herüber und blickte in das Zimmer. Es war dunkel.

»Machen Sie wieder zu!« warnte Bormann.

Der Baron that es und zog dann die Laterne hervor, um einen raschen Lichtblitz umherfallen zu lassen. Sie erblickten nur die nackten Möbels.

»Hier giebt es nichts,« flüsterte er. »Weiter.«

Die Thür, welche in das Wohnzimmer führte, stand offen. Der Baron hatte das Glas der Laterne wieder verhüllt und huschte weiter. Bormann folgte leise.

»Leuchten Sie!« raunte er dem Baron zu.

Dieser befolgte die Weisung, steckte aber die Laterne sofort wieder ein.

»Haben Sie gesehen?« fragte er.

»Ja. Tisch, Sopha, Stühle, einen Schrank. Weiter nichts. Die Kostbarkeiten sind jedenfalls da drinnen.«

Dabei deutete er, trotzdem es dunkel war, nach dem Schlafzimmer.

»Natürlich!« antwortete der Baron. »Horchen Sie einmal! Hören Sie etwas?«

»Nein,« antwortete Bormann nach einer Pause angestrengten Lauschens.

»Man hört keinen Athemzug. Sie scheint sehr leise zu schlafen. Da wird sie leicht erwachen.«

»Ich trete sofort an's Bett. Sie leuchten sie an. Sehe ich, daß sie mit der Wimper zuckt, erwürge ich sie. Das ist das Sicherste, denn dabei geht es ruhig zu.«

»Schön! Also vorwärts.«

Bormann schlich voran, durch die zweite ebenso offene Verbindungsthür. Er stand mitten im Schlafzimmer und der Baron war ihm bis an die Thür desselben gefolgt.

»Leuchten!« raunte der Riese zu ihm zurück.

Der Baron enthüllte die Glastafel der Laterne. Ein ganz und gar leichtes Räuspern ließ sich in diesem Augenblicke im Zimmer vernehmen; aber obgleich es nur wie ein Hauch geklungen hatte, hörte das feine, vorsichtige Ohr des Barons doch, daß dies nicht eine weibliche Kehle gewesen sei. Gab es hier ein Mann?

Ein plötzlicher Verdacht kam über den Baron. Er ließ das Licht in das Zimmer fallen und warf, während das Auge des Riesen nur auf das eine Bett gerichtet war, den Blick scharf forschend in die Ecken. Dort, links,


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hatten sich zwei Männer niedergeduckt, er bemerkte deutlich ihre Köpfe. Und da rechts sah er die Achsel eines Dritten hinter der Gardine hervorragen.

Die Erkenntniß der Situation durchzuckte ihn mit der Schnelligkeit des Blitzes. Er konnte sich nur retten, wenn er Bormann opferte. Im Nu hatte er die Laterne wieder verdunkelt und huschte in höchster Eile auf den Strümpfen zurück, bis an die Eingangsthür des Vorzimmers, öffnete sie leise, trat in sein Zimmer, zog den Schlüssel ab, steckte ihn von innen an und schloß zu.

In derselben fieberhaften Eile zog er die Laterne hervor, so daß sie leuchtete, fuhr in die vorhin vorsichtiger Weise ausgezogenen Stiefel, setzte den Hut auf, zog den Regenmantel an, steckte den Arm in die Henkel seiner Koffertasche, riß das Fenster auf, ließ das noch immer an dem Bettbeine befestigte Seil hinunter, stieg auf die Fensterbrüstung und ließ sich hinab.

Von dem Augenblicke, an welchem er Verdacht geschöpft hatte, bis zu dem, an welchem er den Erdboden erreichte, war keine Minute vergangen. Noch war oben Alles still, als er in höchster Eile die Straße hinab lief.

Bormann war mitten im Zimmer stehen geblieben und wartete. Er konnte nicht begreifen, warum der Baron die Laterne wieder verschlossen hatte. Er wendete sich zurück und flüsterte:

»Im Bette lag ja Niemand!«

Er bekam keine Antwort.

»Leuchten!« sagte er.

Es blieb finster.

»Hauptmann!«

Keine Antwort.

»Verdammt! Ist er denn nicht mehr da!« murmelte er.

Er fühlte mit den Händen nach der Thür, wo der Baron soeben noch gestanden hatte. Es war Niemand da.

»Hauptmann!« sagte er, ein wenig lauter als vorher.

Jetzt bekam er Antwort, aber nicht diejenige, welche er erwartet hatte.

Der Fürst hatte nämlich jenes leichte Räuspern ebenso gehört wie der Baron. Er erkannte, daß dies Alles vor der Zeit verrathen könne. Er lauschte, als der Lichtschein so plötzlich wieder erlosch, auf und glaubte ein Geräusch zu vernehmen, als ob im vorderen Zimmer sich der Riegel eines Schlosses leise bewege.

»Der Eine ist fort!« raunte er Adolf zu, welcher sich neben ihm befand.

»Nein,« antwortete dieser. »Er steht noch an der Thür.«

»Ich habe einen Riegel gehört.«

»Das ist Täuschung. Er wird gleich wieder leuchten.«

Sie warteten. Sie hörten Bormann flüstern, ohne daß sie ihn verstanden. Dann bewegte er sich nach der Thür zurück und der Fürst vernahm deutlich das Wort »Hauptmann«. Zu gleicher Zeit aber war der rasche Schritt eines forteilenden Menschen unten hörbar.

Kurz entschlossen, zog der Fürst seine Laterne hervor. Ihr Schein erleuchtete das Zimmer. Bormann drehte sich wieder um. Er glaubte, der


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Baron befinde sich hinter ihm im Zimmer. Da aber erblickte er den Fürsten, welcher zufälliger Weise dieselbe Verkleidung trug wie damals in Brückenau, als er Bormann im Gasthofe an der fortgesetzten Mißhandlung des armen Knaben verhinderte.

»Donnerwetter! Der Elendsfürst!« entfuhr es ihm.

»Drauf!« commandirte der Fürst.

Jetzt leuchtete auch die Laterne des Assessors auf. Aber Bormann erkannte, woran er war. Er, der riesenstarke Mann, schlug um sich und schüttelte die Angreifer von sich ab, wie ein Löwe die Meute. Er sprach kein Wort, um keinen Lärm hervorzubringen, und eilte durch die Zimmer hinaus in den Corridor. Erst dort gab er wieder ein Wort zuhören:

»Höllenelement!«

Er fand die Thür des Barons verschlossen. Der Fürst war hinter ihm hergesprungen und versetzte dem vor Rathlosigkeit einen Augenblick Stutzenden einen Fausthieb an die Schläfe, daß er gegen die Wand taumelte. Da waren auch schon Adolf und Anton bei der Hand, welche Bormann zu Boden rissen. Er hatte die eisernen Schellen an der Hand, ehe er noch einen klaren Gedanken fassen konnte.

Nun aber ließ er sich hören. Er stieß ein lautes Wuthgeheul aus und schlug mit den Beinen und den gefesselten Händen um sich.

»Einen Knebel!« befahl der Fürst. »Fesseln an die Füße!«

Die beiden Diener waren in der Ausführung solcher Befehle gewandt und erfahren. Einige Secunden - der Gefangene konnte sich nicht mehr bewegen, und im Munde stak der Knebel.

»Der Andere ist doch fort!« sagte der Fürst, indem er vergeblich an der Thür drückte. »Rasch ein Beil!«

Anton eilte die Treppe hinab, wo es unten jetzt lebendig wurde, und brachte aus der Küche, in welcher, da sie nach hinten lag, das Licht nicht ausgelöscht worden war, ein Beil herbei. Mit Hilfe desselben wurde die Thür aufgesprengt. Das Zimmer war leer, das Fenster offen und das Seil hing hinab.

»Entkommen, entkommen!« sagte der Fürst. »Wer von Ihnen war es, der sich räusperte?«

»Ich,« antwortete der Assessor aufrichtig. »Ich konnte es nicht unterdrücken. Es war eigentlich ein Husten, den ich nur mit der allergrößten Anstrengung bezwang.«

»So hat dieser Mensch seine Rettung Ihnen zu verdanken?«

»Er ist da hinab?«

»Ja. Es ist kein gewöhnlicher Pfuscher gewesen, sondern er hat mit einer staunenswerthen Geistesgegenwart gehandelt. Ich wiederhole, wenn wir den Hauptmann nicht fest hätten, so würde ich denken, er sei es gewesen.«

»Können wir ihm denn nicht nach?«

»In diesem Wetter? Bei dem Vorsprung, den er hat? Unmöglich!


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Er ist uns verloren, wenigstens einstweilen. Hoffentlich aber finden wir noch seine Spur.«

Das Wuthgeschrei Bormann's hatte die Schläfer geweckt. Sie, die nicht das Geringste geahnt hatten, kamen erschrocken herbei, um zu erfahren, was geschehen sei. Auch der Wirth fand sich mit seinem Personale ein. Der Fürst trat hinaus in den Corridor und erklärte:

»Meine Herrschaften, es wurde hier ein Einbruch versucht, aber die Polizei war benachrichtigt worden. Wir haben den Mann ergriffen und es droht Ihnen keine Gefahr. Ziehen Sie sich in Gottes Namen wieder in Ihre Zimmer zurück! Ihre Anwesenheit kann uns nur die Ausübung unserer Pflicht erschweren!«

Ohne abzuwarten, ob sie seine Weisung befolgen würden, ließ er Bormann in das Zimmer tragen und die Thür verschließen. Der Knebel wurde entfernt, und nun fragte der Fürst:

»Wer war der Andere, der sich bei Ihnen befand?«

»Niemand!« grinste der Gefragte.

»Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie allein gewesen seien.«

»Nein.«

»Wer also war der Andere?«

»Ich weiß es nicht.«

»So, so! Wie sind Sie in das Hotel gekommen?«

»Wie Sie. Durch die Thür.«

»Nicht durch dieses Fenster?«

»Nein.«

»Was wollten Sie hier?«

»Übernachten!«

»Nicht übel!«

»Ich werde gesucht, ich darf mich nicht sehen lassen. In dem Hundewetter fand ich keinen Ort zum Schlafen, darum schlich ich mich hier ein.«

»Mittels Nachschlüssel!«

»Nein.«

»Er steckt ja noch an!«

»Er gehörte dem Anderen, nicht mir.«

»So sagen Sie, wer dieser Andere war?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie werden schon noch besser antworten! Adolf, wollen einmal sehen, was er in den Taschen hat.«

Der Diener zog die Gegenstände hervor. Sie bestanden in einem Beutel mit wenig Münze, einer tombackenen Uhr, einigen schlechten Fingerringen, einem Messer, einem Hammer und mehreren Schlüsseln.

Der Fürst betrachtete den Hammer aufmerksam und fragte dann den Gefangenen:

»Wozu tragen Sie dieses Werkzeug bei sich?«

»Ich habe den Hammer heute gefunden.«


- 1815 -


»Wo?«

»Auf der Gasse.«

»Bei diesem Regenwetter?«

»Ja.«

»Dann hätte der Regen das abgewaschen, was an dem Eisen klebt. Es ist Blut. Sehen Sie her, Herr Assessor!«

Der Hammer ging von Hand zu Hand. Alle waren einig, daß das, was an ihm klebte, Blut sei.

»Wie ist der Hammer blutig geworden?« fragte der Fürst.

»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn gefunden.«

»So, so! Und diese Schlüssel. Woher sind sie?«

»Auch gefunden.«

»Wo?«

»Auch auf der Gasse.«

»Wunderbar! Wohl auch heute?«

»Ja.«

»Bei dem Hammer?«

»Ja.«

Es waren mehrere kleine und ein großer Schlüssel. Der Fürst betrachtete den letzteren aufmerksam, schüttelte den Kopf und sagte dann nachdenklich:

»Gerade einen solchen muß ich bei Ihnen gesehen haben, Herr Assessor.«

»Bei mir? Wo?«

»Auf Ihrem Schreibtische, während des Verhörs.«

»Das wäre der Hauptschlüssel zum Gefängnisse!«

»Was! Wirklich! Da, sehen Sie!«

Der Assessor nahm den Schlüssel in die Hand und sagte gleich nach dem ersten Blicke, den er darauf geworfen hatte, in sichtlicher Bestürzung:

»Er ist es, der Hauptschlüssel! Aber neu, vielleicht nachgemacht, ohne Erlaubniß!«

»Ist's möglich! Ist's wahr! Irren Sie sich nicht?«

»Nein. Ich kenne ihn so genau, daß ein Irrthum gar nicht stattfinden kann.«

»Dann ist ein Verbrechen geschehen; dann ist es so, wie ich vermuthete: Der, welcher durch Ihr Räuspern entkommen ist, war der Hauptmann.«

»Sie meinen den Baron Helfenstein?«

»Ja.«

»Unmöglich! Der ist ja gefangen!«

»Kennen Sie diese kleinen Schlüssel?«

Du Assessor untersuchte sie und sagte dann bestürzt:

»Einige kenne ich. Sie passen zu Handschellen und eisernen Bretzeln, mit denen Gefangene geschlossen werden.«

»Ha, also doch! War der Hauptmann gefesselt?«

»Ja.«


- 1816 -


»Der Hauptschlüssel, diese Fesselschlüssel, der blutige Hammer! Herr Assessor, wir müssen sofort, sofort nach dem Gefängnisse! Die Anderen mögen den Gefangenen nachbringen; ich werde eine Droschke schicken. Aber geht mir nicht etwa fein säuberlich mit diesem Menschen um. Laßt keine seiner Bewegungen aus den Augen!«

Er wickelte den Hammer sorgfältig in sein Taschentuch, steckte ihn mit den Schlüsseln ein und zog den Assessor mit sich fort. Das Thor war bereits wieder geöffnet worden. Die Beiden eilten nach der nächsten Nachtstation, schickten eine Droschke nach dem Hotel und ließen sich von einer zweiten nach dem Gefängnisse fahren.

»Sollten Sie Recht haben!« sagte der Assessor.

»Gott gebe, daß ich mich täusche!«

»Sie meinen, daß dieser Bormann den Hauptmann befreit habe?«

»Ja.«

»Wie wäre er zu den Schlüsseln gekommen?«

»Den Hauptschlüssel hat er gehabt, woher, das werden wir wohl erfahren, die anderen hat er im Gefängnisse gefunden. Und mit dem Hammer - ah!«

»Welch ein Gedanke! Sind wir bald da?«

»Noch nicht. Ich brenne vor Ungeduld. Ist der Hauptmann entkommen, dann wehe uns! Er wird nach unserem Blute lechzen!«

»Hoffentlich täuschen Sie sich.«

»Ob ich mich irre, werden wir sogleich erfahren. Da sind wir, steigen wir aus!«

Noch während der Fürst den Kutscher bezahlte, klingelte der Assessor mit einer hier ganz verpönten Heftigkeit. Erst nach einiger Zeit öffnete sich das über dem Hauptthore gelegene Fenster und die Stimme des Wachtmeisters Uhlig ließ sich hören:

»Wer ist da?«

»Assessor von Schubert. Schnell öffnen, schnell!«

»Gleich, gleich.«

Der Wachtmeister sputete sich gewiß möglichst, aber es dauerte den Beiden doch fast zu lange. Endlich kam er und ließ sie ein.

»Alles in Ordnung?« fragte der Assessor, noch im strömenden Regen.

»Alles, ja Alles!«

»Na, nur erst hinein in Ihre Stube!«

Als sie dort eintraten, sahen sie, daß der Wachtmeister nur Hose, Capot und Pantoffeln trug, so sehr beeilt hatte er sich, ihnen zu öffnen.

»Also es ist Alles in Ordnung?« fragte der Assessor.

»Ja.«

»Nichts geschehen?«

»Nein, sonst hätte man es mir gemeldet.«

»Wer hat die Nachtwache?«

»Schließer Leistner.«

»Sind die Pikets richtig abgelöst?«


- 1817 -


»Um Zwölf Uhr das Zweite. Dann ging ich schlafen. Um vier Uhr wird die dritte Ablösung kommen.«

»Der Hauptmann soll entflohen sein.«

»Herrgott!«

Mehr brachte der brave Mann vor Schreck nicht heraus.

»Ja, und zwar unter Blutvergießen!«

»Gott behüte mich!«

»Führen Sie uns hinauf!«

Der Wachtmeister brannte eine Laterne an und führte die beiden Herren die Treppe empor, unter welche Bormann seine Stiefeln einstweilen versteckt hatte. Als er oben die Thür aufgeschlossen hatte und nach der Aufsichtszelle blickte, sagte er betroffen:

»Da hing noch um zwölf Uhr der Rock und die Mütze des Schließers. Sollte er diese Sachen in die Zelle geholt haben!«

»Wir werden sehen.«

»Wer hat das Gas zurück gedreht?«

»Doch wohl nicht der Schließer. Schnell, nachsehen! Der Mann müßte uns hören, selbst wenn er eingeschlafen wäre. Wir sprechen ja laut genug!«

Der Wachtmeister öffnete die Aufsichtszelle und sagte in hörbar erleichtertem Tone:

»Dort lieg er! Er schläft. Fast hatte ich ihn im Verdacht, daß er den Gefangenen entkommen gelassen habe, wenn es wirklich wahr ist, daß der Hauptmann fort ist.«

»Wie, er schläft?«

»Ja, da.«

»Und erwacht nicht, wenn wir so laut sprechen? Zeigen Sie!«

Der Fürst trat in die Zelle. Der Schließer lag auf der Seite. Befour drehte ihn herum.

»Herrgott!« rief er aus.

»Mein Himmel!« rief der Assessor zugleich mit ihm.

Sie sahen das fürchterliche Loch in seiner Stirn.

»Ermordet!« kreischte der Wachtmeister auf, indem er die Hände zusammen schlug.

»Schrecklich!« stieß der Assessor hervor.

Der Fürst kniete am Lager nieder, zog das Tuch hervor, wickelte den Hammer heraus und hielt denselben an die Wunde.

»Hier sehen Sie!« sagte er. »Mit diesem Hammer ist's geschehen. Er paßt ganz genau.«

»Also doch?«

Und der Wachtmeister trat näher und fragte:

»Wem gehört der Hammer? Von wem haben Sie ihn?«

»Von einem Gefangenen, den man Ihnen gleich bringen wird. Wo ist der andere Schließer?«

»In seiner Privatstube, wo er schläft. Soll ich ihn wecken?«


- 1818 -


»Ja. Dauert dieses lang?«

»Nein. Hier ist die Klingel. Wenn ich ziehe, ist er in zwei Minuten da.«

»Wecken Sie! Wo lag der Hauptmann?«

»Nummer Acht, Seitenflügel rechts. Ein Piket hält vor seiner Thür.«

»Vielleicht auch ermordet. Wo heben Sie Ihre Schlüssel zu den Handschellen auf?«

»Hier,« antwortete der Wachtmeister, nach der Wand deutend, fügte aber erschrocken hinzu: »Himmel, sie sind nicht mehr da! Sie sind fort!«

»Führen Sie uns nach dem Seitenflügel!«

Sie schritten den Gang hinab. Bereits als sie die Thür erreichten, vernahmen sie hinter derselben ein lautes Wimmern und Ächzen.

»Ja, da ist etwas geschehen,« sagte der Assessor. »Schnell, öffnen Sie, Wachtmeister!«

Dieser Letztere zitterte vor Aufregung so, daß er kaum den Schlüssel anzustecken vermochte. Als die Thür geöffnet war, bot sich ihnen ein schauderhafter Anblick. In einer Blutlache lag der Soldat, zu schwach, sich zu erheben, aber doch, wie sich bald zeigte, bei leidlichem Bewußtsein.

Der Fürst kniete zu ihm nieder und fand die Wunde am Hinterkopfe.

»Hören Sie mich?« fragte er.

»Ja,« erklang es matt.

»Sehen Sie mich?«

»Nebel.«

»Wer hat Sie geschlagen?«

»Schließer.«

»Sie irren sich!«

»Nein. Blanke Knöpfe!«

»Wie war es ihm möglich?«

»Rief mich hier her. Gefangener fliehen. Gab mir Hieb.«

Die übrigen Fragen konnte er vor Mattigkeit nicht beantworten. In diesem Augenblicke stellte sich der andere Schließer ein, welcher fürchterlich erschrak, als er den Verwundeten erblickte.

»Ihr College ist ermordet und dieser Mann verwundet worden,« sagte der Fürst. »Eilen Sie zum Gerichtsarzte und zum Staatsanwalt. Beide sollen sofort kommen. Der Hauptmann ist entflohen.«

Der Mann stürzte fort. Die Beiden aber gingen mit dem Wachtmeister nach Zelle Nummer acht, welche sie nun freilich leer fanden. Die Ketten hingen an der Wand; die Handschellen waren geöffnet.

»Also ganz so, wie ich dachte,« sagte der Fürst. »Eilen Sie hinab zu Ihrer Frau, Herr Wachtmeister. Lassen Sie sich Essig, Wasser und Leinen geben. Wir werden den Verwundeten verbinden.«

Er gehorchte. Sie befanden sich noch beim Verbande, als es draußen läutete. Der Wachtmeister ging, um zu öffnen. Man brachte Bormann. Obgleich an Händen und Füßen gefesselt, hatte er sich doch so gewehrt, daß es


- 1819 -


die größte Anstrengung gekostet hatte, ihn in die Droschke zu bringen. Er wurde einstweilen unten festgehalten, bis der Arzt und der Staatsanwalt erschienen waren. Der Erstere untersuchte den Verwundeten, verbesserte die Bandage und erklärte, daß es vielleicht möglich sei, ihn herzustellen. Zu dem Schließer geführt, sagte er nach kurzer Untersuchung, daß er nur den Tod desselben constatiren könne. Dieser sei jedenfalls unmittelbar gleich nach dem Hiebe eingetreten. Übrigens sei der Hammer ohne allen Zweifel diejenige Waffe, mit welcher beide Streiche ausgeführt worden seien.

Jetzt wurde Bormann gebracht und an das Lager des Todten geführt.

»Sind Sie das gewesen?« fragte der Staatsanwalt, welchem mittlerweile Alles mitgetheilt worden war.

»Nein.«

»Sie haben sich aber in diesem Hause befunden?«

»Nein.«

»Leugnen Sie nicht!«

»Glauben Sie, daß ich verrückt bin? Ich bin Flüchtling und soll mich in ein Gefängniß schleichen!«

»Von wem haben Sie den Hauptschlüssel?«

»Gefunden.«

»Den Hammer?«

»Gefunden.«

»Die kleinen Schlüssel?«

»Auch gefunden.«

»Wo?«

»Auf der Gasse.«

»Auf welcher?«

»Ich weiß nicht, wie sie heißt.«

»Aber Sie können sie finden?«

»Nein. Ich bin hier nicht so bekannt.«

»Seit wann befinden Sie sich in der Residenz?«

»Seit heute Abend.«

»Wer war der, welcher Sie am Seil emporsteigen ließ?«

»Ich bin an keinem Seil emporgestiegen. Ich habe mich eingeschlichen, um in einem leeren Zimmer zu übernachten.«

»Schaffen Sie ihn fort in die festeste Zelle, und fesseln Sie ihn an Armen und Beinen an!«

Der Gefangene wurde mehr geschoben und gezerrt als geführt. Die Herren blickten einander fragend an.

»Daß er entkommen mußte!« seufzte der Assessor. »Wohin wird er sein!«

»Vielleicht finden wir eine Spur,« meinte der Fürst. »Herr Staatsanwalt, versäumen Sie keine Minute. Lassen Sie alle Telegraphendrähte spielen. Lassen Sie alle Cavalleriepatrouillen aussenden, gleich mit Anbruch des Tages, und lassen Sie sogar die Feuerwehr die Umgegend nach Spuren durchstreifen. Es muß Alles geschehen, ihn zu ergreifen.«


- 1820 -


»Sollte er nicht in der Stadt geblieben sein?«

»Sicherlich nicht. Ich bin am Meisten bedroht Ich kann mich nur dadurch wahren, daß ich mich anstrenge, seiner habhaft zu werden. Lassen Sie mir deshalb sofort jede Neuigkeit zukommen. Ich werde mich jetzt entfernen, um einiges Licht in das jetzige Dunkel zu bringen.«

Er verabschiedete sich. Mit ihm gingen Anton, Adolf und Doctor Holm, welche den Gefangenen gebracht hatten. Es war, als ob der Sturm durch die fürchterliche That Bormanns zum Schweigen gebracht sei. Seine Wuth war vorüber. Er hatte sich in einen steifen Wind verwandelt, und auch der Regen fiel nicht mehr so in Strömen.

Indem die Vier neben einander dahinschritten, sagte der Fürst zu Holm:

»Also, wo sahen Sie die beiden Verbrecher zuerst?«

»Sie standen unter dem Portale der Kirche.«

»In der Nähe des Helfenstein'schen Palastes?«

»Ja.«

»Das giebt mir zu denken. Der Baron hat einen Handkoffer nebst Inhalt gehabt. Wofür?«

»Hm, wer das wüßte!«

»Er hat sich an= und verkleiden können, und woher hat er Beides bekommen?«

»Von fremden Leuten nicht.«

»Nein, keinesfalls.«

»Seine Bande aber ist gefangen.«

»Von ihnen hat ihm Keiner aushelfen können. Also bleibt nur übrig, anzunehmen, daß er daheim gewesen ist.«

»Kann er das wagen?«

»Es ist allerdings ein Polizist in seinem Palais stationirt; aber wenn er einen Vertrauten hat, so - - - hm, ich werde doch einmal nach dem Palaste gehen.«

»Dürfen wir Sie begleiten?«

»Lieber Doctor, Sie haben Anderes zu thun. Werden Sie nicht vielleicht im Hotel Union erwartet?«

»Durchlaucht, Sie sind allwissend!«

»So gebe ich Ihnen Urlaub. Gehen Sie in Gottes Namen. Wir Drei sind Manns genug, eine Spur zu verfolgen, wenn wir sie finden. Gute Nacht also für jetzt!«

»Gute Nacht!«

Holm trennte sich von ihnen und kehrte nach dem Hotel zurück. Dort herrschte trotz der ungewöhnlichen Stunde das regste Leben. Nach einem solchen Ereignisse hatte Niemand Lust, sofort wieder das Bett aufzusuchen. Die derzeitigen Bewohner des Hauses saßen im Gastzimmer beisammen und konnten nicht fertig werden, das Thema zu besprechen.

Als Holm eintrat, kam der Wirth gerade aus der Küche.


- 1821 -


»Kommen Sie herein, kommen Sie!« sagte er. »Die Herrschaften warten auf Sie.«

»Später! Wo befindet sich Miß Starton?«

»In ihren neuen Gemächern. Das Mädchen ist oben.«

»Danke!«

Er stieg die beiden Treppen hinauf und ließ sich melden. Er wurde auch sofort eingelassen.

Ellen befand sich nicht mehr im Negligé. Sie hatte Morgentoilette gemacht und bewillkommnete ihn mit einem Darreichen ihrer Hand.

»Endlich, endlich!« sagte sie. »Wo sind Sie doch nur so lange Zeit geblieben?«

»Im Gefängnisse, um den Gefangenen abzuliefern.«

»Wird man wohl entdecken, wer der Andere gewesen ist?«

»Es ist bereits entdeckt.«

»Ah! Wer?«

»Der Hauptmann.«

»Höre ich recht? Ist nicht der Hauptmann gefangen, oder vielmehr der Baron von Helfenstein?«

»Er war es. Er ist entwichen.«

»Doch nicht möglich!«

»Leider. Unser Gefangener, ein gewisser Bormann, hat ihn befreit und dabei den Schließer mit dem Hammer erschlagen und einen Militärposten tödtlich verwundet.«

»Herr Jesus! Derselbe, welcher bei mir eingebrochen ist?«

»Ja.«

»Gott, welch' ein Schicksal stand mir bevor. Diese Zwei hätten mich ganz sicher ermordet!«

»Gott hat es nicht gewollt.«

»Er hat mir Sie gesandt. Sie sind mein Retter. Ihnen habe ich mein Leben zu verdanken!«

Ihre Augen glänzten feucht, und ihre Wangen hatten sich geröthet. Sie streckte ihm die Hand entgegen und fuhr fort:

»Wüßte ich nur, wie ich Ihnen einen recht, recht großen und ungewöhnlichen Dienst erweisen könnte!«

Er hielt ihre Hand in der seinigen und antwortete:

»Das können Sie, Miß Ellen, das können Sie.«

»Wie denn? Auf welche Weise? Bitte, sagen Sie es mir!«

»Damit, daß Sie sich zuweilen meiner erinnern, wenn Sie wieder jenseits des Oceans gelandet sind.«

»An Sie mich erinnern? Ja, das werde ich. Aber wohl nicht jenseits des Oceans.«

»Kehren Sie nicht zurück?«

»Nein. Ich bleibe hier.«

»Hier in der Residenz?«


- 1822 -


»Vielleicht. Überhaupt auf dem Continente.«

Da glitt ein Schatten über sein Gesicht. Er fragte:

»So werden Sie doch Engagement nehmen?«

»Das ist mein liebster, liebster Wunsch.«

»An der Hofbühne?«

»Nein. Ich denke nur an ein Privatengagement.«

»Das verstehe ich nicht.«

Sie blickte sinnend vor sich nieder und dann wieder mit einem großen, tiefen Blicke zu ihm auf. Sie war bleich geworden, und ihre Lippen schienen zu beben; aber mit ruhiger Stimme sagte sie:

»Ich werde es Ihnen erklären. Sie haben mich drüben gesehen in meinem Vaterlande - -«

»Ja,« fiel er ein. »Ich habe das niemals vergessen.«

»Ich auch nicht. Es gab damals eine recht glückliche, selige Zeit. Es gab einen Mann, an den ich dachte bei Tag und bei Nacht. Er hatte mir das Herz geraubt und mein ganzes Wesen gefangen genommen. Ich wußte, daß ich ohne ihn nicht leben könne. Meine ganze Seele flog und athmete ihm entgegen, und doch blieb er mir so kalt und so fern.«

Sie machte eine kleine Pause. Auch er war bleich geworden. Sie liebte einen Anderen, sie sagte ihm dies jetzt, um ihm zu bedeuten, daß er nichts zu hoffen habe.

»Warum davon sprechen?« preßte er hervor. »Ich habe kein Recht, Ihnen zuzuhören!«

»Keins? Wirklich nicht? Ja, jener Mann blieb mir kalt und fern. Und doch liebte er mich, herzinnig und für das ganze Leben. Er opferte mir seine Errungenschaften, seinen Ruhm, seine Zukunft, und als ich ihm für dieses Opfer danken wollte, da war er verschwunden. Aber ich habe nach ihm gesucht und geforscht. Ich habe ihn gefunden. Einst hat er sich für meine Ehre der tödtlichen Waffe gegenüber gestellt; heute hat er mir das Leben gerettet. Und dennoch sagt er, daß er kein Recht habe, meine Worte anzuhören!«

Der Ausdruck seines Gesichtes veränderte sich. Es erstarrte fast. Es war, als sei etwas Großes, Undenkbares, Unbegreifliches ganz plötzlich über ihn gekommen.

»Miß Ellen! Höre ich recht?« stammelte er.

»Hoffentlich, Herr Holmers!«

»Sie sprechen von - von - - von - - -?«

Da trat sie zu ihm, legte ihm beide Hände auf die Achseln, nickte ihm so tief und ernst entgegen und ergänzte seine unausgesprochene Frage:

»Von Ihnen. Ja, von Ihnen spreche ich. Meine Aufrichtigkeit mag unweiblich sein; aber ich bin Amerikanerin und Künstlerin. Und wenn ich Beides nicht wäre, so hätte ich als lebendes Wesen dennoch und doch das Recht, glücklich zu sein und glücklich zu machen und dieses Glück entgegen zu bringen, wenn man so bescheiden ist, es nicht von mir zu fordern. Jetzt nun kennen Sie die Ursache, warum ich hierhergekommen bin. Ich wollte Sie


- 1823 -


finden. Ich habe Sie gefunden. Nun entscheiden Sie, ob ich Sie wieder verlieren soll!«

Sie stand so hoch, so schön, so stolz und strahlend vor ihm, ein Weib in der erhabensten Bedeutung des Wortes, und doch auch wieder so rein und keusch, so demüthig und mild, ihr Urtheil in tiefster Ergebung erwartend, eine Jungfrau im sinnbestrickendsten Reize ihres unnahbaren und beglückenden Zaubers. Er wollte sprechen; er wollte ihr antworten; aber er konnte nicht. Er nahm ihre Hände von seinen Schultern ab; er hielt sie in den seinigen. Seine Augen füllten sich mit großen, schweren Tropfen, und nur das eine Wort brachte er hervor:

»Ellen, Ellen!«

»Max, hast Du mich lieb? Ja, Du hattest mich lieb, sehr lieb! Ist es nicht so?« fragte sie.

»Mein Gott! Ich bin ja nichts, gar nichts!«

»Fürchtest Du Dich dafür, daß man mich reich nennt?«

»O, Du bist ja mehr, viel mehr als nur reich. Ein einziger Ton Deiner wunderbar süßen Stimme ist mir werther, als all' Dein Reichthum. Ein einziger Blick Deines Auges wiegt mir alle Schätze der Erde auf. Wie kann ich, der arme Musikus, so herrliches besitzen!«

»O, Du besitzt es schon längst, schon seit dem Augenblicke, an welchem ich Dich zum ersten Male sah. Du hast für mich gekämpft, da drüben, und die Wunde nicht gescheut, welche Dich Deiner Kunst entfremdete. Du hast hier wieder für mich gestritten gegen die Gemeinheit niedriger Seelen; Du hast mir heute das Leben gerettet. Du sollst auch weiter, fort und fort mein Schutz und mein Schirm sein, für's ganze Leben. Unter Deinem Schatten will ich wohnen, und in Deiner Sonne will ich blühen. Nimm mich auf bei Dir und laß' mich nicht wieder von Dir hinweg, hinaus in die fremde Welt und in das kalte, verständnißlose Leben!«

»Ellen, so, so sagst Du! Das bittest Du, während ich vor Dir niederknieen möchte, um Dich um ein einziges Lächeln anzuflehen! Nicht Du sollst unter meinem Schatten wohnen, sondern ich, ich will Dein Diener und Dein Sclave sein! Ich will Deinen Wünschen lauschen und Dir unterthan sein, solange ich athme und lebe. O, Ellen, wie lieb, wie un=, un=, unendlich lieb habe ich Dich!«

Er breitete die Arme aus. Sie sank an sein Herz und legte den herrlichen Kopf an seine Schulter.

»Endlich, endlich!« flüsterte sie. »Nun habe ich Dich! Nun bin ich das, was zu sein ich so heiß begehrte: ein unsagbar glückliches Menschenkind!« - -

Der Fürst war mit seinen beiden Dienern nach dem Helfenstein'schen Palais gegangen. Dort war noch ein Fenster erleuchtet, ein einziges.

»Weißt Du, wessen Zimmer das ist?« fragte er Anton.

»Ja. Dort wohnt der alte Kammerdiener, der ihn zwar nicht mehr frisirt und ihm nicht mehr servirt, weil er eben zu alt ist, aber ihm doch eine


- 1824 -


unendliche Ergebenheit widmet. Er ist ein alter Sünder, der wohl Manches auf dem Gewissen hat.«

»Hm! Sollte dieser es sein?«

»An den er sich heute gewendet hat?«

»Man könnte es vermuthen.«

»Wie aber wäre er zu ihm gekommen?«

»Durch den Eingang nicht. Es steht zu errathen, daß er ihm ein Zeichen an das Fenster gegeben hat.«

»Vielleicht hinan geworfen?«

»Wahrscheinlich.«

»Wollen es einmal versuchen.«

Er ging näher an das Palais heran und warf ein Steinchen nach dem Fenster. Es traf. Gleich darauf wurde der Vorhang auf= und niedergezogen.

»Es hat gewirkt,« sagte Anton.

»Wie aber wird es weiter wirken?«

»Jedenfalls kommt er herab.«

»Aber an die Thür nicht; das könnte der Polizist bemerken. Ich denke vielmehr, daß er eines der Parterrefenster öffnen wird, um mit mir zu sprechen. Welches aber kann dies sein? Stehe ich nicht dort, so merkt er, daß ich ihn täuschen will.«

»Wahrscheinlich ist es eins der beiden Giebelfenster, welche sich im Seitengang des Flures befinden. Dorthin kommt selten Jemand.«

»Ich will es versuchen.«

Er trat um die Ecke und nahm zwischen den beiden erwähnten Fenstern Stellung. Nach kurzer Zeit hörte er, daß geöffnet wurde. Er trat dahin, wo sich der Kopf des Alten sehen ließ.

»Gnädiger Herr?« fragte dieser Letztere halblaut.

»Er ist es nicht,« antwortete der Fürst.

»Donner! Wer denn!«

»Ein Freund. Ich muß mit dem Herrn sprechen.«

»Geben Sie das Wort!«

Dem Fürst fiel ein, was die Passanten gesagt hatten, als sie beim hinteren Pförtchen des Palastes an ihm vorüber gegangen waren.

»Auch Einer,« antwortete er.

»Was wollen Sie? Sie sind legitimirt.«

»Ist er bereits fort?«

»Ja.«

»O weh! Ich muß den Capot und die Mütze haben!«

»Ach so! Wozu?«

»Damit der arme Teufel, der Schließer nicht bestraft werden kann.«

»Der kann nicht bestraft werden.«

»Warum nicht?«

»Er ist ja todt.«

»Ach, ich meine doch den Anderen.«


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