Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Fünfter Band


Lieferung 97.

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»Hunger.«

Der Arzt lachte abermals über die drollige Antwort und tröstete ihn mit der Versicherung:

»Dem soll gleich abgeholfen werden. Ich werde dem Hausverwalter den betreffenden Befehl ertheilen.«

»Aber, bitte, machen Sie keinen Fehler - denn ich habe keinen Hunger nach Wasser= oder Semmelsuppe.«

»Nach was denn, Sie Schwerenöther?«

»Nach Fricassee von Huhn, Hamburger Rauchfleisch, polnischem Karpfen, Leipziger Allerlei und gespickter Rindsbrust mit Remouladensauce.«

»Nicht übel! Sie scheinen Geschmack zu besitzen.«

»Auf der Zunge und am Gaumen, ja.«

»Wie aber haben Sie ihm solche Ausbildung gegeben?«

»Durch das Studium der Speisenzettel. Wenn ich nämlich kein Geld habe, so gehe ich in eine feine Restauration, kaufe mir für fünf Kreuzer Zuckerwasser, was bekanntlich das Billigste ist, und setze mich damit möglichst nahe an die Küchenthür. Dann nehme ich den Speisenzettel in die Hand und warte, bis die Thür aufgeht. Kommt dann ein appetitlicher Geruch, so sehe ich schnell auf dem Zettel nach, von welcher Delicatesse er stammt. Auf diese Weise bereichere ich mich an gastronomischen Kenntnissen und Finessen, ohne daß ich davon bankerott werde.«

»Auch gut. Nun, heute werden Sie auf Delicatessen leider verzichten müssen.«

»O weh!«

»Bedenken Sie, daß Sie sich im Krankenhause befinden, wo eine Hummermajonnaise zu den Seltenheiten gehört. Ich werde nachsehen, was es giebt, und Ihnen zugleich eine Flasche Arnicaspiritus verschreiben.«

»Etwa als Dessert, zum Austrinken?«

»Nein, nur zum Einreiben.«

»Ach, wegen meiner Gedächtnißbeule! Na, das ich mir eben geduldig gefallen lassen muß.«

Der Arzt entfernte sich. Als er fort war, brummte Hauck leise vor sich hin:

»Hierbleiben? Im Krankenhause? Nein, fällt mir gar nicht ein! Ich habe eine tüchtige Kopfnuß bekommen, weiter nichts. Sonst fehlt mir gar nichts. Meinem Gedächtnisse werde ich noch heute zu Hilfe kommen; ist's nicht auf diese Weise, dann auf eine andere. Dort liegt mein ganzer Anzug. Ich werde mich französisch empfehlen, wenn man mich nicht freiwillig fortläßt.«

Nach einiger Zeit kam der Hausverwalter. Er meldete:

»Sie sollen Essen erhalten. Hier giebt es die Abendmahlzeit um sieben Uhr. Das ist vorüber, und es ist nichts übrig geblieben. Aber ich esse privatim. Wenn Sie davon Etwas haben wollen, darf ich es Ihnen geben.«

»Nun, was giebt's denn?«


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»Kartoffelsalat mit Schlackwurst.«

»Schön! Bringen Sie mir getrost eine tüchtige Portion; aber wenig Salat und sehr viel Schlackwurst!«

Der Mann ging lachend und brachte ihm nach einiger Zeit das genannte Essen. Er hatte den Wunsch des gut gelaunten Patienten erfüllt und ihm ein tüchtiges Ende Wurst beigelegt. Darum meinte Hauck:

»Sie sind gar kein übler Kerl! machen Sie es mit allen Ihren Patienten so?«

»Kann mir nicht einfallen. Der Oberarzt kurirt zumeist durch Diät. Sie glauben gar nicht, wie schnell unsere Kranken gesund werden, wenn sie täglich nur zwei Wassersuppen bekommen.«

»Da werden Sie mich nicht lange behalten. Ich will lieber machen, daß ich Ihren Wassersuppen aus dem Wege gehe.«

»Na, na, nur nicht so schnell. Heute kommen Sie nicht fort!«

»Warum?«

»Der Arzt hat es verboten. Er sagte mir, daß Sie fort wollen. Ich habe strengen Befehl, Sie nicht fort zu lassen.«

»Dann bleibt mir nichts Anderes übrig, als zu bleiben.«

Als der Hausverwalter fort war, fügte er unter frohem Lachen hinzu:

»Wartet es nur ab! Halten lasse ich mich nicht. Es ist nur gut, daß ich mich nicht in einem Krankensaale, sondern hier in dem Beobachtungszimmer befinde. Wollen doch einmal sehen, wie hoch das Fenster liegt.«

Er stand auf und öffnete den Fensterflügel.

»Ah! Parterre! Wie schlau sie es angefangen haben. Na, erst esse ich, natürlich nur den Kartoffelsalat, die Wurst nehme ich mit nach Hause. Das giebt morgen noch ein Frühstück. Mit dem Arnica mag der Hausverwalter sich selbst und dann meinetwegen auch sämmtliche Ärzte einreiben. Ich werde mir mein Gedächtniß auch ohne Arnica wieder holen.«

Er setzte sich wieder in das Bett und aß den Salat. Als er damit fertig war, stieg er wieder heraus und schob den Riegel vor, um nicht überrascht zu werden. Er zog sich an, so schnell es gehen wollte, brannte sich eine der Cigarren an, steckte die anderen nebst Wurst, Uhr und Portemonnaie ein, riegelte die Thür wieder auf, blies das Licht aus, öffnete das Fenster und stieg hinaus.

Er befand sich im Garten des städtischen Krankenhauses, an welchen eine wenig belebte Straße stieß. Es war ihm ein Leichtes, über den Zaun zu springen; dann überlegte er, wohin er sich zunächst wenden werde.

»Nach Hause nicht! Ich muß gewärtig sein, der Arzt hält diesen Fall eines verloren gegangenen Gedächtnisses für so sehr interessant, daß er mich sogar durch die Polizei zurückholen läßt. Nein, nach Hause nicht. Zunächst gehe ich zu meinem Geiger. Vielleicht weiß der, wo bei mir der Hase im Pfeffer liegt.«

Der Genannte wohnte als Garçon. Er war zu Hause und saß beim Notenschreiben. Als er den Eintretenden erblickte, sagte er ganz erstaunt:


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»Hauck, Du! Ich denke, Du liegst ganz ohne Verstand!«

»Mensch! Was fällt Dir ein! Kann so ein Kerl, wie ich bin, jemals ohne Verstand sein?«

»Alle Welt sagte es, und es war auch in der Zeitung zu lesen.«

»Glaube nur nicht, was Dir die Blätter aufbinden! Ich bin ohnmächtig gewesen, aber Niemand kann daraus folgen, daß ich keinen Verstand gehabt habe.«

»Na, gut, daß Du wieder zu Dir gekommen bist!«

»Unsinn! Nicht zu mir, sondern zu Dir bin ich gekommen, das siehst Du doch!«

»Du bist und bleibst doch der alte Spaßvogel!«

»Das ist auch das Beste, was ich bin; alles Andere ist nicht viel werth. Laß mich setzen. Es ist wirklich nicht so leicht, wie ich dachte, nämlich das Ausreißen. Der Kopf thut mir wehe, und die Glieder sind matt.«

»Wohl gar aus dem Krankenhause?«

»Wo denn sonst. Sie wollten mich behalten, weil mein abhanden gekommenes Gedächtniß gar so sehr interessant ist. Ja, denke Dir, infolge des Hiebes, welchen ich gestern erhalten habe, kann ich mich nicht mehr auf das besinnen, was gestern geschehen ist. Ich weiß nur, daß ich im Tivoli Musik gemacht habe und dann heute vor kurzer Zeit im Krankenhaus aus der Ohnmacht erwacht bin.«

»Du weiß also nicht, wer Dich geschlagen hat?«

»Nicht die Spur. Ich weiß ja sogar nicht einmal, daß ich gestern getanzt habe. Man hat es mir gesagt.«

»Das ist freilich sehr interessant!«

»Höre, es wäre mir viel interessanter, wenn ich Alles wüßte. Ich nehme an, daß ich Dich gefragt habe, bevor ich tanzte?«

»Natürlich. Ich mußte ja die Pauken schlagen.«

»Kanntest Du meine Tänzerin?«

»Erst später. Er war Laura, die Tochter des früheren Theaterdieners Werner, welcher jetzt Cassirer ist.«

Hauck schüttelte den Kopf und meinte:

»Die kenne ich doch gar nicht!«

»Aber angeguckt hast Du sie immerfort, ja, Du warst so weg in sie, daß Du immer falsch pausirt hast und dabei aus dem Takt gekommen bist.«

»Höre, sei still! Das ist mir noch nie passirt.«

»Es war so. Du tanztest einen Walzer mit ihr und hingst auch dann noch mit den Augen in der Nebenstube, wo sie saß. Nachher hast Du noch zwei andere Mädchen beobachtet und bist wegen ihnen fortgegangen.«

»Noch zwei? Also drei! Da wäre ich doch der reine türkische Pascha gewesen! Wie kam das denn?«

Der Geiger erzählte, was er wußte.

»Höre,« sagte dann der Paukenschläger, »daraus kann ich nicht klug


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werden. Ich muß Klarheit haben, und da ist es am Allerbesten, ich gehe gleich einmal zu Werners.«

»Da hast Du recht. Weißt Du, wo sie wohnen? Ich weiß es: Altmarkt Nummer Dreizehn, vier Treppen hoch im Hinterhause.«

»Schön! Vielleicht finde ich mein Gedächtniß auf einer von diesen vier Treppen liegen.«

Er ging. Sein Gedächtniß fand er nicht, sondern er traf auf den intriguanten Hausverwalter Solbrig, welcher gezwungen gewesen war, auf Emilie Werner zu verzichten.

»Wohnen Sie vielleicht hier in diesem Hause?« fragte er ihn.

»Ja,« antwortete Solbrig mürrisch.

»So können Sie mir sagen, ob der Herr Theatercassirer Werner da oben wohnt.«

»Der? Was wollen Sie bei ihm?«

»Wünschen Sie das zu wissen?«

»Ja.«

»Na, da fragen Sie ihn nachher selber. Ich habe es nämlich nicht auswendig gelernt und kann es also nicht hersagen.«

Er stieg weiter und lachte über die kräftigen Ausdrücke, welche Solbrig ihm nachschickte. Als er oben eintrat, fand er die Bewohner des Logis in fröhlicher Stimmung bei einander sitzen. Adolf, Emiliens Bräutigam, befand sich bei ihnen. Auch Laura war da.

»Herr Hauck!« sagte Adolf, »Sie hier? Sie?«

Der Paukenschläger antwortete nicht. Er stand eine ganze Weile wortlos da, den Blick starr auf Laura gerichtet.

»Sapperment!« stieß er endlich hervor. »Jetzt kommt es!«

»Was kommt?« fragte Werner befremdet.

»Das Gedächtniß.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Aber ich verstehe ihn,« sagte Adolf, der Polizist.

»Sie? Mich verstehen?«

»Ja. Wenigstens glaube ich, vermuthen zu können, was Sie meinen. Sie wurden so geschlagen, daß Sie das Bewußtsein verloren.«

»Ja, so ist es. Ich wußte absolut nichts, was mit mir geschehen ist. Der gestrige Abend war aus meinem Gedächtnisse gestrichen. Man sagte mir, daß ich getanzt habe. Ich bin sogleich hierher gegangen, um vielleicht durch den Anblick meiner Tänzerin den verlorenen Faden wieder aufzufinden.«

Er hielt inne. Man sah ihm an, daß er mit sich rang. Er bemühte sich, einen Gedanken festzuhalten, welcher sich nicht ergreifen lassen wollte.

»Gönnen Sie sich Ruhe!« bat Adolf. »Setzen Sie sich bei uns nieder und trinken Sie ein Glas Grog mit uns.«

»Ja, wenn Sie es erlauben, nehme ich diese Einladung an. Vielleicht weiß das Fräulein noch, was wir miteinander gesprochen haben. Dadurch erhielte ich vielleicht einen Fingerzeig.«


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Laura antwortete erröthend:

»Wir haben nur ganz gewöhnliche Worte gewechselt, Herr Hauck, so wie es unter Tänzern, welche sich nicht näher kennen, ja üblich ist.«

»Hm! Es ist mir, als hätte es einige Worte gegeben, welche ich mir besonders merken wollte.«

»Ich weiß nichts.«

»Wirklich nichts? Habe ich nicht gesagt, daß ich mich aus dem Saale entfernen wollte?«

»Nein.«

»Auch kein Wort, aus welchem Sie schließen könnten, warum ich fortgegangen bin?«

»Nein.«

»Dann bin ich freilich ganz umsonst hierhergekommen.«

»Vielleicht auch ich,« meinte der Polizist. »Sie wollen Ihrer Erinnerung zu Hilfe kommen und thun dies vielleicht auf dem verkehrten Wege. Sie wollen vorwärts und sollten vielleicht rückwärts gehen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie knüpfen da an, wo das gestrige Ereigniß begonnen hat, und sollten wohl da anfassen, wo es endete.«

»Im Krankenhause?«

»Nein, sondern auf der Straße, wo man Sie fand. Wenn Sie die betreffende Stelle sehen, erinnern Sie sich vielleicht, welche Absicht Sie hatten, dorthin zu kommen.«

»Ah, das ist wahr! Das ist ein richtiger Polizeikniff. Ich werde mich sofort aufmachen, um Ihren Rath zu befolgen,«

Er stand vom Stuhle auf. Adolf aber ergriff ihn beim Arme, zog ihn wieder nieder und sagte:

»Wissen Sie den Ort genau, an welchem man Sie gefunden hat?«

»Nein. Na, da läßt sich ja helfen. Ich werde fragen.«

»Ist nicht nöthig. Ich kenne den Ort und werde Sie hinbringen, wenn Sie mir erlauben, Sie zu begleiten.«

»Natürlich sehr gern!«

»Ich habe nämlich auch bereits gesucht und geforscht, aber ohne jedes Resultat. Die Wächter haben die wenigen Passanten, die es in der späten Stunde gegeben hat, nicht erkannt. Vier Personen, welchen ein Wächter dort in der Nähe begegnete, haben seinen Gruß erwidert. Weiter wußte er auch nichts - -«

»Vier - -« sagte Hauck langsam. »Vier Personen? Das ist mir ganz so, als ob dies in Verbindung mit - - - vier Personen! Sollte man denken, daß ein Mensch so dumm sein kann, die Erinnerung an den gestrigen Abend zu verlieren?«

»Warum nicht? Eine Dummheit ist das nicht. Finden Sie den richtigen Faden, dann haben Sie das ganze Gewebe.«


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»Ich werde ganz irre an mir. Da Sie von vier Personen sprechen, ist es mir ganz so, als ob ich mit ihnen zu thun gehabt habe. Und dennoch ist es mir auch genau so, als ob ich wegen Fräulein Laura hier den Saal verlassen hätte, ganz genau so.«

»Wegen mir,« fragte sie verlegen. »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß von gar nichts.«

»Das ist richtig. Es drohte Ihnen eine Gefahr, irgend eine Gefahr, welche ich von Ihnen abwenden wollte.«

»Es ist mir nichts geschehen.«

»Es kann Ihnen aber noch geschehen. Ich hatte Etwas gehört, Worte, auf die ich mich leider nicht mehr besinnen kann. Da ging ich. Ich bin dabei niedergeschlagen worden. Das ist ein Beweis, daß die erwähnte Gefahr wirklich existirt, daß sie sogar eine sehr ernste ist.«

»Was könnte das sein?« wurde rundum gefragt.

Die Mitglieder der Werner'schen Familie begannen bereits, besorgt zu werden, wurden aber von dem Polizisten beruhigt.

»Das sind Hypothesen. Herr Hauck kämpft mit Unklarheiten, welche uns jetzt nicht stören dürfen. Warten wir, bis es klar geworden ist.«

»Aber ich bin kein Freund vom Warten,« meinte der Paukenschläger. »Was man gleich thun kann, soll man nicht aufschieben. Wollen wir gehen?«

»Bleiben wir noch,« antwortete Adolf. »Die jetzige Stunde ist unpassend.«

»Warum?«

»Wenn Sie sich beziehendlich des Geschehenen wirklich zurechtfinden sollen, dürfen Sie möglichst wenig gestört werden. Jetzt aber giebt es zu viel Verkehr. Warten wir also, bis zu späterer Zeit sich die Straßen entleert haben.«

»Sie mögen Recht haben; aber inzwischen könnte man mich hier fort holen, um mich einzusperren; denn ich habe mich ohne Erlaubniß aus dem Krankenhause entfernt.«

»Haben Sie deshalb keine Sorge. Sie können sich curiren lassen, wo Sie wollen.«

Jetzt war Hauck beruhigt. Übrigens war es ihm mit der schnellen Entfernung von hier gar nicht so sehr Ernst gewesen. Der Anblick Laura's hatte seine gestrigen Regungen aus dem Schlafe erweckt. Er erinnerte sich des Eindruckes, den sie auf ihn gemacht hatte, und dieser Eindruck verstärkte sich nun heute desto mehr, je länger er hier mit ihr an demselben Tische saß.

Ihre Augen waren so groß, so tief und dunkel wie ein See, welcher untergegangene Geheimnisse birgt. Es lag auf ihnen wie ein feuchter Schimmer, als ob an jedem Augenblicke die Thränen hervorbrechen wollten.

Als er diese Bemerkung im Stillen für sich machte, fuhr es ihm auf einmal wie ein heller Blitz durch den Kopf.

»Ich habe alle Ursache dazu, für mein Lebenlang dem Lachen zu entsagen!«


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Das waren die räthselhaften Worte, welche sie gestern zu ihm gesprochen hatte. Jetzt wußte er sie auf einmal. Laura war unglücklich, das war gewiß. Aber aus welchem Grunde? Er nahm sich fest vor, dies zu erfahren.

Aber diese Worte waren doch nicht diejenigen, wegen deren er den Saal verlassen hatte. Sie enthielten keine Drohung. Hatte überhaupt Laura eine Drohung ausgesprochen? Konnte sie eine Drohung äußern, die doch gegen sie selbst gerichtet gewesen wäre?

Er sann und sann. Er marterte sich - vergebens. Endlich gegen Mitternacht rieth Adolf zum Aufbruche.

War es absichtlich oder unabsichtlich, Laura nahm das Licht, um die beiden Scheidenden vor die Thüre zu bringen. Adolf gab ihr zuerst die Hand und ging dann langsam fort, jedenfalls mit Berechnung. Hauck hielt ihr auch die Hand entgegen und fragte halblaut:

»Haben wir gestern wirklich nur Gewöhnliches gesprochen?«

»Ja,« antwortete sie.

»Ich bitte Sie sehr, aufrichtig zu sein! Ein einziges Wort kann mir das erwünschte Licht bringen.«

»Ich kann mich wirklich auf nichts Außergewöhnliches besinnen.«

»Ein Wort aber kommt mir ungewöhnlich vor. Sprachen Sie nicht davon, daß Sie für Ihr Lebenlang dem Lachen entsagt hätten?«

»Ja, das habe ich gesagt!« antwortete sie zögernd.

»Meine Frage ist unhöflich und belästigend; ich weiß recht gut; aber ich muß mir die Antwort erbitten; ich brauche sie. Warum sagten Sie mir diese Worte?«

»Weil Sie davon sprachen, daß ich so ernst sei.«

»Aus keinem anderen Grunde?«

»Nein.«

»Nicht etwa, weil Sie glaubten, es drohe Ihnen eine Gefahr?«

»O nein. Ich habe keine Ahnung von einer Gefahr. die mir drohen könnte.«

»Das beruhigt mich einigermaßen. Aber vorhanden ist diese Gefahr; das weiß ich genau; ich habe Ihretwegen das Tivoli verlassen. Verzeihen Sie mir das unbequeme Forschen! Es geschieht wirklich zu Ihrem Besten.«

Er hielt noch immer ihre Hand in der seinigen. Er hätte sie am Liebsten für immer so festgehalten. Er sagte nichts mehr, und da Laura das Drückende der so entstandenen Pause gar wohl empfand, bemerkte sie:

»Wie sollte ich Ihnen zürnen? Sie forschen ja, wie Sie sagen, zu meinem Besten. Und doch bin ich Ihnen so fremd.«

»Ja, wenn wir zusammenzählen, wie oft wir uns gesehen oder getroffen haben. Aber ich zähle nicht. Es bedarf gar nicht vieler Begegnungen, um dem Herzen nahe zu stehen.«

»Gute Nacht, Herr Hauck!« antwortete sie, indem sie sich bemühte, ihre Hand aus der seinigen zu ziehen.


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»Es wird Ihnen freilich scheinen, als ob der Paukenschläger ein recht verwegener Kerl sei. Aber er ist es nicht; er ist nicht verwegen, sondern nur aufrichtig. Ich bin Ihnen so sehr schnell herzlich gut geworden; ich sage Ihnen das, ohne Sie beleidigen zu wollen. Weisen Sie mich ab, ich werde gehen, aber dennoch immer, immer an Sie denken.«

Er wollte gehen; aber da war es, als ob jetzt sie seine Hand fest halten wolle.

»Das dürfen Sie nicht, Herr Hauck!« sagte sie rasch, fast ängstlich.

»Warum? Sind Sie verlobt?«

»Nein.«

»Aber wenigstens nicht mehr frei?«

»Auch das nicht.«

»Ach, dann können Sie mich nicht leiden?«

»Gott, wie quälend ist das! Haben Sie noch nicht von mir sprechen gehört?«

»Was sollte ich von Ihnen gehört haben?«

»Etwas recht, recht Böses.«

»Unsinn! Sie und Böses! Das paßt ja gar nicht zusammen, nun und nimmermehr!«

Sie dürfen nicht an mich denken und ich nicht an Sie. »O doch! Es ist - - das Schlimmste, was von einem Mädchen gesagt werden kann. Sie dürfen nicht an mich denken und ich nicht an Sie - überhaupt an Keinen, an Niemand.«

»Wenn mir ein Anderer das sagte, so setzte ich ihm da meine Faust in's Gesicht, daß ihm sein Verstand grad so abhanden kommen müßte, wie mir gestern der meinige!«

»Und doch ist es wahr!«

»Wenn ich es doch nur erfahren könnte!«

»Fragen Sie - fragen Sie dort Den! Gute Nacht!«

Sie entzog ihm jetzt die Hand, deutete auf Adolf, welcher in einiger Entfernung wartend stehen geblieben war und schloß die Hausthür zu.

»Ein ziemlich langer Abschied!« meinte der Polizist.

»Im Gegentheil zu kurz. Hätten Sie nicht auf mich gewartet, so wäre es anders gekommen.«

»Wohl zu gar keinem Abschiede?«

»Wenigstens nicht so schnell.«

»Das klingt ja fast, als ob sie beide Wohlgefallen an einander fänden.«

»Ich an ihr, ja; sie aber leider nicht an mir!«

»Sagte sie das Ihnen?«

»Sehr deutlich. Sie meinte, daß ich nicht an sie denken möge. Ist das etwa undeutlich?«

»Ganz und gar nicht. Aber das heißt doch gar nicht, daß sie nichts von Ihnen wissen mag!«

»Was heißt es denn? Etwa, daß ich nun sogleich zum Pfarrer laufen solle, um das Aufgebot zu bestellen?«


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»Das jedenfalls nicht,« lachte der Polizist. »Laura ist ein braves, seelensgutes Mädchen. Sie besitzt alle Eigenschaften, einen Mann glücklich zu machen, und doch - -«

»Was für ein Doch kann es da geben?«

»Ein sehr schwer wiegendes.«

»Pah! Es wird federleicht sein. Aufrichtig gestanden, ich bin diesem Mädchen sofort herzensgut gewesen. Wenn sie mich nimmt, so heirathe ich sie.«

»Das klingt sehr bestimmt und resolut! Sie scheinen sich sehr schnell zu entscheiden.«

»Ja, ich bin eben Paukenschläger!«

»Was hat das mit dieser Schnelligkeit zu thun?«

»Sehr viel! Ich stehe da, mit dem Schlägel in der Hand. Kommt die Note dann - tsching, bum, bum! Fertig!«

»Und ich bleibe bei meinem Doch, lieber Hauck.«

»Der Teufel hole Ihr Doch? Was geht es mich an! Es scheint da etwas Geheimnißvolles zu liegen.«

»Wohl nur für Sie. Kennen Sie Laura Werner?«

»Ja, sehr gut.«

»So müssen Sie also auch wissen, was ich mit meinem Doch gemeint habe.«

»Den Teufel weiß ich! Mag gar nichts wissen. Das Mädchen ist sehr hübsch und sehr gut. Ich heirathe sie, wenn sie mir keinen Korb giebt. Halt! Da fällt mir ein, ich sollte Sie ja darüber befragen.«

»Es läßt sich denken, daß sie es nicht selbst sagt. Gestern sagte sie zu mir, sie habe alle Ursache dazu, für ihr Lebelang dem Lachen zu entsagen. Laura nimmt diese Angelegenheit wohl gar zu ernst; aber erduldet und erlitten hat sie geradezu genug!«

»Erduldet? Sakkerment! Wegen wem denn? Ich schlage den Kerl zu Brei und Kartoffelmus!«

»Sie scheinen heute sehr streitbar zu sein?«

»Ja, ich befinde mich in einer grimmigen Laune. Wenn bei mir einmal die Wuth und Rache kocht, dann quirl ich so lange in dem Topf herum, bis er überläuft. Sonst aber bin ich ein seelensguter Kerl.«

»Weiß es. Aber wären Sie so seelensgut, ein Mädchen zu heirathen, welches bereits einmal geboren hat?«

»Geboren? Wen denn?«

»Na, ein Kind! Einen Pfefferkuchenmann doch nicht!«

»Ein Kind? Donnerwetter? Hm!«

»Und dieses Kind ermordet haben soll - -?«

»Ermordet? Herrgott!«

»Und darum in Zuchthause gesessen hat?«

»Zuchthaus - -? Gesessen - -«

Hauck war stehen geblieben. Er war ganz starr vor Erstaunen.

»Ja,« meinte der Polizist. »Antworten Sie doch!«

»Was soll ich antworten?«


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»Darauf bin ich eben neugierig.«

»Das Mädchen, von welchem Sie sprechen, geht mich ja ganz und gar nichts an!«

»Ich denke, Sie wollen es heirathen?«

»Fällt mir gar nicht ein! Ich habe von Laura Werner gesprochen, aber von keiner Anderen.«

»Ich auch von ihr und von keiner Anderen.«

Da trat Hauck einen Schritt zurück und sagte:

»Ich habe wirklich große Lust, Ihnen den Hut anzutreiben, obgleich Sie keinen aufhaben!«

»Das ist aber ja eben das Doch, von dem ich sprach!«

»Sind Sie des Teufels! Laura sollte schon ein - ein - Donnerwetter - ein Kind gehabt haben? Gott stehe mir bei! Sagen Sie die Wahrheit?«

»Leider ja.«

»Dann adieu mit Allem, was ich mir gedacht und vorgenommen hatte. Ich bin dem Mädchen so schnell aber auch so herzlich gut geworden. Gott weiß es, daß ich mir Mühe gegeben hätte, sie glücklich zu machen. Nun aber wollte ich, mein verloren gegangenes Gedächtniß wäre geblieben da, wo es hingelaufen ist. Aber diesen Kerl möchte ich umbringen! Wer ist denn der Vater gewesen?«

»Der Baron von Helfenstein.«

»Dieser Teufel in Menschengestalt! War es nicht genug an den Anderen, die er unglücklich gemacht, zum Beispiel jenes arme Mädchen, welches wegen der Leda, die auch seine Geliebte gewesen ist, unschuldig verurtheilt wurde!«

»Kennen Sie dieses Mädchen?«

»Ich habe erzählen hören.«

»Haben Sie auch den Namen gehört?«

»Ja, aber ihn wieder vergessen. Sie hat bei der Baronin gedient, und er hat sie überfallen und überwältigt ganz ohne ihren Willen.«

»Würden Sie dieses unglückliche Mädchen nicht heirathen, weil sie eine solche Vergangenheit hinter sich hat?«

»Herr, halten Sie mich für einen so herzlosen Menschen, für einen Schuft und Schurken? Wenn Sie mir gut wäre, würde ich sie heirathen und grad stolz auf sie sein. Ich würde sie zur Frau nehmen grad den Unverständigen zum Ärger und zum Trotz. Nicht ein Jeder kann eine Frau haben, an welcher das Gesetz so sehr viel gut zu machen hat!«

»Na, das ist brav gedacht! Aber warum wollen Sie da so plötzlich von dieser Laura nichts mehr wissen?«

»Von Laura? Ja, das ist denn doch ein anderes Ding.«

»Nein, das ist eben dasselbe Ding. Die Geschichte, welche Sie jetzt erwähnt haben, ist eben Laura's Geschichte.«

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Hauck sich hören ließ:

»Laura Werner! Sehen Sie mich einmal an!«

»Na warum?«


- 2315 -


»Bin ich jetzt nicht ganz Steingut - Porzellan oder gar Marmor? Greifen Sie mich an!«

»Na, ich fühle glücklicher Weise doch Fleisch.«

»So? Ich dachte schon, daß ich aus Erstaunen eine Statue geworden sei - ungefähr eine Venus oder Minerva. Nein, nein! Also Laura war dieses Mädchen?«

»Ja, sie war es.«

»Das giebt der Sache allerdings eine ganz andere Wendung! Also darum sagte sie, daß sie für ihr Lebelang dem Lachen entsagen müsse?«

»Nur darum!«

»Hören Sie, haben Sie Zeit?«

»Warum diese Frage?«

»Weil ich wissen möchte, ob Sie heute noch sehr beschäftigt sind.«

»Gar nicht. Ich begleite Sie und gehe dann schlafen.«

»Schön, schön! Sie haben also Zeit. Bitte, warten Sie ein wenig, bis ich wiederkomme. Ich muß gleich zu Werners!«

»Wozu aber?«

»Ich muß ihr schleunigst sagen, daß sie in Gottes Namen lachen kann, so sehr und so viel sie will.«

»Ist das so eilig?«

»Natürlich. Man kann Niemand schnell genug glücklich machen.«

»Das ist wahr; aber wissen Sie denn, daß Sie es sind, von welchem Laura glücklich gemacht sein will?«

»Hm! Sapperment!«

»Na, also! Übrigens, wie wollen Sie zu Werners kommen. Es ist Alles zugeschlossen.«

»Das wäre das Wenigste. Ich würde so lange rumoren, bis dieser liebenswürdige Inspector oder Hausverwalter käme, um mir aufzumachen.«

»Also Sie meinen, ich solle nicht noch einmal umkehren?«

»Ja, das meine ich.«

»So werde ich aber morgen mit dem Frühesten dort sein.«

»Auch davon rathe ich ab.«

»Warum denn aber?«

»Sie sind wahrhaftig ganz Feuer und Flamme!«

»Ja, kommen Sie nicht näher, rühren Sie mich ja nicht etwa an! Wenn ich einmal einem Mädchen gut bin, so ist meine Liebe nicht von Pappe, sondern aus Dynamit.«

»Sapperment! Das ist lebensgefährlich! Aber Sie werden sich doch gedulden müssen. Es wäre lächerlich, morgen früh zu Werners zu gehen. Sie müssen zunächst erst wissen, ob Ihre Liebe erwidert wird.«

»Ganz recht! Und grad deshalb will ich morgen bereits in aller Frühe hin!«

»Das ist freilich der reine Dynamit. Aber Sie machen Sich lächerlich.«

»Meinetwegen! Laura soll ja lachen!«


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»Auch ein Grund! Sie sind wirklich köstlich! Bedenken Sie, daß Laura mit dem Glücke abgeschlossen hat. Sie ist ein eigenthümlicher Character, tief angelegt und nach Innen gekehrt. So ein Wesen muß auf andere Weise angefaßt werden, als Sie es thun wollen.«

»Na, wie soll ich sie denn fassen?«

»Zarter, zarter und sanfter!«

»Hm! Sie haben nicht ganz unrecht!«

»Nicht wahr? Warum so hineinstürmen? Müssen Sie denn schon morgen das Jawort haben?«

»Nein. Ich kann bis übermorgen warten. Bis dahin will ich auf das Zarteste verfahren.«

»Wann soll denn die Hochzeit sein?«

»Das wissen die Götter! Glauben Sie, daß ich als einfacher Paukenschläger mir eine Frau nehmen kann?«

»Sie wollen warten, bis Sie doppelter werden?«

»Unsinn! Meine jetzige Einnahme reicht für mich, aber nicht für Weib und Kind.«

»Na, mit Kind hat es Zeit.«

»Kommt aber zuweilen bald! Ich muß mich also nach einer besseren Einnahmequelle umsehen, bevor ich von Hochzeit und Heirath reden kann.«

»Na, da haben wir es! Warum wollen Sie denn da heut und morgen so hineinstürmen?«

»Weil eben meine Liebe von Dynamit ist!«

»Das taugt nichts! Wenn der Dynamit verpufft ist, dann ist es alle. Die Liebe aber soll halten und andauern für das ganze Leben.«

»Ja. Aber wenn ich nicht so schnell mache, kommt schließlich ein Anderer und nimmt sie mir vor der Nase weg.«

»Hm! Sind Sie schon einmal verliebt gewesen?«

»Nein.«

»Aber zum Scherz haben Sie sich ein Mädchen angeschafft?«

»So ein Schuft bin ich nicht. Ein Mädchen betrogen? Nein!«

»Darum sind Sie so unerfahren. Haben Sie keine Sorge, es wird Niemand kommen, um Ihnen Laura grad vor der Nase wegzunehmen. Ich werde darüber wachen.«

»Das freut mich von Ihnen! Was wollen Sie da aber machen? Bei dem Mädchen oder bei meiner Nase, damit sie mir da nicht weggenommen wird?«

»Eigentlich sollte ich Ihnen jetzt etwas auf die Nase geben! Jetzt sprechen wir ernsthaft. Sie wünschen Laura besser kennen zu lernen. Ich werde Sie in der Familie einführen, und dann haben Sie ja - -«

»Danke, danke! Ist nicht nöthig! Habe mich bereits selbst eingeführt. Und nun aus mit diesem Thema! Wir stehen bereits eine Viertelstunde hier, ohne von der Stelle zu kommen.«

»Das hat auch seinen guten Grund. Gerade diese Stelle hier suchen wir ja.«


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»Wie? Sollte ich hier gelegen haben?«

»Hier, und zwar konnte man aus der Körperlage entnehmen, daß Sie von dorther gekommen sind und nach dahin gewollt haben.«

Er deutete mit der Hand in die beiden angegebenen Richtungen. Hauck blickte höchst nachdenklich bald in die eine und bald in die andere, und meinte dann:

»So wollen wir einmal dahin gehen, wo ich hergekommen zu sein scheine.«

Sie thaten das. An der nächsten Ecke blieb er überlegend stehen. Adolf sprach kein Wort, um seinen arbeitenden Geist nicht zu stören.

»Ja,« sagte der Paukenschläger plötzlich, »von dorther bin ich gekommen. Dort in der kleinen Kneipe war noch Licht. Ich entsinne mich dessen jetzt sehr wohl.«

»Dann also in diese Gasse hinein! Denken Sie nach!«

Sie betraten die erwähnte Gasse, und hatten sie noch nicht völlig zurückgelegt, als Hauck sagte:

»Und da vorn sind wir um die Ecke rechts gekommen. Ich mußte dort ein wenig stehen bleiben, weil die vier Männer sehr langsam - Sapperment, vier Männer! Ja, jetzt habe ich's! Vier Männer waren es.«

»Wo aber kamen sie her?«

»Darauf kann ich mich nicht besinnen.«

»Danken Sie nach, wo Sie diese Vier zuerst getroffen haben!«

»Vielleicht finden wir es, wenn wir in dieser Richtung weitergehen. Kommen sie!«

Er schritt weiter und Adolf folgte in höchster Spannung hinter ihm. Nach einer Weile blieb Hauck stehen, deutete auf eine Hausthür und sagte:

»Hier bin ich ganz sicher vorübergekommen, denn an dieser Thür arbeitete ein Betrunkener mit dem Schlüssel herum, um hinein zu kommen. Die Vier, denen ich folgte, lachten über ihn. Also weiter jetzt! Ich bin auf dem richtigen Wege.«

Sie folgten der eingeschlagenen Richtung und gelangten an den Platz, dessen eine Seite das Gerichtsgebäude bildete. Hauck blieb eine Weile wie verdutzt stehen, dann schritt er in doppelter Eile auf das Gebäude zu, trat um die eine Ecke desselben herum und sagte:

»Sie wollen wissen, woher diese Vier kamen?«

»Ja, natürlich!«

»Drei kamen hier heraus und den Vierten verfolgte ich. Er trat hier um diese Ecke, blieb stehen und sagte - ah, Gott sei Dank, da kommen auch die Worte, welche er sagte, die Namen, die er nannte. Wie gut, daß Sie auf den Gedanken geriethen, mich dahin zu führen, wo ich gefunden worden bin!«

»Sie müssen sich jetzt irren!«

»O nein! Irrthum ist unmöglich!«

»Hier heraus können die Drei nicht gekommen sein.«

»Warum nicht?«

»Da ist selbst am Tage kein officieller Ein= und Ausgang.«


- 2318 -


»Wer weiß, wie es zugegangen ist!«

»Zu dieser Thür haben nur Männer die Schlüssel, welche Niemanden niederschlagen.«

»Aber ich kann Ihnen ja die Namen nennen!«

»Gut! Thun Sie das!«

»Der Eine wurde Simeon genannt.«

»Alle Wetter! Vielleicht Simeon, der Goldarbeiter!«

»Weiß es nicht.«

»Den wir suchen und nicht erwischen können! Wie waren denn die anderen Namen?«

»Freiherr von Tannenstein.«

»Unsinn!«

»Und Fräulein, dessen Tochter.«

»Doppelter Unsinn!«

»Sie hatte auch Männerkleider an.«

»Sie haben geträumt.«

»Ich habe gewacht. Jetzt weiß ich ganz genau, was ich hier gethan habe. Ich stand da hinter der Ecke und habe Alles gehört. Der, dem ich folgte, fragte, was die Drei hier gemacht hätten. Simeon antwortete, er werde es erfahren, solle aber jetzt den Mund halten und keinen Namen nennen. Dann gingen sie dorthin, wo wir jetzt hergekommen sind.«

»Hm! Geheimniß über Geheimniß! Wenn es wirklich so ist, wie Sie sagen, so müssen die Vier bemerkt haben, daß sie verfolgt wurden. Einer oder Zwei sind im Dunkel zurückgeblieben und haben Sie niedergeschlagen.«

»Ja, so war es sicher.«

»Sie wissen also nicht, wo die Vier dann nachher hingekommen sind?«

»Nein. Wie soll ich das wissen, da ich bewußtlos war.«

»Freiherr von Tannenstein. Hm! Werde nachschlagen, ob dieser Herr überhaupt anwesend ist.«

»Gestern wenigstens ist er hier gewesen; darauf will ich schwören, so viel Sie wollen.«

»Wollen Sie das einstweilen auf sich beruhen lassen. Sagen Sie jetzt, woher Sie mit dem Vierten gekommen sind.«

»Um diese Ecke, also jedenfalls aus der Straße da.«

Er deutete in die betreffende Straße hinein.

»Wissen Sie das genau?« fragte Adolf.

»Nein. Jetzt verliert mein Wissen an Sicherheit. Aber gehen wir trotzdem weiter! Vielleicht finde ich noch, was ich suche.«

Als sie an die Ecke gelangten, meinte er:

»Dieser Brunnen giebt mir Sicherheit. Jetzt weiß ich, daß ich da links heraufgekommen bin und ganz unten um die Ecke zur rechten Hand herum.«

Er schritt jetzt rascher weiter, immer die Straße hinab und dann um die erwähnte Ecke. Dort war er noch gar nicht weit gekommen, so stieß er, stehen bleibend, einen nur halb unterdrückten Ruf der Überraschung aus.


- 2319 -


»Was giebt es?« fragte Adolf.

»Wir sind hier! Hier war es, hier!«

»Was war hier?«

»Da an diesem Thor habe ich während mehrerer Stunden gestanden, um Die da oben zu beobachten und den Kerl abzulauern.«

»Wer wohnt da?«

»Ich weiß es nicht, aber ich wollte es erfahren. Er war mit ihr hineingegangen.«

»Er? Wer?«

»Das kann ich nun leider nicht sagen. Ich meine den Vierten, der dann am Gerichtsgebäude die drei Anderen anrief.«

»Und sie? Wer ist sie?«

»Auch das weiß ich nicht. Ich wollte es noch erfahren. Er ist mit ihr da hinaufgegangen, natürlich als Geliebter.«

»Wo kamen sie denn her?«

»Ach, da verläßt mich dieses niederträchtige Gedächtniß wieder, grad wo ich es am Allernöthigsten habe.«

»Vielleicht aus dem Tivoli?«

»Nein - das heißt, nicht direct aus dem Tivoli. Es war erst etwas geschehen, was mir Veranlassung gab, Mißtrauen zu hegen. Ah, kommt dort nicht Jemand leise gegangen?«

»Ja, es wird ein Wächter sein. Warten wir!«

Der Mann kam langsam näher. Er war wirklich Nachtwächter. Die Beiden hatten sich so gut an die dunkle Thür gedrückt, daß er fast vorübergegangen wäre. ohne sie zu beachten; da aber streifte er an Hauck.

»Wer da?« fragte er, stehen bleibend.

»Pst! Polizei,« antwortete Adolf.

»Oho!« meinte der Wächter in ungläubigem Tone, aber doch mit gedämpfter Stimme.

Im Augenblicke war seine kleine Blendlaterne aus der Tasche und an Adolfs Gesicht.

»Ah! Sie sind es,« meinte er. »Entschuldigung!«

»Still! Mir wäre es lieber, wenn Sie wüßten, wer da drüben wohnt.«

»Eine frühere Zofe, die Sie jedenfalls auch kennen. Sie war zuletzt bei der Baronin von Helfenstein.«

»Ah! Die habe ich ganz und gar aus der Acht gelassen.«

»Nicht möglich!« lachte der Wächter leise. »Man weiß doch, daß - daß ihr der Hof gemacht wurde, um - -«

»Gut, gut! Wie lebt sie hier?«

»Fidel. Sie kommt sehr spät nach Hause.«

»Wann gestern!«

»Das weiß ich nicht. Ich hatte gestern frei.«

»Empfängt sie Besuch?«

»Habe noch nichts bemerkt.«


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»Nicht? Sehen Sie einmal an den Vorhang!«

»Ah, wirklich! Da ist eine männliche Person mit oben. Man sieht es am Schatten.«

»Ja. Der Mann ist aufgestanden, jedenfalls um zu gehen. Entfernen Sie sich schnell, Wächter! Man braucht Sie nicht zu bemerken, wenn man da drüben öffnet.«

Der Genannte ging. Droben bewegten sich ein männlicher und ein weiblicher Schatten hin und her. Adolf sagte:

»Nun drücken Sie sich so fest wie möglich an die Thür, und ziehen Sie Ihr Gesicht in den Rockkragen hinein, damit man es nicht von drüben weiß glänzen sieht.«

»Ist diese Zofe denn gefährlich?«

»Sehr. Jetzt möchte ich fast an die Wahrheit der Namen glauben, welche Sie vorhin genannt haben.«

»Aha!«

»Der Tannensteiner ist nämlich ein Verwandter von dem Helfensteiner. Was hat er mit seiner Tochter im Gerichtsgebäude gewollt? Das muß ich herausbekommen! Sehen Sie! Man geht. Das Fenster wird dunkel. Passen Sie auf!«

Jetzt wurden die über der Thür befindlichen Glastafeln hell. Die Thür ging auf. Das auf der Treppe stehende Licht beleuchtete die beiden im Eingang Stehenden, welche vorsichtig auf die Straße blickten, ob Jemand zu sehen sei.

»Alle Teufel!« flüsterte Adolf überrascht.

»Kennen Sie ihn?« fragte Hauck.

»Ja, sehr gut. Horchen Sie!«

»Es ist Niemand zu sehen,« sagte Hulda, »Du kannst also unbemerkt gehen.«

»Wie schade! Ich wäre noch so gern geblieben!«

»Man darf des Guten nicht zuviel thun. Du bist übrigens reichlich genug belohnt .«

»Ja. Die beiden dummen Polizeier haben es mir freilich leicht genug gemacht, ihnen die Ringe zu verkaufen.«

»Nun den Brief an den Obergensdarm. Denkst Du, daß wir ihn gut abgefaßt haben?«

»Ei freilich!«

»Und die Handschrift so verstellt, daß Niemand den Schreiber herausbekommt?«

»Ich möchte Den sehen, der ihn entdecken will!«

»So vergiß ihn nicht!«

»Er kommt in den nächsten Briefkasten. Also gute Nacht!«

»Gute Nacht! Morgen um diese Zeit stecken die Beiden im Loche!«

»Vielleicht auch ihre Mädchen.«

»Ja, die Landrock und die Werner. Horch!«

Nämlich bei den letzten Worten hatte Hauck einen Laut der Überraschung nicht zu unterdrücken vermocht.

»Was ist's?« fragte Mehnert.


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»Es war ganz so, als ob ich etwas gehört hätte.«

»Es ist kein Mensch in der Nähe. Komm, noch einen Kuß!«

Sie gab einen und empfing einen; er ging, und sie verschloß die Thür.

»Um Gottes willen! Was hatten Sie?« fragte Adolf leise.

»Aus Freude! Nun endlich weiß ich Alles.«

»Sehr gut! Es gilt einen raffinirten Plan. Ich muß diesem Menschen nach, um zu sehen, in welchen Briefkasten er den Brief steckt. Sie sind im Verfolgen nicht so geübt wie Unsereiner; wir wollen uns also trennen. Aber wir müssen uns wieder treffen.«

»Wann und wo?«

»Jedenfalls in kurzer Zeit, am Brunnen auf dem Altmarkte.«

»Gut! Das ist mir der liebste Ort. Er paßt zu Dem, was ich Ihnen noch mitzutheilen habe.«

Adolf huschte lautlos Mehnert nach, und der Paukenschläger schritt auch davon, langsam sich dem Altmarkte zuwendend. Dort hatte er noch nicht lange am Brunnen gewartet, als der Polizist wieder zu ihm stieß.

»Ich weiß den Kasten,« sagte dieser.

»Auch die Wohnung des Menschen?«

»Ja. Er heißt Mehnert und ist Besitzer eines Goldwarengeschäftes, welches vorher dem flüchtigen Simeon gehörte. Er scheint jetzt der Liebhaber dieser Zofe zu sein und mit ihr einen Racheplan ausgeheckt zu haben.«

»Ahnen Sie, was für einen?«

»Klar bin ich mir nicht. Ich und College Anton haben heute bei ihm je einen Ring gekauft. Wir hielten beide für echt; er bestritt das. Wie Sie aber jetzt gehört haben, hat er sie für uns bestimmt gehabt. Und jetzt geht ein Brief an den Obergensd'arm. Das scheint so, als ob der Plan sich auf diese Ringe beziehe und gegen mich und Anton gerichtet sei.«

»Warum will man sich an Ihnen rächen?«

»Anton war zum Schein der Geliebte der Zofe, hatte aber nur die Absicht, sie betreffs ihrer Herrschaft auszuforschen.«

»Und Sie, was haben Sie verbrochen?«

»Ganz dasselbe. Ich habe ein anderes Mädchen auszuhorchen gehabt, kann aber nicht begreifen, warum ich da auch mit hineingezogen werden soll. Direct habe ich der Zofe doch nichts zu Leide gethan! Sie müßte mit der dicken Jette im Complot sein, mit der sie allerdings gestern im Tivoli lange Zeit gesprochen hatte.«

Er sagte das mehr für sich hin als für Hauck; dieser aber fragte in lebhaftem Tone:

»Die dicke Jette? Ach, nicht wahr, die Zofe war gestern im Tivoli?«

»Ja, und Mehnert machte sich viel mit ihr zu schaffen.«

»Meinen Sie mit der dicken Jette etwa die kleine Dicke, welche mit der Zofe beisammen saß?«

»Ja.«

»Und dann auch mit ihr ging?«


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»Wie? Sie ist auch mit ihr gegangen?«

»Ja.«

»Ich habe aber die Dicke noch später gesehen, als die Zofe längst fort war!«

»Weil sie wiedergekommen ist.«

»So, so! Aber Sie sprechen ganz erregt. Was haben Sie? Warum konnten Sie vorhin, als Mehnert von der Zofe Abschied nahm, sich so wenig beherrschen, daß Sie beinahe ganz laut geworden wären?«

»Das geschah vor Freude, wie ich bereits sagte. Ein Wort, welches ich hörte, brachte mir die ganze Erinnerung an gestern zurück. Ich war natürlich ganz glücklich darüber.«

»Welches Wort?«

»Die Werner im Loch!«

»Ach so! Auch mir geht jetzt ein Licht auf.«

»Gestern ging ich nämlich im Tivoli an der Zofe und der Jette vorüber und hörte, daß die Werner in das Gefängniß müsse. Das waren die Worte, die mich veranlaßten, den Saal zu verlassen, und die mir heute doch gar nicht wieder einfallen wollten.«

»Sie haben natürlich geglaubt, daß diese Drohung gegen Laura gerichtet sei?«

»Jawohl.«

»Das ist nicht der Fall, sondern sie galt ihrer Schwester Emilie, meiner Verlobten. Diese beiden Mädchen wollen sich rächen, an mir und Anton, weil wir sie verlassen haben. Wie sie es anfangen wollen, das weiß ich freilich nicht. Jedenfalls aber haben die erwähnten Ringe und auch der vorhin in den Kasten gesteckte Brief darauf Bezug. Ich werde natürlich noch während der Nacht den Kasten öffnen lassen. Dann wird es sich finden, was sie beabsichtigen.«

»Vielleicht kann ich Ihnen eine Mittheilung machen, welche Ihnen schon jetzt Licht bringt.«

»Welche Mittheilung?«

»Die beiden Mädchen sind gestern Abend in dem Palais des Barons gewesen.«

»Guter Freund, da irren Sie sich sehr.«

»O nein.«

»Die Schlüssels alle, die es giebt, befinden sich in meiner und Antons Verwahrung. Wir wohnen jetzt im Palais.«

»So? Aber die Mädchens hatten auch Schlüssels.«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Sie sprechen mit solcher Ruhe und Überzeugung; aber ich kann nicht glauben, daß Ella - ah, als Zofe konnte sie sich freilich auf irgend eine Weise Schlüssels verschaffen!«

»Sehen Sie!«

»Sie sah mich und Anton im Tivoli; sie war also sicher, hier nicht überrascht zu werden. Was aber wollte sie?«


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»Das weiß ich freilich nicht.«

»Zwei Mädels, so allein Abends in das weitläufige, finstere und verrufene Gebäude. Sie müssen sich da eigentlich ganz entsetzlich gefürchtet haben.«

»Wenn es sich um Eifersucht und Rache handelt, pflegt ein Mädchen gar nicht mehr an Furcht zu denken.«

»Das ist freilich wahr. Zu welcher Thür sollen sie aber eingedrungen sein?«

»Durch das kleine Pförtchen dort hinter der Ecke.«

»Ah! Das war die geheime Passage auch des Hauptmannes. Haben Sie sie wirklich dort eintreten sehen?«

»Eintreten nicht, aber heraus kommen. Ich ging ihnen nach. Als ich dort um jene Ecke kam, waren sie verschwunden. Es gab keine Erklärung, als daß sie durch die Pforte in das Palais gegangen seien. Ich beobachtete die Fenster und bemerkte wirklich baldigst einen Schein wie von einer schlecht verwahrten Laterne.«

»Wo?«

»Im ersten Stock, da im fünften und sechsten Fenster.«

»Dort ist das Boudoir der Baronin gewesen. Dort giebt es noch Schmuck und Geschmei - - Donnerwetter!«

»Was ist's?«

»Mir geht da nicht nur ein Licht, sondern gleich eine ganze Stearinfabrik auf.«

»Es ist sicher so, wie ich denke: Sie haben die beiden Ringe gestohlen, welche uns der Geliebte der Zofe in die Hand spielen mußte, damit es heißen könne, wir hätten sie unterschlagen. Gut ausgesonnen! Und dem Besuche im Gerichtsgebäude werden wir auch auf die Spur kommen. Vielleicht hängt Beides zusammen. Ich werde den Staatsanwalt wecken müssen oder den Fürsten!«

»Doch lieber den Fürsten!«

»Sie haben recht; gehen wir zu ihm!«

Es war bereits spät, aber im Zimmer des Fürsten von Befour gab es noch Licht. Als die Glocke geschellt wurde, stand der Portier auf, um nach dem Begehr zu fragen. Er erkannte Adolf und ließ ihn sofort ein. Bald stand der Letztere mit dem Paukenschläger vor dem Fürsten, um Alles zu erzählen. Der Herr hörte aufmerksam zu und fragte:

»Weiß Anton bereits etwas?«

»Nein.«

»Ich hörte, daß Ihr mit der Droschke kommt. Steht sie noch unten?«

»Ja.«

»So gehe ich gleich mit. Wir wecken zunächst den Staatsanwalt.«

Eine Viertelstunde später saß auch der Anwalt mit in der Droschke, welche die vier Männer nach dem Hauptpostamte brachte, wo sie sich einen wachthabenden Beamten mitnahmen, um den betreffenden Briefkasten öffnen zu lassen. Dies geschah. Man fand den Brief. Er wurde sofort geöffnet, nach=


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dem der Postmann entlassen und ihm noch Verschwiegenheit anbefohlen worden war. Der Inhalt lautete, wie vermuthet worden war. Es war eine Denuncation, daß Anna Landrock und Emilie Werner Ringe tragen, welche von den Geliebten der beiden Mädchen aus dem Helfenstein'schen Palais genommen worden seien.

»Wunderschön!« meinte der Fürst zum Staatsanwalte. »Haben Sie Ihre Schlüssel mit?«

»Ich habe sie den beiden Wächtern gegeben.«

»Schön! So könnten wir gleich jetzt den Inhalt der Chatouille untersuchen. Fahren wir also nach dem Palais.«

Anton schlief. Er wurde geweckt und wunderte sich nicht wenig, als er hörte, um was es sich handelte. Die Chatouille wurde geöffnet. Man hatte vermuthet, daß nur die beiden Ringe entfernt worden seien, fand aber Alles leer.

»Alle Teufel!« meinte Anton. »Das ist stark! Wir werden sofort dieses Zöfchen aufsuchen, um uns die abhanden gekommenen Sächelchen wiedergeben zu lassen.«

»Nein, das werden wir nicht,« antwortete der Fürst. »Wir werden ihr vielmehr Gelegenheit geben, ihre Rolle auszuspielen. Wir erfahren nur auf diese Weise, wie weit Mehnert mit betheiligt ist.«

»Aber wenn sie die Gegenstände unterdeß verwerthen!«

»Das geschieht nicht so schnell. Um zu erfahren, was wir wissen müssen, genügt es, uns der guten Jette Horn zu versichern. Wir nehmen Sie mit ihrer Mutter und ihren Schwestern heimlich in Gewahrsam. Die Zofe und ihr Verbündeter brauchen nicht zu erfahren, daß sie gefangen sind; sie mögen sie vielmehr für verreist halten. Ich, der Staatsanwalt und Anton genügen. Die Anderen mögen nachkommen, um die Gefangenen im Empfang zu nehmen. Sie können unauffällig vor dem Hause warten.«

Die drei Genannten stiegen wieder in die Droschke, verließen sie aber, ehe sie die betreffende Gasse ganz erreicht hatten, und begaben sich zu Fuß an das Haus des Apothekers Horn. Der Staatsanwalt und Anton lehnten sich an die Thür des Nachbarhauses, während der Fürst klopfte. Er that das anhaltend, aber so leise und vorsichtig, als ob er befürchte, daß ein Unberufener sein Klopfen hören möge. Erst nach einiger Zeit wurde oben, wo die Familie schlief, ein Fenster geöffnet.

»Wer ist unten?« fragte es leise.

»Das kann ich erst sagen, wenn ich weiß, wer es ist, der da oben fragt,« antwortete der Fürst ebenso leise.

»Ich bin Frau Horn.«

»Sehr gut! Ich bin zu Ihnen geschickt.«

»Von wem?«

»Das läßt sich unter freiem Himmel nicht gut sagen. Ich komme aus dem Gefängnisse.«

»Ah! Oh! Warten Sie; warten Sie! Wir kommen gleich!«

Es wurde oben Licht gemacht; dann hörte man von Außen die Treppen=


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stufen knarren; die Stubenthür wurde geöffnet und dann auch die Hausthür.

»Kommen Sie!« flüsterte die Frau. »Meine Töchter sind bereits in der Stube.«

Der Fürst trat ein, zugleich aber auch die beiden Anderen, welche rasch hinzugekommen waren.

»Sie sind nicht allein?« fragte sie, Argwohn schöpfend.

»Nein, wie Sie bemerken.«

»Ich darf nur Sie einlassen!«

»Schweigen Sie. Ich lasse so Viele ein, wie mir beliebt.«

Bei diesen Worten machte er die Stubenthür auf, schob die Frau hinein und folgte ihr mit den Anderen. Da fiel der Schein des Lichtes auf ihn.

»Der Fürst!« rief die Frau erschrocken, und ihre Töchter stimmten mit ein.

»Diese beiden anderen Herren sind Ihnen jedenfalls ebenso bekannt wie ich selbst. Wir kommen, um einige Fragen auszusprechen.«

»Wir wissen nichts!« rief die Frau rasch.

»Ich habe es einstweilen nur mit Fräulein Jettchen zu thun.«

»Auch ich weiß nichts,« beeilte sich auch diese zu sagen.

»Wollen sehen. Vor allen Dingen gebe ich Ihnen die Versicherung, daß Ihnen das Leugnen nichts helfen wird. Es ist alles bereits an den Tag gekommen.«

»Herrgott, was soll es denn nun wieder geben?« jammerte die Frau. »Nimmt das Unglück gar kein Ende?«

»Sie sind selbst an Allem schuld. Wer Unrecht thut, darf sich später nicht beklagen, wenn ihm Anderes geschieht, als er erwartet hat. Also zunächst Ihre Tochter.«

Er setzte sich und nahm die kleine Dicke fest in's Auge. Sie gab sich Mühe, diesem Blicke Stand zu halten; aber es war ihr doch anzusehen, daß sie große Angst ausstand.

»Wo waren Sie gestern Abend?« fragte er.

»Im Tivoli.«

»Sonst nirgends?«

»Nein.«

»Das scheint nicht wahr zu sein.«

»Es ist wahr. Ich kann es beweisen.«

»Wie denn?«

»Ich kann die Mädchen nennen, mit denen ich hinging und dann auch nach Hause gegangen bin.«

»Das ist kein Beweis. Sie können doch dazwischen den Saal einmal verlassen haben.«

»Das ist nicht geschehen.«

»Man will Sie aber doch anderwärts gesehen haben!«

»Das ist eine Lüge!«

»Gut! Haben Sie getanzt?«

»Sehr wenig.«


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»Mit wem haben sie sich meist unterhalten?«

Sie nannte die Namen der Mädchen.

»Sind das die Einzigen?«

»Ja.«

»Es giebt doch wohl noch eine Andere!«

»Nein.«

»Sie haben sehr lange mit einer gewissen Hulda Naumann zusammen gesessen und angelegentlich geplaudert.«

»Das ist nicht wahr.«

»Unsinn! Es ist sehr dumm von Ihnen, das zu leugnen. Es sind Hundert vorhanden, welche Sie mit diesem Mädchen gesehen haben. Daß Sie es dennoch leugnen, ist eine Albernheit, die ich selbst Ihnen nicht zugetraut hätte. Wenn Sie übrigens fortleugnen, lasse ich Sie arretiren und einstecken. Die Wahrheit sagen, daß ist auch für Sie das Allerbeste.«

»Was soll ich denn gethan haben?« fragte sie eingeschüchtert.

»Sie wissen es!«

»Ich weiß es nicht!«

»Also, vor allen Dingen, haben Sie mit der Zofe gesprochen?«

»Ja,« gestand sie jetzt.

»Wovon?«

»Vom Tanz.«

»Nicht blos davon. Ich will Ihnen auf die richtige Antwort helfen. Sie haben von Ihren früheren Geliebten und dabei auch ein wenig von Rache gesprochen.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Es kam dabei ein gewisser Mehnert mit in's Spiel.«

»Auch das ist mir unbekannt.«

»Sie kennen ihn aber doch!«

»Nein.«

»So, so! Er ist Goldarbeiter und sollte Ihnen gewisse Ringe an gewisse Personen versorgen.«

Sie wurde bald roth und bald blaß. Woher wußte dieser fürchterliche Mann das Alles? Leugnen war wohl das Allerbeste, und so leugnete sie weiter.

»Also Sie sind nicht vom Tivoli fortgegangen?«

»Nein.«

»Nach dem Palais Helfenstein?«

»Nein.«

»Um Schmucksachen zu stehlen?«

»Herrgott! Schmucksachen stehlen, das thut die Jette nicht,« rief ihre Mutter.

Der Fürst blickte der Frau forschend in das erregte Angesicht und antwortete:

»Es ist möglich, daß Sie gar nichts wissen, daß Ihre Tochter Ihnen die


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Sache verheimlicht hat. Wenn sie aufrichtig sein wollte, so würde sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Mutter und Geschwister vor größerem Unheil bewahren. Ich bin noch jetzt bereit, anzunehmen, daß sie die Verführte ist, daß sie eigentlich gar nicht gewußt hat, was sie thut. Bleibt sie aber beim Leugnen, so wird sie so streng bestraft werden wie die Zofe. Und auch die Mutter und Geschwister muß ich arretiren lassen.«

»Mädchen, Mädchen, was hast Du gemacht!« rief die Alte.

»Nichts, gar nichts,« lautete die Antwort.

»Wir werden nach dem Geschmeide suchen müssen, welches Sie als Ihren Antheil erhalten haben,« sagte der Fürst.

»Ich habe nichts erhalten!«

Es war von ihm allerdings nur eine Vermuthung, aber er hatte doch das Richtige getroffen. Adolf und der Paukenschläger mußten kommen, und das Suchen begann. Der Erstere kannte als der frühere Anbeter der Jette einen jeden Winkel des Hauses. Er brachte bald eine uralte, zusammengebundene Haube lachend herein und sagte:

»Da diese alte Ursel kommt mir verdächtig vor, Durchlaucht. Es klirrt bedeutend. Soll ich öffnen?«

»Ja.«

Der muntere Polizist machte mühsam die vielfach verschlungenen Knoten auf.

»Gold!« sagte er dann. »Geschmeide über Geschmeide! Sechs Ringe, drei Armbänder, drei Broschen, mehrere Boutons und Haarnadeln. Alles mit - - mit - - ah!«

Er hielt die Steine gegen das Licht und fuhr dann fort:

»Alles mit echten Steinen besetzt, wollte ich sagen, aber das ist nicht so. Sehen Sie her, Durchlaucht!«

Die Anderen betrachteten auch die Steine, und der Fürst sagte achselzuckend:

»Alles nur Glas. Frau Horn, wem gehören diese Sachen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe sie noch nicht gesehen. Ich hatte keine Ahnung, daß sie sich bei mir befinden.«

Man sah es ihr an, daß sie die Wahrheit sagte.

»Fräulein Jettchen hat Ihnen diese Sachen ins Haus gebracht.«

»Nein; das ist nicht wahr!« erklärte die Dicke.

»Leugnen Sie doch nicht länger. Sie opfern sich da nur ganz unnöthig auf, indem Sie Ihre Strafe verschlimmern, ohne einem anderen Menschen dadurch zu helfen. Sie sind von der Zofe und von Mehnert betrogen worden, schmählich betrogen. Die Baronin von Helfenstein hat nur echte Steine getragen; diese hier aber sind unecht, und was Sie für Gold ansehen, ist Messingblech, welches in einigen Wochen schwarz sein wird. Es ist klar, daß die beiden Anderen Ihren Antheil umgetauscht haben und sich nun über Ihre Dummheit lustig machen werden.«

Das wirkte. Nichts konnte sie mehr ärgern, als der Ausdruck »dumm«. Daß sie vorhin vom Fürsten dumm genannt worden war, das hatte sie sich


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gefallen lassen müssen; aber von der Zofe ausgelacht zu werden, das erregte ihren Grimm.

Ihre Verlegenheit war auf einmal verschwunden. Sie stand von ihrem Sitze auf und sagte in hitzigem Tone:

»Sind die Steine wirklich unecht?«

»Ja; es ist Glas.«

»So haben sie mich wirklich betrügen wollen!«

»Das ist sehr klar. Mehnert hat die echten Sachen behalten und Ihnen von seinen billigsten Ladenhütern gegeben. Dafür können Sie nun ins Gefängniß spazieren.«

»Ich? O nein! Sie sollen hinein, diese Beiden! Ich werde nun Alles, Alles sagen.«

Sie erzählte der Wahrheit gemäß, was geschehen war. Der Fürst hatte Erbarmen mit dem Mädchen. Sie war die Verführte, und daß Adolf von den Verhältnissen gezwungen gewesen war, ihr Liebe zu heucheln und sie zu betrügen, das war jedenfalls ein sehr gewichtiger Milderungsgrund für sie. Darum sagte er, als sie geendet hatte:

»Ihr Vater hat bereits großes Elend über Sie gebracht; ich möchte dasselbe nicht gern vergrößern. Eigentlich sollten Sie arretirt werden; aber ich will davon absehen, wenn Sie mir versprechen, für's Erste über den ganzen Vorfall zu schweigen.«

»Ich sage kein Wort!« versprach sie schnell, ganz erfreut über diese unerwartete Milde.

»Ich werde trotz dieses Versprechens Anton hier lassen, welcher hier die Aufsicht führen und bestimmen wird, mit wem Sie verkehren dürfen oder nicht. Ganz straflos werden Sie freilich nicht ausgehen, doch verspreche ich Ihnen, daß man möglichst mild gegen Sie verfahren wird. Die Schmucksachen nehme ich natürlich mit.« -

Nun begaben sich die Herren außer Anton wieder nach dem Palais, wo sie die Beiden wirklich imitirten Ringe fanden, welche Hulda dort versteckt hatte. Jette hatte die Verstecke verrathen.

Bereits am Vormittage erhielt der Goldarbeiter Mehnert eine Vorladung. Er eilte zur Geliebten, um ihr dies mitzutheilen.

»Du hast doch nicht etwa gar Angst?« fragte sie.

»Angst? Ich? Wie kommst Du auf diesen Gedanken?«

»Du bist so erregt.«

»Vor Freude darüber, daß wir die Kerls nun fest in der Falle haben.«

In Wahrheit empfand er ein gutes Theil Angst, wollte aber natürlich nichts davon eingestehen.

»Ja, Die haben wir,« sagte diese auch. »Merke Dir nur jedes Wort, was gesprochen wird. Es ist ganz nothwendig, daß ich Alles erfahre.«

»Ich werde sofort kommen und Dir Alles erzählen.«

»Nein, nein! Das würde auffallen, und Du besuchst mich ja jetzt bereits


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