Lieferung 60

Deutscher Wanderer

8. November 1884

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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Der Wirth hatte das Eintreten der beiden Fremden vernommen, er öffnete die Stubenthür. Der Raum war von der Diele bis zur Decke hinauf mit altem Gerümpel angefüllt. Auf einer Bank saß ein alter grauköpfiger Kerl, welcher noch vor Methusalem gelebt zu haben schien.

Kaum war der Blick dieses Mannes auf Vater Main gefallen, so sprang er mit jugendlicher Beweglichkeit von seinem Sitze auf, riß die Beiden in die Stube hinein, verriegelte die Thüre und rief im Tone des Schreckens:

»Mein Gott, ist es möglich! Vater Main! Du wagst es, Dich am hellen Tage auf der Straße zu zeigen! Weißt Du denn nicht, daß tausend Augen nach Dir forschen?«

»Ich weiß es, alter Piccard. Wirst Du mich verrathen?«

»Was denkst Du. Was fällt Dir ein.«

»Ich wußte es. Du wirst mir doch aus der Schlappe helfen.«

»Gern, wenn ich kann. Was verlangst Du von mir?«

»Ich mußte fliehen in demselben Anzuge, in welchem ich im Keller steckte. Hast Du keinen anderen, welcher mich unkenntlich macht?«

»Ich habe einen und werde ihn holen.«

»Aber ich habe kein Geld.«

»Das ist auch nicht nöthig. Du wirst mich bezahlen, sobald es Dir möglich ist. Und Du, Bajazzo, bist auch wieder hier? Sieht man Dir vielleicht auch auf die Finger?«

»Hm,« antwortete der Gefragte, »auch ich habe gerade keine Veranlassung, mich viel sehen zu lassen.«

»So macht Euch aus der Stadt hinaus. Draußen im Lande seid Ihr sicherer als hier.«

Er suchte einen Anzug hervor und bald war der Wirth so ausstaffirt, daß man ihn, wenigstens von Weitem, nicht gut erkennen konnte. Der Trödler schob sie zur Thüre hinaus. Es war ihm doch angst, daß man sie bei ihm finden könne.

Die Beiden suchten die einsamsten Wege aus und besprachen sich dabei über Das, was sie zu thun hatten.

»Hast Du Geld, Bajazzo?« fragte der Wirth.

»Verdammt wenig. Ich bin gestern Abend so dumm gewesen, zu spielen und habe da fast Alles verloren.«

»Das ist dumm. Ohne Geld können wir nicht fort. Ich habe zwar genug zu Hause und so gut versteckt, daß man es nicht finden kann; aber kann ich es holen? Nein. Die Polizei hat jedenfalls das Haus und auch die ganze Umgegend besetzt.«

»Hast Du keinen Bekannten, welcher Dir vielleicht borgen würde?«

»Genug. Aber es fällt mir gar nicht ein, sie aufzusuchen. Jedem meiner Bekannten hockt ein Polizist auf dem Rücken, das ist sicher.«

»Wie aber zu Geld kommen. Wir müssen welches haben.«

»Du, Bajazzo, sei aufrichtig. Ist die Polizei wirklich auch hinter Dir her?«

»Leider, und zwar ganz verteufelt.«

»Weshalb?«

»Ich spreche nicht darüber; aber wenn man mich erwischt, so kann es mir leicht an den Kragen gehen.«

»So müssen wir alles versuchen, um uns salviren zu können. Geld muß und muß und muß geschafft werden. Weißt Du Rath?«

»Nein.«


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»Gut, so weiß ich welchen. Werden wir mit zehntausend Franken ausreichen?«

»Zehntausend? Bist Du verrückt? Woher sollen wir eine solche ungeheure Summe erhalten?«

»Woher? Von wem anders, als von dem Grafen Rallion.«

»Von Rallion? Ah! Mensch, das ist ein sehr guter Gedanke!«

»Nicht wahr? Er muß Geld schaffen und zwar genug. Wir haben ihn in unseren Händen.«

»Das ist richtig. Aber - hm.«

»Was? Giebt es ein Bedenken?«

»Ja, ein sehr schweres.«

»In unserer Lage haben wir keine Wahl.«

»Ja doch haben wir eine Wahl.«

»Welche?«

»Wer mit ihm reden soll, ob Du oder ich. Furcht habe ich nun wohl nicht; aber es ist doch nichts Angenehmes, so einem vornehmen Herrn entgegen zu treten.«

»Du hast kein Geschick. Soll ich mit ihm reden?«

»Ja. Ich lasse es am Liebsten Dir über.«

»Gut. Hast Du noch genug Geld für einen Fiaker?«

»Dazu reicht es aus. Du meinst, wir werden nicht so beobachtet, wenn wir fahren?«

»Gewiß. Befinden wir uns erst in dem Stadttheile, wo der Graf wohnt, so sind wir dort nicht so sehr bekannt, wie hier. Also wollen wir unser Glück versuchen.«

Sie nahmen eine Droschke und ließen sich bis in die Nähe des Hotels Rallion fahren. Dort stiegen sie aus und lohnten den Kutscher ab. Hier in diesem Stadtviertel fühlten sie sich sicherer als vorher.

»Wo soll ich warten?« fragte der Bajazzo.

»Geh dort in der Seitenstraße auf und ab. Ich denke, daß ich Dich nicht lange warten lassen werde.«

Sie trennten sich. Der Bajazzo begab sich nach der Seitengasse, wo er langsam hin und her ging, sorgsam darauf achtend, daß er nicht zu auffällig werde. Bereits kaum nach fünf Minuten sah er den Wirth kommen.

»Schon?« sagte er zu ihm. »Er war wohl nicht zu sprechen?«

»Nein. Er ist verreist.«

»Wohin?«

»Das weiß der Teufel. Ich konnte es nicht erfahren. Dieser verdammte Portier schien mich nicht für voll anzusehen. Aber ich weiß, wo ich ganz genaue Auskunft erhalten werde.«

»Wo?«

»Beim Secretär des Grafen, welcher gar nicht weit von hier wohnt. Er wird zu Hause sein, denn es ist die Zeit zum Speisen.«

Sie wanderten miteinander weiter, bis sie ihr Ziel erreichten. Hier mußte der Bajazzo abermals warten. Er trat in das Thor des gegenüber liegenden Hauses, von wo aus er Alles genau beobachten konnte. Der Wirth aber trat drüben ein und stieg die Treppe empor in der festen Ueberzeugung, den gegenwärtigen Aufenthalt des Grafen zu erfahren. -

Belmonte war mit seinem Martin im Stadthause zusammengetroffen, wo man dann die Aussagen Beider zu Protokoll genommen hatte. Darnach wollte Martin die Geliebte aufsuchen. Er blickte, aus dem Stadthause tretend, seinen Herrn von der Seite an und sagte:

»Jetzt also nun Abschied nehmen.«

»Von der Schwalbe,« lächelte Belmonte.

»Wollten Sie nicht mit, Monsieur?«

»Gleich mit? Ist es nicht besser, ich lasse Euch erst ein Weilchen allein und komme dann nach?«

»Hm! In solchen Angelegenheiten scheinen Sie denn doch nicht sehr bewandert zu sein.«

»Wieso, mein Lieber?«

»Beim Abschiednehmen ist jeder Dritte überflüssig.«

»Ah so! Du meinst, ich soll lieber gleich jetzt mitkommen und Euch dann allein lassen?«

»So denke ich allerdings.«

»Gut; ich gehe mit.«

Alice saß bei einer kleinen Handarbeit und dachte des Geliebten, als es draußen am Vorsaale klingelte. Sie ging hinaus, um zu öffnen. Sie erblickte einen höchst stattlichen Herrn, welcher den Hut ziehend, sich höflichst verbeugte und dann fragte:

»Entschuldigung! Bin ich hier recht bei Demoiselle Alice?«

»So heiße ich, mein Herr. Treten Sie näher.«

Er trat in den Vorsaal, blieb aber so stehen, daß sie die Thür nicht schließen konnte und fuhr fort:

»Ich suche einen Herrn bei Ihnen, welcher sich Monsieur Martin nennt.«

Eine tiefe Röthe überflog ihr Gesicht.

»Monsieur Martin?« fragte sie verlegen.

»Ja, Mademoiselle. Es ist ganz derselbe Martin, welcher sich vorzugsweise gern unter die Tische versteckt, wenn er bei Damenbesuch gestört wird.«

Sie wurde noch verlegener; dann aber leuchtete es plötzlich in ihrem hübschen Gesichtchen auf.

»Ah, er hat geplaudert!« lachte sie. »Irre ich nicht, so sind Sie Monsieur Belmonte?«

»Wie kommen Sie zu dieser Vermuthung?«

»Weil Martin nur seinen Herrn in solche Staatsgeheimnisse einweihen wird.«

Da ertönte draußen hinter der Thür ein fröhliches Lachen. Der Telegraphist drängte sich herein, nahm das Mädchen bei der Taille und sagte frohlockend:

»Habe ich es nicht gesagt, daß mein Schwälbchen Sie verrathen wird, Monsieur Belmonte. Ja, man glaubt gar nicht, was so ein Vöglein für einen Scharfsinn besitzt. Alice, hier ist mein lieber Herr, welcher Dich gern einmal sehen wollte. Darf er mit eintreten?«

Sie war überrascht, den Geliebten um diese Zeit bei sich zu sehen, aber sie fand sich rasch in die Lage.

»Es wird mir eine große Ehre sein,« antwortete sie. »Bitte einzutreten, Monsieur.«

Die trauliche, saubere Häuslichkeit heimelte Belmonte sofort an, und als er nun dem braven Mädchen in das liebe, vor Freude geröthete Angesicht blickte, da ging ihm das Herz auf. Er reichte ihr die Hand und sagte:

»Ich werde Sie nicht lange belästigen, Mademoiselle; aber es war mir ein Bedürfniß, die Dame kennen zu lernen, welche das Herz meines guten Martin so schnell und vollständig erobert hat. Ich möchte eifersüchtig auf Sie sein.


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Er denkt jetzt kaum mehr an mich, sondern immer nur an Sie.«

Sie wollte antworten, aber da ertönte die Klingel abermals.

»Gott, das wird mein Bruder sein,« sagte sie.

»Erschrecken Sie darüber nicht,« meinte Belmonte. »Martin hat keine Veranlassung, sich vor Monsieur, Ihrem Bruder, zu verbergen. Gehen Sie getrost, um zu öffnen.«

Sie war doch ein wenig bleich geworden, aber sie folgte der an sie ergangenen Aufforderung. Die Beiden hörten, daß die Vorsaalthür aufgeschlossen wurde und dann fragte eine Stimme:

»Wohnt hier der Secretär des Grafen Rallion?«

»Ja, mein Herr,« antwortete Alice.

»Ist er zu Hause?«

»Nein.«

»Wann wird er kommen?«

»Er wird vielleicht bald zu sprechen sein.«

»So erlauben Sie, daß ich eintrete.«

Man hörte das Geräusch von Schritten, welche aber doch gleich wieder halten blieben. Alice schien sich dem Manne in den Weg gestellt zu haben. Belmonte hatte überrascht aufgehorcht.

»Sapperlot,« flüsterte er. »Diese Stimme sollte ich kennen!«

»Bitte, ziehen Sie es nicht vielleicht vor, in kurzer Zeit wieder zu kommen?« fragte das Mädchen draußen.

»Nein,« wurde geantwortet. »Ich werde warten bis er kommt.«

»Er ist's, er ist's!« sagte Belmonte. »Es ist wahrhaftig Vater Main, oder ich müßte mich außerordentlich täuschen! Rasch hier hinein. Mich kennt er nicht sofort wieder.«

Er öffnete die Nebenthür und schob Martin hinein; dann trat er zu der Thür, welche nach dem Vorsaal führte, öffnete sie und sagte zu dem Ankömmling:

»Bitte, treten Sie hier ein.«

Der Angeredete folgte dieser Aufforderung. Es war wirklich der von der Polizei gesuchte Tavernenwirth. Er erkannte Belmonte nicht, da dieser anders gekleidet ging und auch nicht die falsche Haartour trug, welche er angelegt hatte, wenn er bei Vater Main erschien.

»Ah,« sagte der Wirth, »man hat Sie verleugnen wollen?«

»Wieso?«

»Sie sind Monsieur, der Secretär?«

»Nein, der bin ich allerdings nicht. Aber bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen, mein Herr?«

Vater Main setzte sich auf einen Stuhl und Belmonte stellte sich so, daß er zwischen ihm und der Thür stand. Alice war mit eingetreten. Die Anwesenheit dieses Fremden war ihr im höchsten Grade fatal. Er bemerkte das an dem Blicke, den sie mißbilligend auf ihm ruhen ließ, und suchte sich zu entschuldigen:

»Ich bin fremd in Paris, Mademoiselle, und wußte nicht, wo ich bis zur Ankunft des Herrn Secretärs besser warten sollte als hier.«

»Sie haben sehr recht,« bemerkte Belmonte. »Auch mir ist es lieber, daß Sie hier eingetreten sind. Darf ich fragen, welcher Angelegenheit wir Ihre Anwesenheit verdanken?«

»Ich wollte eine Erkundigung aussprechen.«

»Nach wen oder was? Vielleicht bin auch ich im Stande, Ihnen Auskunft zu ertheilen.«

»Ich möchte gern erfahren, wo sich gegenwärtig Graf Rallion befindet. Ist Ihnen der Ort bekannt?«

»Ja. Was wünschen Sie von ihm?«

»Ich habe in einer wichtigen Privatangelegenheit um eine Audienz zu ersuchen.«

»Vielleicht in Damenangelegenheiten?«

»Wieso? Woher diese Vermuthung?«

»Weil Sie ein Herr zu sein scheinen, der sich vorzugsweise gern mit Damen beschäftigt.«

»Sie scherzen. In meinen Jahren, Monsieur - hm.«

»O, auch in Ihren Jahren kann man sich noch sehr für junge Damen interessiren, wenn auch weniger aus Gefühls- als vielmehr aus pecuniären Rücksichten.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Das begreife ich nicht. Man hat Beispiele, daß sich ein Herr Ihres Alters für eine Dame interessirte, um zu einem Gewinne von hunderttausend Franken zu kommen.«

Der Wirth wurde leichenblaß. Er antwortete stockend:

»Er hat sich des Vermögens wegen mit ihr verlobt?«

»Nein, er hat sie dieser Summe wegen geraubt.«

»Ah, Sie sprechen von dem Falle, welcher die ganze Hauptstadt in Aufregung gebracht hat. Es steht sehr zu wünschen, daß der Thäter ergriffen werde. Ich aber werde doch vorziehen, später wieder zu kommen, da der Herr Secretär vielleicht erst spät hier eintrifft.«

Er hatte sich erhoben; er fühlte sich von einer plötzlichen Unruhe ergriffen. Der Mann, welcher da vor ihm stand, kam ihm so eigenthümlich, so inquisitorisch vor. Er machte eine Verbeugung und wollte an Belmonte vorüber. Dieser aber wich nicht von seinem Platze, sondern sagte sehr höflich:

»Bitte, zu bleiben, Monsieur. Warum wollen Sie sich entfernen, da Sie doch soeben gewünscht haben, daß der Thäter ergriffen werde.«

»Ich verstehe Sie wahrhaftig nicht,« stotterte der Wirth.

»Wie? Sie verstehen mich nicht? Sie kennen mich wohl auch nicht, mein Lieber?«

»Nein, Monsieur.«

»Und doch sind wir so gut mit einander bekannt.«

»Ich kann mich wirklich nicht erinnern -«

»So muß ich Ihr Gedächtniß unterstützen.«

Er griff in die Tasche seines Rockes, zog die Haartour hervor und legte sie an. Der Wirth wich zurück. Seine Augen schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen.

»Tausend Teufel! Der Changeur!« rief er.

»Ja, der Changeur! Und hier noch Einer!« ertönte es da durch die sich öffnende Seitenthür.

Der Wirth wendete sich um und machte eine abermalige Geherde des heftigen Schreckens.

»Der Student! Verdammt! Der Teufel hole alle Beide.«

Er holte zum Sprunge aus, um Belmonte niederzurennen und dann zu entkommen, aber Martin, welcher ihm jetzt am Nächsten stand, ergriff ihn von hinten und schleuderte ihn auf das Sopha zurück. Zugleich zog Belmonte den Revolver und drohte:


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»Bleib ruhig sitzen, Kerl, sonst jage ich Dir eine Kugel durch den Kopf.«

Die Brust des Wirthes arbeitete unter einem Entschlusse, welchen er fassen wollte, aber er kam nicht dazu; er sah ein, daß Widerstand hier vergeblich sein würde.

»Ich bin verloren,« sagte er. »Hund von Changeur, so hatte ich also doch Recht, Du bist Polizeispion. Der Satan brate Dich dafür in alle Ewigkeit.«

Er schien sich in sein Schicksal ergeben zu wollen; aber im nächsten Moment ermannte er sich wieder.

»Aber noch habt Ihr mich nicht!« rief er. »Macht Platz!«

Er schnellte sich auf die Thür zu, hatte sich aber in Belmonte verrechnet. Dieser packte ihn und schleuderte ihn zurück. Mit einem lauten Wuthschrei warf er sich zwar wieder auf den Changeur, aber da wurde er auch schon wieder von Martin gefaßt und die beiden Männer rangen ihn zu Boden nieder.

»Mein Gott, mein Gott! Wer ist dieser Mensch?« rief Alice.

»Es ist der Wirth, welcher die Comtesse de Latreau geraubt hat,« antwortete Martin. »Hast Du keine Stricke oder starke Schnuren da, ihn zu binden?«

»Gleich, gleich,« antwortete sie.

Sie wußte jetzt, wer er war. Dieser Mensch durfte nicht entkommen. Sie eilte in die Nebenstube und kehrte schnell mit dem gewünschten Materiale zurück. Der Wirth wurde gefesselt.

»Jetzt zur nächsten Polizei, Martin,« gebot Belmonte, »damit der Kerl in Sicherheit kommt.«

Martin gehorchte dieser Aufforderung und bald kamen mehrere Polizeisergeanten, um den Gefangenen in Empfang zu nehmen. Er wurde fortgeschafft.

Was hatte dieser Mensch von Alicens Bruder gewollt? Keins von den Dreien wußte es zu sagen. Hatte er wirklich nur die Absicht gehabt, den Aufenthaltsort des Grafen Rallion zu erfahren? Stand er mit diesem Letzteren in irgend einer Beziehung?

Belmonte gab sich keine Mühe, darüber nachzudenken. Er beschloß aber, sich nach der Polizei zu begeben, um seine Aussage in die Feder zu dictiren. Er verabschiedete sich von Alice, welche er mit dem Geliebten allein ließ.

Als er unten aus der Thür trat, sah er gerade gegenüber einen Mann in sehr gedrückter Haltung unter dem Thorwege hervor kommen und davongehen.

»Ah, der Bajazzo!« murmelte er. »Ist er mit dem Wirthe zusammen gewesen? Hat er den Aufpasser gemacht? Ah, pah! Was geht es mich an? Der Bajazzo ist bei dem Raube nicht betheiligt gewesen; ich will ihn laufen lassen!«

Er ahnte jetzt nicht, daß er in ganz Kurzem es sehr bereuen werde, den Bajazzo jetzt nicht festgehalten zu haben.

Droben hatte Martin der Geliebten Vieles zu erklären. Sie zitterte bei dem Gedanken, daß sie sehr leicht mit diesem gefährlichen Menschen hätte allein sein können. Und doch war sie auch stolz darauf, daß er von ihrem Geliebten und sogar in ihrer eigenen Wohnung festgenommen worden war. Das Alles aber war sofort vergessen, als sie dann hörte, daß Martin eigentlich gekommen sei, um Abschied von ihr zu nehmen. Sie fuhr bei dieser Eröffnung erschrocken zusammen, und in demselben Augenblicke standen ihre Augen bereits voller Thränen.

»Mein Gott. Ist's möglich? Fort willst Du?« fragte sie, indem sie die Arme um ihn schlang.

»Ja, mein gutes, liebes Mädchen. Es ist so gekommen, wie ich es Dir vorher gesagt habe: plötzlich, schnell und unerwartet. Noch gestern wußte ich gar nichts davon.«

»So soll ich Dich von mir lassen, Dich verlieren!« klagte sie.

Er zog sie an sich, strich ihr liebkosend mit der Hand über das weiche Haar und antwortete in beruhigendem Tone:

»Von Dir lassen, ja, aber verlieren doch nicht! Vielleicht komme ich bald, sehr bald zurück.«

»Wohin gehst Du von hier?«

»Nach Metz. Darf ich Dir schreiben, meine Seele?«

»Ja, ja! Schreib alle Tage, mein lieber Martin!«

»Und Du antwortest mir!«

»So oft und viel ich kann! O, was für eine Sorge macht mir Dein Scheiden. Vielleicht werde ich bald ganz einsam und allein hier wohnen!«

»Wieso? Du hast doch Deinen Bruder hier.«

»Es ist möglich, daß er mich verlassen muß. Er sprach heute Morgen davon, daß wir ganz gewiß bald Krieg haben werden. Dann muß er fort; Du bist auch nicht da, und ich bin ganz allein.«

Sie weinte leise vor sich hin. Er wußte am Besten, wie Recht sie habe; er wollte sie trösten, und da kam ihm ein plötzlicher Gedanke, dem er sogleich in Worten Ausdruck gab:

»Du wirst nicht allein sein, liebe Alice. Ich kenne eine junge Dame, welche sich sehr gern Deiner annehmen wird.«

»Eine junge Dame? Wer könnte das sein?«

»Comtesse Ella von Latreau.«

»Die Comtesse?« fragte Alice, beinahe erschrocken. »Die Tochter eines Grafen und ich.«

»Was wäre daran zu verwundern? Ist sie nicht von Deinem Bräutigam gerettet worden? Ist der Kerl, der sie geraubt hatte, nicht bei Dir und in Deiner Gegenwart ergriffen worden? Noch ist der Krieg nicht da; aber selbst, wenn er ausbricht, sollst Du doch nicht verlassen sein!« -

Als Martin nach einiger Zeit nach Hause kam, befand auch Belmonte sich bereits daheim. Dieser nickte ihm lächelnd zu und fragte:

»Zu Ende mit dem Abschiede?«

»Gott sei Dank, ja! Das ist ein saueres Stück Arbeit. Wer es nicht kennt, der glaubt es gar nicht.«

»Sapperlot! Ist das Dein Ernst? Das klingt ja gerade als ob Du ein Familienvater seist, der von Frau und zehn Kindern Abschied genommen hat.«

»Es ist mir allerdings ganz und gar familienväterlich zu Muthe. Ich habe für Alice zu sorgen. Auf ihren Bruder kann sie sich nicht verlassen. Der Krieg bricht aus: Die Deutschen belagern Paris. Donnerwetter, was soll da aus meiner Schwalbe werden.«

Belmonte nickte leise vor sich hin.

»Recht hast Du,« sagte er. »Alice ist ein Prachtmäd-


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chen. Ich verdenke es Dir nicht, daß Du Dein Herz bei ihr gelassen hast. Der Krieg wird hier in diesem Babylon gar Manches und Vieles verändern. Die Franzosen sind ein unruhiges, unzuverlässiges Volk. Siegen sie, dann wehe uns. Siegen wir, dann doppelt Wehe. Aufruhr und Empörung sind dann die sicheren Folgen. Kein braver Kerl hat dann die Braut gern mitten im Heerde der Revolution. Hm. Ich habe eine Idee, Martin.«

»Die möchte ich erfahren.«

»Die Comtesse de Latreau geht von Paris fort.«

»Alle Wetter! Heute sterben zwei Schneidergesellen!«

»Wieso?«

»Weil wir zweimal ganz den gleichen Gedanken gehabt haben, zuerst mit dem famosen englischen Reporter und sodann mit der Comtesse.«

»Mit dem Reporter? Wieso?«

»Nun, haben Sie sich nicht ihm gegenüber für einen türkischen Berichterstatter ausgegeben?«

»Ja. Kennst Du ihn denn?«

»Ich traf ihn bei Vater Main. Er wollte das Abenteuer erzählt haben, und ich sagte ihm da, daß ich ein Reporter aus Brasilien sei. Das ist der eine Schneidergeselle, welcher stirbt. Vorhin nun, als mir meine Schwalbe klagte, daß sie ganz einsam und verlassen sein werde, dachte ich an die Comtesse. Sie hat uns immerhin Einiges zu verdanken. Sie könnte sich, uns zu Liebe, meiner kleinen Verlassenen ein Wenig annehmen. So calculirte ich. Und jetzt bringen Sie ganz denselben Gedanken. Das ist der zweite Schneidergeselle, welcher sterben muß.«

»Hm! Ja! Ich glaube, daß sich bei der Comtesse nicht schwer ein Plätzchen für Alice finden ließe.«

»Aber wer soll es ihr vorstellen? Ich etwa?«

»Nein, ich. Laß mir das über. Ich werde morgen beim General erwartet und werde da Gelegenheit nehmen, eine Bemerkung zu machen, lieber Martin.«

»Aber eine kräftige, wenn ich bitten darf.«

»Das versteht sich.«

»Das könnte eine ganz allerliebste Commandite- oder vielmehr Recommanditegesellschaft werden.«

»Wieso?«

»Nun, wir Zwei und diese Zwei. Ich recommandire Ihnen die Comtesse, und die Alice recommandirt Sie der Comtesse. Auf diese Weise kann es am Schlusse des Krieges eine Doppelhochzeit geben, an welcher die Engel im Himmel ihre Freude haben, wir Beide aber noch mehr.«

»Hm! So übel wäre das nun gerade nicht. Aber spielen wir jetzt nicht mit Seifenblasen, sondern denken wir an die Gegenwart. Hast Du Dich nach einem Pferde umgesehen?«

»Wegen heut Abend? Dazu ist noch Zeit genug. Mich verlangt, zu wissen, wie diese Geschichte enden wird. Gott giebt dem Unverständigen Verstand und dem Verständigen Unverstand!« -

Abends kurz vor neun Uhr ritt Martin ein Pferd in den Hof, und Belmonte stand am Fenster seines Zimmers, um die Equipage nicht auf sich warten zu lassen. Er hatte wirklich den Revolver, den Todtschläger und sein Laternchen zu sich gesteckt.

Punkt zur angegebenen Stunde kam der Wagen herangerollt und hielt vor der Thür. Belmonte eilte hinab und stieg ein. Kaum hatten sich die Pferde in Bewegung gesetzt, so kam Martin aus dem Thore geritten, um der Equipage zu folgen.


Ende der sechzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

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