Lieferung 93

Deutscher Wanderer

27. Juni 1885

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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Zwei Männer faßten Schneffke an und schoben ihn vor sich her, einem Loche zu, welches für ihn zwar hoch, aber kaum breit genug war. Er ließ es ohne Gegenwehr geschehen. Er sah ein, daß sie ihm überlegen waren und Widerstand nicht nur unnütz, sondern sogar gefährlich sein würde. Er dachte in diesem Augenblicke weniger an sich selbst, als vielmehr an Fritz Schneeberg, der nun auch in die Gefahr kam, gefangen zu werden.

Das Loch erweiterte sich bald zu einem regelrechten, gewölbten Gange, in welchem er von den beiden Männern festgehalten wurde. Sie sprachen kein Wort und er hütete sich sehr, ein Gespräch zu beginnen, da er ahnte, daß sie ihm eher Fauststöße, als eine Antwort gegeben hätten.

Es verging weit über eine halbe Stunde. Dann kam der Capitän herbei. Er schien mit Berteu noch weiter gesprochen zu haben und von diesem mißtrauischer gemacht worden zu sein, denn er maß den Maler mit einem höchst finsteren Blicke und sagte:

»Sie waren wirklich allein im Steinbruche?«

»Ja.«

»Nein! Es war noch Jemand mit Ihnen.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Leugnen Sie nicht! Meine Leute haben Einen laufen gehört, dem es gelungen ist, vor ihnen den Eingang zu erreichen.«

»Den möchte ich sehen!«

»Wer war es?«

»Wie soll ich wissen, wer sich außer Ihnen noch nächtlicher Weile in diesem Loche herumtreibt!«

»Sie wollen also wirklich nicht gestehen?«

»Ich weiß nichts.«

»Gut! Wir werden Sie zum Sprechen bringen. Darauf können Sie sich verlassen! Sie haben uns belauscht. Was haben Sie von unserer Unterredung gehört?«

»Ich habe nur gehört, daß die Fässer hineingerollt werden sollen.«

»Wissen Sie, was in den Fässern ist?«

»Nein. Geht mich auch nichts an. Doch wohl Wein, der hier in den Keller kommen soll!«

»Allerdings. Aber dennoch werden wir Ihre werthe Person in sicherm Gewahrsam behalten.«

»Wollen wir nicht seine Taschen aussuchen?« fragte der Eine der beiden Männer.

»Ist nicht nöthig. Wir schließen ihn ein. Er ist uns sicher, ebenso auch Alles was er bei sich trägt. Wir haben jetzt keine Zeit. Wenn wir den Wein hereingeschafft haben, werden wir uns näher mit ihm beschäftigen. Kommt, und bringt ihn mit!«

Er schritt voran, und sie folgten ihm mit dem Gefangenen tiefer, immer tiefer in den Gang hinein. -

Fritz war an der anderen Seite des Wagens herangekrochen. Dort hatte sich auf dem Steinschutt ein kleines Dickicht von Farrenkraut und anderen Pflanzen gebildet, hinter denen er Schutz fand. Und von hier aus konnte er Alles beobachten und auch Alles hören. Er vernahm jedes Wort, welches gesprochen wurde.

Es fiel ihm gar nicht ein, zu glauben, daß der Maler seinen Platz verlassen habe. Daher erschrak er nicht wenig, als dieser so plötzlich von da oben herabgeprasselt kam. Das darauf folgende Gespräch überzeugte ihn von der Gefahr, in welcher er sich nun auch selber befand, und als er dann hörte, daß der Steinbruch durchsucht und der Eingang besetzt werden solle, zog er sich schleunigst zurück.

Dies konnte aber nicht so geräuschlos geschehen, wie


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es wünschenswerth gewesen wäre. Man hörte seine eiligen Schritte und kam hinter ihm her. Desto eiliger sprang er von dannen. Er erreichte den Eingang und - rannte mit einem Menschen zusammen, welcher sich fest an den Stein geschmiegt hatte. Er glaubte natürlich, es mit einem Gegner zu thun zu haben und faßte die Person an, um sie aus dem Wege zu schleudern, mußte aber sofort bemerken, daß dieser Mann ihm an Körperkraft zum Wenigsten gewachsen war, denn er selbst wurde von ihm so fest bei der Kehle gepackt, daß er fast den Athem verlor. In dem nun entstehenden Ringen, welches allerdings nur kaum einige Augenblicke währte, fühlte er, daß der Andere - einen Höcker trug.

»Herr - Doc - - tor!« gelang es ihm hervorzustoßen.

Da ließ der Andere sofort los und flüsterte:

»Sapperlot! Fritz, Du?«

»Ja.«

»Was thust Du hier? Wer ist da drin? Man kommt.«

»Sie haben mich beinahe erwürgt! Aber fort, schnell fort, Herr Doctor.«

Er nahm ihn bei der Hand und riß ihn mit sich fort. In höchster Eile ging es über das angrenzende Feld hinweg, bis die Schritte der Verfolger nicht mehr zu hören waren.

»Wohin denn nur?« fragte Müller.

»Nach dem Waldlocke.«

»Warum denn?«

»Habe jetzt keine Zeit. Später davon! Jetzt aber schnell!«

»Das muß nothwendig sein. Also vorwärts! Sie rannten nach dem Walde und, als sie denselben erreicht hatten, in möglichster Schnelligkeit zwischen den Bäumen dahin. Dies ging zwar keineswegs ohne Beschwerden ab; aber sie hatten denselben Weg bereits bei Tage und auch bei Nacht gemacht, und so erreichten sie das Waldloch, ohne sich an den Baumstämmen Schaden gethan zu haben.

»Jetzt sollten Sie Ihre Laterne bei sich tragen!« sagte Fritz, endlich das Wort ergreifend.

»Ich habe sie.«

»O, das ist sehr gut. Vielleicht auch die Schlüssel?«

»Ja.«

»Herrlich! Brennen Sie an. Wir müssen hinein.«

Müller zog die Laterne und Streichhölzer hervor. Während des Anbrennens hatte er Zeit zu der Frage:

»Weshalb müssen wir hinein?«

»Um einen Menschen zu retten, um den es sonst auf jeden Fall geschehen ist.«

»Wer ist es?«

»Sie sollen es nachher erfahren. Jetzt brennt die Laterne, und wir haben keinen Augenblick zu verlieren. Der, welchen ich meine, ist nämlich vom Steinbruche aus in den Gang geschafft worden. Wir dringen von dieser Seite ein. Wenn wir uns beeilen, kommen wir vielleicht noch zeitig genug, um zu bemerken, in welches Gewölbe er gesperrt wird.«

»Das genügt einstweilen. Also komm.«

Sie hatten den Boden des Waldloches erreicht und drangen auf die bereits bekannte Art und Weise in den unterirdischen Gang ein. Sie verfolgten denselben bis zum Kreuzungspunct, wo die Gänge sich durchschnitten, und wollten eben um die Ecke biegen, um den Gang zu betreten, welcher in der Richtung nach dem Steinbruche fortlief, als Müller schnell einige Schritte wieder zurückfuhr.

»Was giebt's?« fragte Fritz.

»Bald hätten wir eine Dummheit begangen.«

»Welche?«

»Du vermuthest, daß sie sich in dem Gange da rechts um die Ecke befinden?«

»Ja.«

»Und wir wollten mit der Laterne um diese Ecke biegen?«

»Sapperlot! Ja. Sie hätten uns leicht bemerken können!«

»Stecken wir also die Laterne ein. Wir müssen, so gut es geht, im Finstern weiter!«

Nun erst, als sie von dem Lichte nicht mehr verrathen werden konnten, gingen sie weiter. Kaum aber waren sie um die Ecke gelangt, so hielten sie bereits wieder an.

»Siehst Du?« fragte Müller.

»Ja. Dieser kleine Lichtpunct da vorn muß von einer Laterne kommen. Nicht?«

»Jedenfalls. Sehen wir genau hin, ob er sich bewegt.«

So leicht sie sich täuschen konnten, bemerkten sie doch, daß der helle Punct sich vergrößerte.

»Die Laterne bewegt sich,« meinte Fritz.

»Ja, sie kommen näher. Warten wir hier!«

Sie verhielten sich ruhig, bis sich um den Punct eine helle Umgebung bildete. Dann sagte Müller:

»Sie sind nicht mehr hundert Schritte entfernt. Wir müssen uns also zurückziehen.«

»Aber wohin?«

»Dahin, woher wir gekommen sind.«

»Doch nicht hinaus in den Wald?«

»Keineswegs. Wir müssen sehen, was sie thun. Wir kehren also nur so weit, als es unsere Sicherheit erfordert, zurück.«

Sie schlugen den Rückweg ein und blieben dann in einiger Entfernung wieder halten. Sie brauchten nicht lange zu warten, so erschien am Kreuzungspuncte der Laternenschein.

»Sapperlot!« flüsterte Fritz. »Sie kommen in diesen Gang herein. Wir müssen noch weiter rückwärts.«

»Nur aber nicht zu schnell! Ah, siehst Du? Sie bleiben stehen!«

Die Beiden konnten jetzt ziemlich deutlich vier Männer unterscheiden, welche ihre Schritte angehalten hatten. Es wurden einige Worte gewechselt, deren Schall in dem Gange bis her zu den Lauschern drang. Dann hörten diese ein Schloß öffnen, und der Lichtschein verschwand.

»Sie sind dort durch die erste Thüre in das Gewölbe,« bemerkte Fritz. »Wollen wir näher?«

»Ja, obgleich es sehr gefährlich ist.«

Sie schlichen sich äußerst vorsichtig heran. Sie wagten viel, aber es gelang ihnen, die Thür zu erreichen, welche nur angelehnt war. Müller blickte durch die Lücke. Das Gewölbe war mit Fässern fast ganz angefüllt. Ganz hinten zeigte sich eine gerade noch wahrnehmbare Helligkeit.

»Sehen Sie Etwas?« fragte Fritz.


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»Ja. Horch!«

»Da wurde eine Thür zugeworfen.«

»Und nun klirrt ein Riegel. Ah! Sie kommen zurück. Also fort! Schnell!«

Sie eilten auf den Fußspitzen wieder nach dem Punkte, an welchem sie sich vorher befunden hatten. Doch hatten sie denselben noch nicht erreicht, so bemerkten sie hinter sich bereits wieder den Laternenschein.

»Stehen bleiben!« flüsterte Müller. »Ihre Laterne leuchtet nicht hierher. Und wir können vielleicht hören, was sie sprechen.«

»Aber wenn sie hierher kommen!«

»So haben wir immer noch Zeit zur Flucht. Horcht!«

»Es sind nur Drei. Der Eine schließt zu.«

»Man hat also den Vierten eingesperrt. Pst! Sie sprechen.«

Man hörte den einen der drei Männer sagen:

»Also nachher verhören wir ihn?«

»Ja, in einer Stunde sind wir fertig. Es hat Zeit bis dahin.«

»Der Kerl kann sich gratuliren!«

»Er mag sein, was er will, ob unschuldig oder ein Spion, er hat uns belauscht und muß unschädlich gemacht werden. Jetzt also wieder hinaus zu den Fässern!«

Sie entfernten sich in der Richtung, aus welcher sie vorher gekommen waren. Als der Schein ihrer Laterne nicht mehr zu erkennen war, fragte Fritz:

»Haben Sie die letzten Worte verstanden, Herr Doctor?«

»Ja. Verhören wollen sie den Mann, verhören und unschädlich machen.«

»Das müssen wir verhindern.«

»Wer ist denn dieser Mann?«

»Ein Maler; wissen Sie, der dicke Maler, von dem ich Ihnen schon erzählt habe.«

»Ah, dieser! Aber wie kommt dieser sonderbare Mensch in diese fatale Lage?«

»Es scheint überhaupt ein ausgemachter Pechvogel zu sein.«

»Und ein wunderbarer Kerl dazu.«

»Fast mehr als wunderbar, nämlich wunderlich. Ich traf ihn im Gasthofe und erfuhr da von ihm, daß der Pulvertransport heut Abend hier ankommen werde. Er wollte das beobachten, ich konnte ihn nicht davon abbringen.«

»Weiter!«

Fritz gab seine Aufklärung, und als er damit zu Ende war, meinte Müller:

»Dieser Maler scheint trotzdem gar kein unebener Kerl zu sein. Wir müssen uns seiner annehmen. Welch ein glücklicher Zufall also, daß ich auf Dich getroffen bin!«

»Konnte mich beinahe das Leben kosten!«

»So schnell geht das Erwürgen nicht.«

»Aber wie kamen denn Sie zum Steinbruche?«

»Ich beobachtete den Alten und bemerkte, daß er nach den Gewölben ging. Ich folgte ihm, um vielleicht zu sehen, was er vorhabe. Du erinnerst Dich doch, daß der Gang nach dem Steinbruche verschüttet war?«

»Ja. Heut aber ist er jedenfalls geöffnet worden.«

»Und zwar von dem Alten selbst. Ich beobachtete ihn dabei. Natürlich nahm ich sogleich an, daß im Steinbruche Etwas geschehen werde. Das mußte ich erfahren. Von meinem Lauscherposten aus konnte ich es nicht beobachten, darum verließ ich die Gewölbe durch das Waldloch und ging nach dem Bruche.«

»Ah, so also ist es!«

»Ja. Ich war kaum da angekommen, so hörte ich Jemand sehr eilig gelaufen kommen. Ich drückte mich eng an den Felsen, um ihn vorüber zu lassen; aber dieser Jemand wollte ebenso eng um den Felsen biegen und stieß also mit mir zusammen.«

»Das war ich!«

»Ja. Ich hielt Dich für einen Andern.«

»Und drückten mir daher ein ganz klein Wenig die Gurgel zusammen. Na, das ist nun überstanden. Was thun wir jetzt?«

»Wir suchen den Maler.«

»Aber wenn man uns dabei erwischt!«

»Wir haben eine Stunde Zeit.«

»Es giebt dennoch Eins zu bedenken, Herr Doctor.«

»Was?«

»Wenn wir ihn befreien, so schöpft der Alte Verdacht.«

»Das ist freilich wahr. Wie aber wollen wir das umgehen?«

»Ich weiß es auch nicht.«

»So muß es eben riskirt werden. Aber sonderbar ist diese Sache doch. Kannst Du Dich erinnern, daß wir auch in dem Gewölbe da gewesen sind?«

»Ja. Es steht voller Fässer.«

»Hast Du da eine Thür bemerkt?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Und dennoch hörte ich ganz deutlich, daß ein Riegel klirrte und eine Thür zugeworfen wurde.«

»Vielleicht war sie hinter den Fässern versteckt.«

»Anders nicht. Also beginnen wir!«

Sie begaben sich zu der betreffenden Thür. Müller zog den Schlüssel hervor, öffnete, trat mit Fritz ein und verschloß sodann die Thür hinter sich. Nun nahm er die Laterne aus der Tasche und öffnete sie. Er hatte sie gar nicht ausgelöscht gehabt. Ihr Schein beleuchtete die Fässerreihen.

»Wo mag sich die Thür befinden?« fragte Fritz.

»Da ganz hinten muß es sein, wo ich den Lichtschein bemerkte. Suchen wir!«

Sie begaben sich nach der hinteren Mauer des Gewölbes und bemerkten auch sofort, daß da einige Fässer entfernt worden waren. Dadurch war eine bisher hinter ihnen verborgene, stark mit Eisen beschlagene Thür zum Vorschein gekommen.

»Hier muß es sein.«

»Jedenfalls.«

»Aber ob der Schlüssel hier auch schließt?«

»Wir werden sehen.«

Zu ihrer Freude that der Schlüssel seine Schuldigkeit. Sie gelangten in einen leer stehenden kleinen, viereckigen Raum und sahen sich abermals einer Thür gegenüber. Auch diese wurde geöffnet. Müller trat ein. Dieser Raum war ganz ebenso beschaffen wie der vorige. Es war da Nichts zu sehen als eine dicke, menschliche Gestalt, welche an der Erde kauerte und sich mühsam erhob.

»Jetzt schon ins Verhör?« fragte der Mann.


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»Nein,« antwortete Müller.

»Was denn? Soll ich etwa eine Parthie Sechsundsechzig mit Ihnen spielen?«

»Sie scheinen sehr gut gelaunt zu sein, Herr Schneffke!«

»Warum soll ich nicht! Ich bin hier sehr wohl versorgt.«

»So können wir also wieder gehen. Wir glaubten, Ihnen einen Gefallen zu erweisen, wenn wir Ihnen diese Schlösser öffnen und Ihre Stricke zerschneiden.«

»Sapperment, das klingt nicht übel! Wer sind Sie denn?«

»Ein Bekannter Ihres Bekannten.«

»Welches Bekannten?«

»Dieses da.«

Er deutete dabei auf Fritz, der bisher hinter ihm gestanden hatte und also nicht zu sehen gewesen war.

»Bitte, leuchten Sie ihm doch einmal ins Gesicht!«

Müller that es, und sogleich meinte der Maler:

»Heiliges Mirakel! Was ist denn das? Wäre ich nicht an Armen und Beinen gebunden, so schlüge ich vor Erstaunen die Hände und Füße über dem Kopfe zusammen. Herr Schneeberg!«

»Freilich bin ich es.«

»Aber wie kommen denn Sie hierher?«

»Zu Fuß.«

»Das habe ich gesehen, Sie Spaßvogel. Aber -«

»Lassen wir das jetzt. Zeigen Sie einmal her!«

Er zog sein Messer hervor und schnitt die Stricke entzwei.

»So, da sind Sie nun frei. Ein anderes Mal aber unterlassen Sie gefälligst solche Dummheiten!«

»Welche Dummheiten?«

»Ich hatte Ihnen gesagt, daß Sie auf Ihrem Platze bleiben sollten.«

»Hm! Ja! Wir können ja gleich wieder hingehen!«

»Sie scheinen unverbesserlich zu sein.«

»Was hatte ich denn zu befürchten?«

»Den Tod, mein Bester!«

»Donner und Doria! Wäre es wirklich so schlimm gemeint gewesen?«

»Gewiß, ganz gewiß!«

»Nun, so will ich Ihnen herzlich danken! Um mich wäre es wohl nicht sehr schade gewesen; aber ich habe noch einige Pflichten zu erfüllen, welche mir heilig sind. Bitte aber mir zu erklären, wie es Ihnen möglich ist, mich zu befreien.«

»Jetzt ist zu einer Erklärung keine Zeit,« sagte Müller. »Wir müssen uns schleunigst entfernen, wenn diese Menschen nicht drei Gefangene haben sollen, anstatt nur einen.«

»Ist mir lieb. Gehen wir also!«

»Nicht so. Nehmen Sie die Stricke vom Boden auf. Wir dürfen sie nicht liegen lassen.«

»Warum nicht?«

»Der Capitän darf sich nicht erklären können, auf welche Weise Sie entkommen sind.«

»Ganz richtig! Da sind die Stricke; ich bin also bereit.«

Sie gingen und Müller schloß alle Thüren hinter sich zu. Durch den Gang gelangten sie in das Waldloch. Dem Maler fiel es freilich schwer, durch die niedrigen Ausgänge zu schlüpfen, welche für sein Kaliber gar nicht eingerichtet waren. Als er im Freien angekommen war, holte er tief Athem und sagte:

»Meine Herren, es war dennoch eine verdammte Geschichte!«

»Das will ich meinen,« sagte Müller. »Sie können die Gefahr, in welcher Sie sich befunden haben, gar nicht taxiren.«

»Ist dieser alte Capitän wirklich ein so gefährlicher Kerl?«

»Schlimmer als Sie denken. Doch jetzt das Nothwendigste. Können Sie schweigen?«

»Beinahe wie ich selber.«

»Ich bitte Sie nämlich, von Dem, was Sie heute erlebt haben, Nichts verlauten zu lassen.«

»Diesen Gefallen kann ich Ihnen thun. Aber warum soll ich diese Menschen nicht zur Rechenschaft ziehen?«

»Das erfahren Sie wohl noch. Ich habe erfahren, wo Sie logiren. Wann reisen Sie ab?«

»Heute und morgen wohl noch nicht.«

»Warum?«

»Sehr einfach. Weil ich hier noch zu thun habe.«

»Ich will Sie nicht nach der Art und Weise Ihrer Geschäfte fragen; aber es ist meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß es für Sie am Besten ist, sich schleunigst zu entfernen.«

»Warum?«

»Weil der Capitän Alles thun wird, sich Ihrer zu bemächtigen.«

»Das sollte ihm wohl schwer gelingen. Viel eher würde ich mich seiner bemächtigen.«

»Trauen Sie sich nicht zu viel zu.«

»Dieser Capitän ist der dümmste Kerl, den ich kennen gelernt habe.«

»Wieso?«

»Steckt mich ein und läßt mir meinen Revolver!«

»Das ist allerdings geradezu unglaublig. Dennoch rathe ich Ihnen, vorsichtig zu sein. Lassen Sie sich nicht von ihm sehen. Ich denke, daß ich noch mit Ihnen sprechen werde. Gehen Sie nach Hause!«

»Nach Hause? Sapperment! Ich möchte nach dem Steinbruche!«

»Wozu?«

»Um diese Kerls weiter zu beobachten.«

»Ueberlassen Sie das lieber mir. Hier Herr Schneeberg wird Sie begleiten. Es genügt vollständig, wenn ich allein erfahre, was dort im Steinbruche heute in der Nacht passirt. Gute Nacht!«

Sein Licht verlöschte. Es raschelte im Laube und dann war er verschwunden. Schneffke versuchte, mit seinen Augen das Dunkel zu durchdringen. Dann sagte er:

»Dieser Herr hatte eine sehr bestimmte Art und Weise, mit Einem zu sprechen. Wer ist er?«

»Der Hauslehrer auf Schloß Ortry.«

»Ah! Wie heißt er?«

»Doctor Müller.«

»So so! War er vielleicht der Bekannte, von dem Sie sprachen?«

»Ja.«

»Hm, hm!«

»Warum brummen Sie?«


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»Das thue ich stets, wenn ich über Dinge oder Personen nachdenke, welche mich interessiren. Er sagte >Gute Nacht.< Ist er wirklich fort?«

»Natürlich.«

»Na, so wollen wir ihm gehorchen und auf den Steinbruch verzichten. Was haben Sie noch vor?«

»Nichts. Ich gehe nach Hause!«

»Schön! Gehen wir also mit einander. Sie kennen den Weg?«

»Genau. Legen Sie den Arm in den meinigen.«

»Das ist allerdings sehr nothwendig. Wenn ich nämlich sehr genau und scharf nachdenke, so kommt es mir ganz so vor, als ob ich meinen Kopf nicht erhalten hätte, um ihn bei Nacht und Nebel an den Baumstämmen zu zerstoßen.«

»Das geht mir mit dem meinigen ebenso. Kommen Sie! Aber schweigen wir jetzt! Es ist nicht nöthig, daß uns Jemand bemerkt.«

Der Dicke gehorchte dieser Aufforderung. Erst als der Wald hinter ihnen lag und man nun besser unterscheiden konnte, ob man beobachtet sei oder nicht, sagte er:

»Sagen Sie mir einmal, was Sie von mir denken, mein lieber Herr Schneeberg!«

»Schön! Aber soll ich aufrichtig sein?«

»Ja.«

»Gut, so will ich Ihnen gestehen, daß ich Sie für einen sehr guten Kerl, aber auch für einen sehr großen Tolpatsch halte.«

»Donnerwetter! Wer das sagt, muß selbst ein Tolpatsch sein! Aber ich will es Ihnen nicht übel nehmen. Ich habe Pech, aber auch sehr viel Glück. Der Capitän hätte mich nicht gefressen, denn ich hatte noch die Waffe; dennoch - -«

»Was hätten Sie mit dem Revolver thun wollen?« fiel Fritz ihm in die Rede.

»Den Alten erschießen!«

»Sie waren ja gefesselt!«

»Sapperment! Das ist wahr! Daran habe ich nicht gedacht. Schießen hätte ich ja gar nicht können! Desto mehr Dank bin ich Ihnen schuldig. Nun aber sagen Sie mir, wie Sie auf den Gedanken gekommen sind, mich heraus zu holen.«

»Sollte ich Sie etwa stecken lassen?«

»Nein. Aber ich hätte es für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten.«

»Und doch war es nicht schwierig. Ich kenne diese unterirdischen Gänge und traf dazu Herrn Müller, der fast noch besser orientirt ist, als ich. Da wurde es verhältnißmäßig leicht, bis zu Ihnen zu gelangen.«

»Es giebt hier gewisse Heimlichkeiten; doch frage ich nicht nach ihnen, da sie mich nichts angehen. Aber dabei möchte ich doch sein, wenn sie zurückkommen und das Nest leer finden.«

»Sie werden sich Ihr Verschwinden gar nicht erklären können.«

»Der Capitän weiß also wohl gar nicht, daß Sie auch Schlüssel besitzen?«

»Nein. Er darf nicht einmal ahnen, daß wir die Gänge kennen.«

»So werde ich also schon aus reiner Dankbarkeit schweigen, um Ihnen keinen Schaden zu machen. Aber, das ist mir noch viel zu wenig. Können Sie mir nicht die Freude machen, mir zu sagen, in welcher Weise es mir möglich ist, meinen Dank abzutragen?«

»Hm! Ich that meine Pflicht, weiter nichts.«

»Das ist sehr bescheiden. Ich werde mich also ganz derselben Bescheidenheit befleißigen und Ihnen gegenüber auch nur meine Pflicht thun. Darf ich?«

»Ich wüßte nicht, welche Pflicht Sie meinen könnten.«

»Ich bin überzeugt, daß Sie das nicht wissen. Ich möchte Sie nämlich sehr gern glücklich sehen.«

»Halten Sie mich für unglücklich?«

»Nein; aber trotzdem könnten Sie noch glücklicher sein, als Sie es jetzt schon sind.«

»Das ist wahr. Es hat ein jeder Tag seine Hitze und seinen Schatten.«

»Nicht nur der Tag, sondern auch der Mensch. Auch Sie haben Ihre Hitze und Ihren Schatten.«

»Ich? Wieso?«

»Ihre Hitze heißt: Mademoiselle Nanon.«

»Lauscher! Aber Sie stellen nur eine Vermuthung auf, die nicht gerechtfertigt ist.«

»Pah! Sie lieben Nanon!«

»Herr Schneffke!«

»Nun ja! Jetzt möchten Sie lieber gar grob werden, und doch meine ich es so gut mit Ihnen. Ich möchte Sie nämlich sehr gern von Ihrem Schatten befreien. Den haben Sie ja auch.«

»Was wäre das?«

»Ein gewisses Geheimniß, welches sich auf - hm, auf die Abstammung bezieht.«

»Sapperment! Was wissen Sie von diesem Geheimnisse?«

»Daß es enthüllt werden kann.«

»Etwa durch Sie?«

»Ja.«

»Spaßvogel! Wer hat zu Ihnen davon gesprochen?«

»Niemand.«

»So können Sie ja auch gar nicht wissen, daß ich ein Findelkind bin.«

»Sie? Ein Findelkind? Ach so! Aber von Ihnen ist ja gar nicht die Rede!«

»Nicht? Von wem denn? Sie sprachen doch von meiner Abstammung.«

»Ist mir nicht eingefallen! Von der Ihrigen nicht.«

»Von welcher denn?«

»Von derjenigen Nanons.«

Da hielt Fritz den Schritt an, legte die Hand fest um den Arm des Malers und sagte:

»Herr Schneffke, dieses Thema ist mir zu heilig, als daß ich einen Scherz darüber dulden könnte!«

»Scherze ich denn?«

»Was sonst?«

»Ich spreche im Gegentheile sehr im Ernste.«

»Das werden Sie mir sehr schwer beweisen können!«

»Sogar sehr leicht.«

»Wollen Sie etwa behaupten, die Abstammung, von welcher wir sprechen, zu kennen?«

»Nicht gerade diese Behauptung ist es, welche ich auf-


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stellen will; aber es giebt Zufälligkeiten, welche mit einander verglichen, zu Schlüssen führen können.«

»Zu Trugschlüssen!«

»Vielleicht. Heute aber habe ich keine Lust, Trug zu schließen. Seien wir aufrichtig! Sie interessiren sich für Nanon?«

»Ja.«

»Das heißt natürlich, Sie lieben sie?«

»Nichts Anderes.«

»Nun gut! Sie sollen Sie haben!«

»Sapperment! Sie widersprechen sich bedeutend!«

»Wieso?«

»Sie sagten erst heute, daß die Traube für mich viel zu hoch am Stock hänge.«

»Ja; aber inzwischen haben Sie mir einen großen Dienst erwiesen, und so will auch ich Ihnen nach Kräften förderlich sein. Mit einem Worte: Sie sollen Nanon haben.«

»Herr Schneffke, ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß ich bis jetzt angenommen habe, Sie sprechen im Scherze. Aber der Ton, welchen Sie jetzt anschlagen, scheint mir Ernst zu bedeuten.«

»Es ist mein völliger Ernst.«

»Nun, Gottes Wege sind wunderbar; ihm ist Nichts unmöglich. Aber Sie werden mir glauben, wenn ich versichere, daß ich sehr gespannt auf Das bin, was Sie mir mitzutheilen haben.«

»Das glaube ich Ihnen. Ich vermuthe nämlich, daß Nanon nicht Eltern gewöhnlichen Standes gehabt habe. Ich war auf Schloß Malineau.«

»Ich auch. Und doch ist dort nichts zu erfahren gewesen.«

»Sie haben nichts erfahren und die beiden Schwestern auch nicht. Doch es ist trotzdem möglich, daß Andre Etwas erfahren. Glauben Sie, daß Nanon Sie wieder liebt?«

»Vielleicht.«

»Pah, vielleicht! Sie liebt Sie; das ist sicher! Ich habe es bemerkt, als ich auf der Birke hing. Aber glauben Sie, daß sie Ihnen ihre Hand reichen würde, wenn sie auf einmal Gewißheit bekäme, daß ihr Vater ein Adeliger sei?«

»Der Liebe ist Alles möglich.«

»Aber diesem Vater würde das vielleicht nicht passen.«

»Das steht abzuwarten.«

»Darum will ich Ihnen die Hand bieten, sich diesem Vater so zu verpflichten, daß er Ihnen die Tochter geben muß.«

»Sie sprechen gerade so, als ob Sie sich entschlossen hätten, meine Vorsehung zu sein.«

»Das ist auch wirklich der Fall. Sie sollen heut dem Maler Hieronymus Aurelius Schneffke nicht umsonst aus der Patsche geholfen haben. Können Sie jetzt mit mir noch einmal in den Gasthof kommen?«

»Es würde mich Niemand hindern, und doch möchte ich es unterlassen.«

»Warum?«

»Man soll nicht bemerken, daß wir mit einander zu thun haben. Der Wirth ist nämlich ein Verbündeter des Capitän.«

»Ach so! Das ist schade! Ich hätte Ihnen gern bereits heute ein Mittel in die Hand gespielt, Nanons Abstammung zu entschleiern.«

»Sollte es wirklich ein solches Mittel geben?«

»Ich vermuthe es und glaube nicht, mich dabei zu irren.«

»Dann stehe ich Ihnen zu Gebote, aber nicht im Gasthofe. Ich werde Sie vielmehr bitten, mit nach meiner Wohnung zu kommen.«

»In die Apotheke?«

»Ja.«

»Wird das nicht auffallen?«

»Gar nicht. Es wird uns gar Niemand bemerken.«

»Gut, so gehe ich mit. Diese Apotheke ist übrigens ein Haus, für welches ich eine lebhafte Sympathie hege.«

»Warum?«

»Weil da drei Personen wohnen, denen ich das lebhafteste Interesse widme.«

»Darf man diese Personen kennen lernen?«

»Gewiß! Die erste sind natürlich Sie.«

»Großen Dank!«

»Die zweite Person ist die Engländerin.«

»Ach so! Hm! Ja! Und die dritte?«

»Der Lehrjunge!«

»Dieser? Wieso?«

»Ich habe ihm einmal Einiges abgekauft, was ich noch nicht in Gebrauch genommen habe und ihm in Folge dessen so recht gemüthlich unter die Nase reiben möchte. Das wird schon einmal passen! Aber hier ist die Stadt. Also mit zu Ihnen?«

»Ja. Ich befinde mich in einer Spannung, welche gar nicht größer sein kann. Lassen Sie uns eilen.«

Fritz befand sich natürlich im Besitze eines Hausschlüssels. Nach kurzer Zeit hatte er mit dem Maler sein Zimmer erreicht und dort Licht gemacht. Dann erwartete er mit Ungeduld die Mittheilung seines Gastes.

»Haben Sie Papier und Bleistift hier?« fragte dieser.

»Ja. Wollen Sie schreiben?«

»Nein, sondern zeichnen.«

»Was denn?«

»Das werden Sie bald sehen. Geben Sie her!«

Er erhielt das Verlangte, setzte sich an den Tisch und sagte:

»Brennen Sie sich eine Cigarre an und lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden. Ich muß meine Zeichnung aus der Erinnerung machen, und da heißt es, die Gedanken zusammen zu nehmen.«

Fritz folgte diesem Rathe. Er rauchte, und Schneffke zeichnete; Minute um Minute verging; es wurden Viertelstunden daraus, Fritz befand sich wie auf Kohlen; aber er sagte kein Wort, um nicht zu stören. Endlich, als bereits über eine Stunde vergangen war, legte Schneffke den Stift weg, hielt das Papier in gehörige Entfernung, um es genau zu betrachten, und sagte dann:

»Ich denke, daß es gelungen ist.«

»Was haben Sie gezeichnet? Darf ich es sehen?«

»Ja. Hier ist es.«

Fritz sah einen Frauenkopf von wunderbarer Lieblichkeit. Er hielt denselben sich in kürzerer und größerer Entfernung vor die Augen und sagte dann:


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»Ein allerliebster Scherz!«

»Scherz? Wieso?«

»Das ist ja Nanon!«

»Nanon? Ah! Wirklich?«

»Ja. Sie haben die Nanon in spe gezeichnet, so wie sie sein wird, wenn sie einige Jahre älter und Weib geworden sein wird.«

»So, so!« lächelte Schneffke. »Sind Sie Ihrer Sache gewiß? Ich habe ganz im Gegentheile gedacht, Madelons Bild zu zeichnen.«

»Madelons? Hätte ich mich geirrt? Ja, richtig! Es ist nicht Nanon, sondern Madelon.«

»Sehen Sie das nun genau?«

»Ganz genau. Es ist keine Täuschung möglich.«

»Aber mein Lieber, wenn es nun wirklich meine Absicht gewesen wäre, Nanon zu zeichnen! Sehen Sie sich das Bild genau an!«

Fritz musterte nochmals das Porträt und sagte dann:

»Ich werde nicht klug daraus! Das ist sowohl Nanon als auch Madelon, nur älter und ausgebildeter.«

»Sie werden nicht klug? Und doch habe ich Sie für klug gehalten. Ich werde Ihnen auf die Sprünge helfen. Wenn dieses Porträt dasjenige von Madelon und Nanon ist und doch auch wieder nicht ist, wessen Porträt muß es dann sein?«

»Das einer Schwester vielleicht.«

»Haben die beiden Genannten eine Schwester?«

»Nein.«

»So haben Sie also falsch gerathen. Weiter!«

Fritz dachte einen kurzen Augenblick nach; dann zuckte es wie eine Erkenntniß über sein männlich hübsches Gesicht.

»Meinen Sie etwa die Mutter?« fragte er.

»Warum nicht?«

»Ah! Also die Mutter soll es sein! Haben Sie denn die Dame gekannt? Sie ist längst todt.«

»Ich habe sie nie gesehen.«

»Aber wie kommen Sie dazu, ihr Porträt zu zeichnen?«

»Ich habe einmal ein Bild gesehen, ganz so wie dieses. Und darunter standen die Worte, welche ich jetzt auch unter diesen allerliebsten Kopf schreiben werde. Hier!«

Das Letztere war nicht nach der Wahrheit gesagt; aber es paßte so in seinen Plan. Fritz warf einen Blick auf die Worte und las:

»Mon doux et aimé becquefleur - mein süßer, lieber Kolibri! Herrgott! Mann, wie kommen Sie zu diesen Worten?«

»Ganz so, wie ich gesagt habe. Ich habe sie gelesen.«

»Und Nanon hat mir gesagt, sie wisse von ihrer Mutter, daß diese von dem Vater stets mit dem Kosenamen Kolibri bedacht worden sei. Wie kommen Sie dazu, aus diesem Namen zu schließen, daß - -«

»Nun daß - -«

»Daß dieser Kopf das Porträt von Nanons Mutter sei.«

»Hm! Dieses Geheimniß müssen Sie mir schon lassen. Sie werden später das Weitere erfahren.«

»Schön! Aber Sie spannen mich auf die Folter!«

»Ich hoffe, daß es keine unangenehme Folter sein wird.«

»Darf ich Nanon das Bild zeigen?«

»Ja.«

»Auch Madelon?«

»Auch ihr, doch stelle ich meine Bedingungen.«

»Bedingungen? Ich hoffe, Sie werden nichts Unmögliches verlangen.«

»Nein. Was ich verlange, das ist zu Ihrem eigenen Glücke. Sie dürfen das Bild den beiden Mädchen zeigen; aber Sie sagen nicht, von wem es ist.«

»Warum nicht?«

»Ich habe meine Absicht dabei.«

»Dann kann ich ja nichts erreichen!«

»O doch! Sie sollen das Bild nämlich noch einer dritten Person zeigen, aber auch ohne zu sagen, von wem Sie es haben.«

»Wer ist diese Person?«

»Es ist - ah, wissen Sie, wer hier im Hause verkehrt?«

»Ich kenne sie Alle.«

»Ich habe sie im Garten bei der Engländerin gesehen.«

»Meinen Sie etwa Master Deep-hill?«

»Deep-hill, ja, so heißt er.«

»Und ihm soll ich das Bild zeigen?«

»Ja.«

»Wozu?«

»Sie werden von ihm Auskunft erhalten.«

»Was aber antworte ich, wenn man mich nach dem Zeichner fragt?«

»Das Porträt ist nicht ein Porträt, sondern ein Studienkopf, entworfen von einem Freunde, an den Sie schreiben werden, um Aufklärung zu erhalten.«

»Ja. Diese Aufklärung habe ich von Ihnen zu erbitten?«

»Ja. Ich will jetzt im Hintergrunde bleiben.«

»Lauter Räthsel! Von Deep-hill soll ich Auskunft erhalten, und von Ihnen Aufklärung! Warum geben Sie mir diese nicht gleich jetzt?«

»Ich will mich vorher überzeugen, ob meine Vermuthung das Richtige trifft oder nicht.«

»So muß ich mich fügen. Hoffentlich treffe ich Nanon bereits morgen. Und Deep-hill wird auch kommen. Wo finde ich Sie dann?«

»Im Gasthofe. Aber, Sie sagten, daß der Wirth der Verbündete des Capitäns sei. Das ist, nach Dem, was heut für mich geschehen ist, gefährlich. Ich werde mich also ausquartieren.«

»Wohin?«

»Das weiß ich noch nicht, werde es Ihnen aber durch einige Zeilen, die ich Ihnen sende, mittheilen.«

»Ich bitte sehr darum! Diese Angelegenheit ist mir so wichtig, daß ich keine Minute verlieren möchte.«

»Nun, laufen Sie nur nicht schon während der Nacht nach Schloß Ortry, sondern lassen Sie die Damen erst ausschlafen! Jetzt aber ist's genug. Ich werde gehen.«

Sie schieden unter den Versicherungen herzlicher Freundschaft von einander. Fritz war so erregt, daß er nicht schlafen konnte. Er lief noch stundenlang im Zimmer umher, schmiedete Pläne und verging sich in tausenderlei Vermuthungen. Endlich fühlte er sich doch körperlich und seelisch so angegriffen, daß er das Lager suchte.

Die Folge blieb nicht aus. Als er erwachte, war der Mittag nahe; es hatte bereits elf Uhr geschlagen. Und


// 1481 //

als er dann durch das Fenster blickte, sah er - Doctor Müller die Straße heraufkommen und in das Haus treten.

Was hatte dieser Besuch zu bedeuten? Er trank seinen Kaffee und kleidete sich zum Ausgehen an, um zu versuchen, ob er Nanon treffen könne. Da trat Müller bei ihm ein.

»Warst Du heute bereits fort?« fragte dieser.

»Nein.«

»So kann ich auch von Dir nichts erfahren. Ich hielt es für möglich, daß Du ihm zufälliger Weise begegnet seist.«

»Wem?«

»Deep-hill.«

»Diesem? Sie suchen ihn?«

»Ja. Ich hatte ihn zu sprechen und fand ihn nicht. Ich erkundigte mich und erfuhr, daß der Capitän gesagt habe, der Amerikaner sei heimlich abgereist.«

»Und das glauben Sie nicht?«

»Nein. Er hätte ganz sicher vor seiner Abreise noch mit mir gesprochen. Ich ging daher jetzt zu meiner Schwester, habe aber auch nichts weiter erfahren, als daß er gestern am Nachmittage hier gewesen sei.«

»Ist er dann auf dem Schlosse gewesen?«

»Nein. Es hat ihn Niemand gesehen.«

»Donnerwetter! Niemand gesehen! Da fällt mir ein - ah, das wäre doch ein verdammter Streich!«

»Was?«

»Dieser Maler Schneffke strich gestern im Walde herum, und ich erfuhr von ihm, daß er dem Amerikaner begegnet sei.«

»Wo?«

»Eben draußen im Walde.«

»In welcher Gegend?«

»Es muß gewesen sein, kurz bevor ich mit dem Maler zusammentraf, also vermuthlich zwischen dem alten Thurme und der Klosterruine.«

»So muß ich hinüber zu diesem Schneffke.«

»Er hat sich ausquartirt.«

»Wohin?«

»Das weiß ich noch nicht; er wird mir es aber jedenfalls heute noch mittheilen.«

»Schade. Ich befinde mich in hoher Besorgniß um Deep-hill. Der Capitän trachtet ihm nach dem Leben; das weiß ich sehr genau. Wer weiß, was da geschehen ist!«

»Himmelelement! Und grad jetzt brauche ich den Amerikaner so nothwendig!«

»Wozu?«

»Wegen einer Auskunft über Nanons Eltern.«

»Dieser soll Auskunft geben können?«

»Ja. Bitte, Herr Doctor, haben Sie die Güte, sich einmal dieses Bild zu betrachten!«


Ende der dreiundneunzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

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