Der Weg zum Glück - Teil 42

Lieferung 42

Karl May

14. Mai 1887

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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»Herr Baron, bitte!« sagte sie.

Er trat ein. Sie zog die Thür hinter ihm zu und nöthigte ihn auf einen Stuhl.

»Es scheinen hier ganz unbegreifliche Dinge vorzugehen,« sagte sie.

»Ja, unbegreifliche, da haben Sie Recht.«

»Und mit Ihrer Erlaubniß?«

»Nein, gewiß nicht.«

»Und dennoch dulden Sie es?«

Er fuhr sich mit dem Tuche über die schwitzende Stirn und antwortete zögernd:

»Ich kenne meine Tochter gar nicht mehr!«

»Ich auch nicht. Sie ist gegen mich von einer Rücksichtslosigkeit gewesen, welche eigentlich mehr als beleidigend war.«

»Ich weiß es.«

»Ah! Sie hat davon gesprochen?«

»Ja.«

Sie erröthete doch ein Wenig.

»Ich hatte mit Herrn Warschauer gestern einen Morgenspaziergang für heut verabredet, und er kam in der Frühe hier auf den Corridor, um ganz discret zu horchen, ob ich bereits erwacht sei. Zufälliger Weise trat ich gerade an diesem Augenblick aus meiner Thür. Wir sahen uns und wechselten einige Worte. Milda kam dazu. Natürlich zog sich der Herr sofort zurück. Ihre Tochter aber wagte es, mich in einer Weise zur Rede zu stellen, daß ich mich veranlaßt sehe, heute abzureisen.«

Sie erwartete, daß er sie sofort in seinen Schutz nehmen und bitten werde, hier zu bleiben; aber zu ihrem Erstaunen antwortete er nur:

»Ja, es ist wirklich ein Teufel in sie gefahren.«

»Hm! Was für einer?«

»Wenn ich das wüßte!«

»Und zwar seit gestern Abend erst. Sie muß gestern in der Stadt irgend Etwas erlebt haben, was diesen Eindruck auf sie und diese schnelle Aenderung in ihrem Wesen hervorgebracht hat.«

»Das vermuthe ich auch.«

»Sie vermuthen es nur? Ich habe geglaubt, daß Sie sich bei ihr befanden. Mag es sein, was da wolle! Ich bin so beleidigt, daß ich auf Ihre mir sonst so werthvolle Gastfreundschaft verzichten muß. Ich kann nicht in diesem Hause mehr bleiben.«

»Ich glaube es Ihnen und gebe Ihnen ganz Recht.«

»Wie? Das ist Alles?«

»Was verlangen Sie mehr?«

»Sie geben mir Recht und nehmen mich nicht in Ihren Schutz? Wie soll ich das begreifen!«

»Erklären Sie es sich sehr einfach durch die Verlegenheit, in welcher ich mich befinde.«


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»Sie kann keine große sein. Darf ich nach ihr fragen?«

Diese Frage kam ihm höchst ungelegen, aber glücklicher Weise fiel ihm ein, was er gestern über das erste Zusammentreffen zwischen Asta und der Bürgermeisterin gehört hatte; darum antwortete er:

»Diese Verlegenheit habe ich zum großen Theile Ihnen zu verdanken, beste Asta.«

»Mir? Das ist mir unerklärlich.«

»Sie haben diese sogenannte Bürgermeisterin durch Ihre Mißachtung beleidigt.«

»Was mache ich mir daraus!«

»Sie, ja! Aber ich habe mir Etwas daraus zu machen.«

»Wieso? Ich kann mir doch unmöglich denken, daß diese Frau eine Person ist, auf welche Sie irgend eine Rücksicht zu nehmen haben, oder Sie ihr verpflichtet sind.«

»Und doch ist es so.«

»Ah! Unbegreiflich!«

»Sie hat bedeutende Verbindungen in der Hauptstadt.«

»Diese Frau? Das darf ich doch wohl bezweifeln!«

»Ich wünschte auch, es wär so. Aber Sie wissen ja, daß es gewisse Agenten und Agentinnen giebt, auf welche sogar Leute von hervorragender Stellung Rücksicht nehmen müssen.«

»Und so eine ist sie?«

»Ja. Ich habe soeben eine Nachricht von ihr erhalten, welche mich veranlaßt, heute nach Wien zurückzukehren.«

»Sonderbar! Schon Milda sprach davon, daß Sie mich wohl begleiten würden.«

»Weil sie die Nachricht bereits kannte, welche ich erst jetzt empfangen habe.«

»Und Sie reisen wirklich?«

»Ja. Und Sie?«

»Jedenfalls; aber - - nicht allein.«

Sie sagte das mit ausdrücklicher Betonung.

»Nicht allein? Meinen Sie meine Begleitung?«

»O nein. Ich glaube, daß Herr Warschauer sich mir anschließen werde.«

»Der?« fragte der Baron fast erschrocken.

»Das wäre mir sehr unlieb.«

»Warum?«

»Weil - hm, Sie wissen ja, welche Absichten ich mit ihm verfolge. Ich wollte das Verdienst besitzen, daß er sich bei mir zum Sänger ausgebildet habe.«

»Das kann ja trotzdem noch geschehen. Muß es denn gerade hier in Steinegg sein? Steinegg ist ja nicht Ihre einzige Besitzung.«

»Da haben Sie ja Recht. Ich werde sofort zu ihm gehen, um mit ihm zu sprechen.«

»Nein; überlassen Sie das mir, Herr Baron. Ich schmeichle mir, mehr Einfluß auf ihn zu haben, als Sie. Ich sah ihn vor einigen Minuten vor


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meinen Fenstern vorbei gehen. Er befindet sich im Garten. Da werde ich ihn aufsuchen.«

»Und Sie glauben, ihn zu überreden, mit uns zu gehen?«

»Jedenfalls.«

»Aber dieser Professor!«

»O, der macht mir keine Sorgen! Der läuft dahin, wo der Sänger hingeht. Er will ganz allein den Ruhm haben, seine Ausbildung vollendet zu haben. Also gehen Sie getrost nach Ihrem Zimmer. Ich werde Ihnen nachher Nachricht bringen.«

Der Baron ging. Als er auf den Corridor trat, kam der Sepp gerade aus Milda's Zimmer. Er hatte bemerkt, daß zwischen ihr, dem Lehrer und der Bürgermeisterin ein Gespräch angeknüpft worden war, bei welchem seine Anwesenheit nur störend wirken konnte, und so hatte er sich in seiner Bescheidenheit für einige Zeit entfernen zu müssen geglaubt.

Er wollte still an den Dienern vorübergehen, ohne ihnen Beachtung zu schenken; aber Einer von ihnen sagte dem Andern halblaut:

»Ein verfluchter Strolch!«

Da blieb der Sepp vor ihm stehen, sah ihn mit funkelnden Augen an, holte zum Schlage aus und fragte:

»Meinst mich?«

»O nein!« antwortete der Mann sehr schnell.

Da trat ihm der Sepp noch um einen Schritt näher und sagte:

»Entwedern hast Dich gemeint odern mich; einen Andern keineswegs. Wannst eine Ohrwatschen haben willst, daß Dir dera Kopf so breit wird wie ein Kuchenbret, dann sollst mich meint haben. Also red schnell: Wer ist dera verfluchtge Strolchen?«

»Du nicht.«

»Aber wer sonst? Herausi damit!«

Er hielt die Hand noch immer erhoben. Wenn er zuschlug, so mußte das eine gewaltige Ohrfeige geben.

»Ich bins,« antwortete der Diener kleinlaut.

»Du also!« lachte der Sepp. »Na, hast auch Recht. Dir sieht mans ja gleich sofort an, daßt ein Strolchen bist. Aberst zu sagen brauchsts doch Niemand. Vielleichten gäbs doch Einen, ders nicht gleich glauben thät, und das wär ein Unrechten, wie es Dir gar nicht größern geschehen könnt.«

Er ging. Der Diener wurde von seinen Kameraden natürlich ausgelacht, hielt ihnen aber vor, daß sie ganz dieselbe Furcht wie er gezeigt hätten. Und da hatte er Recht.

Der Sepp ging hinunter in den Blumengarten. Dort strich er langsam zwischen den duftenden Beeten hin und näherte sich dabei einer Laube, welche so dicht mit Blättern bewachsen war; daß man von außen nicht in das Innere blicken konnte. Er trat hinein. Ein Herr saß da, den er nicht sogleich erkannte. Er füllte ja mit seiner Gestalt den Eingang so, daß er das Innere verfinsterte. Er wich einen Schritt zurück und sagte:


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»Vertorium! Da ist schon eine Einquartirungen da. Bitt schön um Verzeihungen!«

Er wollte fort, warf aber doch vorher noch einen scharfen Blick hinein und blieb dann ganz erstaunt halten.

»Alle guten Geistern - - -! Wer ist das?«

Es war der Anton. Dieser hatte den Sepp sofort erkannt und hoffte schon, daß dieser ihn nicht erkennen werde. Darum hatte er nicht geantwortet.

»Hab ich die Augen verwechselt?« fuhr der Sepp fort. »Ist das nicht dera Krikelantonen?«

Jetzt war dieser gezwungen, zu antworten:

»Ja, der bin ich.«

»So! Wannst der bist, so brauch ich ja nicht auszureißen. Mach Platz da auf dera Holzbanken, und grüß Dich Gott!«

»Grüß Gott!« antwortete der Anton verdrießlich, indem er zurückte und dem Alten die Hand gab.

»Ja, wie redest denn heut? Hast wohl gar einen Borstbesen verschluckt? So verschling die Magd auch noch gleich, nachher kann sie Dir die Seel auskehren und auswischen, daß sie wieder saubern wird.«

»Meinst, daß meine Seele schmutzig ist?«

»Weiß nicht. Aberst Dein Gesichten ist lang nicht mehr so hell, wie es frühern war. Was hast auf dem Herzen?«

»Nichts.«

»Ist Dir was Unguts widerfahren?«

»Auch nicht.«

»Aberst eine recht schlechte Launen hast!«

»Die Seelenstimmungen lassen sich nicht commandiren.«

Da erst betrachtete der Sepp, sich seinen Bekannten genauer. Dann schlug er sich mit der Hand auf das Bein, daß es laut klatschte und rief:

»Die Seelenstimmungen lassen sich nicht commandiren! Na, Anton, wie redest denn eigentlich! Das klingt ja grad, als obst ein Regierungsrathen worden wärst! Hast wohl Deine Sprach vertauscht?«

»Man kann sich doch wohl auch einmal eines andern Dialectes bedienen!«

»Himmelsakra! Schwatzt dieser Kerlen jetzunder nobel! Und was hast da für ein Gewandl an! Schaust ja aus wie ein feiner Stadtherren!«

»Der bin ich auch.«

»So! Hat denn das Geschäft so viel Geld bracht?«

»Ja.«

»Sappermenten! Da werd ich auch in den nächsten Tagen ein Tabuletkramer!«

»Nun, mit diesem war kein so großer Ueberschuß zu machen. Es gab da bei allem Verdienste, welches doch nur ein bescheidenes war, zuweilen auch einmal eine Unterbilanz.«

»Unterbilanz! Donnerstag! Bring mir nicht solche Brocken! Die kann ich nicht verdauen und nicht vertragen. Red lieberst, wie Dir dera Schnabeln


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ans Maul wachsen ist! Oder hast Deine Muttersprachen schon gar verlernt? Da könntst mir sehr leid thun!«

»Ich verkehre jetzt in feiner Gesellschaft, da habe ich mich auch einer andern Ausdrucksweise zu befleißigen.«

»Ausdrucksweise zu befleißigen! Was das für ein unverständiger Klumpatschen ist! Jetzt redest mit dem Sepp, und der verlangt keine Ausdrucksweisen, sondern die alte treue Red, die frühern habt hast. Mit denen feinen Wörterln, die man mit dera Zungen zerquetschen muß, fangst bei mir nix an. Also das Tabuletkramergeschäft hast nicht gemeint?«

»Nein. Ich hab jetzt halt ein andres, ein viel besseres.«

»So! Und was ist denn das für eins?«

»Ich fang Dirndln.«

»Dirndln! So! Bringt das viel eini?«

»Sehr viel, denn ich fang halt blos reiche.«

»Und beißens denn auch an?«

»O, gern.«

»Auf den Krikelanton?«

»Ja; aberst der bin ich nicht mehr.«

»Was bist dann?«

»Ein Kavalier.«

»So, also auch ein Kaviller! Schau, zu was mans bringen kann, wann man die Heimathen vergißt und Die, welche Einen da lieb habt haben. Wo wohnst denn nun jetzunder?«

»Das geht Niemand nix an.«

»Hast Recht! Aberst was treibst hier in Steinegg?«

»Ich bin auf Besuch hier.«

»Wohl bei dem Nachtwächtern?«

»Hm! Beim Baron.«

»Schneid nicht auf i!«

»Wannsts nicht glaubst, so frag. Ich hab hier im Schloß zwei Zimmern, in denen ich wohn.«

»Na, wanns so ist, da kannst Dir wohl sehr viel drauf einbilden?«

»Allemal! Oder hast Du etwan schon mal bei einem Baronen wohnt?«

»O, bei noch größeren Herren! Wanns weitern nix ist! Ich hab schon beim König wohnt. Und wannst Dirndln fangst, so willst wohl auch hier eine fangen?«

»Ja, freilich.«

»Wohl gar die Fräulein Milda?«

»Nein, sondern eine viel bessere und schönere. Sie hat auch einen schöneren Namen - - Asta.«

»Sapristi! Die also?«

»Ja. Kennst sie? Hast sie schon sehen?«

»Wills meinen!«

»Nun also! Was sagst dazu, daß ich sie fangen hab?«

»Na, hör Mal, obst sie auch hast!«


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»Fest, sehr fest.«

»Der Krikelanton eine Baronessen!«

»Es ist aberst doch so!«

»Wanns ist, so gratulir ich Dir! Kannst stolz sein, sehr stolz! Wohnst bei einem Baronen und hast eine Baronessen fangen! Aberst den Baronen hab ich soeben zur Thüren hinausschmissen, und die Baronessen wird aus dem Haus jagt!«

»Lügner!« brauste der Anton auf.

»Du, so kommst mir nicht! Wer den Wurzelseppen einen Lügnern schimpft, der kann sehr leicht einige Ohrwatschen heimtragen!«

»Dera Krikelanton nicht!«

»Der bist ja nicht mehr! Jetzt bist ein Stadtherr, ein feiner, und da hast eine Kopfnussen drin, ehe Du Dichs nur versiehst. Ich hab die Wahrheiten sagt. Der Baron muß fort und die Asta auch.«

»So weiß ich noch nix davon. Ich hab ja erst in dieser Nacht mit sprochen.«

»So! Sprichst also in dera Nacht mit ihr!«

»Ja, weißt, das ist die beste Zeit dazu.«

»Da umärmelst und küßt sie wohl auch?«

»Freilich.«

»So mußt das freilich in dera Nacht thun, damitst nicht siehst, wast küssen thust. Bist ein Schöner worden, ein sehr Schöner! Und den hat meine brave Leni so lieb habt!«

»Laß mich mit dieser aus! Sie, die - - Sängerin!«

»Nun, was bist denn Du, he?«

»Mehr als sie!«

»Ein Pflastertreter bist, der denen Mädels nachlauft! Nicht mal Tabuletkramer bist mehr! Auf meine Leni schimpfst! Etwan weils eine Sängrin ist? Na, wann Du mal so weit kommen könntst, wie sie schon kommen ist, Du Lodrian!«

»Meinst, wann ich ein Sänger wär?«

»Ja.«

»O Jegerl! Da brauch ich nur zu wollen!«

»Bild Dir nur nix eini! Du hättst das Geschicken, Sänger zu sein! Deine Kehlen ist wie ein alter Spritzenschlauch. Was Du singst, dabei kann man vor Angst die Diphterithissen bekommen. Ich kenn es ja, denn ich habs hört.«

»Du, mach mich nicht schlecht!«

»Und Du, mach mir meine Leni nicht schlecht!«

»Ja, weißt noch, was wir uns zum Abschied sungen haben?«

»Weiß schon.«

»Das war schön, und dabei bleibts.«

»Hab nix dagegen. Aber spiel Dich nur nicht etwan als einen so gar Klugen aufi! Ich weiß doch, was ich von Dir denken soll. Ein hübscher Kerlen bist zwar, das ist wahr. Aberst wannst das jetzunder anwendst, um


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Dirndln zu fangen, so kannst mich nur sehr derbarmen. Dann bist ganz der richtige Lumpazi worden. Und daßt die Baronessen Asta fangen hast, das glaub ich schon gar nicht. Sie taugt zwar nix, aberst an denen Krikelanton wirds sich doch nicht wegwerfen.«

Der Anton erhob sich langsam von seinem Platze und sagte im Tone der Ueberlegenheit:

»Das meinst wirklich?« »Ja, das mein ich halt.« »Soll ich Dirs beweisen?« »Das kannst nicht.«

»Oho! Da schau mal hinaus in den Garten! Wer kommt da? Wer ist Die?«

Sepp folgte der Aufforderung.

»Sappermenten! Das ist ja grad die Asta.«

»Ja. Und willst sehen, daß sie wirklich meine Liebste ist?«

»Da wär ich freilich neubegierig.«

»Sollsts gleich sehen. Aberst blicken lassen darfst Dich jetzt nicht vor ihr, sonst störst uns.«

»Werds mir merken.«

»So paß auf.«

Er trat aus der Laube. Asta war in einem Seitenwege verschwunden. Er bog nach derselben Seite ein. Sepp, der ihn nun nicht mehr sehen konnte, ließ den Kopf hängen.

»Leni, meine arme Leni!« seufzte er. »Und diesen Kerlen hast heut noch lieb! Was wirst sagen, wannsts hören thust! Ich thät gern sterben, gleich hier auf dera Stell, wann ich Dir diesen Schmerzen dersparen könnt!«

Er wischte sich die alten Augen und wartete. Bald kam der Anton mit Asta wieder in Sicht. Sie gingen Arm in Arm. Bald umschlang er sie und zog sie an sich. Sie ließ es geschehen, und als er sie küßte, gab sie ihm freiwillig seinen Kuß zurück. Dann führte er sie wieder nach einem der Seitenwege.

Der Wurzelsepp ballte die Faust.

Der alte Wurzelhändler ballte die Faust.

»Jetzt, wann ich könnt, möcht ich ihn derschlagen! Doch wärs eine gar große Dummheiten, denn er ists gar nicht werth, daß ich ihn nur berühr. Ich will lieber gehn.«

Er stand auf und entfernte sich langsam. Grad als er nach dem Eingang lenkte, traten die Beiden hinter einem Bosquet hervor. Sie hielten sich eng umschlungen.

»Fi donc! Der alte Stromer!« sagte sie, als sie ihn erblickte. »Fort, aus seiner Nähe! Er stinkt!«

Anton ließ sich von ihr fortführen, ohne auch nur dem Alten einen Blick der Entschuldigung zuzuwerfen. Sepp blieb stehen und schaute ihnen nach.

»Stromer!« sagte er. »Ich stink! Ja, ja, so sind diese Feinen! Und dera Anton hat kein Wort sagt, kein einziges! Wann Jemand zu mir sagt


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hätt, daß er stinken thät, so hätts bei mir eine Ohrfeigen setzt, neun Centnern schwer! Er ist verloren, ganz und gar verloren, das ist nun sichern und gewiß. Leni, Leni! Geb der liebe Herrgottle, daß Dirs Herz nicht bricht!«

Er schritt langsam dem Schlosse zu. Nach einiger Zeit kam er wieder heraus, den alten Hut auf und den Bergstock in der Hand. Er hatte diese drei Gegenstände oben geholt, ohne ein Wort weiter zu sagen, als daß er beim Mittagszuge aufpassen werde, ob der Baron auch wirklich abfahre.

Milda hatte unterdessen dem Bruder erzählt, daß sie während der Nacht den geheimnißvollen Zettel im Medaillon gefunden habe, und ihm denselben auch vorgelegt. Mit ihrer Erlaubniß und mit Hilfe des Mikroskopes hatte er ihn gelesen, allerdings auch nur bis zu der betreffenden Stelle, von welcher an die Tinte so verbleicht war. Trotz aller Mühe gelang es ihm nicht, auch nur ein einziges, weiteres Wort zu entziffern.

»Schade, schade!« sagte er. »Jetzt kommt gewiß grad die Hauptsache, und da kann man nicht weiter.«

»Auch ich bedaure das. Aber ich habe gehört, daß es Mittel gäbe, solche verblichene Tinte wieder zu erneuern.«

»Die giebt es allerdings.«

»Und sind sie Dir vielleicht bekannt?«

»Mehrere. Man muß dabei sehr vorsichtig sein, da es auf die Art der Dinte ankommt, mit welcher die verblichenen Worte geschrieben sind. Es gehört ein Wenig Chemie dazu, um das Richtige zu treffen.«

»Und besitzest Du diese Kenntnisse, Max?«

»Ich bin kein Chemiker. Dichtkunst und Chemie sind nicht Schwestern, welche sich lieben. Aber dennoch getraue ich mir, diese Schrift leserlich zu machen. Mit einer Abkochung von Galläpfeln und klar geschnittenen weißen Zwiebeln kann man jede verblichene Galläpfeltinte wieder so leserlich machen, wie sie vorher gewesen ist. Nur muß man sich in Acht nehmen, das Original nicht zu verderben.«

»Wenn Du das thun wolltest?«

»Gern. Da müßtest Du mir aber diesen Zettel anvertrauen.«

»Ohne Bedenken. Nimm ihn also mit. Aber wird es lange dauern, ehe ich ihn wieder erhalte?«

»Nein, höchstens drei Tage. Dann bringe ich ihn Dir wieder. Aber, Milda, weißt Du auch, was Du unternimmst?«

Sein Auge war dabei mit mildernstem Blick auf sie gerichtet.

»Ja,« nickte sie.

»Jetzt bist Du reich. Du kannst nicht wissen, was dieser Zettel weiter enthält. Hast Du ihn einmal zu Ende gelesen, so hast Du auch die Verpflichtung, nach ihm zu handeln.«

»Die habe ich jetzt schon.«

»Aber bedenke, daß der Inhalt Dein ganzes Vermögen auf das Spiel setzen kann.«

»Ich würde es hingeben, wenn ich kein Recht habe, es zu besitzen.«


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»Weißt Du auch, was dies bedeutet? Du kennst die Armuth nicht!«

»Max, ich werde niemals arm sein. Ich habe jetzt Dich und Deine Mutter, welche auch die meinige sein soll. Bei Euch finde ich die Liebe, welche ich noch nie gefunden habe. Ich bleibe reich und glücklich, selbst wenn ich Alles, Alles hergeben muß.«

Da legte er den Arm um sie und zog sie innig an sich.

»Gott segne Dich, mein liebes Schwesterherz!« sagte er, sie auf die Stirn küssend. »Du hast Recht. Du wirst niemals arm sein. Dein gutes Herz und Dein edler Sinn, das sind Reichthümer, welche Dir nicht genommen werden können: Und für mich sollte es beglückend sein, wenn ich für Dich sorgen dürfte. Jetzt aber kommt! Ihr wollt mich eine Strecke weit begleiten, und wenn ich zur rechten Zeit in Hohenwald ankommen will, so habe ich mich nun zu beeilen.« - -

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Siebentes Capitel.

Seelenstimmen.

    
Um die Mittagszeit stellte sich der Sepp auf dem Bahnhofe ein. Er stellte sich so, daß er Alles sehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

Da bemerkte er, daß eine Equipage vier Personen vom Schlosse brachte, den Baron, Asta, Anton und den Professor. Ein leichter Wagen folgte mit dem Gepäck. Es wurden die Billets gelöst und dann gaben die Herrschaften das Gepäck auf. Die Wagen kehrten zurück.

Jetzt war der Sepp überzeugt, daß der Baron wirklich abreisen werde. Was sollte der Alte die Ankunft und Wiederabfahrt des Zuges abwarten? Das hatte keinen Zweck mehr. Er wollte nach Hohenwald, und da sich der Himmel mit dunklen Wolken zu umziehen begann, welche wohl gar ein Gewitter erwarten ließen, so trollte er sich eiligst von dannen, um noch vor Ausbruch des Regens sein Ziel zu erreichen.

Erst eine halbe Stunde später kam der Zug. Er hatte hier längere Zeit zu halten; darum beeilten sich die auf ihn wartenden Passagiere gar nicht zu sehr mit dem Einsteigen.

Unter den Ausgestiegenen befand sich ein junger Mann, welcher nicht sehr viel über zwanzig Jahren zählen mochte. Er war hoch und schlank gebaut, brünett und besaß ein aristokratisch gezeichnetes Gesicht, dem man es ansah, daß der Jüngling sich viel mit Denken beschäftige. Dieses Gesicht war jetzt tief gebräunt, als ob eine südliche Sonne ihre Spuren auf demselben zurückgelassen habe.

Er trug einen einfachen, dunklen Reiseanzug, einen breitkrämpigen Hut und einen kleinen Tornister auf dem Rücken. Der Stock in der Hand war eine Palme, wie man sie in Italien zu kaufen bekommt.


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Er hatte sich zuerst auf dem Perron umgesehen und schlenderte nun langsam nach dem Wartezimmer erster und zweiter Classe.

Eben als er dort eintreten wollte, wurde die Thür geöffnet und - der Baron kam heraus. Das Auge dieses Letzteren fiel auf den jungen Mann, und bei dem Anblicke desselben ließ er erschrocken den Regenschirm fallen, welchen er in der Hand trug.

»Rudolf!« stammelte er.

Der Fremde, welcher sich höflich gebückt hatte, um dem älteren Manne den Schirm aufzuheben, reichte ihm denselben dar und sagte im Tone des Erstaunens:

»Kennen Sie mich?«

»Sandau!« stieß der Baron abermals hervor, ohne diese Frage zu beachten.

»Das ist mein Name.«

»Alle tausend Teufel! Du hast Dich verdammt gut conservirt, oder -«

Er hielt inne, machte ein ganz unbeschreibliches Gesicht, schlug sich mit der Hand an die Stirn und fuhr dann fort:

»Wo denke ich hin! Welch eine Täuschung! Wie können Sie der sein, für den ich Sie hielt! Sie zählen vielleicht wenig über zwanzig!«

»Dreiundzwanzig.«

»Der, welchen ich meine, müßte heute mehr als doppelt so alt sein. Aber bitte, wie heißen Sie?«

»Rudolf Sandau.«

»So, so! Ist allerdings ein ganz auffälliger Irrthum, eine Verwechslung!«

Sein Blick war fast feindselig forschend auf den Jüngling gerichtet. Dieser antwortete in höflicher Entgegnung:

»Eine Verwechslung kann nicht vorliegen.«

»O doch!«

»Sie kennen ja meinen Namen!«

Ueber das Gesicht des Barons zuckte es wie verhaltener Zorn. Er antwortete:

»Heißen Sie denn wirklich so?«

»Ja, Rudolf Sandau.«

»Nun, so bleibt es dennoch eine Verwechslung. Ich habe Sie für Ihren Vater gehalten, den ich zum letzten Male erblickte, als er noch in Ihrem Alter stand. Sein Bild ist fest in meinem Gedächtnisse geblieben und so ist es gar kein Wunder, wenn ich jetzt nicht an die Jahre dachte, welche seit jener Zeit verflossen sind. Aber, um ganz sicher zu gehen, bitte, was war Ihr Vater?«

»Er war Feldmesser.«

Das eine Auge des Barons kniff sich zusammen. Sein Blick ruhte auf Rudolf grad so, wie das Auge eines Criminalisten sich auf den Verbrecher richtet.

»Feldmesser? Geometer also? Das kann doch nicht sein. In diesem Falle müßte ich mich doch geirrt haben. War er nicht Officier?«


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»Nein. Er ist als Feldmesser gestorben.«

»So! Hm! Wo?«

»Drüben im fernen Westen.«

»Ah, so!« nickte der Baron jetzt lebhaft.

»Also in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. So ist er todt?«

»Seit langer, langer Zeit.«

»Haben Sie Geschwister?«

»Nein. Ich bin das einzige Kind.«

»Lebt Ihre Mutter noch?«

»Ja, mein Herr.«

»Wo?«

»In Eichenfeld.«

»Kenne ich nicht. Habe diesen Namen noch nie gehört.«

»Eichenfeld ist ein kleines Städtchen jenseits der bayrischen Grenze. Wenn man von Steinegg nach Hohenwald geht, biegt man auf halbem Wege links ab. Es liegt oben auf dem Kamme des Gebirges.«

»So, so! Ich hoffe, daß Ihr Vater Vermögen hinterlassen hat?«

»Ja.«

»Ist es bedeutend?«

»Es ist hinreichend für Mutter und mich.«

»Und was sind Sie?«

»Ich bin Schüler der polytechnischen Schule zu München.«

In diesem Augenblicke läutete es zum zweiten Male. Das schien dem Baron gelegen zu kommen. Er hatte genug erfahren und wollte sich nun schnell losreißen, um über sich keine Auskunft geben zu müssen. Nur zwei Fragen noch hatte er:

»Natürlich wissen Sie, was für eine Geborene Ihre Mutter ist? Wie war ihr Mädchenname?«

»Emilie Sendingen.«

»Nicht >von< Sendingen?«

»Nein. Sie war bürgerlich.«

»Aber Ihr Vater war ein >von< Sandau?«

»Auch nicht. Vater war ebensowenig von Adel wie Mutter.«

»So! Hm! Da habe ich mich wirklich geirrt, wirklich. Das ist aber menschlich und kommt oft vor. Bitte sehr um Entschuldigung!«

Er tippste an die Krämpe seines Hutes und eilte nach dem Coupee, in welches die drei Andern bereits eingestiegen waren. Rudolf Sandau blickte ihm befremdet nach. Er hatte sich ausfragen lassen, wie auf dem Einwohneramte und nicht Gelegenheit gehabt, selbst eine Frage zu thun.

Wer war dieser sonderbare Mann? Aristokratisch sah er aus. Rudolf ging zu einem der Bahnbeamten, welcher ganz in der Nähe gestanden hatte.

»Haben Sie sich den Herrn betrachtet, mit welchem ich jetzt sprach?«

»Sehr wohl.«

»Kannten Sie ihn?«


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»Nein. Ich habe ihn noch nie gesehen.«

»Jedenfalls aber ist er aus dieser Gegend?«

»Das bezweifle ich sehr. Ich bin hier geboren und kenne die meisten Leute im weiten Umkreise. So einen Herrn, wenn er hier wohnte, würde ich unbedingt kennen, aber ich wiederhole, daß ich ihn noch niemals gesehen habe.«

Dieselbe Auskunft erhielt der Frager auch noch von einigen anderen Personen, an welche er sich wandte. Der Baron war eben zum ersten Male hier in Steinegg, und da er nicht per Bahn, sondern per Wagen und zwar von Bayern herüber gekommen war, so konnte auf dem Bahnhof keine Auskunft über ihn erlangt werden.

Rudolf Sandau trat in das Wartezimmer, um ein Glas Bier zu trinken. Er hatte der drohenden Wolkenbildung gar keine Beachtung geschenkt. Als er sein Bier ausgetrunken hatte, war der Bahnzug längst fort, und nun brach auch er auf, um hinüber nach Eichenfeld, seiner jetzigen Heimath, zu gelangen.

Er mußte da durch Steinegg gehen. Erst als er dieses passirt hatte und droben am Schlosse vorüberschritt bot sich ihm eine freiere Aussicht, und nun er da stehen blieb, um eine kurze Umschau zu halten, bemerkte er erst die cumulirenden Wolkenballen, welche sich fast zusehends höher und höher thürmten.

»O weh! Das giebt ganz sicher ein Gewitter!« sagte er sich. »Aber wie lange wird es noch dauern, ehe es ausbricht? Soll ich wieder hinunter in die Stadt, um dort abzuwarten, bis es vorüber ist, oder habe ich noch Zeit, bis nach Eichenfeld zu kommen?«

Er prüfte noch einmal den Horizont bedächtig und meinte dann couragirt:

»Pah! Diese herrliche Ueberraschung, wenn Mutter mich so unerwartet erblicken wird! Ich mag sie keine Minute zu lang auf diese Freude warten lassen. Und ein Bischen Regen - wer fürchtet sich vor ihm? Vorwärts also! Ich beeile mich.«

Er schritt rüstig und schneller als bisher vorwärts. Er hatte die Hauptsache nicht beachtet, nämlich die Richtung des Windes. Dieser kam von Osten her und trieb die Wolken westwärts nach den Bergen zu. Dort, im Gebirge, mußten sie sich entladen, weil sie nicht weiter konnten.

Der nach Hohenwald führende Fahrweg ging meist durch dichten Forst. Aus diesem Grunde bemerkte der Wanderer nicht, daß sich bald ein tüchtiger Wind erhoben hatte, welcher sich draußen im Freien gar zum Sturme steigerte.

Nach einiger Zeit führte ein langsam ansteigender Fahrweg links ab nach Eichenfeld, dem Ziele Sandau's. Dieser kannte die Gegend. Er wußte einen Fußweg, welcher zwar steiler, aber auch viel schneller zur Höhe stieg, um sich dann kurz vor Eichenfeld wieder mit dem Ersteren zu vereinigen. Er schlug den Letzteren ein.

Je höher er kam, desto mehr konnte der Wind sich geltend machen. Schon grollte der Donner in der Ferne und Blitze zuckten über das Haupt des Berges hin.

»Es wird eher Ernst, als ich dachte,« sagte er zu sich und verdoppelte seine Schritte.


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Hier an der Nordseite des Berges standen die Bäume nicht so dicht, und darum wurden die nun fallenden Regentropfen bemerkbar. Sie fielen dick, schwer und prasselnd in die Zweige. Ein fürchterlicher, lang andauernder Donnerschlag folgte einem grellen, blendenden Aufleuchten des Blitzes und dann brach das Wetter los.

Nicht Wasser war es, was fiel, sondern es waren Schloßen, meist mehr als erbsengroß. Jetzt war guter Rath theuer. Sandau hatte erst die Hälfte des Weges zurückgelegt. Es war wie finstere Nacht geworden. Blitz folgte auf Blitz und Donnerschlag auf Donnerschlag.

Der junge Mann blieb einige Augenblicke lang überlegend stehen. Ein neuer Blitzschlag, dem ein entsetzliches, knatterndes Krachen folgte, verbreitete einen sehr bemerkbaren schwefeligen Geruch und gab den Gedanken des Wanderers eine schleunige Richtung.

»Das ist ein sehr schweres Gewitter! Ich muß nach Schutz suchen. Da, links droben, giebt es in dem Felsen eine Vertiefung, grad zureichend, daß ein Mensch sich bequem darinnen verbergen kann. Schnell hin zu ihr!«

Er stürmte unter den Bäumen hin, die er vor Dunkelheit kaum zu unterscheiden vermochte. Er sah dabei nur vor sich, weder rechts noch links. Da war es ihm, als ob er eine menschliche Stimme gehört habe. Er blieb stehen und lauschte. Wieder erklang es wie ein Ruf aus weiblichem Munde.

»Ist Jemand da?« rief er sehr laut.

»Ja! Hier, Hier!«

Es klang von links herüber. Er rannte dem Schalle nach. Da erblickte er unter einer hohen Buche, deren Gipfel alle anderen Bäume hoch überragte, eine weibliche Gestalt. Er sprang hinzu und faßte sie, ohne sie erst genauer zu betrachten, bei der Hand und zog sie mit sich fort.

»Um Gotteswillen! Sie stehen ja unter dem höchsten Baume der ganzen Gegend, das ist doch grad so, als ob Sie einen Blitzableiter in die Hände nehmen!«

Sie folgte ihm ohne Widerstreben. Kaum waren sie fünfzehn bis zwanzig Schritte von dem Baume entfernt, so schienen sie mitten in prasselnden Flammen zu stehen und es that einen Schlag, unter welchem die Erde erzitterte. Das Mädchen schrie laut auf und sank vor Schreck zu Boden. Auch Rudolf blieb stehen. Er war geblendet und hatte das Gefühl, als ob er die Füße nicht, bewegen könne. Stücke und Splitter von Aesten und Zweigen flatterten um sie herum. Er beugte sich über die an der Erde Liegende, daß sie von diesen gefährlichen Geschossen nicht getroffen werden möge. Dann wendete er sich zurück.

»Mein Gott!« rief er aus. »Sehen Sie, daß der Blitz in die Buche geschlagen hat, unter welcher Sie standen! Jetzt, jetzt wären Sie eine Leiche!«

Sie erhob das bleiche Gesicht und sah nach dem Baume. Er war auseinander gerissen. Die Theile lagen am Boden und Splitter weit umher.

»Mein Himmel! Sie haben mich gerettet!« sagte sie, die Hände vor das Gesicht schlagend.


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»Aber es regnet! Es gießt ja förmlich. Hier können wir nicht bleiben! Kommen Sie schnell.«

Er ergriff sie abermals bei der Hand, zog sie vom Boden auf und eilte mit ihr fort. Sie sah nicht, wohin er sie führte. Felsen thürmten sich vor ihnen auf, zwischen denen sie hindurchrannten; dann gab es einen freien Platz, welcher von fast gar keinem Baum bestanden war, an drei Seiten von Felsen umgeben und nach Westen steil in die Tiefe abstürzend.

»Kommen Sie! Hier links. Da hinein! Bücken Sie sich, damit Sie sich der Regenfluth nicht lange aussetzen, denn noch sind wir nicht sehr naß.«

Es gab da eine Aushöhlung in dem Steine, vielleicht fünf Fuß hoch, vier Fuß breit und ebenso tief wie hoch. Sie bückte sich, kroch hinein und setzte sich da nieder.

Der Regen konnte sie hier nicht mehr treffen. Sie war sicher. Aber die Blitze zuckten draußen nach allen Richtungen und der Schall des Donners schien durch die Felsen verstärkt zu werden. Das war gräßlich.

Ihr Retter war nicht mit herein gekommen. Wo befand er sich? Sie beugte sich vor und blickte hinaus. Neben dem Loche hatte sich ungefähr vier Ellen über dem Boden ein Brombeerstrauch in eine schmale Ritze geklammert und ließ seine dichten, blätterreichen Ranken von da herunterfallen. Da drinnen, im stacheligen Gedorn, stand Rudolf Sandau. Es war klar, daß er da nicht den gewünschten Schutz vor dem Regen fand.

»Warum bleiben Sie draußen?« fragte sie.

»Weil ich hier einen Regenschirm gefunden habe.«

»Er hat aber so viele Löcher, daß Sie vollständig naß werden!«

Der Schreck war überwunden und nun, da sie sich in Sicherheit befand, klang es bereits wie Scherz aus ihren Worten.

»Ich muß es darauf ankommen lassen,« antwortete er.

»Nein, das kann ich nicht zugeben. Kommen Sie mit herein!«

»Das ist unmöglich.«

»Ich sehe keine Unmöglichkeit.«

»Es ist ja nicht Platz für Zwei.«

»So rücken wir zusammen, da giebt es Raum genug.«

»Danke! Ich darf Sie nicht belästigen.«

Das klang so bestimmt, daß sie sich wirklich abweisen ließ und ihren vorigen Sitz einnahm. Bald aber schien sich die Macht des Regens zu verdoppeln. Schloßen fielen nicht mehr. Die Insassin der kleinen Höhle sah förmliche Regenbäche vor dem Eingange derselben vorüberrauschen. Da bog sie sich wieder vor und sagte in energischer Weise:

»Kommen Sie herein oder nicht?«

»Nein.«

»So mag auch ich nicht trocken bleiben. Entweder Beide geschützt oder gar Keins.«

Im nächsten Augenblick stand sie draußen neben ihm.


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»Um Himmelswillen, Fräulein! In einer Minute sind Sie naß wie ein Fisch!« warnte er dringend.

»Das will ich ja. Ich bleibe hier, außer Sie gehen mit hinein.«

»Aber -«

»Kein Aber! Ich befehle es. Kommen Sie!«

Jetzt ergriff sie seine Hand und zog ihn herbei.

»Nun, wenn Sie befehlen, so folge ich,« lachte er. »Aber wenn Ihnen ein Duett in zu enger Harmonie gesetzt ist, so bedenken Sie dann gütigst, daß nicht ich der Componist gewesen bin!«

»Bitte, ohne weitere Entschuldigung!«

Schon saß sie wieder drin, sich so weit wie möglich zur Seite drängend. Er nahm seinen Ranzen ab, kroch hinein und bat:

»Wollen Sie sich nicht dieses Möbels als Fauteuil bedienen, Fräulein?«

»Danke! Hier sind Alle gleich. Sitzen Sie an der Erde, so ich auch.«

»Sie sind eine ganz entsetzlich energische Dame. Ist Ihr Herr Papa vielleicht Generalfeldmarschall oder Spritzenführer bei der Feuerwehr?«

»Keines von Beiden. Ich bin sonst gar nicht so sehr willenskräftig. Aber da Sie nicht zugegeben haben, daß mich die Flamme des Blitzes verzehrte, so will ich nun auch nicht gestatten, daß Sie auf festem Erdboden ertrinken. Also kommen Sie hier neben mich.«

Er hatte nur am Eingange Platz genommen.

»Ich werde Sie sehr beengen.«

»Sie arger Widerstreber! Sehen Sie denn nicht, daß ich gern beengt sein will?«

»Nicht eher, als bis abermals ein wirklicher ernster Befehl erfolgt.«

»Nun wohl, so gebiete ich es Ihnen mit dem größten Nachdrucke!«

»Dann muß ich freilich gehorchen.«

Er rückte hinter und versuchte, neben ihr Platz zu finden. Es ging, aber wie! Sie saßen so eng neben einander, daß Beide die Arme nicht zu bewegen vermochten. Eine Weile hielt Rudolf das aus; als er aber dann fühlte, wie beschwerlich es auch ihr werden mochte, sagte er:

»Sie erkennen hoffentlich, daß nicht für zwei Personen voller Platz vorhanden ist?«

»O doch!«

»Gewiß nicht. Ich werde also Ihnen allein die Stelle überlassen.«

»Dann thue ich dasselbe wie vorhin: Ich gehe auch wieder hinaus! Sie bleiben ganz bestimmt hier!«

Er blieb, antwortete aber nicht. Als er aber dann doch merkte, wie gepreßt sie Athem holte, sagte er:

»Sie wollen eine absolute Unmöglichkeit zur Möglichkeit machen. Soll ich partout sitzen bleiben, so müssen wir unbedingt ein anderes Arrangement treffen.«

»Bitte welches?«

»Ich fürchte sehr, daß Sie nicht auf dasselbe eingehen werden.«


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»Ich gehe auf Alles ein, was unsere Lage zu erleichtern vermag.«

»Gut. Aber bitte, wenn ich einen Vorschlag mache, so mache ich ihn nur unter dem Drange dieser unangenehmen Umstände. Wie wir hier sitzen, so füllen zwei Körper und vier Arme die ganze Breite aus. Wenn ich aber einen Arm um Sie legen darf, und Sie legen einen um mich, so brauchen wir weit weniger Raum und sitzen in Folge dessen viel bequemer.«

Sie antwortete nicht. Er lauschte wohl eine Minute lang. Als sie auch da noch schwieg, fragte er:

»Nicht wahr, nun habe ich Sie beleidigt?«

»O nein!«

»Aber mein Vorschlag war so kühn, daß er beinahe an Beleidigung grenzte?«

Sie antwortete nicht gleich; dann aber meinte sie in einem heitren Tone, welchem man allerdings einen leisen Zwang anhören konnte:

»Sie haben Recht. Wir wissen nicht, wie lange Zeit dieser Regen anhält, und warum sollen wir auch gerade so lange eine qualvolle Stellung beibehalten. Wir befinden uns unter Ausnahmezuständen und dürfen also wohl eine Ausnahme machen.«

»Sie gehen also auf meinen Vorschlag ein?«

»Ja.«

Aber dieses Ja klang doch noch ein Wenig zaghaft und bedenklich.

»Sie können mir getrost vertrauen, Fräulein,« versicherte er. »Bitte, Ihren Arm!«

Er bog sich ein Wenig vor und fühlte dann, daß sie den Arm langsam und leise um seinen Leib legte.

»Immer fester, bitte! Ich bin nicht empfindlich für so geringe Schmerzen. Und nun gestatten auch Sie es mir!«

Als er seinen Arm jetzt um sie legte, fühlte er doch, daß ein schreckhaftes, widerstrebendes Zittern durch ihren Körper ging.

So saßen sie nun neben einander, still und unbeweglich wie Statuen. Das war fast noch schlimmer und unbequemer als vorhin. Er hörte wiederholt einen leisen Seufzer, den sie nicht zu unterdrücken vermochte.

»Sie fühlen sich noch immer unbequem, nicht wahr?« fragte er.

»Wir haben uns in nichts gebessert.«

»Daran sind wir selbst nur schuld. Wir haben die zwei Arme entfernt, wagen aber nicht, einander näher zu rücken. Haben Sie einen Bruder, mein Fräulein?«

»Nein - - doch ja!«

Diese Antwort befremdete ihn zwar; aber er machte keine Bemerkung darüber. Sie war bisher nicht gewöhnt gewesen, auf diese Frage mit Ja zu antworten, denn sie hatte ja erst gestern einen Bruder gefunden. Die junge Dame war nämlich keine Andere als - Milda von Alberg.

»Nun, wenn Sie einen Bruder haben, so wissen Sie auch, daß die Schwester sich nicht vor ihm zu scheuen braucht. Denken Sie einmal, Ihr


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Bruder säß an meiner Stelle hier neben Ihnen. Würden Sie sich dann so separat und abweisend verhalten?«

»Vielleicht nicht,« gestand sie.

»Nun, Sie haben befohlen, daß ich neben Ihnen sitzen soll; Sie müssen also auch die Consequenzen dieses Befehles mit Fassung tragen. Bitte!«

Sie rückte ihm wirklich ein Wenig näher.

»So! Lehnen Sie sich getrost fest an mich, und legen Sie Ihren Kopf auf meine Achsel, so wie Sie es bei einem Bruder ohne alle Scheu thun würden. Bitte, bitte!«

»Aber wenn - wenn - wenn -« stockte sie.

»Ich möchte kein Wenn und Aber hören.«

»Wenn - wenn Sie es mir nun übel nehmen?« warf sie in scherzendem Tone ein.

»Sie erkennen wohl selbst, daß es eine Unmöglichkeit ist. Wir sehen uns heut zum ersten Male, oder vielmehr, wir haben uns noch gar nicht einmal gesehen, da das in dieser Gewittersnacht beinahe unmöglich ist. Vielleicht werden wir uns auch nie Wiedersehen. Also ist gar kein Grund vorhanden, wegen irgend eines unmotivirbaren Bedenkens die Unbequemlichkeit noch länger zu ertragen.«

»Ich mag Ihnen nicht widerstreiten und will Ihnen mein Vertrauen schenken. Ist es so recht?«

Sie rückte jetzt ganz eng an ihn heran und lehnte auch das Köpfchen an seine Achsel.

»Ja, so ists recht, Fräulein. Ich danke Ihnen.«

Sie saßen jetzt so eng wie möglich an einander - zwei einander vollständig fremde Personen, sich mit den Armen umschlungen haltend und fast Brust an Brust. Das Gewitter hatte den festen Stamm der Buche zerrissen, hier aber zwei widerstrebende Menschenkinder vereinigt.

Es donnerte, blitzte und regnete noch immer ohne Unterlaß. War es draußen unter den Bäumen und zwischen den Felsen dunkel, so war es hier in der kleinen Höhle noch viel finsterer. Sie konnten sich wirklich nicht sehen, und wenn ja einmal ein vorüberzuckender Blitz sein grelles Licht hereinwarf, so war das nur für einen so kurzen Augenblick, daß es nicht hinreichte. Ueberdies wäre es ja unhöflich gewesen, dem sich ihm anvertrauenden Mädchen in einem solchen Augenblicke in das Gesicht zu sehen.

Und doch! Obgleich er noch keinen ihrer Züge kannte, hatte er doch die Ueberzeugung, daß sie schön sei. Ja, er begann bereits, als sie jetzt so still und wortlos neben einander saßen, sich ihr Bild in Gedanken auszumalen.

Da ihre Körper einander berührten, fühlten sie bald die Wärme derselben. Es war Rudolf, als ob ein heilkräftiger Strom von ihr zu ihm überfluthe. Er hatte ein Gefühl, wie er es in seinem ganzen Leben noch nie empfunden hatte. Es gab kein Wort, dasselbe zu bezeichnen, und keine Sprache, es zu beschreiben.

So hatten sie fast eine Stunde gesessen, sie an ihn gelehnt und er sich


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ohne Bewegung haltend, um ja nicht ihr Vertrauen zu verscherzen. Endlich wurde ihr das Schweigen zur Qual. Sie fragte:

»Nicht wahr, ich falle Ihnen schwer?«

»Nein, o nein. Ich wollte, ich hätte endlos solche Last zu tragen.«

Das hatte er nicht sagen wollen. Die Worte waren ihm ohne Controle entschlüpft. Sie schwieg, und er nahm dies als ein Zeichen ihrer Mißbilligung.

»Zürnen Sie mir?« fragte er.

»Wie könnte ich!«

»Es wär leicht möglich, meine Worte falsch zu deuten.«

»Ja. Leider meinen die Herren, bei jeder, aber auch bei jeder Gelegenheit galant gegen uns sein zu müssen!«

»Es war keine Galanterie. Ich sprach es aus der Seele.«

»So halten Sie mich für eine Last, welche - welche man nicht fortzuwerfen braucht?«

»Für eine Last, welche man ewig tragen möchte.«

»Ohne mich zu kennen! Ohne mich gesehen zu haben?«

»Ja.«

»Das ist kühn!«

»Vielleicht nicht. Ich habe nur die Umrisse Ihrer Gestalt gesehen; aber es ist mir, als ob ich Ihr Gesicht mit aller Genauheit zeichnen könne.«

»Das ist freilich unmöglich.«

»Es giebt Philosophen, welche sagen, daß die Seele nicht immer der körperlichen Augen bedürfe, um Etwas deutlich zu erkennen.«

»Leider bin ich kein Philosoph,« sagte sie heiter.

»Es soll sogar erwiesen sein, daß Seelen sich suchen und finden, bevor die Körper etwas davon wissen.«

»Das ist Metaphysik, von der ich auch nichts verstehe. Ich möchte aber wirklich wissen, welch ein Bild Sie sich von mir machen. Wollen Sie es mir einmal beschreiben?«

»Der Seltsamkeit wegen, ja.«

»Nun, Länge und Gestalt lassen wir unerörtert, da Sie Beides ja fühlen - - -«

»O, nicht so genau. Ich halte Sie, aber ich fühle Sie kaum. Was ich fühle, das ist so ätherisch leicht, daß ich befürchte, es verschwindet mir im Augenblick.«

»O bitte, hoffen Sie das nicht. Ich bin leider gezwungen, Ihre Geduld noch lange in Anspruch zu nehmen. Aber nun bitte, sagen Sie mir, welche Farbe mein Haar hat!«

»Sehr dunkelbraun, fast schwarz.«

»Das stimmt. Die Augen?«

»Groß, schwarz, mit langen aber nicht gar zu dichten Wimpern. Die Brauen sind fast ein Bischen zu hoch gewölbt.«

»Wie genau! Sie haben mich gesehen!«


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»Nein, wirklich nicht!«

»Die Nase?«

»Klein, nicht grad, aber auch nur mit einer ganz geringen, kaum bemerkbaren Biegung.«

»Auch das ist wahr. Der Mund?«

»Gewölbt, mit etwas vorstrebender Mitte. Die untere Lippe ist voller als die obere.«

»Sie erschrecken mich wirklich. Sie sind doch der wirkliche Geisterseher. Sie beschreiben mich ganz genau. Ich mag nichts mehr hören. Höchstens möchte ich Sie fragen, welchem Stande ich wohl angehöre.«

»Diese Antwort ist ungeheuer schwer zu geben. Meine Beschreibung war das Ergebniß eines gewissen instinctartigen Ahnungsvermögens. Um Ihnen aber zu sagen, welches Standes Sie sind, dazu gehört mehr. Da muß man Menschenkenner sein. Ich bin das nicht. In meinem Alter kann man es noch nicht sein. Aber fast bin ich versucht, Sie für die älteste Tochter eines höheren Forstbeamten zu halten.«

»Wie kommen Sie auf diesen Gedanken? Besonders zu der Ansicht, daß ich eine älteste Tochter sei?«

»Zunächst haben Sie mir so viel Energie und festen Willen gezeigt, wie man ihn eben nur bei ältesten Töchtern findet, welche die Herrschaft über die Jüngeren führen. Und sodann haben Sie so - hm, was denn nur? Ich finde den richtigen Ausdruck nicht. Ihre Stimme hat bei aller Energie einen so zarten, sanften, weichen Klang, daß ich Sie mir gar nicht ohne irgend welche Wesen denken kann, denen Sie täglich recht viel Liebes und Gutes erweisen - also wohl Geschwister.«

»Hm! Die älteste Tochter! Welches Alter geben Sie mir da?«

»Immer höchstens achtzehn.«

»So! Und warum soll ich eine Försterstochter sein?«

»Weil ich Sie mitten im Walde traf, allein, ohne alle Begleitung.«

»So haben Sie sich freilich in nichts weniger als in Allem geirrt.«

»Wirklich?«

»Ja. Ich bin blond. Man sagt sogar, daß mein Haar einen etwas röthlichen Schein besitze. Meine Nase ist ein spitzer Kuckindiewelt, und die Augen sind blaugrau. Alt bin ich - - hm, soll ich Ihnen wirklich die Wahrheit sagen?«

»Wenn es Ihnen keine Schmerzen macht, ja.«

»Zweiunddreißig.«

»Sollte man es denken!«

»Ja. Geschwister, nämlich jüngere habe ich nicht, aber wohl ältere, welche verheirathet sind, so daß ich sogar Tante bin. Gefällt Ihnen das?«

»Es kann nichts nützen, wenn ich es mir verbitte.«

»Da haben Sie Recht, denn ich würde trotz Ihres Einspruches doch eine alte Tante bleiben. Und da ich einmal so sehr aufrichtig war, Ihnen dieses


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Alles zu sagen, so kann ich Ihnen schließlich auch gestehen, daß ich nicht die Tochter eines Forstbeamten bin.«

»Ich hätte aber darauf wetten wollen, daß ich richtig gerathen habe.«

»Leider ist das nicht der Fall. Ich habe weder Vater noch Mutter mehr und bin ein ganz, ganz armes - - Kind, hätte ich beinahe gesagt, muß aber der Wahrheit gemäß gestehen, eine ganz, ganz blutarme Tante.«

»Sie scherzen. Ob Sie wohlhabend oder gar reich sind, darüber habe ich freilich nicht nachgedacht; aber daß Sie die Tochter eines wohlsituirten Hauses sein würden, das war mir über alle Gewißheit erhaben.«

»Da haben Sie sich eben getäuscht. Ich bin - - soll ich auch hier aufrichtig sein?«

»Ich bitte darum.«

»Ich bin - - eine arme, alte Nähterin.«

»Ich werde mir doch gestatten, dies zu bezweifeln.«

»Warum wollen Sie es nicht glauben?«

»Weil Ihre Ausdrucksweise eine solche ist, wie man sie nur in gebildeten Kreisen gewöhnt ist.«

Die sonst so ernste, bedächtige und zurückhaltende Milda war in diesem Augenblicke in einer Stimmung, wie sie eine solche noch niemals an sich beobachtet hatte. So neckisch und zum Scherz aufgelegt wie jetzt, hatte sie sich noch nie gefühlt. Die Situation, in welcher sie sich befand, war eine ganz außergewöhnliche; es war eigentlich ein Wagniß, einem so fremden Manne, in dessen Armen sie eigentlich lag, einen so leichten Ton hören zu lassen. Aber es lag in seinem Auftreten etwas so Vertrauenerweckendes, daß sie nicht die mindeste Sorge fühlte, er werde diese Situation ausnützen. Sie verfolgte den Scherz weiter, indem sie ihm antwortete:

»Wenn ich mich nicht so ausdrücke wie die Tochter eines gewöhnlichen Arbeiters, so ist eben daran nur der Umstand schuld, daß ich eine Nähterin bin.«

»Das begreife ich nicht.«

»Und doch ist es so leicht zu begreifen. Wir Nähterinnen kommen ja mit gebildeten Damen und feinen Familien sehr oft in Berührung, und da ist es gar kein Wunder, wenn irgend ein Ausdruck, irgend eine Redensart oder so etwas Aehnliches, gemerkt und dann später in Anwendung gebracht wird. Wir verfeinern uns, ohne daß wir es selbst merken.«

Sie lachte dabei so goldig hell auf, daß er in dieses wohlklingende Lachen einstimmen mußte. Doch meinte er:

»Ihre Art und Weise verräth aber gar nichts Angelerntes. Es ist ganz so und klingt auch ganz so, als ob es Ihnen so angeboren oder wenigstens anerzogen sei.«

»Meinen Sie? Nun, das beweist doch nur, daß ich sehr gut aufgepaßt habe, also daß ich eine ganz leidliche Nachahmerin bin. Aber nun seien Sie auch noch einmal aufrichtig, und sagen Sie mir, wie ich Sie zu nennen habe!«


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»Meinen Namen soll ich Ihnen nennen? Warum? Wollen wir ihn nicht lieber in Geheimniß gehüllt bleiben lassen?«

»Nein, dafür bin ich nicht. Es ist ein so beengendes Gefühl, mit Jemandem zu sprechen, ohne seinen Namen zu kennen.«

»Mich kann das nicht beengen.«

»So tragen Sie also kein Verlangen, den meinigen zu erfahren?«

»Nein.«

»Aber Sie müssen mich doch nennen! Es muß doch irgend ein Wort vorhanden sein, mit welchem Sie mich bezeichnen können!«?

»Das ist ja auch da. Ich nenne Sie sehr einfach >mein Fräulein< oder auch, wenn Sie es mir erlauben, >liebes Tantchen<. Sie haben ja gesagt, daß Sie Tante sind.«

»Aber Sie wissen doch wohl, daß keine Dame sich gern Tante nennen läßt, bevor sie wenigstens ihr fünfzigstes Jahr erreicht hat.«

»So nenne ich Sie also Fräulein.«

»Und ich Sie >mein Herr<? Das ist so unbequem. Sagen Sie mir also doch lieber Ihren Namen!«

»Eigentlich sollte ich es wohl thun; aber Sie kennen doch wohl die Strophen:

»Heilig achten wir die Geister,
   Aber Namen sind uns Dunst;
Würdig ehren wie die Meister,
   Aber frei ist unsre Kunst.«

Lassen Sie also den Namen verschwiegen bleiben!«

»Daraus schließe ich, daß Sie ein Künstler sind.«

»Ich will erst einer werden.«

»Hm! Darum haben Sie noch keinen Namen und können mir ihn also nicht sagen!«

»So ist es leider.«

»Nun, so will ich von meiner Bitte abstehen; aber Sie werden nun auch auf keinen Fall erfahren, wie ich mich nenne.«

»Ich wünsche gar nicht, es zu erfahren. Unsere Begegnung hat einen so romantischen Anstrich, daß ich meine, je mehr wir uns gegenseitig in das Geheimniß hüllen, desto hübscher wird die Erinnerung an dieses Zusammentreffen sein.«

»Jetzt werden Sie gar poetisch. Sind Sie etwa Dichter?«

»Nein.«

»Maler?«

»Auch nicht. Der Pinsel ist nicht meine Waffe.«

»Und dennoch Künstler! Also vielleicht Schauspieler oder Sänger?«

»Keins von Beiden.«

»Was für Künstler giebt es doch noch? Reit-, Fecht- oder Turnkünstler?«

»Das ist Kunst niederen Ranges.«


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»Hm! Baukunst! Sind Sie Architekt?«

»Ich will es werden.«

»So habe ich es endlich getroffen. Aber wenn Sie es erst werden wollen, so sind Sie noch jung, vielleicht gar noch Schüler. Seien Sie aufrichtig!«

»Giebt es nicht auch alte Schüler?«

»Gar wohl; der Mensch bleibt ja immer Schüler, da er bis an das Ende seiner Tage zu lernen hat, und - - Himmel!«

Sie fuhr erschrocken zusammen und schmiegte sich ganz unwillkürlich fester an ihn. Es hatte einen entsetzlichen Donnerschlag gethan, und der Blitz, welcher am Eingange der kleinen Höhle vorübergezuckt war, hatte einem großen Feuerball geglichen. Der Fremde hatte, als sie sich enger an ihn legte, seinen Arm fester um sie geschlungen, auch ohne Absicht, nur in dem unbewußten Gefühle, daß sie Schutz bei ihm suche.

So saßen sie eine ganze Weile still und eng an einander geschmiegt. Wie es bei solchen Donnerschlägen häufig vorzukommen pflegt, schien das Gewitter mit dem letzten Blitze seine Macht erschöpft zu haben. Es regnete nicht mehr; nur einzelne Tropfen fielen noch, und der Himmel heiterte sich schnell auf. Es wurde licht, so daß die Gesichtszüge der Beiden recht gut zu erkennen waren.

Daran aber dachten sie nicht. Sie blickten sich jetzt gar nicht an. Beide waren in Gedanken tief versunken.

Er fühlte sich ganz eigenartig erregt. Eine »arme, alte Tante« an seiner Seite! O weh! Und doch war es ihm, als ob er darüber recht sehr glücklich sein könne. Es ging von ihr ein seelisches Fluidum aus, dessen Wirkung er sich nicht entziehen konnte. Er mußte es auf sich einwirken lassen und hatte eine Empfindung, als ob es für ihn nichts Besseres zu wünschen gebe, als daß er stets, stets an der Seite dieser »alten Tante« verweilen dürfe.

Und sie, diese Tante - sie fühlte keineswegs die bedächtigen Regungen so einer bejahrten Muhme. Es ging eine wohlthuende, beglückende Wärme durch ihr Herz, fast ähnlich so, wie als sie ihrem Bruder erlaubt hatte, sie zum ersten Male zu küssen. Sie hätte ihr Köpfchen immer und immer an der Schulter dieses Mannes liegen lassen und immer, immer so wie jetzt seinen Arm um sich fühlen mögen - - - seinen Arm um sich fühlen! Das brachte sie zum Bewußtsein ihrer augenblicklichen Lage. Sie schrak auf. Er fühlte das und zuckte auch zusammen. Sich aus seinem Sinnen aufraffend, lockerte er den Arm, mit welchem er sie umschlungen hielt, und sie nahm ihren Kopf von seiner Achsel weg. Dabei trafen sich ihre Blicke.

»Ach!« sagte er. »Was Sie für eine alte, uralte Tante sind!«

»Nicht wahr!« antwortete sie unter einem halblauten Lachen, was ziemlich verlegen klang.

»Und blond sind Sie auch!«

»Nicht ganz!«

»Freilich. Sie sagten ja, daß Ihr Haar einen röthlichen Schein besitze. Das ist also nicht ganz blond. Ich erschrecke übrigens auf das Heftigste.«


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»Warum? Sie machen mir Angst. Was ist denn passirt?«

»Der Blitz muß meine Augen geblendet haben.«

»Herrgott! Ists möglich?« fragte sie, jetzt wirklich erschrocken.

»Ja, denn ich sehe Sie als eine sehr dunkle Brünette, während Sie doch eine Blondine mit rothem Haare sind.«

»Ach so!« meinte sie erleichtert. »Nun, ich gestehe, daß ich gescherzt habe.«

»Auch in Beziehung auf die Tante?«

»Ja.«

»Und in Beziehung auf die Arbeitersfamilie, aus welcher Sie stammen?«

»Da wohl kaum.«

»O doch. Bitte, geben Sie mir doch einmal Ihr kleines Händchen da! Sie tragen hier einen Ring mit einem Diamanten, welchen ich auf wenigstens tausend Mark schätzen muß. Die Arbeitersfamilie muß also eine sehr wohlhabende sein.«

»Deswegen nicht. Ich habe meine Ersparnisse in diesem Ringe angelegt.«

»Auf eine so unproductive Weise, welche keine Zinsen bringt? Das thut eine arme Nähterin niemals. Nein, nein, Sie haben mich in jeder Beziehung getäuscht, Sie sind etwas ganz Anderes, als wofür Sie sich ausgegeben haben. Sie sind - - -«

Er hielt inne und sah ihr mit so leuchtendem Blicke in die Augen, daß sie ihre langen, weichen Wimpern senkte.

»Nun?« fragte sie leise.

»Sie sind gar keine Tante, gar kein Mädchen, gar keine Dame - -«

»Etwas muß ich aber doch wohl sein.«

»Natürlich. Sie sind gar kein menschliches, gar kein irdisches Wesen sondern eine Fee, welche aus der Höhe herniedergestiegen ist.«

»O,« lachte sie fröhlich auf, »das ist ja recht sehr interessant für mich!«

»Für mich noch viel mehr.«

»Das bezweifle ich.«

»Und doch ist es wahr. Haben Sie bereits einmal von so einer Fee gelesen?«

»Nein.«

»Ach! Wirklich nicht? Sie scherzen!«

»Ich sage die Wahrheit. Wir Feen können ja gar nicht lesen. Bei wem sollten wir es gelernt haben?«

»Ach so! Ganz richtig! Nun, wenn Sie es noch nicht gelesen und gehört haben, so muß ich es Ihnen sagen, daß eine Fee stets nur in der Absicht, einen Sterblichen glücklich zu machen, vom Himmel steigt.«

»Und darum meinen Sie wohl jetzt, daß ich ganz dieselbe Absicht haben werde?«

»Ja. Ich bin vollständig überzeugt, daß Sie einen Sterblichen unendlich glücklich machen werden.«


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Er sagte dies im Tone so inniger Ueberzeugung, daß sie verschämt vor sich niederblickte. Er ergriff lind und leise ihr Händchen und fragte:

»Habe ich nicht Recht, Fräulein?«

»Nein.«

»O gewiß. So wie ich Sie da vor mir sehe, machen Sie ganz den Eindruck auf mich, daß Sie geschaffen seien, einem Manne das höchste Glück der Erde zu gewähren. Verzeihen Sie, wenn meine Worte einen etwas kühnen Klang haben; aber ich kann nicht anders; ich muß meine Ueberzeugung aussprechen.«

Sie blickte noch immer vor sich nieder. Sie befürchtete, daß er beim ersten Augenaufschlage das warme Licht ihres Blickes bemerken und auf sich deuten und beziehen werde.

»Zürnen Sie mir?« fragte er in besorgtem Tone.

»O nein,« hauchte sie. »Aber der Regen hat aufgehört. Wollen wir nicht gehen?«

»Müssen Sie fort? Müssen Sie?«

»Ja; man erwartet mich.«

»So darf ich Sie nicht bitten, noch einige Minuten zu verweilen.«

Er kroch aus dem Loche heraus und sie folgte ihm. Es fiel auch nicht ein einziger Tropfen mehr. Nur wenn der Windhauch durch die Zweige fuhr, warf er aus denselben die nassen Perlen zur Erde herab. Die Wolken hatten sich zertheilt, und die Sonne schien warm und strahlend auf die vom Gewitter erfrischte Erde nieder. Alles athmete neue Kraft und Erquickung.

Als jetzt Milda im Freien stand, von hellem Lichte der Sonne überfluthet, glich sie der Rose, welche im Gewitter das Haupt senkte, es aber nun wieder erhebt, um ihren Duft in die Lüfte zu verbreiten. Er mußte sich wirklich zwingen, sein Auge von dem süßen Bilde zu wenden, um seinen Cavalierspflichten zu genügen.

Er zog sein Taschentuch und stäubte sie ab. Scherzend nahm sie es ihm dann aus der Hand, um auch ihn von dem Staube der Höhle zu befreien. Er wollte dagegen Einspruch erheben, mußte es aber doch dulden.

»Und nun,« sagte sie, »geht es wohl an ein Scheiden. Nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, welche Richtung Sie einzuschlagen haben,« antwortete er.

»Das weiß ich leider selber nicht.«

»Wie? Ist das möglich?«

»Ja. Ich hatte mich verirrt, als Sie mich trafen.«

»Woher kamen Sie?«

Sie deutete von der Höhe in das Thal hinab, wo man die Gebäude von Hohenwald liegen sah.

»Ich war da unten in dem Dorfe, nicht allein sondern mit einer lieben, mütterlichen Freundin. Auf dem Rückwege hatte sie an einen alten Waldhüter einige Fragen zu richten. Sie begab sich nach seiner Hütte, und ich ging inzwischen langsam weiter. Ein Weg führte von der Straße ab. Ich glaubte,


Ende der zweiundvierzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

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