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ROBERT MÜLLER

Nachruf auf Karl May


Karl May ist tot, er hat ausgerungen, und man kann es kaum von einem zweiten mit soviel Sinnigkeit wie von ihm sagen, daß er ausgerungen hat. Denn sein Leben war wirklich jener ungeheure und absurde Riesenkampf, dessen konkretes und verweltlichtes Symbol seine Bücher reflektieren, war wirklich jener für den Skeptiker und Mittelmäßigen märchenhafte Old-Shatterhandsieg des Guten über das Böse. Und sein Leben war ein Abenteuer, gerade dort am abenteuerlichsten und exotischsten, wo wiederum der oberflächliche Sinnenmensch mit all seinem psychologischen Spürsinn nicht hindringt. Denn ein Old-Shatterhand der Seele, der die Spuren irdischen Menschentums mühelos als Symbole ihres höheren Daseins liest, weiß immer auch seine eigenen Spuren der Erfahrung zu verwischen. Daß keine anständige sittliche Kriegslust mehr auf der Welt ist und keine Indianerschläue sich mehr Mühe gibt, in das Innerste und Heiligste seiner Bildersprache einzudringen, ist seine menschliche Tragik innerhalb der Komödie des Dichters. Als Dichter war er ja ein Dichter, sein Talent hatte Rasse, er selbst hatte Künstlerblut und bekannte es herzensgerne ein, daß er ein Komödiant war, eine reiche Schöpfernatur mit je einer Form an den fünf Fingern seiner Hand. Aber alles Irdische ist nur ein Gleichnis, und das Unaussprechliche, er, der Symbolist der Aktion, er hats getan. Das Irdische, die Form, war ihm geläufig genug, um sein eigentliches Erlebnis, das Seelische, die Gottheit, den Glauben, darin auszusprechen. »Zu meinen letzten Tiefen«, hat er einmal in einem seiner zwanglos geistigen Gespräche geäußert, »ist noch kaum jemand gereist. Ich selbst war an Abgründen und Verräterspalten. Ich war an den Grenzen des Menschlichen - ich war in den Rocky Mountains, wo nur wenige waren: in den geistigen. Ich bin auf Pfaden geklettert. Und - all das ahnen sie nicht.« Sein Lächeln war


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damals milde und - schlaugut. Der Einsame kam sich reich vor in seinen seelischen Klüften und Bergen: er war einig mit seinen Menschlichkeiten, ein Glückstreffer, den nur die Schwergeprüften und die geistig Bereiften machen. Man könnte sagen, er hatte die geistvolle Bosheit der Güte. Gab er da ein anderesmal den Schlüssel zu seiner Exotik: »Sieh da das Bürgermeisterchen des Städtchens so und so. Ein verflixter kleiner Kerl, ein Scherwenzler und Pfiffikus, der mich an die Seele rührt. Ich mache ihn zum Scheich, sagen wir des berühmten Stammes der Schammar.« Er exiliert ihn in den ehrwürdigen Erdteil der Typen. Ach, es ist alles gleich unter dieser Tropensonne, und Europa ist mitten in Afrika, mitten im wilden Westen schon dagewesen. So denkt und empfindet ein Weltmann, er hat eine wahrhaftige all round-Seele im Leibe und pfeift besser denn eine transkontinentale Lokomotive auf den diversen, vollkommen erlebnisdesperaten Landschaftsimpressionismus. Das Exotische, das ist für abgelebte Dichter da oder so, das gibt es womöglich überhaupt nicht, es ist bloß eine fata morgana der Platzfurcht in großen Städten. Er nimmt mit kundiger Hand zyklische Vertauschungen von Namen vor, die fremde Sprache ist rein poetisch genommen dynamischer, es ist noch etwas Urhaftes in solchen Lautbildern, und wir sind dem Sanskrit näher, dem Staatsschatz der Poesie, in dessen Vokalen und Konsonanten noch ungeheure Instrumente und Waffen der Poesie aufgehoben sind. Da, wenn May sich auf diese Sprachelemente zurückzieht, dann hat ihm wieder sein dichterischer Genius geraten, sein geklärter Geschmack am Worte, am Material - und erst wenn dieses Verhältnis eines Schreibenden zu seinem Material klargestellt ist, dann ist, mag man immer sagen gegen ihn was man will, seine Berufung giltig geworden. Er bekommt das hochzeitliche Kleid der Sprache und darf an jede Tafel treten. Er kommt weit her, aus Urklängen, aber er ist's, er sieht sich ähnlich, man merkt, daß er nicht ein Zufälliger ist von der Straße. Intellektuelle Niveaus sagen nichts über Dichter aus, sowenig wie über Musiker oder Maler. In jedem Seelenklima wächst eine andere Pflanze, aber es ist natürlich vollständig falsch, eine Kunst als solche zu verneinen, weil man selber ihr nur ein Gartengeschirr sein könnte. Es ist schon so, May hatte den richtigen Prozentsatz von Aequator und Wendekreis in sich, ein Stückchen Ur- und Jägerahnung aus Vorzeit und Tropendasein. In der Kunst galt ihm das Selbstverständliche und ewig Gleiche, das


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Irdische, und er nannte es Ardistan. Der Gedanke aber war sein Abenteuer, für das er ein Bild suchte. Christus zog sich in die Wüste zurück, das geschah faktisch und symbolisch. Wenn May ins Morgenland geht oder unter diese merkwürdig menschlichen Rothäute, so heißt das, er reist ein Stückchen in die Humanität zurück, in die wirkliche Humanität; er repräsentiert die Technik, den Europäer, dieses phänomenale Mordinstrument, das fünfundzwanzigmal hintereinander losgeht, diesen Bärentöter, der alle räumlichen Distanzen deckt. Er ist auch ein Arsenal an europäischer Gescheitheit und Logik; aber er zeigt auch sofort, welche Schulden dieser technische Fortschritt im Grundbuch der Menschheit hat und wie diese Göttergabe der Sicherheit in den Händen eines Tölpels ein scheußlicher Irrsinn werden kann. Es ist gut, wenn einer sagt, daß die Maximalgeschwindigkeit eines Blitzzuges wichtiger ist als Gemüt. Es ist wichtiger, wenn einer sagt, daß Gemüt besser sei als ein Expreßzug, vorausgesetzt, daß man beide habe. Aber es ist weise, wenn's einer sagt, daß der im Expreß den wichtigsten Anlaß und die beste Zeit zum Gemüt habe. Karl May hat das gesagt. Ein Leben mit einem Henrystutzen ist eine famose Erfindung. Wir sind für den verrücktesten Amerikanismus, für das non plus ultra des Komforts und der Fixigkeit. Aber nur ein gutmütiger Kerl darf ihn in die Hand kriegen und nur ein absolut verläßlicher Mensch darf mit ihm hantieren. Das hat May in seinem Old Shatterhand gesagt, May, der Gemütsmensch und Heilige plus Amerikanist. In dieser Tendenz sind alle, zumeist die letzten Bücher Mays geschrieben. Gewissermaßen moralisch instruktiv wie das Märchen, das dieser Meister der Phantasie als höchste Kunstgattung eingeschätzt hat. Seiner Phantasie mit ihren ethischen Hintergründen bot es die breitesten Möglichkeiten, seine absolut produktiv und positiv veranlagte Natur, die zu allem, auch zum gewöhnlichen Erlebnis, die anekdotische Form mühelos konzipierte, lebte sich nach ihrer artistischen Seite hin in diesem Wortsystem aus. Märchen sind alle diese ungeheuren epischen Gebilde, die er während seiner fünfzigjährigen Produktion geschaffen hat, und eben weil es Märchen sind, ziehen sie ihn wieder in die sprachlichen Geheimnisse morgenländischer Dialektik, aus der ja alle Literaturen der Welt ihren nunmehr alten Adel ableiten, zurück. Ein wunderbares, dem Psychologen interessantes Schicksal verbindet ihn und seine symbolische Erlebensart mit dem Märchen. May, ein blinder Knabe in


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den ersten Jahren des Weltlichtes, empfing keinen anderen Eindruck von dem Leben ringsum, als die tönenden Hauche der Märchen, die ihm aus Großmutters Munde kamen. Eine unerhörte Pracht des Seins entfaltete sich ihm in bloßen Worten, zu denen er keine realen Vorstellungen beitragen konnte. Er sah nicht Gestalten, denn er war blind, er sah Seelen - und doch nicht, er hörte Seelen. Aus diesen Schlüpfen seines Gehirnes, aus diesen Geheimnislanden seiner Blindheit kam ihm die große Fabulierlust und der Trieb zum sinnreichen Klang, zugleich aber auch der religiöse Schauer, der ihm das heute wohl etwas verbrauchte Wort Seele zu einem mit irgendwelcher Sensation zu packenden Fetisch machte. In dieser Kindervergangenheit eines Verinnerlichten, auf sich selber Konzentrierten blüht uns Heutigen mit dem welken Gedächtnis ein Verständnis auf, und eine zarte Rührung führt uns an das Grab des Knabengreises. Denn ein Knabe war er in seinem Drange nach Bessersein, das ganze Leben noch wollte er in seine schon bis oben mit Sorge, Qual und Arbeit vollgestauten siebzig Jahre pumpen. Er hat es ja selbst in seinem Wiener Vortrage, dieser großen Konfession eines Tapferen, gesagt, er hielt sich nicht für reif, nicht als Mensch, nicht als Künstler. Er hoffte, noch Jahre zu leben und ungestört von Feinden sein großes Schlußwerk zu schreiben. »Am Jenseits« heißt eines seiner letzten Bücher. Es spielt »an Grenzen«, sagte er einmal. »Mit dem nächsten, paßt auf, komme ich dann hinüber. Es wird heißen: »Im Jenseits.« - Und nun ist er wirklich hinübergekommen, genau dorthin, wo er herkam, fort in die Blindheit, zurück zum puren Märchen, in seinen Typus, in seine »Seele« zurück, wie er es nennen würde. Sein Wort, das so schön aus seinem schönen Mannsgesicht kam, klingt uns nach, und nun, da er tot ist, werden wir wohl auch sein tönendes »Ich« als Symbol, als plötzlich sichtbar gewordenen und dann verschwundenen Klang begreifen lernen. Nun sind ja wir so gut wie blind, da wir ihn nicht mehr sehen, gewiß, in bezug auf das Objekt, auf den Menschen sind wir so gut wie blind. Sein Tod macht uns innerlich, und da ist es, wir hören seine gute weise Seele erzählen. Denn die Weisheit war mit ihm. Weisheit aber ist nie fade und getragen, sie lächelt, sie lacht und flicht an bunten Sachen lehrreiche Beispiele ein. Die Weisheit ist immer und ewig amüsant, schlau, lustig und ein wenig mit der Bosheit der Güte befreundet - just so wie Karl May es gewesen ist.

(»Fremden-Blatt«, Wien. 3. 4.1912)


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