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BERTROLD VIERTEL

Für Karl May



Als der geschmacksreinigende Ingrimm dazu geführt hatte, daß der alte Karl May sich Jugendunsinne, die er durch ein langes unbescholtenes Leben ausführlich genug widerlegt hatte, im Gerichtssaal vorhalten lassen mußte, da dachte ich an die Untergymnasiasten, die jetzt über ihren vergötterten Karl May so üble Dinge in der Zeitung lesen konnten. Und ich beneidete die Anti-May-Leute nicht um ihren Erfolg. Von den phantastischen Verfehlungen des halbwüchsigen Wirrkopfes gar nicht zu reden - aber man warf ihm Pornographie vor! Pornographie, die er als armer Teufel um des Geldes willen anonym geschrieben, geschrieben, noch ehe er sein wahres Talent entdeckt hatte! Man versuchte sein Christentum, das in seinen Büchern nicht gerade geschmackvoll, aber immerhin gutgemeint und wahrscheinlich auch gutgeglaubt sich breitmachte, als Gesinnungsschwindel zu entlarven. Man beschuldigte ihn des Plagiats, weil er für seine Landschaftsschilderungen fremde Reisebücher ungeniert verwertete. Anschuldigungen, die gerade den heldenverehrenden Untergymnasiasten stutzig machen müssen, während sie das reifere Urteil nicht so rasch bewältigen.

Ich finde alle diese Vorwürfe in dem Kampfartikel wieder, den Herr Dozent Stephan Hock in dem vorigen »Strom«-Heft schrieb, diesem immerhin merkwürdigen unsentimentalen Nachruf, den ein für die gute Sache streitender Pädagoge dem toten Karl May antut. Die Argumente überzeugen mich auch diesmal nicht. Und wieder muß ich an die Untergymnasiasten denken, welche vielleicht diesen Artikel gelesen haben, nicht, weil er von einem Herrn Professor war, sondern, weil er sich mit der Person ihres einzigen, wahrhaft geliebten Karl May befaßte. Und wieder kann ich den Pädagogen um seine Wirkung nicht beneiden.

Man muß vielleicht Jugendbildner sein, um den Haß gegen May mit


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fühlen zu können. Man muß von einer geradezu fanatischen Unduldsamkeit gegen Pornographie und Kolportageroman beherrscht sein. Man muß die Indianerbüchel hassen, weil sie vom Lernen abhalten. Man muß die eigene Kindheit vergessen haben und keine Dankbarkeit mehr in sich verspüren für Freuden, wie sie nur den Kindern und den Kindlichen beschert sind.

Damit ich kein Mißverständnis erzeuge: ich will durchaus nicht Pornographie und Kolportageroman, diese kulturlosen Genußmittel wenig wählerischen erwachsenen Geschmacks, mit den besseren Indianerbüchern und Reiseromanen, den lieben und geliebten Phantasiehelfern der Kindheit, durcheinanderwerfen. Diese Bücher entsprechen ganz organisch der Bubennatur, wie der Herrgott sie geschaffen. Die Welt mit lauter altklugen sanften Heinrichen bevölkern, die schon in kurzen Hosen echte Literatur konsumieren, wäre eine höchst peinliche Utopie. Als die Griechen als Volk noch jung genug und der Natur noch nahe genug waren, hieß ihr großer Dichter Homer, dessen »Ilias« stofflich eine täuschende Verwandtschaft mit dem »Lederstrumpf« und dem »Winnetou« haben, mit jenen Büchern, die den Buben nach dem Sinn geschrieben sind. Man könnte auch von der »Ilias« behaupten, sie sei für unreife Gemüter eine Art Verbrecherschule. Auch dort wird das physische Heldentum mit Detailkenntnis verherrlicht und in Grausamkeiten geschwelgt. Knaben, die den Beruf zu zukünftigen Messerstechern in sich fühlen, könnten, durch die »Ilias« geschult, Hektor und Achill nacheifernd, einander versuchsweise die Kehle abschneiden. Während die große Menge den allbekannten Kampf ums Leben späterhin nicht mit Speer und Tomahawk, sondern mit den mehr geistigen und unblutigen Waffen unserer Zeit zu führen pflegt. Jeder Mensch erlebt noch einmal den ganzen Weg der Menschheit, die Kinder halten bei den Naturvölkern, und ob sie nun an den altdeutschen Göttern und Helden, an der griechischen Mythologie oder an Lederstrumpf und Karl May sich begeistern - es bleibt dieselbe Art, die ihnen entspricht, und es hat im großen ganzen keine Gefahr damit.

Es scheint mir sogar segensvoll, daß mancher Junge über den May-Büchern mit heißem Kopf und heißem Herzen die Schulaufgabe vergißt. Er übt sich auch hier, er lernt, wenn man schon überall den Lehrzweck sehen will. Er berauscht sich an Mut und Hochherzigkeit, er schwelgt in


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der kaltblütigen Tat, der erfinderischen List, er genießt die Spannung des Abenteuers, den Reiz exotischer Welten. Ich bin überzeugt davon, daß diese Freuden die junge Seele ausbilden. Aber wenn es auch nur Freuden um ihrer selbst willen wären, sie sind so köstlich, so reich, daß man sie in der kärglichen Glücksbilanz des Menschenlebens nicht missen wollte. Und daß es, an diesem Maß gemessen, wenig verschlägt, wenn etliche Jünglinge durchfallen oder durchbrennen oder gar schlechte Sittennoten abkriegen. Übrigens tun sie das alles auch ohne Karl May, aus eigenster Initiative.

Die Bücher Karl Mays gehören zu den wenigst grausamen der Gattung. Sie predigen Menschenfreundlichkeit, sie verkünden eine praktische Güte, die sich bei aller religiösen Schönrederei wirklich an die freundlichen Instinkte wendet. Und sie sind relativ ganz ausgezeichnet geschrieben. Wenn es May an erfinderischer Kraft, an Erzählertalent gefehlt hätte, seine Bücher würden nicht in Millionen Exemplaren verschlungen, gelesen und immer wieder gelesen werden. Daß die Buben Karl Mays Gestalten so innig lieben, mit ihnen wie mit Allgegenwärtigen umgehen und sie im Leben nicht mehr vergessen, beweist doch wohl, daß es Gestalten sind, wenn auch nicht Gestalten im künstlerischen Sinn der Erwachsenen. Auf seine Leser wirkt May zweifellos als Dichter, der er irgendwie auch ist. Ein Nichtdichter konnte nie die Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand schildern, nie die Person des Winnetou erfinden, nie das Vorwort zum Winnetou, dieses wirklich schöne Klagelied vom Untergang der indianischen Rasse, schreiben. Daß Herr Dozent Hock sich bei der Karl-May-Lektüre langweilt, glaube ich ihm sofort. Und es beweist mir nur, daß er längst aus jenem unwiederbringlichen Paradies vertrieben, das die kindliche Phantasie heißt. Aber vielleicht sollten sich Pädagogen, um gute Pädagogen zu sein, einige Erinnerung auch an dieses überholte Stadium bewahrt haben.

Karl May hat im Ich-Ton erzählt, er hat dem Haupthelden die eigene Person unterschoben, und hat so die Produkte seiner Phantasie dem Gefühl der Jugend und allen Jugendlichen überhaupt so greifhar nahegebracht. Die Leser w o l l t e n an ihren Old Shatterhand glauben, wollten seine Reisen und Abenteuer wahr wissen. Und wenn er dann, diesem bestechenden Herzensbedürinis seiner Gemeinde nachgebend, mit Flinten und Photographien und Briefen und anderen Flunkereien


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unhaltbare Wahrheitsbeweise schuf, so scheint mir das eine ebenso unschuldige und im Grunde liebenswürdige Lüge, wie daß er sich Doktor nannte. Honorig, im Sinne erwachsener, würdiger und beamteter Leute klingen diese Dinge ja nicht. Aber es ist höchst überflüssig, dilettantisch und unpädagogisch, hier Klarheit zu schaffen und statt des schönen Glaubens ein häßliches Wissen zu erzwingen.

Zugegeben, Karl May flunkerte. Er schnitt auf, er erzählte Märchen, und die Märchen, die er über sein Leben erzählte, waren lukrative Märchen. Das Schrifttum sollte ihm's nicht neiden. Und die Pädagogik sollte ihn den jungen Herzen nicht vergällen. Er hatte die große Naivität eines Erzählers, der den noch phantasiegläubigen, werdenden Menschen blaue Wunder vormacht, in aller Gutartigkeit. Er war vielleicht selbst ein großes Kind und glaubte sich selbst, log so sehr aus dem Vollen, daß er selbst mitglaubte. Es wäre ihm zuzutrauen. Denn er log famos, er log mit angeborenem, unerschöpflichem, bezauberndem Talent. Er log so genußvoll, daß wir nicht umhin können, heute, wo die erwachsenen Sorgen uns beim Genick halten, ihm dankbar zu sein für die prachtvollen, sorglos schwelgenden Stunden dereinst.

(»Der Strom«, Wien, II, 3 - Juni 1912)


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