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RUDOLF KURTZ

Offener Brief an Karl May



Sehr geehrter Herr!

Gestatten Sie mir, dessen Namen Sie zum ersten Mal hören, diese Zeilen öffentlich an Sie zu richten. Aber ich mag nicht schweigen, wenn eine Kohorte grinsender Kulturträger ihre persönliche Reinlichkeit dadurch zu dokumentieren sucht, daß sie ein mühevoll erjagtes Opfer mit seiner Vergangenheit stückweise abschlachtet. Ich mag aus meiner Jugend die Helle nicht fortwünschen, die edele Aufregung von großen und guten Menschen, die Sie in sie hineingetragen haben. Der enthusiasmierte Bewunderer Old Shatterhands berauscht sich heut in aller Öffentlichkeit an den tropischen Träumen Johannes V. Jensens, stiehlt sich heimlich mathematische Ekstasen bei Conan Doyle: aber den Rausch aus der Jugend vergißt er nicht. Mein Lehrer war jener gute Professor Freytag, Ihr begeisterter Lobredner, und als er einst eine Karte, die er aus Ceylon von Ihnen erhalten hatte, für das beste Extemporale versprach, habe ich mich mitten im Semester zu einer mehrstündigen häuslichen Vorbereitung hinreißen lassen. Schließlich habe ich sie doch nicht bekommen - nur von weitem neidisch bewundert.

Und nun stellt man fest, daß Ihre Vergangenheit eine dunkel bewegte war. Mit sittlichem Pathos verkündet man, daß Sie einige Jahre vom deutschen Reich in wenig angenehmer Weise in Anspruch genommen worden sind. (Verzeihen Sie den Hinweis, zu dem mich nur die Absicht des Folgenden zwingen konnte.) Und welche Konsequenzen zieht man daraus? Gestatten Sie mir, Ihnen meine Bewunderung auszudrücken, daß so viele schwere Jahre nicht die Kraft geraubt haben, solche Bücher zu schreiben, daß literarische Frondienste schmählichster Art Sie nicht zu dem gemacht haben, was aus jedem Anderen - wenn er es überstanden hätte - einen verbitterten, haßerfüllten, von Rachebedürfnis


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zerwühlten Menschen gemacht hätte! Ich begreife die ungeheure Festigkeit eines Individuums kaum, das nach schrecklichen Martern lichte, von keinem bitteren Wort entstellte Bücher schreiben konnte. Und was beweist ein Giftmord gegen eine gute Prosa, äußert selbst die offizielle Paradoxie Oskar Wildes. Was bedeutet überhaupt die Vergangenheit gegen die Tatsache eines Schaffens, dessen Spannungen mich zu einer Höhe des Entzückens getrieben haben, die mich noch heute in der Erinnerung mit einem warmen Schauer des Entzückens überschwärmt!

Und wenn Sie keins der von Ihnen beschriebenen Länder gesehen haben - was beweist das? Baudelaire entlud die verschwiegensten Tiefen seiner Kunst in Schilderungen tropischer Reize, und seine Kenntnisse der Wirklichkeit übertraf die Erfahrung eines kurzen, fiebernd verbrachten Tages nicht. Und wenn alles nur eine durch die Landkarte korrigierte Vision ist: so pfeifen Sie auf die jammervolle Entrüstung bourgeoiser Ethik, die Produkte phantastischen Schaffens mit dem Reisepaß nachprüft. Ich habe die Sensationsromane, die unter Ihrem Namen laufen, gelesen: und wohl ist manches in den abertausend Seiten mit Mitteln hervorgebracht, die der entrüstete Rezensent sich nur in der raffinierteren Form sudermannischen Schaffens gefallen läßt - aber ich will den Wirbel nicht vergessen, in den sie mich gerissen haben, und wenn er aus dem jämmerlichsten Fusel entstanden wäre. Ihre Reisebücher haben sorgfältig alle jene trüben Elemente ausgeschieden, und wie quittiert Mr. Knownothing? Mit schreiend erhobenen Händen und gurgelnden Kassandrarufen!

Es ist eine peinliche Gesellschaft, in deren Nähe man sich begeben muß. Und die Atmosphäre in Fäulnis übergegangenen Moralins, die sie umgibt, reizt empfindliche Nerven. Aber man muß objektiv sein. Man muß untersuchen, was Ihre Bücher bedeuten.

Ihre Romane enthalten, was jeder Mensch von weniger differenzierten Bedürfnissen einfach als Ergänzung seines farblosen Seins braucht: das Fresko der Gestalten und Vorgänge. Jene unkritische Größe der Leistung, die einem noch wenig verfeinerten Instinkt allein als Ideal erscheint. Und hier reiht sich die Religiosität ein, die Ihnen freidenkerscher Fanatismus - Gebete in Pantheistengehrock und weißer Weste - angesichts jener Vergangenheit mit tiefer Entrüstung ins Gesicht speit. Der gleiche Fanatismus, der die Bekehrung eines wüsten Antisemiten


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zum hemmungslosen Demokraten jederzeit mit Jubelgeheul zu begrüßen geneigt ist. Auch mir ist jene sentimentale Frömmigkeit wenig sympathisch: aber ich wage nicht, Ihnen das Recht auf eine eigene Ansicht zu bestreiten, wo ich mir das Recht zu einem Privatleben von jedermann ausdrücklich ausgebeten haben will. Und wie empfinden die Leser Ihre Religiosität? Viele Tränen hat mich Winnetous Tod gekostet, viele mitleidige Erinnerungen des armen Carpio Schicksal. Aber diese meinetwegen katholische Sentimentalität wird gleich der übertriebenen Leistungsfähigkeit Ihrer Gestalten als Dekoration, als Ideal empfunden und wie jede Affizierung des Gefühls freudig und teilnehmend miterlebt. Nur die Torheit grober Volksaufklärer - hassenswerter brutaler Gehirne - vermag zu übersehen, daß Ihre Bücher Volksbücher, Jugendschriften sind.

Und gestatten Sie mir noch, Ihnen zu bemerken, daß ich die Qualitäten Ihrer volkstümlichen Lyrik wohl zu beachten weiß. Nicht ohne Sehnsucht denke ich an die dumpfe Knabenmelancholie, die mich überfiel, als ich die Schilderung eines Abends in einer Oase in einem Ihrer Bücher las, wo in einer still begrünten Landschaft mit flächigem mondbestrahlten Gewässer schattenhafte Klänge und Gestalten fließen, die mir heut noch, nach mehr als einem Dutzend Jahren, leicht und zart im Gehirn schweben:

                  Noch treibt die Fanna heimatlos
                  Auf der bewegten Flut,
                  Wenn auf dem See gigantisch groß
                  Der Thalla Schatten ruht.

Ich habe sicher die Namen entstellt. Aber nehmen Sie mit dem guten Willen vorlieb. Gestatten Sie mir nur noch, die ungewohnte Bescheidenheit zu rühmen, die einen Schriftsteller von umfassender Popularität veranlaßt, in einer fachlichen Notiz seine Werke mit dieser ruhigen Geste inäquater ästhetischer Kritik zu entziehen: Schrieb: Zahlreiche figürliche Reiseschilderungen als Vorstudien für seine eigentlichen Werke.

Der dekorativ beabsichtigte Scheiterhaufen plötzlichen entflammten Kulturfanatismus läßt sich gleichmütig ertragen. Und ich bitte, Ihnen herzlichen Dank sagen zu dürfen für einen Genuß, den ich aus meinem


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Leben nicht ausgeschaltet wünsche. Ob die - hier als wahr - unterstellten Behauptungen zutreffen oder nicht, kann nur zur Charakteristik Ihrer Gegner interessant sein. Mir ist es höchst gleichgültig.

Ich bitte Sie, sehr geehrter Herr, diese Zeilen einer Erbitterung zugut zu halten, die nur durch den elenden Moralismus einer sonst wahrhaftig nicht zu ernsten sittlichen Erwägungen geneigten Gesellschaft so provoziert werden konnte, unerbetne Zeilen an einen Unbekannten zu veröffentlichen.

                                  Ihr ergebener
                                             Rudolf Kurtz.

Nieder-Schönhausen, im April 1910

(»Der Sturm«, Berlin, 12. 5. 1910)


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