//171//

HEINZ STOLTE

Ein Literaturpädagoge ·

Untersuchungen zur didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch »Die Sklavenkarawane«, 1. Teil



1.  E i n  D i l e m m a  d e r  L i t e r a t u r p ä d a g o g i k

   »Vor dem Wiener Schwurgericht hatte sich der neunzehnjährige Diener des portugiesischen Gesandten Hermann Sch. wegen Betruges zu verantworten, weil er einen Scheck auf den Namen des Gesandten gefälscht und den eingesetzten Betrag von 7000 Kronen bei der Anglo-Österreichischen Bank zu erheben versucht hatte. Der Angeklagte gab an, er sei durch die Lektüre von Reisebeschreibungen, insbesondere der Schriften des Karl May, angeregt worden, auf Reisen zu gehen und Abenteuer zu erleben. Die Türkei war schon lange das Land seiner Sehnsucht, dahin wollte er reisen, mit Räubern kämpfen und Prinzessinnen befreien. Dazu kam, daß seine Eltern sich in größter Not befanden. Er selbst sei seit seiner Jugend krank, leide oft an Schwindel und an Bewußtseinsstörungen. Der Angeklagte entwickelte bei der Verhandlung seine absonderlichen und phantasievollen Pläne. Verteidiger: ›Was für Abenteuer wollten Sie denn sonst noch mitmachen?‹ - Angeklagter: ›Alles, was mir gerade untergekommen wäre, gerade so wie Karl May, der erzählt auch von so vielen Abenteuern, und die hat er alle allein bestanden. Was er kann, das hätte ich auch gekonnt.‹ - Die Psychiater, die den Angeklagten untersucht hatten, gaben ihr Gutachten dahin ab, daß die Phantasie des Angeklagten durch die Lektüre der Mayschen Romane überreizt sei.«

   So konnte man es schon im Jahre 1907 im »Dresdner Anzeiger« lesen, und der Kriminalpsychologe Erich Wullfen hat den Bericht für bemerkenswert genug gehalten, ihn in sein damals aufsehenerregendes Hauptwerk »Psychologie des Verbrechers« wörtlich aufzunehmen. (1) Ihm diente er im Zusammenhang seiner Analysen zur Dokumentation des


//172//

»Begehrlichkeitsaffekts« in seiner Variante als »Abenteuersucht«, insofern diese als ein mögliches Motiv zu kriminellen Handlungen angesehen werden könne. Zugleich freilich bezeugt sich in dem hier wiedergegebenen Text ein geradezu typisches Verfahren, das bei der Beurteilung von Wert oder Unwert der Bücher Karl Mays von zahlreichen kritisch eingestellten Literaturpädagogen seitdem immer wieder praktiziert worden ist. Berichte wie der obige aus dem Bereich von Kriminalprozessen gegen Jugendliche werden gerne herangezogen, um die verheerende Wirkung anzuprangern, die von der Lektüre solcher Abenteuerbücher wie derjenigen Karl Mays auf heranwachsende junge Menschen ausgehen müsse. Seither ist mit einer nicht abreißenden Energie auf dieser Linie der Argumentation immer wieder erbittert gestritten worden, und »es gibt«, wie es in der Karl-May-Sondernummer der vom »Volkswartbund« herausgegebenen Zeitschrift »Concepte« heißt, »kaum eine Jugendbuchtagung, auf der sich Pädagogen und Bibliothekare nicht zur Stellungnahme für oder gegen Karl May gedrängt sehen. Für viele ist Karl May zum Eckstein ihres Berufsethos geworden«. (2)

   Die Deduktionen, die auf der Basis einer naiven, gewissermaßen »linearen« Psychologie dazu dienen sollen, literarische Texte nach ihrer vermuteten (positiven oder vor allem negativen) pädagogischen Wirkung auf Leser, nach ihrem literaturpädagogischen Wert zu beurteilen, sind dabei immer die gleichen. Sie setzen voraus, daß literarisch dargestellte Stoffe, Handlungen, Motive im Leser sich sogleich in Leit und Wunschbilder umsetzen, die auf Verwirklichung durch eigenes Verhalten oder Handeln drängen. Der Leser wird, was er liest. Und vor allem der Jugendliche, dessen seelische Entfaltung unter den bildend-erzieherisch relevanten »Erlebnissen« und »Begegnungen« in bestimmte Richtungen gedrängt werde, unterliege der Faszination des Literarischen auf eine Weise, daß die früh erfahrenen psychischen Prägungen die Verhaltensweisen des ganzen späteren Lebens bestimmen, gleichsam programmieren müßten. Die Lektüre phantastischer, abenteuerlicher, exotischer oder romantisch-irrealer Erzählungen müsse daher zur Verstörung, Verwirrung, zum Verlust des Realitätssinnes führen, zur Entstehung illusionärer Wunschbilder und Zielsetzungen, und damit zur Lebensuntüchtigkeit oder gar, wie in unserm zitierten Beispiel, zu kriminellen Handlungen. Literarisch dargestellte Verbrechen gar, Ge-


//173//

walttaten, handgreifliche Tätlichkeiten, Schlägereien oder womöglich die Darstellung ganzer Schlachten müsse zur Folge haben, daß der jugendliche Leser - wegen des psychischen Zwanges zur Nachahmung - zur Brutalität, zum Gewaltverbrechen getrieben werde.

   Diese Problematik und die hier angedeutete Art, sie aufzufassen, gehen ja über die Karl-May-Diskussion weit hinaus ins Grundsätzliche, und jüngste Erörterungen über die einschlägigen Unterhaltungsprogramme der Fernsehanstalten (3) führen sie uns in neuerlicher Abwandlung vor Augen. Auch ist das Schreckbild des literarisch Verrückten schon vor Jahrhunderten überlebensgroß in die Weltliteratur eingegangen, in jenem Don Quijote de La Mancha, der nach der Auffassung seines Schöpfers Cervantes durch den unablässigen Genuß abenteuerlicher Ritterbücher so vollends um seinen gesunden Menschenverstand gekommen ist, daß er gegen Windmühlen und Viehherden zu Felde zieht. Ein mahnendes Beispiel! Und etwas wie das Narrentum des Don Quijote, wenn nicht Schlimmeres, schwebt den getreuen Eckarten vor Augen, die uns seit sieben Jahrzehnten so eifrig vor dem Lesegenuß Mayscher Phantasieprodukte warnen. Was die Jugendlichen betrifft, offensichtlich mit sehr geringem Erfolg.

   Aber wer wollte das leugnen, daß mit den Reisen Karl Mays etwas nicht ganz in der Ordnung ist. Es geht nicht immer mit rechten Dingen darin zu, es ist nicht ganz geheuer damit. Wie denn auch? Da sitzt ein »sehnsüchtiger Spießbürger« (so Ernst Bloch (4)) in seinem Dresdner Studierzimmer, blättert in ein paar geographischen und ethnographischen Werken, zieht ein paar Wörterbücher zu Rate, fährt mit dem Finger über exotische Landkarten und tischt der erstaunten Welt seine (seine!) Erlebnisse in Dutzenden von dickleibigen Reisebüchern auf. Imaginäre Reisen in eine imaginäre Welt. Er war nie dort! Er saß vielmehr in den Jahren, in denen seine Reiseerlebnisse spielen sollen, verwahrt in sächsischen Strafanstalten, sieben sehnsüchtige Jahre lang. Und was er in diesen sieben Jahren getan hatte, geübt hatte und immer wieder geübt, das tat er nicht anders auch weiterhin: Träume spinnen, Wünsche erdichten, Fernen ersehnen, und »alles ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will«. (5)

   Eine Literatur der Illusionen mithin, die der Realität ermangelt? Ver-


//174//

führung Unmündiger demnach zu einem falschen, erlogenen Weltbild? So ist die Meinung der kritischen unter den Literaturpädagogen. Aber nicht nur dies -, da ist jener fatale Schmetterer, der - wohl Hunderte von Malen - die Probleme mit Fausthieben löst in all diesen Büchern. Und man zählte nur, wieviele Tote es gibt im »Winnetou«, im »Old Surehand«! Man hat solche Zählungen veranstaltet, ist auf erkleckliche Zahlen gekommen, eine schauerliche Statistik der Brutalität und der mathematische Beweis dafür, wie sehr solche Bücher zur Gewalttätigkeit verleiten müssen, wie sehr sie die niedersten Instinkte provozieren. Fand ich doch jüngst in der »Sklavenkarawane« die erschröckliche Rekordzahl von annähernd fünfhundert Toten auf einer einzigen Druckseite, der Seite 488! (6) Das sollte genügen! Und fügt man gar hinzu (was seine Kritiker nicht müde werden zu betonen), daß Karl May der Lieblingsschriftsteller Hitlers gewesen sein soll, so rundet sich das Bild vom Jugendverderber. Das Anathema ist ihm sicher.

   Doch da wird nun eine Gegenrechnung aufgemacht, die (nicht weniger als ins Debet dieser Buchführung) nachweisbare Fakten ins Kredit schreiben kann. Und alles was Recht ist -, ist denn dieser Schmetterer, den die Scheelsüchtigen als einen üblen Schlägertyp denunzieren möchten, nicht vielmehr ein Reisender in Humanität? Will er nicht immer das Gute und siegt nicht denn auch immer das Gute durch ihn? Über Räuber und Tyrannen, über Kidnapper und Sklavenjäger, über Heuchler und Gottesleugner, über Ausbeuter und Indianerschinder. Ein Rächer der Enterbten, ein Tröster der Witwen und Waisen, eine Hoffnung der Unterdrückten, Entwicklungshelfer und Friedensfreund, ein Feind aller Kolonialisten und Imperialisten. Und dabei so fromm, so christlich! Doch immer tolerant, den Koran ebenso ehrfürchtig zitierend wie die Bibel. Züchtig und asketisch (freilich, er raucht gerne!) reitet er durch Wüsten und Savannen, ein Ritter gegen Tod und Teufel, ja ein Gottesstreiter, der in die Legenda aurea eingehen könnte. Dabei zugleich, wie Otto Forst-Battaglia so hübsch gesagt hat: »Turnvater Jahn und Tarnvater John« in einer Person. (7) Ein Vorbild und Leitbild!

   So sagen die einen, doch es bleibt nicht aus, daß die andern das Minus dem Plus entgegensetzen: Eben diese Figur, so sagen sie, ist die gefährlichste Verführung. Weder siegt immer das Gute in der Welt der Wirklichkeit (und da haben wir eben das verlogene Weltbild wieder), noch


//175//

ist eine solche Lichtgestalt, ein solcher Übermensch in ihr überhaupt möglich. Kindlich-kindische Leser, die sie als real akzeptieren, verlieren den Boden der Tatsachen unter ihren Füßen. Und wie denn überhaupt: hat er nicht vorgegeben, selber dieser Heros zu sein, »Ich«, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi? Hochstapelei und Betrug!

   Nun, sagen seine Verteidiger, da mag Wunschtraum und Märchen im Spiele sein, Dichterlizenz und Camouflage, aber den Boden der Tatsachen, den verlieren wir in seinen Büchern nicht. Sie sind vielmehr voll von verläßlicher Information, sie sind Lehrbücher der Geographie und Völkerkunde, Schatzkammern der Folklore; und Tatsache ist, daß Millionen gestandener Männer heute unter uns sind, die, was sie vom Orient, vom Islam, von Arabern, Türken, Kurden, vom Lande der Skipetaren, von den Schluchten des Balkan, den Cannons und Wüsten Amerikas, von Indianern und Gauchos wissen, eben von Karl May gelernt haben, und die, so oft ihnen das Fernsehen den Orient von heute zeigt, mit Emphase ausrufen: Schaut her, noch genau so wie bei Karl May!

   Positionen und Gegenpositionen wie die hier aufgezeigten lassen sich aber, durch sieben Jahrzehnte der Diskussion, in einer schließlich ermüdenden Monotonie der Argumente aufzeigen. Was dokumentiert sich hier? Nichts anderes als das große Dilemma einer Literaturpädagogik, die den erzieherischen und bildenden Wert jugendlicher Lektüre vom Text her und mit den Methoden rein literarischer Analyse und Kritik testen zu können vermeint. Die große Verlegenheit, in der sich freilich nichts anderes offenbart als die Unzulänglichkeit der Methode selbst, zeigt sich am Beispiel Karl Mays nur besonders kraß - obgleich sie auch an anderen Objekten exemplifiziert werden könnte -, weil der Widerspruch der Argumentation und der daraus gezogenen Schlüsse so leidenschaftlich und oft kompromißlos vertreten worden ist. Die einen verdammen, die andern empfehlen ihn, und indem sich auch politische Ideologien der Sache angenommen haben (der Nationalsozialismus einst und der Kommunismus heute - mit übrigens ihrerseits widersprüchlichen Voten!), hat sie erst recht nichts von ihrer Brisanz verloren. Es scheinen sich dabei vielmehr die Argumente der früheren Literaturpädagogen geradezu umzukehren: Was als positiv galt in guten alten Zeiten, das Christliche in diesen Büchern, muß den


//176//

Marxisten als suspekt erscheinen, und was einst als gefährlich galt, das Abenteuerliche und Kraftmeierische, ward von nazistischen Ideologen als vorbildhaft gepriesen.

   Was soll man nun sagen? Was für richtig halten angesichts der unbezweifelbaren Tatsache, daß beide Parteien in dieser Jury, die May-Freunde wie die May-Gegner, für ihre Art der Bewertung ihre Argumente schwarz auf weiß aus den literarischen Texten vorweisen können? Es  g i b t  dies alles in der Phantasiewelt Karl Mays, es  g i b t  das Verbrechen, die Grausamkeit, den Sadismus, die Kraftmeierei, die irrealistische Hybris, und es gibt auch das andere: Christlichkeit, Humanität, Güte, Toleranz, Antirassismus und Friedensliebe, und während auf einer vordergründigen Bühne der Gazetten und Diskussionstribunale auf dieser Grundlage weiter gestritten wird, ist inzwischen doch einer klarer sehenden und die Probleme schärfer fassenden Literaturpädagogik aufgegangen, daß dergleichen oberflächliche Bestandsaufnahmen zu keinem gültigen Werturteil über einen Schriftsteller führen können. Nicht einmal Beispiele wie das von uns anfangs zitierte, und ließen sie sich noch so sehr häufen, könnten ausreichen, ein Gesamturteil über die Wirkung von Büchern zu fällen, denn wie der Aphoristiker Lichtenberg schon gesagt hat: »Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es gibt einen hohlen Ton, dann muß es nicht immer das  B u c h  gewesen sein.«

   Was gemeint ist, deutet eben auf das Dilemma einer jeden Literaturpädagogik, die da meint, ihre Rechnung ohne den wirklich Betroffenen, den Lesenden, den jugendlichen Konsumenten der hier gemeinten Literatur aufmachen zu können, oder die uns von ihm eine Modellvorstellung suggerieren möchte, die den wahren psychologischen Tatbeständen keineswegs entspricht. Nicht allein von der Textanalyse her sind die Grundfragen der Literaturpädagogik zu erhellen, sondern erst unter Beiziehung der sicherlich sehr differenzierten Problematik einer tiefer ansetzenden Literaturpsychologie. Die Psychologie literarischer Wirkungen ist hier gemeint, und ehe man sich nicht völlig klar darüber ist, wie denn die Aufnahme literarisch geformter Phantasie durch den Lesenden (oder Hörenden bzw. Schauenden) überhaupt vor sich geht, welche Funktion das literarische Erlebnis in der Psyche des Erlebenden hat (oder nicht hat), auf welche Weise das aufgenommene Phantasiegebilde


//177//

jeweils in die existenzielle Wirklichkeit des Betroffenen hineinspielt, in seinem eigenen praktischen Verhalten (oder nicht hineinspielt), ehe diese Aspekte nicht klar und befriedigend zur Sprache gekommen sind, bleibt alle literaturpädagogische Aussage hypothetisch.

   Wir fragen also: Wie wirkt Literatur und was bewirkt sie? Hierbei allerdings wird sich zeigen, daß die Aussagen, die eine - wie wir es nannten - »naive« oder »lineare« Literaturpädagogik glaubt machen zu können, auf eine mehrfache Weise modifiziert und relativiert werden müssen.


2.  D e r  S p i e l c h a r a k t e r  d e s  L i t e r a r i s c h e n

   Da wäre zunächst die notwendige Besinnung darauf, was Wolfgang Kayser den Spielcharakter der Literatur genannt hat. (8) Wer nämlich deduziert, daß - um bei unserem Beispiel zu bleiben - Karl May in seinen Büchern unter anderem ja von Menschen und Taten berichte, die es in Wirklichkeit nicht geben könne, daß er auch Wunschträume, Machtphantasien und Idealwelten zeige, die als illusionär gelten müssen, und daß eben deshalb dem lesenden Knaben das falsche Weltbild infiltriert werde, so daß dieser arme Don Quijote nun als Narr oder Verbrecher durchs fernere Leben laufe, der geht doch von der Vorstellung aus, daß der jugendliche Leser eo ipso jegliches literarische Phantasiegebilde für plane Wirklichkeit und bare Münze nehme. Aber dem ist nun ganz und gar nicht so. Das Gegenteil ist der Fall. Der Knabe, der zum »Winnetou« greift, tut das vielmehr gerade deshalb, weil er sich auf Stunden der planen Wirklichkeit, dieser muffigen Welt der Schularbeiten, entziehen und in die spielhafte Freiheit der reinen Phantasie versetzen will. Daß dies eine Nicht-Wirklichkeit ist wie die, in die man eingeht, wenn man Räuber und Gendarmen spielt, daß Bücher dieser Art etwas »Ausgedachtes«, etwas zum Zeitvertreib, zur Unterhaltung »Erfundenes« sind, dies begreift der gesunde Menschenverstand auch eines Zwölfjährigen, ja, er setzt es voraus, noch ehe er zum Buch greift, denn wäre es anders, würde er im Buch die gleiche plane und alltägliche Wirklichkeit vermuten, wie sie ihn ohnehin umgibt -, er würde gewiß nicht erst nach dem »Winnetou« oder der »Sklavenkarawane« verlangen.


//178//

   Das Märchenhafte, illusionäre, Uneigentliche einer literarisch vorgespiegelten Welt ist also nicht ohne weiteres und gewissermaßen naturgesetzlich eine Verführung Unmündiger, vielmehr im Normalfall nichts anderes als ein Phantasiespiel, von dem man weiß, daß es das »ganz andere« darstellt, das man vielleicht - in freiem Nachgestalten - ins Indianerspielen hineinnimmt, nicht aber in den »Ernst des Lebens«.

   Im Normalfall. Im Fall des »gesunden Menschenverstandes«. Denn der Mensch ist, wie Huizinga gelehrt hat, ein homo ludens schon seiner Gattung nach (9), vor allen anderen Wesen also zum Spielen begabt, dem Spielerischen im geistigen Überbau aller Kultur als seinem menschlichsten Wesenselement geöffnet und eben deshalb auch fähig, das Uneigentliche vom Eigentlichen, Phantasie von Wirklichkeit, Literatur vom Leben zu unterscheiden und nicht blindlings Fiktion und Faktum, Spaß und Ernst zu verwechseln. Ja, man braucht nicht einmal geradezu ein homo ludens, ein Mensch zu sein, um dies zu vermögen. Man beachte nur, wie junge Hunde, junge Katzen miteinander spielen, wie sie mit dem Anschein grimmigster Entschlossenheit aufeinander einstürmen, miteinander balgen und kämpfen, und dabei dennoch einander kein Härchen krümmen. Sie spielen. Sie wissen Spiel und Ernst sehr wohl auseinanderzuhalten. Wieviel mehr also der junge Mensch, der spielende und der lesende Knabe! Was Märchen ist in seinem Buch, was Wunschtraum und Wunderland - und also leider, leider durchaus nicht zu finden in aller planen Wirklichkeit, aber auch, was beherzigens-, nachahmenswert darin ist, was man davon mitnehmen kann in das eigene Wagnis künftigen Lebens, dies beides voneinander zu sondern bei aller Lektüre, ist jeder, der normalen Geistes und mit einer mens sana begabt ist, sehr wohl in der Lage. Pädagogische Pedanten, Puristen der Literaturpädagogik, haben also durchaus unrecht, wenn sie fordern, es dürfe im Jugendbuch nur ja nichts vorkommen, was nicht im Leben - und zwar im ordentlichen, bürgerlichen, moralisch ausbalancierten - gegeben sei. Und ist nicht gerade dies die Ursache davon, daß so viele nach sorgfältigem erzieherischen Rezept erklügelte »Jugendbücher« bei ihrem Publikum durchfallen, während die großen Fabulierer, wie Karl May einer war, in der Gunst der Jugend unerhörte Triumphe feiern?

   Wir haben gesagt, das sei im Normalfalle so. Und damit ist angedeutet, daß es nicht immer so sein muß. Es gibt natürlich die Fälle, von


//179//

denen der eingangs zitierte Bericht uns ein Beispiel vor Augen geführt hat - falls die ganze Geschichte mit Karl May darin nicht eine bloße Schutzbehauptung des Angeklagten gewesen ist, denn ohnehin waren damals alle deutschen Zeitungen eifrig mit jener Hetze gegen den Jugendverderber Karl May beschäftigt. Wie dem auch sein möge, es gibt die Fälle von Fehlverhalten, die Don Quijotes, die Ausreißer, die Tunichtgute, die Phantasten, die, was sie lesen, für bare Münze halten und Old Shatterhands Abenteuer und Omnipotenz in die Wirklichkeit umzusetzen versuchen. Es sind die Fälle eines pathologisch gestörten Seelenlebens, eines beschädigten Verhältnisses zu ihrer sozialen Umwelt, ihrer existentiellen Wirklichkeit. Solche verworrene Karl-May-Schwärmerei - aber auch das Erwachen daraus im hellen, realistischen Licht des Erwachsenwerdens hat uns ja Leonhard Frank in einem berühmt gewordenen Roman dokumentiert. (10) Die Grundfrage jedoch lautet: Wurde Don Quijote so verwirrt, weil er Ritterbücher las? Oder ließ er sich von Ritterbüchern verführen, weil er so verwirrt war? Wurde der Diener des portugiesischen Gesandten zum Phantasten und Scheckfälscher, weil er Karl-May-Bücher gelesen hatte, oder wirkten diese Bücher auf ihn nur deshalb so, weil er ein labiler Phantast war?

   Man sieht, was gemeint ist. Auf den Kopf kommt es an, der mit einem Buch zusammenstößt, und vom isolierten Text eines Buches her läßt sich im Grunde gar keine Aussage über dessen vermutliche Wirkungen machen. Das unmoralischste Buch kann die moralischsten Wirkungen haben, wenn der Kopf danach ist. Gewiß - Hitler war ein Karl-May-Leser (wenn das nicht eine bloße Sage ist) - aber es sind Karl-Marx-Leser, die im zeitgenössischen Deutschland Kaufhäuser anzünden, Banken ausrauben, Bomben legen und Menschen ermorden. Sind das nun Bombenleger,  w e i l  sie Karl Marx lasen? Nein -, was immer sie gelesen haben mögen, das Gelesene ist höchstens ein beiläufiger Anlaß, ja, ein Vorwand, Destruktionstriebe zu betätigen, zu denen sie durch Milieuschäden und Erziehungsfehler, durch charakterliche Labilität und geistigen Defekt (auch Fanatismus ist ein geistiger Defekt), durch ein pathologisch gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit jedenfalls, wie immer es existentiell bedingt ist, zwanghaft gedrängt wurden.

   Was ein Buch also bewirkt, hängt nicht nur vom Buch ab, und alle bloß literarischen Buchkritiken von Literaturpädagogen sind insofern


//180//

Hypothesen im luftleeren Raum. Die pädagogische Aufgabe liegt (wie sollte es anders sein?) vor allem anderen im Menschlichen und Personalen. Ihm, dem jungen Menschen, wenn es nötig sein sollte, das Verständnis dieses Spielhaften aller Literatur zur rechten Einsicht zu bringen, seinen Wirklichkeitssinn zu schärfen und zu entfalten, dies - wie überall in der Erziehung und Bildung junger Menschen - ist die erste und grundlegende Aufgabe des Literaturpädagogen, wobei es denn weniger (oder gar nicht) um Ausübung einer präzeptoralen Zensur über den Lesestoff als vielmehr um kluge Beobachtung dieser Lektüre und eine begleitende Lese- und Lebenshilfe geht. Nicht allein auf das Buch, das er gerade in der Hand hat, kommt es in erster Linie an, sondern auf das gesamte geistige und soziale Lebensgefüge dieses jungen Menschen, aus dem heraus er liest. Einsichtsvolle Literaturpädagogen haben dies denn auch sehr wohl schon erkannt, so Karl Ernst Maier in seinem für die hier angeschnittene Problematik grundlegenden, die Argumente sorgsam wägenden Buch »Jugendschrifttum«. Wenn auch er den jungen Menschen Karl-May-Bücher möglichst nicht in die Hand geben möchte, weil sie, wie er meint, bei ihnen geradezu alle andere Lektüre verdrängen (was ich nicht glaube), so weiß er doch, daß es bei der vermutlichen Wirkung solcher Abenteuerbücher auf sehr komplexe und differenzierte innere und äußere Umstände ankommt: »Die Verantwortung für die Folgeerscheinungen dieser Art ((gemeint ist der Konflikt mit der eigenen Wirklichkeit)) trägt nicht die Abenteuerliteratur schlechthin. Die individuelle Anlage des Lesers, die Beschaffenheit seines Familienmilieus, die Atmosphäre in Schule und Beruf, die Berufswahl, der Einfluß der Kameraden bereiten den Boden für Fehlhaltungen und Fehlhandlungen. Das Lektüreerlebnis gibt dann noch den letzten Ausschlag.« (11)

   Indessen - alle Grundwahrheiten der Pädagogik sind seit jeher antinomischer Natur. (12) Die Kehrseite der Sache ist eben denn doch das Buch. Eben weil der heranwachsende junge Mensch Weltkenntnis und Lebenserfahrung zu erwerben sich erst anschickt, ist alles Literarische für ihn natürlich auch immer Information über diese Welt und dieses Leben. Echte Information von unrealistischer Fabuliererei zu unterscheiden, muß aber selbstverständlich dann umso mehr erschwert werden, wenn der Autor eines solchen Buches es etwa - listigerweise oder bös-


//181//

willig - darauf angelegt hätte, das moralische Urteil oder den Wirklichkeitssinn seines Lesers zu täuschen, zu pervertieren. Wir meinen, wie es vorkommt, daß uns da das Verbrechen als schick (Bonnie und Clyde), Grausamkeit als heldisch (Comics), Perversion als Freiheit (de Sade) präsentiert wird, aber auch, daß Unmögliches als möglich und wirklich, Phantastisches als Tatsache gelten soll. Was nun das erste betrifft, jene Verdrehung ethischer Postulate in ihr Gegenteil durch Verherrlichung des Negativen, das, was man gemeinhin »Schundliteratur« nennt, so kann im Falle Karl Mays kein Zweifel darüber sein, daß er in dieser Beziehung in all seinen Büchern den Pfad der Tugend nicht verlassen hat. Insofern wird denn auch heute kein einsichtiger Pädagoge, wie es wohl in der Vergangenheit geschehen ist, mehr ein Veto gegen ihn einlegen. Problematischer ist sein Fall jedoch, was sein eigenes Verhältnis zur Wirklichkeit betrifft, seinen eigenen Wirklichkeitssinn und seine Neigung, selber Fiktion und Faktum nicht auseinanderzuhalten, ja, die Grenzen zwischen beiden absichtlich zu verwischen. Natürlich ist es erlaubt, ist es ein völlig legitimes und oft praktiziertes Mittel des Erzählers, Romanhaftes im Ich-Stil zu gestalten, und man muß nicht erst auf Dantes »Göttliche Komödie« hinweisen, um es zu rechtfertigen. Nichts anderes als eine solche poetische Fiktion sind natürlich die Ich-Erzählungen Karl Mays in den meisten seiner Bücher. Allein der Fall ist ambivalent. Das phantastische Kind, das er zeitlebens gewesen ist, blieb nicht bei dieser bloß literarischen Fiktion. Als sein Ruhm im Lande anschwoll, die begeisterten Leserbriefe, die Huldigungen einer weiten Öffentlichkeit über ihn hereinbrachen, als er bemerken mußte, daß so viele ihn denn doch wörtlicher genommen hatten, als er es gemeint hatte, da ließ er diesen Sturm von Begeisterung mit Behagen in seine Segel blasen und das Narrenschiff seiner Phantasie davon ins Blaue und Imaginäre hinaustreiben. Stein und Bein schwor er allen, die es von ihm wissen wollten, in Briefen und Interviews, daß er alles, wovon er als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi berichtet habe, auch wörtlich und wirklich so erlebt habe. Es sei die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit. Er wäre ja der größte Dichter aller Zeiten, wenn er die Gabe besäße, sich dies alles auszudenken. Wenn man so will, kann man also ihn selbst, den Autor Karl May, als ein Musterbeispiel dessen ansehen, wovon hier die Rede ist, des gestörten Wirklichkeitssinns, der


//182//

sich durch Faszination des Literarischen zu Narretei und Lebenslüge verführen läßt. Hier sogar: Faszination durch das  e i g e n e  literarische Produkt! Aber wie wir es gesagt haben, so gilt es auch hier, in diesem wahrhaft kuriosen Fall, daß man den ganzen Drang und Druck seiner Umstände, die Existenznot des Armeleutekindes und ehemaligen Zuchthäuslers in Rechnung stellen muß, um zu begreifen, welche wahrhaft unwiderstehliche Verführung es für ihn gewesen sein muß. Der Traum sollte Wirklichkeit, seine Wirklichkeit, diese gehetzte, geduckte, verkümmerte Misere, ein bloßer Angsttraum gewesen sein. Da griff er mit beiden Händen zu und drückte die Chimäre an sein Herz. Es mußte böse enden, und es endete auch so. Und das alles war mehr als eine listige Notlüge, war nicht berechnendes Spiel, sich ein »image« zu geben, aus Werbegründen eine »life-story« aufzubauen. Es war Verfallenheit ans eigene Phantasiereich, angeborene Labilität, Traumgängerei und Seelennot des »Pseudologen« (13), der sich der Grenze zwischen Wahrheit und Lüge nicht bewußt ist, sofern nicht die harte, grausame Wirklichkeit ihn unsanft daran erinnert. Das tat sie denn auch.

   Widersprechen wir uns, wenn wir sagen, daß dennoch das Werk dieses Phantasten keine Gefahr für jugendliche Leser darzustellen braucht? Wir widersprechen uns nicht, denn wir sagten es schon: der Fall ist ambivalent. Denn anderseits sehen wir denselben Autor so ernsthaft und gewissenhaft bemüht, ein verläßlicher Lehrer seiner Leser zu sein (14), mit Akribie und Sorgfalt die Ergebnisse ethnographischer und anderer Forschung zusammenzutragen, aber auch, der ethischen Problematik seiner so abenteuerlichen Konflikte im Sinne von Humanität und Toleranz gerecht zu werden. Daß er dabei ein kluger, ja, ein hervorragender »Didaktiker« gewesen ist, dies zu erweisen, wird uns die genauere Analyse seines Jugendbuches »Die Sklavenkarawane« alsbald die Gelegenheit geben. Überhaupt bedarf es, wenn vom »Jugendbuchautor« Karl May die Rede sein soll, einer notwendigen Unterscheidung. Durchaus nicht sind so pauschal  a l l e  seine Bücher als Jugendliteratur anzusprechen, wie das nach einer mehr oberflächlichen Betrachtungsweise vielerorts geschieht. Er schrieb die meisten seiner Bücher für Erwachsene, und gewiß sind die problembefrachteten Spätwerke (wie »Ardistan und Dschinnistan«) nicht eine Lektüre für Knaben im Abenteueralter. Ebensowenig waren die Bücher der Orientreise (»Durch


//183//

die Wüste« u.s.w.) oder etwa der »Winnetou« speziell als Jugendliteratur gedacht. Daß sie es dennoch wurden, geschah ohne Absicht ihres Autors. Hingegen schrieb Karl May 1887 bis 1896 für den »Guten Kameraden«, eine Knabenzeitschrift, die Kürschner angeregt hatte, acht größere Erzählungen, die nun in der Tat als Jugendliteratur gemeint waren. Sie allein sollten eigentlich herangezogen werden, wenn vom Jugendschriftsteller Karl May gesprochen wird. Es sind die folgenden: »Der Sohn des Bärenjägers« (1887), »Der Geist des Llano estacado« (1888), »Khong-Kheou, das Ehrenwort« (später »Der blaurote Methusalem«; 1888)«Die Sklavenkarawane« (1889) »Der Schatz im Silbersee« (1890), »Das Vermächtnis des Inka« (1891) »Der Ölprinz« (1893) »Der schwarze Mustang« (1896). (15)

   Von ihnen hat Hans Wollschläger mit Recht geurteilt: »Mit Fleiß und Energie widmet er sich den Beiträgen, die ausgesprochen »Schriften für die Jugend« sein sollen: belehrend, ohne trocken zu sein; spannend, ohne allzusehr ans Oberfläche kunterbunten Zeitvertreibs sich zu halten; »jugendfrei« auch, in jedem Sinne; kurz das, was ihm nach bestem Wissen erzieherisch scheint ... Ihre Wahrheit bleibt die der Märchen. Doch kommt (und eben darum vielleicht) den 8 Erzählungen ... das Maß klassischer Leistung zu: noch heute gehören sie unverändert zu den guten Büchern, die Kindern in die Hand zu geben wären.« (16) Am Beispiel der »Sklavenkarawane« soll dies im weiteren Verlauf unserer Untersuchungen getestet werden. Vorerst aber und im Zusammenhang mit jener fatalen Neigung, die der Schriftsteller in seinem persönlichen Verhalten während dieser gleichen Zeit an den Tag legte, die Grenze zwischen seinen exotischen Märchen und seiner wirklichen Biographie zu verwischen, ist hier ein höchst bemerkenswerter Umstand hervorzuheben. Überall sonst hat Karl May, wo er Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi in seinen Reiseromanen erscheinen ließ, im Ich-Stil erzählt (und ohne Zweifel eben dabei das pseudologische Rollenspiel aufs innigste genossen), aber niemals in seinen Erzählungen für die Leser des »Guten Kameraden«. Der Umstand ist sehr auffällig, und er wird noch heute gelegentlich von knabenhaften Lesern mit Erstaunen, auch mit Enttäuschung wahrgenommen. Auch daß diese beliebte Figur (wie im »Blauroten Methusalem« und in der »Sklavenkarawane«) überhaupt ausbleibt, gereicht seinen »Fans« gelegentlich zu einigem Verdruß, bis


//184//

sie sich hineinfinden, daß ein anderer die Starrolle des Helden übernommen hat. Der Sinn dieses Verfahrens aber ist ganz eindeutig. Hier, wo er sich als Lehrer, als Erzieher am Werk fühlte, wo der Didaktiker in ihm gefordert war, wo er Verantwortung für die jugendliche Psyche übernommen hatte, hier wußte er jene Grenze, von der wir gesprochen haben, sehr wohl sichtbar zu machen. Das Märchen ward als Märchen, die Geschichte als bloße literarische Fiktion deklariert, und damit jeder Verwechselung im voraus ein Riegel vorgeschoben. Es ist, wie man noch sehen wird, nicht das einzige Mittel der erzählerischen Technik, das er zu diesem Zweck einsetzte; mancherlei Verfremdungseffekte dienen (in der »Sklavenkarawane« z. B.) dem gleichen Anliegen. Der Übergang vom Ich-Stil zum Er-Stil geschah also nicht einfach aus bloßem Instinkt für das Rechte, sondern aus wohlerwogener Absicht des Literaturpädagogen.


3.  I m i t a t i o  u n d  K a t h a r s i s

   Noch bleibt einiges Grundsätzliche vorauszuschicken, was bedacht werden muß, um etwaige vorschnelle Urteile in Sachen der Literaturpädagogik zu berichtigen. Will man mögliche Wirkungen literarischer Texte auf jugendliche Leser erwägen, so kann uns dazu natürlich nicht die stets künstlich herbeigeführte Situation, wie sie im Deutschunterricht bei der Behandlung von Dichtungen vorliegt, als Modell dienen, sondern allein das literarische Leben gleichsam in freier Wildbahn. Was läßt Menschen zu Büchern, zu Romanen, Erzählungen, Novellen greifen? Warum lesen sie solche Bücher? Niemand - oder kaum einer - liest Romane, um etwa »erzogen« zu werden, um sich einem Literaturpädagogen auszuliefern, der ihn gängeln oder bessern wollte. Jeder tut's einzig und allein seines Vergnügens wegen. Wer sich kein Vergnügen, keine Unterhaltung, keine ihn fesselnde Spannung davon verspräche, würde kein Geschichtenbuch in die Hand nehmen - und nur die Berufskritiker machen bekanntlich eine Ausnahme, ohne aber immer (wie man auch weiß) wirklich zu lesen, was sie kritisieren.

   Literarisches Vergnügen ist freilich von besonderer Art. Was uns fesselt und unterhält, was uns in Spannung versetzt, ist die uns vom Text ermöglichte Teilnahme an menschlichem Leben und Treiben, dem,


//185//

was man »Schicksal« nennt. Von Menschen wollen wir lesen, wollen miterleben, was sie selbst zu erleben haben, mit ihnen fühlen und denken, leiden und handeln, mit ihnen zusammen fürchten und hoffen, untergehen oder siegen. Literarisches Bedürfnis, das den Leser zum erzählenden Buch greifen läßt, ist also existentieller Natur. Das Vergnügen besteht vor allem anderen (etwa dem ästhetischen Genuß am schönen Stil und dergleichen) darin, daß die enge, beengende Schranke, die unsere eigene Individualität und der Raum unseres Alltäglichen und Gewohnten uns unerbittlich setzen, in befreiendem Fluge der Phantasie, auf den uns das Buch hinausführt, überwunden wird. Wir gehen ein in eine andere Existenz, ja, wir vermögen uns, kraft unserer Phantasie, in jene fremde Individualität, in fremde Existenz hinein zu verwandeln. Das Ungenügen an der Beschränkung ins eigene Ich, von der die Mystiker als einem »Kerker der Seele« reden, wird im literarischen Genuß, für die Dauer des Lesens, ausgelöscht. Wir erweitern unser Ich um jenes fremde, andere, wir setzen uns mit ihm gleich, wir identifizieren uns mit ihm. Und je mehr wir unser eigenes Ich in diesem Phantasiespiel mit dem anderen zusammenfallen lassen, je unmittelbarer wir mit ihm - oder sozusagen an seiner Statt - hoffen und bangen, umso stärker wird uns die Spannung erfüllen, an der wir uns unserer Teilnahme an diesem Stück Leben bewußt werden. Literaturgenuß in diesem Sinne ist also immer eine Art Außer-sich-sein und Ausgewechseltwerden, und eben darin liegt unmittelbar Beglückung und Bereicherung. Beglückung auch dann, wenn es keineswegs glückhafte Ereignisse, keine happy ends sind, auf die wir uns mit unseren literarischen Traumwanderungen einlassen. Auch Tragödien zu erleben, ist noch ein literarisches Vergnügen, und über dieses Thema schrieb schon Schiller seinen Essay »Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen«. Denn nicht auf Spaß und Fröhlichkeit kommt es dem Lesenden an (wenngleich auch dies ganz unverächtliche Freuden sind), sondern auf die Stärke der Affekte, die ihn affizieren, und wo es um Tod und Leben geht, werden wir eben am heftigsten in Atem gehalten.

   Das aber ist erwünscht. Es mag merkwürdig, befremdlich sein, daß sich Menschen, und schon seit den Zeiten Homers und des Nibelungenliedes, an Geschichten zu ergötzen vermögen, die von Gefahren und Nöten, ja, von Tod und Untergang handeln. Das wird aber sofort sehr


//186//

begreiflich, wenn man sich vor Augen hält, daß bei allem Mitfühlen und Sich-identifizieren dem, der so intensiv erlebt, keinen Augenblick aus dem Bewußtsein kommt, vielmehr stets im Hintergrunde mitschwingt, daß es eben - wie wir schon sagten - ein Spiel ist, auf das wir uns eingelassen haben, mit aller unbeschränkten Freiheit, den Raum solchen Schicksals jederzeit durch den Notausgang wieder zu verlassen. So ernst wir es nehmen, so unbetroffen davon sind wir doch in Wahrheit. Diese Antinomie ist stets im Spiele und bewirkt, daß von jeglichem »Erleben« beim Lesen eines Romans oder beim Besuch im Theater eigentlich nur das in uns zurückbleibt, was wir als seelische Steigerung, Lebenszuwachs, Erfahrung und Einsicht, als Befriedigung eines existentiellen Bedürfnisses begreifen.

   Literatur als Befriedigung eines existentiellen Bedürfnisses, literarisches Erlebnis als Identifizierung mit anderem Leben, als Ausbruch aus der Enge der eigenen Individualität - mit diesen Stichworten skizzieren wir hier eine Grundwahrheit, die in gebührende Rechnung zu stellen ist, wo immer von der Funktion dieser Literatur - sei es in gesellschaftlicher, sei es in pädagogischer Hinsicht - die Rede sein soll. Mißkennung dieses Sachverhalts, indem man der Literatur primär andere Ziele setzt, die doch immer nur sekundäre sein können, wie etwa Belehrung, Diskussion, Agitation, Erziehung und Bildung, führt, wie man weiß, fast immer zum Desaster, zur Papierliteratur und zur Verödung der Theatersäle. Will und soll aber diese Literatur, als Jugendbuch, in jener besonderen Funktion wirksam werden, die wir Literaturpädagogik nennen, so bedarf es, nach allem, was wir gesagt haben, einer wahrhalt ingeniösen List. Gewiß, so meinen auch wir, soll das Jugendbuch, sofern es sich erzieherische Aufgaben stellt, sowohl belehren wie bilden, erklären und diskutieren, exemplifizieren und appellieren, es soll »Werte vermitteln«, wie es gemeinhin heißt; aber wehe, wenn es nach Schulmuff riecht und mit dem dräuenden Zeigefinger des Moralpaukers fuchtelt! Eben darin besteht das Genie eines Autors, der ein echter Literaturpädagoge zu sein vermag, daß er all diese Wirkungen fast unbemerkt und auf eine Weise zu erzielen vermag, daß die ganz urtümlichen und legitimen Bedürfnisse, die existentiellen, die namentlich diejenigen aller jungen Leser sind, darin auf keine Weise geschmälert werden. Jugendliteratur muß Unterhaltungsliteratur sein, muß spannend sein und


//187//

großes, spannungsvolles Leben darstellen, muß den Leser mitreißen können in jenes Ganz-Andere, in dem er aber dennoch, sich identifizierend, die eigenen Anliegen in einer spielhaft gesteigerten Potenz wiederfindet. Wahrhaft bildend, so formulierte es Kerschensteiner als das »Grundaxiom des Bildungsprozesses«, kann nur sein, was seiner Struktur nach der geistigen und seelischen Struktur eines Jugendlichen auf der jeweils erreichten Lebensstufe »adäquat« ist. Und Spranger sah als bildend nur dasjenige an, was auch vorher zum »Erlebnis« geworden sei, wobei ein echtes Erlebnis aber nur dann zustande kommen könne, wenn das, was von außen - als Bildungsgut, als Literatur - an den Menschen herantrete, den »Kern der Existenz« dieses Individuums berühre.

   Hiermit ist ohne Zweifel insbesondere das Verhältnis des Jugendlichen zur Literatur, sofern es ein solches von pädagogischer Wirkung sein soll, sehr treffend gekennzeichnet. Bloße Vermittlung von Information und Wissen wird nie erzieherisch, wird nie bildend sein, sondern erst, wenn da ein Funke überspringt und zündet, der ins Existentielle trifft, das immer ein Irrationales ist, wenn Erlebnis von Lebendigem stattfindet, erst dann verschmilzt solche bildende Substanz mit dem geistigen Kern der werdenden Persönlichkeit. Und wer wäre mehr von diesen besonderen existentiellen Nöten und Bedürfnissen heimgesucht, die wir als spezifisch »literarische« beschrieben haben, als eben die Zwölf- bis Fünfzehnjährigen, um die es sich ja im Falle Karl Mays vor allem handelt? Da ist doch, um das Auffälligste zu nennen, im Zuge eines unaufhaltsamen Verselbständigungsprozesses dieser expansive Drang, über die Enge elterlicher Behütetheit hinaus zu gelangen, die kleine eigene Welt in Großes und jenseits Liegendes zu erweitern, Lebensneugierde, ausschweifender Traum und Rollenphantasie, gestaute kinetische Energie und angesammelter Obstruktionstrieb, dieser ganze Komplex von Haltungen und Verhaltensweisen, den man vordergründig als Rüpelalter bezeichnet, der aber hintergründiger als »Abenteueralter« gedeutet wird und der zugleich für ein ganz besonderes Lektüreerlebnis empfänglich macht.

   Hält man sich nun solche seelischen Bedürfnisspannungen, die angestaute und auf Betätigung, auf Entladung drängende Triebwelt Heranwachsender anschaulich vor Augen, so wird allerdings begreiflich,


//188//

inwiefern gerade Karl May in seinen Büchern jene literarische Spiel-Welt geschaffen hat, wie sie (mit Kerschensteiner zu sprechen) ihrer »Struktur« nach der von den Zwölf- bis Fünfzehnjährigen erreichten Lebensstufe »adäquat« ist. Hier finden sie, die Unruhigen, statt erbaulich-andachtsvoller Seelenversenkung, die rastlos tätige kinetische Energie, Bewegung, Handlung, das Stürmen ins Weiteste und Fernste, offene Horizonte, große Landschaften, Raum zum Schweifen und Ausbrechen. »Durch die Wüste und so weiter«, so hat Volker Klotz seinen schönen Essay überschrieben, der diese besondere Struktur des »lokalen Hintereinander« in Mays Reiseromanen analysiert. (17) Hier auch mag er, der rauflustige Knabe, den Männerstreit genießen, Bewährung in Kampf und Strapazen, wilde Abenteuer und drohende Gefahren. Und hier, was wohl den tiefsten und heimlichsten Genuß beim Lesen dieser Bücher ausmacht, was wie Pfeffer die Lektüre würzt, findet sich auch, ins Exotische verkleidet, der empörerische Affekt gegen autoritäre Bevormundung und Beschränkung, der dem zwischen Schule und Elternhaus Gegängelten so besonders zu Herzen geht. Daß auch die Sprache einfach, die Diktion jugendtümlich ist, dabei höchst sachlich, anschaulich und präzise im Detail, macht den Zugang zu dieser Welt umso leichter. Großer Raum, große Tat, große Freiheit - dieser dreifache Wunschtraum der Knabenzeit findet hier seine literarische Entsprechung. Und mühelos findet Identifizierung statt: man  i s t  Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi, solange man von ihnen liest.

   Dies alles sind Wirkungen, die wesentlich im Irrationalen und Emotionalen liegen, und daß diese Wirkungen der Karl-May-Bücher außerordentlich stark sind, muß nicht erst bewiesen werden, denn die weit über 40 Millionen Exemplare der inzwischen erreichten Gesamtauflage sind bereits ein solcher Wirkungsnachweis. Was freilich aus dem irrationalen Eindruck, aus dieser Identifizierung des Lesers mit Personen und Handlungen, welches alles im Bereiche der Phantasie stattfindet, sich an Folgerungen ergibt, was daraus für das spätere Verhalten und die charakterliche Entwicklung der jugendlichen Leser resultieren mag, darüber gibt es zwei entgegengesetzte Meinungen, deren Widerspruch erneut das Dilemma offenbart, von dem schon einleitend die Rede gewesen ist. Zwei Hypothesen werden verfochten, und ich kennzeichne sie, zunächst stichwortartig, mit den Begriffen »Imitatio« und »Katharsis«.


//189//

   Der Begriff »Imitatio« wurde in ähnlicher Weise von Andre Jolles in seinem Buch »Einfache Formen« (18) verwendet, um damit die der Heiligenlegende zugrunde liegende Erscheinung der »imitatio Christi« zu charakterisieren. Nachahmung also ist gemeint, und zwar Nachahmung nicht in äußeren Gebärden, sondern als eine das Lebensgefühl und die Lebensart ergreifende Gestaltgebung. Ein Vorbild, ein Leitbild prägt sich ab, und dies geschieht, ganz unreflektiert, aus dem Irrationalen, ja, dem Unterbewußten her. Imitatio - soviel ist richtig - findet statt, wo immer Literatur zu einem echten »Erlebnis« geworden ist. Abenteuerliteratur des Knabenalters, sofern sie diesem psychologischen Gesetz der Imitatio unterliegt, bringt nun eine große Gefahr mit sich, die warnende Literaturpädagogen vor allem anderen an die Wand gemalt haben. Mit dem jugendlichen Leser - so sagen sie - geschieht zweierlei. Das eine ist, daß ihm, der von so wilden und bewegenden, bunten und herrlichen Phantasiewelten herkommt und sich wieder ins strenge Alltäglich finden soll, sein Milieu und sein eigenes Leben nun schal und nichtig erscheinen wird. Mißmut wird ihn ergreifen, Unlust an seinen kleinen Pflichten, Überdruß und gähnende Langeweile. So wird er träge und faul, aufsässig, nörglerisch, störrisch. Und dann - das ist das zweite - wird es mit dieser Imitatio angehen, er wird nachzuahmen versuchen, selbst erleben, auf eigene Faust erproben wollen. So wird er zum Luftikus und Taugenichts, ja zum Ausreißer und Kriminellen, denn »was er kann, das hätte ich auch gekonnt«. Wir haben schon Entscheidendes zur Kritik dieser These vorgebracht und auf die Tatsache hingewiesen, daß es allemal auf den »Kopf« ankomme. Und ohne Zweifel ist der Teufel, der hier gemalt worden ist, maßlos übertrieben. Man könnte versucht sein, empirisch das Unhaltbare solcher Verallgemeinerung nachzuweisen und gar die Statistik zu bemühen, die bekanntlich so vieles beweisen kann. Man könnte vorbringen, daß von all den Millionen Knaben, die Karl-May-Bücher gelesen haben, nicht der zehntausendste Teil zu Ausreißern oder Verbrechern geworden ist, 99,99 Prozent aber zu tüchtigen, ordentlichen Leuten. Wir tun das nicht im Ernst, aber daß es sich in der Tat so verhält, daß jene Abenteuerbücher sehr viel weniger Opfer fordern, als man es naiverweise wohl erwarten möchte, davon ist eine andere psychische Erscheinung die Ursache, die wir mit einem Begriff des Aristoteles als »Katharsis« bezeichnen.


//190//

   »Katharsis«, Reinigung, nannte Aristoteles in seiner Poetik bei Gelegenheit seiner berühmt gewordenen und viel umstrittenen Definition der »Tragödie« diejenige Wirkung, die von einer solchen Dichtung auf den Zuschauer ausgeübt werden müsse. Durch die Erweckung von »Furcht und Mitleid«, so lehrte er, finde in dem, der die Dichtung wahrhaft miterlebe, eine »Reinigung von Leidenschaften« statt. Man kann nun ohne Zweifel das, was hier (und zwar schon bei diesem frühesten Ansatz zu einer Literaturpsychologie, die die europäische Geistesgeschichte kennt) von der Tragödie ausgesagt worden ist, auf das Problem der Wirkung von Literatur überhaupt ganz allgemein übertragen. Gemeint ist nämlich, wenn wir das bei Aristoteles nur stichwortartig Angedeutete hier näher zu erläutern versuchen, ein Phänomen, das sich für jegliche Literaturpädagogik als überaus wichtig erweist. In jedem Menschen, der ein literarisches Werk erlebt, indem er sich in Mitleid und Mit-Furcht mit dem Dargestellten identifiziert, wirken aus dem Unbewußten und Unterbewußten her, aber auch durch die Spannungen, die seiner Existenz aus Milieu und Lebenskampf auferlegt werden, mächtige Triebspannungen und Leidenschaften, Wünsche und Begierden, wie wir dies ja in bezug auf die Zwölf- bis Fünfzehnjährigen schon näher ausgeführt haben. Diese drängen auf Ausbruch und Betätigung. Müssen sie aber ständig unterdrückt, ins Unterschwellige verdrängt werden, so sind neurotische Fehlhaltungen und menschliche Katastrophen häufig die traurigen Ergebnisse. Hier eben liegt die wohl wichtigste Funktion von Literatur überhaupt, indem sie nämlich dem Leser oder Zuschauer gestattet, eigene Aggressionstriebe und Leidenschaften im bloßen Phantasiebereich, in einem Pseudo-Erlebnis auszuleben und sich so von den mit ihnen verbundenen inneren Spannungen, Verklemmungen, Hemmungen und Frustrationen zu befreien. In dieser Tatsache fassen wir das wichtigste Argument auch für die spezifische Nützlichkeit einer Abenteuerliteratur wie derjenigen Karl Mays. Sie löscht, neutralisiert, entspannt die Aggressionen, indem sie sie herausfordert, in sich aufnimmt und gewissermaßen sättigt. Der renitente Knabe, der auf Abenteuer und wilde Streiche sinnt, stillt seinen Erlebnishunger, indem er den »Winnetou« oder die »Sklavenkarawane« liest, und wird dadurch, statt zu einem Strolch und Herumtreiber, zu einem eifrigen und begeisterten Leser. Solche Wirkung vermag freilich


//191//

das gezähmte, domestizierte, wohltemperierte »Jugendbuch« keineswegs auszuüben, so deprimierend dies vielleicht auch für manchen enttäuschten Literaturpädagogen sein mag. Sondern allein die wildgewachsene, unbekümmert und leidenschaftlich fabulierende Literatur, die »reißenden Märchen«, wie Ernst Bloch es in bezug auf Karl May formuliert hat.

   Imitatio und Katharsis, beide sind immer im Spiele, wo Knaben Karl May lesen, doch die kathartische Wirkung hemmt und bannt die Gefahren, die fehlgeleitetes Nachahmen heraufbeschwören würde. Dann mag sich die Reminiszenz an Gelesenes in rechter Weise und zur rechten Zeit einstellen, wenn etwa eintretende Situationen dies erfordern. Dann mag das umschwärmte Idol zum echten Leitbild und Vorbild werden, und um nur ein Beispiel dafür zu geben (ein damals sehr berühmt gewordenes Beispiel!), wiederhole ich hier, was ich schon an anderer Stelle so erzählt habe (19): »Die Nachricht ging damals durch alle Zeitungen ... In eine Schule hatte sich, unbeobachtet und ungehindert, ein Mann eingeschlichen, dem der Irrsinn einen grauenhaften Plan eingegeben hatte. Während der Schulstunde erschien er plötzlich, mit einem Flammenwerfer bewaffnet, in einem Klassenraum, richtete das todbringende Instrument auf die versammelten Kinder und ließ den Feuerstrom wüten. Tot oder lebensgefährlich verbrannt lagen die Kinder in den Flammen; Brand, Chaos, Panik durchtobten das Schulhaus, und unübersehbar wäre die Zahl der Opfer noch angewachsen, wäre nicht schon wenige Minuten nach Ausbruch der Katastrophe die Feuerwehr zur Stelle gewesen, um Schlimmeres zu verhüten. Später, als man begann, die Vorgänge dieser Schreckensstunde zu rekonstruieren, fiel auf, daß niemand unter den Verantwortlichen ... dazu gekommen war, den rettenden Alarm auszulösen. Als diejenigen, die die Feuerwehr alarmiert hatten, wurden schließlich zwei kleine Jungen ermittelt. Sie waren beim Ausbruch des ersten Schreckens sofort zum nächsten Feuermelder geeilt ... Von Reportern befragt, wie es komme, daß sie in all der Panik so rasch und so vernünftig zu handeln imstande waren, antworteten sie, ohne sich erst zu besinnen: ›Das haben wir doch von Karl May gelernt. Old Shatterhand sagt, man muß bei Gefahr schnell und umsichtig handeln.‹«

   Soviel von der Katharsis und der Imitatio und von dem, was sie für eine recht verstandene Literaturpädagogik bedeuten. Dies sollten jene


//192//

unter unseren Berufserziehern bedenken, denen noch immer die Skrupel um Karl May das pädagogische Gewissen verdüstern. Es könnte gewiß einiges von ihren übertriebenen Befürchtungen in bezug auf diesen vermeintlichen Jugendverderber abbauen helfen. Denn daß sie ohnehin, ihr Dilemma eingestehend, ihm gegenüber heute - sechzig Jahre nach seinem Tode! - eine prekäre Zwangslage feststellen müssen, das offenbarte uns jüngst jener (anonym schreibende) Leiter einer öffentlichen Jugendbücherei, nachdem er in der Zeitschrift »Concepte« (20) zunächst auf die literarische »Fragwürdigkeit« dieses Autors hingewiesen hatte, wenn er uns - höchst überraschenderweise - die Frage, ob man denn diesen Autor in einer Jugendbücherei dulden dürfe, wie folgt beantwortete:

   »Besondere literarische Werte liegen dem durch mehr als ein halbes Jahrhundert ungebrochenen Bestseller-Erfolg Karl Mays nicht zugrunde, und es wäre unter diesem Gesichtspunkt kaum ein großer Verlust, wenn man angesichts der Fülle guter Jugendbücher, die heute zur Verfügung steht, in der Bücherei auf Karl May verzichten würde, wie es tatsächlich in vielen Büchereisystemen praktiziert wird. Es ist aber zumindest fraglich, ob ein solcher Entschluß realistisch wäre. Tatsache ist doch, daß ein erheblicher Prozentsatz von Jugendlichen der Altersstufe etwa zwischen 10 und 14 Jahren wenigstens zeitweise eine Lesephase durchläuft, in der sich das Interesse vorwiegend auf Karl-May-Bücher konzentriert. Man könnte nun sagen: Gut, wer Karl May lesen will, soll ihn sich besorgen, wo er will, aber nicht bei uns. Der Erfolg wäre, daß diese Leser der Bücherei zunächst einmal verloren gehen und sich möglicherweise einer gewerblichen Leihbücherei zuwenden, in der sie nach absolvierter Karl-May-Lektüre in die sumpfigen Niederungen der Kitsch- und Schundlektüre geraten. In vielen Fällen werden diese Leser für die verantwortungsbewußt geführte Jugendbücherei verloren gehen. Nur auf Grund solcher Überlegungen mag es vertretbar sein, eine Auswahl von Karl-May-Bänden in die Bücherei aufzunehmen ... Es gilt, die Chance zu nutzen, daß der Karl-May-Leser in der Bücherei gehalten und mit Vorsicht und Geschick zu besserer Lektüre hingeführt wird. Daß der junge Leser das Karl-May-Fieber bekommt wie andere Kinder die Masern, scheint sich in vielen Fällen nicht vermeiden zu lassen. Entscheidend ist jedoch, wie er aus dieser


//193//

Krankheit hervorgeht: als Konsument von Kitsch und Schund oder als Leser guter Jugendbücher.«

   Wer hätte das gedacht? Der alte Rattenfänger von Radebeul, nun zieht er, von seinen Feinden exkommuniziert und eingeladen zugleich, in die heiligen Bücherhallen ein! Und trefflicher ließe sich das Dilemma nicht umschreiben. Wo er nicht ist, wo sie ihn nicht finden, da bleiben sie weg, die lieben Zöglinge, mitsamt ihren literarischen Masern. Was für eine Krankheit das wohl sein mag? Es wird sich empfehlen, nach dem Virus zu suchen, sich den Erreger näher anzuschauen! Statt jenen ominösen Bestseller-Erfolg des Vielgeschmähten zu beklagen, sollte man lieber fragen: Mit welchen Mitteln hat dieser Autor seine Leserschaft fasziniert? Und es ist nicht damit getan, zu sagen: Nun, eben, mit Abenteuergeschichten! Das sagt nicht viel. Man merke nämlich: Nicht wir, die wir über seine Zulassung zu Jugendbüchereien diskutieren und ähnliche Streitfragen erörtern, sind die »Literaturpädagogen«, auf die es in diesem Fall ankommt, sondern er, Karl May, der durch das Mittel der Literatur in einem so überwältigenden Maße Jugend anspricht, fesselt, belehrt, bildet und formt, er ist der Literaturpädagoge. Und vielleicht ließe sich etwas von ihm lernen. Die Leistung, die er uns vorgemacht hat, ist eine didaktische Leistung, und von der didaktischen Struktur einer seiner Jugenderzählungen im einzelnen soll in unserer weiteren Untersuchung die Rede sein.

(Fortsetzung im nächsten Jahrbuch)




1 Erich Wulffen, Psychologie des Verbrechers, Berlin o. J. (1908), II, 178

2 Concepte, Jg. 2, Nr. 10, Okt. 1966, 22

3 Man vergleiche hierzu zwei Berichte in der Zeitschrift »Der Spiegel«: »Fernsehen - Schule der Brutalität« (1971, Nr. 49); »Vorm Schlafengehen kommt der Kommissar« (1972, Nr. 4). Die darin wiedergegebene Widersprüchlichkeit der Auffassungen macht das Dilemma der Literaturpädagogik, von der wir hier reden. auf eine abgewandelte Weise deutlich.

4 Ernst Bloch in »Erbschaft dieser Zeit«. Frankfurt 1962, 172

5 Ebenda.

6 Hier zitiert nach der unbearbeiteten Ausgabe, die ich auch meinen übrigen Zitaten zugrunde lege: Karl May. Die Sklavenkarawane, Stuttgart, Berlin, Leipzig o. J., 3. Auflage, Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Die meinen Zitatangaben entsprechenden Seitenzahlen der - bearbeiteten - Bamberger Leseausgabe, Ges. Werke Bd. 41, füge ich jeweils in Klammern hinzu. Diese Bearbeitung durch E. A. Schmid hat den Urtext nur sparsam verändert, gelegentlich gekürzt. Ein


//194//

genauer Vergleich der beiden Fassungen hat ergeben, daß die Bamberger Version in der Tat als Jugendbuch vorzuziehen ist. Ausgemerzt wurden u. a. altertümlich wirkende Stilmittel (Gebrauch von »derselbe« u. ähnliches), sachliche Irrtümer (z. B. daß »Philologie« Weisheitslehre bedeute), ärgerlich wirkende Wiederholungen. wo sie nicht technische Mittel der Erzählstruktur sind. aber auch für die Handlung überflüssige und das Bild des christlich gesonnenen Helden verzerrende Grausamkeiten, die sich gelegentlich eingeschlichen hatten. Was dies letzte betrifft, so ist eben das »Wildwüchsige« der May-Bücher - bei aller pädagogischen Absicht - in Rechnung zu stellen. Die gelegentlich hervortretende ethische Ambivalenz der positiven Figuren bei May wäre eine gesonderte Untersuchung wert. Ein Beispiel für die Bearbeitung durch E. A. Schmid ist dieses: Auf S. 487 der Urfassung befiehlt Emil Schwarz, der doch sonst immer seine christliche Milde betont: »Bindet sie fest, daß ihnen das Blut aus den Gliedern spritzt!«; in der bearbeiteten Fassung (S. 559) sagt er: »Bindet sie fest!« Solche Korrekturen sind ohne Zweifel auch im Sinne des Autors selbst, dem notorisch die Muße fehlte, leidenschaftlich Hingeschriebenes einer distanzierten Selbstkritik zu unterziehen.

7 Otto Forst-Battaglia, Karl May, Traum eines Lebens - Leben eines Träumers, Beiträge zur Karl-May-Forschung Bd. 1, Bamberg 1966, herausgegeben von Heinz Stolte.

8 Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, 1948, 2. Aufl. 1955

9 Johan Huizinga, Homo ludens, 1938

10 Leonhard Frank, Die Räuberbande, Roman, 1914

11 Karl Ernst Maier, Jugendschrifttum - Formen, Inhalte, pädagogische Bedeutung, 3. Aufl., Heilbrunn 1969, 120

12 Hierzu auch: Heinz Stolte, Über Antinomien der Literaturpädagogik, in: Erziehung und Schule in Theorie und Praxis, Weinheim 1960, 102-109

13 So auch Heinz Stolte, Das Phänomen Karl May, Bamberg 1969, 16 f. und Claus Roxin, Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays, in Jb-KMG 1971, 86 ff.

14 So äußert sich Old Shatterhand in »Winnetou I«

15 Heute in überarbeiteter Fassung enthalten in den Bänden 35 bis 41 der Gesammelten Werke des Bamberger Karl-May-Verlages

16 Hans Wollschläger, Karl May, Reinbek 1965, 55

17 Akzente, Zeitschrift für Dichtung, 1962, Heft 4, 356-383

18 André Jolles, Einfache Formen, Halle 1930

19 Heinz Stolte. Das Phänomen Karl May, Bamberg 1969, 7 f.

20 Karl May - pro oder contra? in: Concepte, Jg. 1966, Heft 10, 22 f.


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz