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HEINZ STOLTE

Ein Literaturpädagoge -

Untersuchungen zur didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch »Die Sklavenkarawane«, 2. Teil




4. D i e   p ä d a g o g i s c h e  L i s t

Da wären wir denn also, gut und gerne unsere zwölf Jahre alt, wieder einmal dem Schulstaub entronnen, ein wenig müde vom »Dienst am Geist«, aber mit der ungemein tröstlichen Aussicht, zwischen Mittag und Abend eine schöne lange Strecke Zeit vor uns zu haben: zum Vertrödeln, zum Spielen, zum Toben, zum Herumtreiben. Oder doch nicht? Schon Schularbeiten gemacht? Die ewige lästige Fragerei. Nun also, nehmen wir uns die Bücher vor. Gehn wir damit in die hinterste Ecke, wo man nicht so genau beobachtet werden kann. Nehmen wir beispielsweise Erdkunde. Der Atlas leistet uns sogar sehr gute Dienste. »Mein Sohn ist so fleißig!« Nun ja, er sitzt, dieser Sohn, mit roten Ohren und offenbar besessen vom Bildungsstreben, Stunde um Stunde da hinter seinem Buch und studiert. Was studiert er? Wenn sie es wüßte, die gute Mutter! Wir sind listenreich wie Odysseus. Wir überlisten sie, unsere Erzieher, wir lesen Karl May, wir schlagen der Pädagogik ein Schnippchen, und wer Humor genug hätte und gebildet genug wäre, könnte das vielleicht unsere »pädagogische List« nennen.

Wo waren wir stehen geblieben? Mitten in der Wüste auf jeden Fall, irgendwo auf dem Karawanenwege, der von Westen durch die Sahara nach Faschodah an den Nil führt. Der Doktor Emil Schwarz, Naturwissenschaftler, der von Westen her den Nil erreichen will, um dann tief im südlichen Sudan mit seinem dort ebenfalls als Forscher tätigen Bruder Joseph zusammenzutreffen, hat sich und seine Habe einer Kamelkarawane anvertraut, von der wir, die Leser, schon sehr bald jedenfalls soviel erraten haben, daß der Anführer, ein so frommer Moslem er auch zu sein scheint, finstere Pläne hat und daß der brave


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deutsche Gelehrte von Mördern umlauert wird. Da knistert es also vor Spannung, und soviel möchte man sich jedenfalls gesagt sein lassen: In der Wüste, da ist der Mann noch was wert, und was kann es dem gelehrten Doktor nützen, daß er so fleißig gelernt und so viele Bücher durchstudiert hat? Weltfremd wird man davon, ein Bücherwurm, der sich von jedem hergelaufenen Beduinen übers Ohr hauen läßt. Schwarz jedenfalls sitzt in der Falle, die man schon klug gestellt hat, denn jetzt hat man ihn in abgelegene Gegenden geführt. Schöpft er nicht endlich Verdacht? Endlich, jetzt stellt er den Karawanenführer zur Rede:

»... Behauptetest du nicht, diese Gegend sei so sicher wie der Schoß des Propheten?«

»Ja, und so ist es auch.«

»Das sagst du, weil du weißt, daß ich ein Fremder bin. Du bist der Überzeugung, daß ich die Verhältnisse des Landes nicht kenne. Ja, die Reitpfade desselben sind mir unbekannt, obwohl ich sie mit Hilfe meiner Karten wahrscheinlich ohne deine Hilfe auch finden würde, aber das übrige kenne ich jedenfalls besser als du. In meiner Heimat gibt es Bücher und Bilder über alle Länder und Völker der Welt. Durch diese lernt man die Völker zuweilen besser kennen als diejenigen, welche zu ihnen gehören. So weiß ich auch ganz genau, daß man hier keineswegs so sicher ist wie im Schoße des Propheten. Hier ist viel, viel Blut geflossen. Hier, wo wir uns befinden, haben Nuehr-, Schilluk- und Denkavölker miteinander gestritten. Hier sind die Dschuhr und Luoh, die Tuitsch, die Bahr, Eliab und Kiétsch, die Abgalang, die Agehr, Abugo und Dongiol aufeinander getroffen, um sich zu ermorden, zu zerfleischen und auch gar wohl - aufzufressen.«

Der Schech war ganz steif vor Erstaunen.

»Effendi,« rief er von seinem Kamele herüber, »das weißt du, diese Völker kennst du, sie alle!«

»Ja, genauer jedenfalls als du! Und ich weiß auch noch mehr. Ich weiß, daß gerade da, wo wir jetzt reiten, zu nächtlicher Zeit sich die entsetzliche Ghasuah (21) vorüberschleppt, um dem Pascha zu entgehen, welcher in Faschodah ein Auge auf die Sklavenjäger hat. Da ist mancher arme Schwarze ermattet niedergesunken und durch einen Hieb, eine Kugel für immer stumm gemacht worden ... Da hat mancher seinen letzten Seufzer ausgehaucht; mancher hat hier den Todesschrei in die finstre Nacht hinausschallen lassen. Und das nennst du eine Gegend, welche man mit dem Schoße des Propheten vergleichen kann? Ist es möglich, eine größere Lüge auszusprechen?«

Der Schech blickte finster vor sich nieder. Er fühlte sich geschlagen und durfte es doch nicht eingestehen. Darum antwortete er nach einigen Augenblicken: »An die Ghasuah dachte ich nicht, Effendi. Ich dachte nur an dich und daran, daß du hier sicher bist. Du befindest dich in unserm Schutze, und ich möchte den sehen, welcher es wagen wollte, ein Haar auf deinem Haupte zu krümmen!«

»Ereifere dich nicht! Ich sehe klar und weiß genau, was ich zu denken habe. Sprich nicht von Schutz! Ich habe euch gemietet, damit ihr meine Sachen auf euren Kamelen nach Faschodah bringen möchtet; auf euern Schutz aber habe ich nicht gerechnet. Ihr selbst bedürft vielleicht des Schutzes mehr als ich.«


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»Wir?«

»Ja, Hast du vielleicht die Schillukneger gezählt, welche die Leute deines Stammes hier raubten und als Sklaven nach Dar Fur brachten? Besteht etwa nicht deshalb ein unersättlicher Haß, ja eine Blutrache zwischen euch und ihnen? Befinden wir uns jetzt nicht auf dem Gebiete der Schilluk, welche, wenn sie euch sähen, sofort über euch herfallen würden? Warum habt ihr den Karawanenweg verlassen und mich durch einsame Gegenden gebracht? Um den Weg abzukürzen, wie du vorhin sagtest? Nein, sondern um nicht auf die Schilluk zu treffen. Vielleicht gibt es auch noch einen andern Grund.«

»Welchen?« fragte der Schech, der sich durchschaut sah, ziemlich kleinlaut.

»Den, mich hier umzubringen.«

»Allah, Wallah, Tallah! Welche Gedanken werden in deiner Seele laut!« (22)

Verlassen wir hier den »fleißigen« Sohn bei seiner Lektüre, die ihn ohne Zweifel bald in noch aufregendere Abenteuer entführen wird. Ob er bemerkt hat, daß ihm soeben, vom listigen Pädagogen treffsicher abgeschossen, eine Harpune mit Widerhaken durch die Haut gefahren ist, bestimmt, ihn an langer Leine einen Weg zu führen, den man nach ehrwürdiger Überlieferung den der Erziehung und Bildung, nach neuerer Terminologie aber lieber »Sozialisation« zu nennen pflegt? Dem mit dem vollen Recht seiner biologischen Entwicklungsphase aufsässig gestimmten Halbwüchsigen im Pubertätsalter, der soeben seine allmähliche Ablösung von elterlicher Bevormundung und aus dem engsten Kreis heimischer Lebensfürsorge als Autoritätskonflikt erlebt, worin das sich regende Selbstbewußtsein und der Freiheitsdrang gegen den aufgezwungenen Pflichtenkanon durch Revolten und Ausbrüche protestieren, diesem Schwierigen gilt es ja jetzt das allmähliche Hineinwachsen in die mit dem Erwachsensein auf ihn zukommenden neuen, im weiteren Sinne gesellschaftlichen Bindungen und Verantwortungen möglich, aber auch wünschenswert zu machen. Dem Literaturpädagogen, der, wenn er solche erzieherischen Aufgaben ernst nimmt, durch das Mittel der Literatur den hier angedeuteten Sozialisationsprozeß zu fördern, seinen jugendlichen Leser demnach in einer prekären, labilen Seelenverlassung vorfindet, ergibt sich (wie wir schon in den vorausgegangenen Erörterungen angedeutet haben) daraus eine in sich widersprüchliche Zielsetzung, eine echte pädagogische Antinomie. Er muß einerseits die Erwartungen erfüllen, die die jugendliche Psyche dem literarischen Werk entgegenbringt, diese Hoffnung auf Unalltägliches, Außergewöhnliches, Spannendes, Abenteuerliches, kurzum auf das im


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wahrsten Sinne Unbürgerliche, sein Buch muß »Ausbruchsliteratur« sein, und er soll andererseits doch hineinführen in eine Vorstellungsweise, einen Denk- und Lernprozeß, der jenseits der Wildzone des Abenteuers wieder ins Gesellschaftliche, Lebensmögliche, Zivile zurückgeht. Mit anderen Worten: eine spannende Geschichte muß erzählt werden, aber bloß vordergründig ist dies eine Spannung des Abenteuers, hintergründiger muß in ihr jene andere, d. h. jene existenzielle Spannung wirksam werden, die den Bogen vom Kindsein zum Erwachsensein zieht. Das Widersprüchliche dennoch zu vereinen, den Denk- und Lernprozeß ins Echt-Unterhaltsame und Spannend-Abenteuerliche zu integrieren, dies ist die eigentliche »Kunst« des Literaturpädagogen, die wir mit dem Begriff der »pädagogischen List« meinen.

Das von uns angezogene ausführliche Zitat aus der »Sklavenkarawane« mag dazu dienen, uns exemplarisch zu zeigen, daß und wie der Literaturpädagoge Karl May seine Sache angefaßt hat. Die Episode macht es transparent, was im einzelnen wie aber auch im Gesamtplan seiner Erzählung die Struktur seines Jugendbuches ausmacht, nämlich die Tatsache, daß es von einer klar gefaßten d i d a k t i s c h e n Grundidee her konzipiert worden ist. Es sind ja vor allem die Gymnasiasten der mittleren Klassen, mit denen der Autor als mit der Leserschaft der Knabenzeitschrift »Der gute Kamerad« zu rechnen hatte. Und er rechnete richtig, indem er einerseits die Schulmüdigkeit, Obstination, Pennälerhaftigkeit seiner jungen Freunde, andererseits die Tatsache bedachte, daß es zum Bildungsziel dieser gehobenen Schulart gehört, künftige Studierende wissenschaftlicher Berufszweige heranzubilden. Das didaktische Problem, das sich dem Jugendschriftsteller im Rahmen des »Guten Kameraden« stellen mußte, bestand also darin, das eine mit dem anderen zu versöhnen, behutsam vom einen zum anderen hinzuführen. In diesem Zusammenhang verrät das erzählerische Motiv, das wir hier herausgehoben haben, Entscheidendes von der didaktischen Absicht des Autors. Im fernen Wüstenland, im ganz zivilisationsfremden Gefahrengebiet läßt er seinen Helden in Todesnot geraten, aber was ihn rettet, ihn zunächst warnt, dann die Absichten seiner Feinde durchschauen und schließlich obsiegen läßt, das ist weder der Zufall, noch das Schießgewehr oder die schmetternde Faust (obgleich er auch über diese, versteht sich, gebührend verfügt und davon Gebrauch macht),


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sondern das, was er gelernt und in den Büchern studiert hat. »In meiner Heimat gibt es Bücher und Bilder über alle Länder und Völker der Welt. Durch diese lernt man die Völker zuweilen besser kennen als diejenigen, welche zu ihnen gehören ... Ja, genauer jedenfalls als du!«

Nun, wenn das so ist! Verachtet mir also die Bücher nicht; und wer es recht bedächte, der könnte wohl seinen Nutzen aus dieser Geschichte ziehen und von Stund an die Bücher, die unsere Schulmappen aufschwellen lassen und einem wie ein Albdruck auf der Seele liegen, mit ganz neuen Augen anschauen. Wir bemerken natürlich, daß ein Erzählmotiv wie dieses auch noch seinen auf die Person des Autors selbst zurückdeutenden Hintersinn hat, und wir nehmen es mit einigem Schmunzeln zur Kenntnis: Gerade so hat er ja, wie wir schon wissen, jene abenteuerliche Reisen gemacht, von denen er erzählt, nämlich mittels der Bücher und Bilder, die es in seiner Heimat gibt. Das soll uns in d i e s e m Zusammenhang hier nicht weiter beschäftigen, aber amüsant ist es schon, sich klarzumachen, daß natürlicherweise gerade e r der rechte Mann war, seinen jugendlichen Abenteurern den Nutzen des Lernens und Studierens ans Herz zu legen. Aber w i e er es macht, das soll man an der hier herausgegriffenen Episode gebührend zur Kenntnis nehmen. Eben nicht als Predigt, nicht als moralischen Appell, nicht als eine der Handlung nach Hans-Sachs-Manier angeklebte »Moral der Geschichte«, sondern herrlich listig »untergejubelt«, wirklich ins Handlungsgefüge eingebaut läßt er seinen didaktischen Impuls wirksam werden, und es ist anzunehmen, daß unser Zwölfjähriger ihn so unterschwellig empfängt und so willig ins eigene Motivationsgefüge integriert, wie es der Autor als Literaturpädagoge beabsichtigt hat.

Und dies ist die Grundidee des Ganzen, die den Gesamtplan des Buches, vom gliedernden Grundriß bis in die Ausführung der Einzelheiten, programmiert hat. So sind denn die zwei Haupthelden der Geschichte auch keineswegs abenteuernde Weltenbummler, auch nicht eroberungslüsterne Imperialisten und Kolonialisten, nicht einmal Safari-Romantiker, sondern höchst biedere, bildungsbürgerliche Naturwissenschaftler auf Forschungsreise. Sie sammeln, die beiden Brüder Emil und Joseph Schwarz, Materialien für ihre künftigen gelehrten Arbeiten in der Heimat. Sie, Emil und Joseph, ähneln sich übrigens wie ein Ei dem anderen, bilden also auf ihre Weise eines der bei Karl May


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so beliebten Gestaltenpaare (zu denen in der »Sklavenkarawane« zum Beispiel auch Tolo und Lobo sowie Ali und Istvan gehören), und daß er den Haupthelden gleichsam gedoppelt hat, das dient natürlich zugleich der didaktischen Absicht des Autors, indem das hier verlebendigte »Leitbild« dem Leser umso nachhaltiger vor Augen geführt wird. Ja, damit nicht genug, hat der Erzähler dem einen der beiden gelehrten Brüder, Joseph, seinerseits einen gelehrten Partner beigegeben, den Ornithologen und bayrischen Urspezi Pfotenhauer, mit dem der gleiche Typus des reisenden Naturforschers also noch einmal (in einer leicht spaßhaften Variante) demonstriert wird. Ein Triumvirat demnach beherrscht die Szene, bei dem Forschergeist und Gelehrtenfleiß sich mit Mannesmut und Rüstigkeit zu tüchtiger Lebensbewältigung verbinden. Sie suchen nicht die Aventiuren wie weiland Don Quijote, sondern Gefahren und Abenteuer; auch humanitäre Pflichten - zum Beispiel ein Negerdorf vor Sklavenjägern zu retten - brechen unversehens über sie herein und wollen durchgestanden werden. Die Abenteuerwelt ist, so erweist es sich klar, nicht Ziel und Erfüllung, sondern etwas, durch das man einmal hindurch muß, um zu Ziel und Erfüllung zu gelangen. Diese selbst liegen anderswo, im heimatlichen Pflichtenkreis, in der täglichen fruchtbaren Arbeit. Und so ist denn das Ganze aufgebaut, ist der Bogen der Erzählung unmißverständlich gezogen: in Wüste und Wildnis Afrikas setzt er ein, beschreibt weitläufigen Schwunges die Nillandschaften des Sudans und endet - wo? Nicht in märchenhafter Herrlichkeit eines Aladin mit der Wunderlampe, sondern nüchtern und real auf dem Boden heimischer Tatsachen, wo sich's freilich behaglich hausen läßt, nachdem man im Leben seinen Mann gestanden hat:

Wer in einer der bekannten süddeutschen Universitätsstädte das Adreßbuch in die Hand nimmt und die erste Rubrik, also A aufschlägt, dem fällt sofort ein ungewöhnlich langer Name auf. Dieser lautet: Hadschi Ali Ben Hadschi Ishak al Faresi Ibn Hadschi Otaiba Abu l'Oscher Ben Hadschi Marwan Omar el Gandesi Hafid Jacub Abdallah el Sandschaki. Hinter diesem Namen steht die Auskunft: Händler in Orientalien, Gartenstraße 6 parterre.

Wer durch diese Adresse veranlaßt wird, ein Fläschchen Rosenöl, einen türkischen Tschibuk oder sonst dergleichen zu kaufen, und sich nach den betreffenden Hause begibt, der sieht in dieser Nummer 6 ein großes palastähnliches Gebäude, dessen linke Parterrehälfte der erwähnte Laden mit den daran stoßenden Wohnräumen einnimmt. Das über demselben angebrachte Schild trägt in goldener Schrift die etwas falsche Bezeichnung: »Hadschi Ali, Orientalist«.


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Ferner kann man im hohen, schön gemalten Hausflur auf einer Tafel lesen: Uszkar Istvan, Hausmann, Sprachlehrer und ornithologischer Autor, parterre rechts - Professor Dr. Emil Schwarz, I. Etage - Professor Dr. Joseph Schwarz, II. Etage - Professor Dr. Ignatius Pfotenhauer, III. Etage ... (23)

So gutbürgerlich also geht zu Ende, was romantisch-ausschweifend begonnen hat, und was unseren zwölfjährigen Lese-Abenteurer betrifft, so sieht er sich nolens volens denn wieder glücklich da gelandet, wo er sich ja auch in persona und natura befindet: im schön behaglichen Mietshaus, parterre oder I. Etage. Versöhnt mit seinem grausamen Schicksal? Dem »Rollenzwang« und dem »Leistungsdruck«? Sozialisiert? Vielleicht, aber ganz bestimmt um eine große Fülle von Kenntnissen reicher, die ihm sein als Geschichtenerzähler verkappter Lehrer am langen roten Faden der Abenteuer in einer geradezu verschwenderischen Freigiebigkeit hat zukommen lassen: Geographie, Ethnographie, Zoologie, Botanik, Religionskunde, Geschichte und Politik - ein ganzer Katalog von Fächern ist hier von einem wahrhaft begnadeten Didaktiker gewissermaßen nach der - sehr modernen - Methode eines »Gesamtunterrichts« verbunden worden; doch daß dieses »Lehrgut« zugleich immer seiner Funktion nach »Erzählstoff«, d. h. echtes episches »Motiv« bleibt, das macht wiederum die besondere Virtuosität dieses Autors aus.

Die didaktische Grundkonzeption unseres Buches ist demnach eindeutig genug. Sie lautet: Von der Ferne in die Nähe, vom exotischen Traum zu besonnener Leistung, vom Abenteuer zur Arbeit. Und daß wir mit dieser Feststellung dem Autor der »Sklavenkarawane«, der doch gemeinhin als ein solches enfant terrible der deutschen Literatur gilt, kein Kuckucksei ins Nest gelegt haben, bezeugt die Tatsache, daß es sich beispielsweise mit der Konzeption seines Jugendbuches »Der blaurote Methusalem« ganz ebenso verhält; was übrigens Fritz Prüfer schon vor Jahren in seinem noch immer lesenswerten Aufsatz darüber gezeigt hat. (24) Auch im »Methusalem«, so weist er nach, manifestiert sich die erzieherische Tendenz darin, daß durch den Gang der Handlung die »Abenteuerlust« (der Beteiligten) in unmerklicher Verwandlung allmählich zu »Arbeitslust« sublimiert wird. Inwieweit freilich ein solcher Sublimierungsprozeß aus dem Phantasiereich des Literarischen - auf dem Wege der »Imitatio« - ins Existenzielle dieser eifrigen Leserschaft


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übertragbar ist, das wird man den jeweils so oder so beschaffenen Köpfen überlassen müssen, die mit dem Buch zusammenstoßen.

5. H a u p t h e l d e n  u n d  S p i e g e l f i g u r e n

Die für solche »Imitatio«, von der wir theoretisch bereits gesprochen haben, insbesondere auslösenden Figuren sind - wie schon erwähnt - die beiden Professoren Emil und Joseph Schwarz. Es gehört, wie gesagt, zu den Listen des Literaturpädagogen, daß es eben Professoren sind, und es dürfte nicht ohne genaue Berücksichtigung landläufiger Pennälermentalität vom Autor so eingeplant sein, daß gerade ein solcher Büchermensch, Federfuchser und Paukertyp in dieser Geschichte zu einer nun in der Tat ans Märchenhafte streifenden Bewährung aufsteigt, am Ende gar wie ein anderer Moltke eine bedeutsame militärische Streitmacht kommandiert und dem Sklavenraub im Sudan einen so entscheidenden Schlag zu versetzen imstande ist. Ein solcher Intellektueller demnach, dem unsere zwölfjährige Männlichkeit, wenn sie ihm in der Schule und anderswo begegnet, kaum anderes zutrauen möchte, als daß er in seiner Zerstreutheit irgendwo seinen Regenschirm stehen läßt. Das dürfte also des tieferen Nachdenkens wert sein, und um es seinem jungen Leser noch deutlicher zu machen, um welche Menschenart es sich hier handelt, hat der Autor seinen Emil Schwarz auch noch zum »Vater der vier Augen« gemacht, das heißt: zum Brillenträger. Ein Brillenträger - und doch ein Held! Wie doch die Zeichen täuschen können!

Es mag nicht unwichtig sein, in diesem Zusammenhang unserer Analyse eine weitere Beobachtung einzuschalten. Es geht im Kampf gegen die Sklavenräuber, wie gesagt, recht moltkehaft kriegerisch zu in einigen Kapiteln dieses Buches. Der Verdacht liegt nahe, daß der Autor hier so etwas wie Verherrlichung des Militarismus im Sinne gehabt hätte und vielleicht das Idealmodell eines Reserveoffiziers hätte glorifizieren wollen. Es lag ihm aber nichts ferner als dies. Und wohl nur, um das auch ausdrücklich zu dokumentieren, hat er die Figur des zwar ebenso liebenswerten, tüchtigen und männlichen, aber ein wenig skurrilen und ganz und gar unsoldatischen Ignatius Pfotenhauer in


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seine Erzählung eingeführt, des dritten in seinem erlauchten Professorenkollegium. Er nämlich, den die Sudanesen »Vater des Storches« nennen seiner riesigen Nase wegen, tut sich gar behaglich etwas darauf zugute, daß er wegen Dienstuntauglichkeit nicht Soldat gewesen ist. Ein Gespräch mit seinem Freund Emil Schwarz, mitten in höchst kriegerischen Veranstaltungen geführt, bringt es an den Tag.

»Hören S' mal, Sie sind doch aan andrer Kerl als ich! Auf meine Fachwissenschaft versteh' ich mich schon gut, aber mit dera Strategie, da thät' es wohl g'waltig hapern. Sie hätten Off'zier werden sollen. Vielleicht wären S' jetzt schon Oberst oder gar noch mehr!«

»Danke! Ich habe meine Pflicht als Soldat gethan; im übrigen bin ich mit meinem Civilberufe ganz zufrieden.«

»So! Also Soldat sind S' gewesen? Ich nit.«

»Doch nicht als untermäßig oder zu schwach? Sie haben über die erforderliche Länge und sind wohl auch gesund gewesen.«

»Gesund wie der Fisch im Wasser, und auch lang g'nug. Ich hab' ganz g'wiß glaubt, daß man mich nehmen wird, und doch bin ich loskommen.«

»Aus welchem Grunde denn?«

»Das fragen S' mich? Sehen S' das denn nit?«

»Nein«, antwortete Schwarz ganz aufrichtig, indem er die Gestalt Pfotenhauers mit einem prüfenden Blick überflog.

»Sie haben halt keine Augen! Freilich, der Grund, um den sich's g'handelt hat, ist auch mir sehr sonderbar vorkommen, aber meine Verwunderung hat nix dran ändern können. Nämlich als ich bei dera Militärkommission erschienen bin, so haben die Herren erst mich ang'schaut, dann sich ang'schaut, nachher wiederum mich und wiederum sich, und endlich sind's in a Gelächter ausg'brochen, welches gar nicht hat enden wollen. Ich hab' dag'standen wie der Milchbub', der den Topf zerbrochen hat, und mein G'sicht wird wohl nit allzu klug dreing'schaut haben, denn sie haben immer wieder von Neuem g'lacht, bis endlich der Vorsitzende, welcher Major g'wesen ist, aufstand, zu mir herankam, mich im G'sicht gestreichelt und freundlich zu mir g'sagt hat, daß ich gehen kann und für immer frei bin.«

»Aber den Grund, den Grund? Hat er Ihnen den nicht genannt?«

»Freilich hat er ihn mir g'nannt. Er hat den Zollstab vom Tisch genommen und drei Viertelstunden lang mit demselben an meiner Nas' herumg'arbeitet. Dann hat er g'sagt: "Es geht nit; es geht wirklich nit; es geht beim besten Willen nit! Dieser Rekrut thät' seinem Vordermann mit dera Nas' das G'nick einstoßen! Und doppelten Abstand nehmen wegen ihm, das kann man auch nicht thun; er brächt' das ganze Regiment aus dem 'Augen rechts, richt't euch!' heraus. Und wann er rechtsumkehrt machen muß, so dauert es drei volle Stunden, eh' er die Nas' herumbringt. Wir müssen ihn laufen lassen." So hat der Major g'sagt, und folglich hab ich's nur meiner Nas' zu verdanken, daß ich Anno sechsundsechzig oder siebzig nit mit erschossen worden bin.« (25)

Daß er Anno sechsundsechzig oder siebzig nicht erschossen worden ist! Er verdankt es seiner Nase! Wir halten diese kleine Anekdote hier


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fest, eine Winzigkeit nur aus dem überquellenden Füllhorn von Phantasie, das unser Autor gerade in diesem Buch ausgeschüttet hat; denn immerhin ist dies bemerkenswert, daß man das Jahr 1889 schrieb, als die Geschichte von der Sklavenkarawane entstand. Ein Jahr zuvor hatte Wilhelm II. den deutschen Kaiserthron bestiegen, und ein Jahr später endete die Ära Bismarcks mit dessen Entlassung. In einer Zeit also, in der man Kriegsereignisse wie die von 1866 und 1870/71 zu heroischem Mythos emporzustilisieren pflegte, im Wilhelminischen Zeitalter des Militärglanzes, der Sedanfeiern und Siegerkranz-Hymnik, hat wohl kein anderer Jugendschriftsteller von so legendären Heldentaten beiläufiger und weniger heroisch geredet als dieser. Wir legen den Finger darauf, weil sich hier schon abzeichnet, was - für viele Beobachter überraschend - Jahre später so eindrucksvoll in Erscheinung treten sollte, daß sich der Abenteuerschriftsteller Karl May als konsequenter Pazifist und Mitstreiter Bertha von Suttners offenbarte.

So weit, so gut. Drei treffliche Männer sind also aufgeboten, fürs Gute in der Welt zu zeugen und zu kämpfen, Vorbilder und Leitbilder genug, sich ein Beispiel zu nehmen und ihnen nachzustreben. Und doch hat der Autor der »Sklavenkarawane« nicht übersehen, daß mit seiner Galerie der Ehrenwerten seinen jugendlichen Lesern vielleicht immer noch nicht Genüge getan ist. Sie sind allzu sehr erwachsen, fertig, würdig, überlegen und vatermäßig, als daß man mit ihnen so recht innig fühlen und um sie zittern könnte. Vorbilder bewundert man, aber man kann sich mit ihnen nicht identifizieren. Sucht nicht ein jeder im poetischen Werk auch dies, daß er sich selber darin wiedererkennen kann wie in einem Spiegel? Und ohne Zweifel gehört es zu den großen Faszinationen, die das Literarische auszuüben vermag, wenn man dieses sein eigenes Spiegelbild in und unter den verrätselten Zügen, die uns anschauen, entdeckt. D a r u m hat unser Autor in dem großen Tableau seiner »Sklavenkarawane« neben die Vorbilder tatsächlich auch solche »Spiegelbilder« gestellt, und hier heißen sie (ebenfalls als ein Paar, als zwei »Pendants« kreiert!) »Sohn der Treue« und »Sohn des Geheimnisses«.

Der junge Neger war gewiß nicht über sechzehn Jahre alt und fast unbekleidet. Die Farbe seiner Haut war ein erdiges Rotbraun, wohl ein Ergebnis des Bodens, welchen sein Volk bewohnt.


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Es ist nämlich eigentümlich, daß, wie man bemerkt hat, die Färbung jener Negerstämme von der Farbe des von ihnen bewohnten Bodens abhängig ist. Die Bewohner der schwarzerdigen Tiefebenen, die Schilluk, Nuehr und Denka, zeichnen sich durch ein tiefes Schwarz der Hautfarbe aus, während die Bongo, Niam-niam und Monbuttu, welche ein rotes, eisenhaltiges Land bewohnen, eine rötliche Färbung besitzen.

Der Mudir befahl dem Neger, aufzustehen. Als er das gethan hatte, sah man, daß er von gedrungener, untersetzter und kräftiger Gestalt war. Die Muskeln seiner Beine waren kräftiger entwickelt, als man es sonst bei Negern zu beobachten pflegt. Seine Gesichtszüge näherten sich dem kaukasischen Typus. Der Mund war zwar aufgeworfen, aber klein, die Nase gerade und schmal. Die Augen waren groß und mandelförmig geschnitten; sie standen sehr weit voneinander ab und gaben dem vollen, runden Gesichte einen schwer zu beschreibenden Ausdruck kriegerischer Entschlossenheit und Vertrauen erweckender Offenheit.

Die Waffen des Knaben lagen neben ihm. Sie bestanden aus einem Bogen nebst einem mit Pfeilen gefüllten Köcher, einem Messer mit sichelartiger Klinge und einem Trumbasch oder Wurfeisen, welches als Waffe sehr gefürchtet ist. Dieses Eisen gleicht dem australischen Bumerang, ist mehrschenklig gebogen und mit scharfen Zähnen und Spitzen versehen. Die Cateja, welche in der Aeneide genannt und als eine Wurfkeule von zerschmetternder Wirkung beschrieben wird, ist jedenfalls auch eine ähnliche Waffe gewesen. - Außerdem trug der Knabe eine Art Schutzwaffe an sich, und zwar an den Armen. Diese steckten nämlich von der Hand bis zum Ellbogen in einer Menge von Metallringen, die eng aneinander lagen und eine schützende Manschette bildeten. Eine solche Armbekleidung wird Danga-Bor genannt und ist besonders bei den Bongonegern gebräuchlich.

Ganz eigenartig, und gar nicht unschön, war das Haar des Knaben geordnet. Dasselbe war zwar wollig, aber ziemlich lang. In lauter dünne Zöpfchen und diese wieder untereinander verflochten, bildete es auf dem Kopfe eine runde Krone, in welcher ein bunt schillernder Federbusch steckte. Rund um die Stirn, ganz an die Grenze des Haarwuchses befestigt, trug er einen eigenartigen Schmuck, welcher aus den Reißzähnen von Hunden bestand, die an eine Schnur gereiht waren ...

»Wie heißest du?« fragte ihn Schwarz.

»Ich bin der Sohn des Bjiä (26)«, antwortete der Neger in arabischer Sprache, in welcher er gefragt worden war. »Die Sandeh (27) heißen mich Nubah; der weiße Mann aber, welcher mich hierher sendet, hat mich Ben Wafa (28) genannt.« (29)

Da steht er also anschaulich vor uns, der leibhaftige Knabentraum, exotisch und doch einer wie unsereins, nicht über sechzehn Jahre alt; schön, wild und edel, und herrlich vollständig ausgerüstet mit allen Attributen für ein wunderbares Knabenspiel. Und fürchtet sich vor nichts und niemand: »Nein, denn mich fängt keiner. Ich bin ein Krieger und habe unsre Männer schon oft in den Kampf geführt«. (30) Jawohl, so verhält sichs: W i r, gewiß nicht über sechzehn Jahre alt, sind auch wer! Sind Söhne der Treue und stehen unseren Mann, wenn's drauf ankommt, und es kann kein Zweifel daran sein, daß für ihn und mit ihm, dem rotbraunen Freunde, unser zwölfjähriges Herz schlagen wird


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durch alle weiteren Kapitel dieses Buches hindurch, bis es am Ende heißen wird: Am schmerzlichsten war das Scheiden für den »Sohn des Geheimnisses« und den »Sohn der Treue«, doch ging auch das vorüber; dann segelten die Schiffe nach Norden ... (31)

Der »Sohn des Geheimnisses«, das ist die andere Spiegelfigur, Freund und »Pendant« der ersten, und sie tritt rund fünfzig Seiten später ins Spiel, nämlich als Steuermann des von Eingeborenen geruderten Kahnes, in dem Joseph Schwarz und Pfotenhauer vom Süden her den Nil abwärts reisen. Am Steuer saß ein vielleicht sechzehn Jahre alter Jüngling von heller Hautfarbe, welche entweder auf arabische Abstammung oder gemischtes Blut schließen ließ... Der Knabe am Ruder hatte schlichtes, dunkles Haar. Seine Kleidung bestand aus einem großen hellen Tuche, welches er wie eine Toga um sich geschlungen hatte ... (32) Nicht so exotisch-malerisch wie sein junger Negerfreund also wird er vom Autor eingeführt, aber er erweist sich im Zuge der Ereignisse nicht nur als überaus tüchtig und umsichtig, als ein wackerer kleiner Kerl, sondern mehr und mehr als eine Schlüsselfigur der Handlung. Denn ein »Sohn des Geheimnisses« ist er, weil seine Herkunft ungewiß ist, da man ihn in frühester Kindheit seinem arabischen Vater geraubt hat, und das Leid dieser beiden, Vater und Sohn, umeinander, die qualvolle Suche jedes von beiden nach dem anderen, am Ende das Glück des Wiederfindens -, das macht einen Großteil dieser abenteuerlichen Verwicklungen aus.

Nicht die Einzelheiten der vielfädig romanhaft verschlungenen Ereignisse, in die der Autor seine beiden Knaben-Protagonisten eingebracht hat, können für uns von weiterem Interesse sein, wohl aber stellen wir auch hier die Frage nach dem speziell didaktischen Sinn dieser Figuren. Er besteht vor allem anderen - und dies ist zu allen Zeiten ein wichtiges moralisches Anliegen Karl Mays gewesen - darin, daß es sich bei diesen das Miterleben, die Identifikation herausfordernden Spiegelgestalten um Andersrassige handelt, um »Eingeborene«, Unterentwickelte, denen mit Arroganz zu begegnen im Zeitalter kolonialer Imperien allgemein verbreitete europäische Unsitte war und für heranwachsende Angehörige einer »Herrenrasse« zweifellos eine große Versuchung sein mußte. Der gleiche tolerante Impuls, der den roten Bruder Winnetou entstehen ließ, hat hier den »Sohn der Treue« und den »Sohn des


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Geheimnisses« geschaffen. Und daß es sich so verhält, daß es dem Autor eine besondere Herzensangelegenheit war, die auf ihre eigene Art respektable Existenzform afrikanischer Völker bewußt zu machen, das beweisen die fast zahllosen Bemerkungen dieser Art, die der Autor über sein ganzes Buch hinweg verteilt hat, wie denn ja überhaupt das Kernthema, die Erzählung vom Leiden der Negerbevölkerung unter dem Terror der Sklavenjäger, von eben dieser Tendenz getragen ist. Ja, man könnte sagen, daß Karl May mit der Toleranz gegenüber fremden Lebensformen, die er vertritt und lehrt, sogar extrem weit gegangen ist, weiter vielleicht, als ihm auch mancher Wohlmeinende nachzufolgen bereit sein dürfte: »Da gebe ich dir vollständig recht, lieber Doktor«, sagte Schwarz. »Wir haben daheim noch eine ganz falsche Vorstellung von diesen Sudanvölkern. Um sie kennen zu lernen, muß man zu ihnen kommen.« - »So gefallen s' dir gut, he?« fragte der Graue. - »Gar nicht übel.« - »Auch wann s' Menschen fressen?« - »Auch dann, wenn sie nur mich nicht fressen. Sie haben gar keine Vorstellung von der Abscheulichkeit dieses Genusses; sie muß ihnen erst beigebracht werden. Nach geschlagener Schlacht verzehren sie die getöteten Feinde ...« (33)

Etwas weiteres kommt hinzu, was insbesondere die Person des größeren Knaben, den »Sohn des Geheimnisses«, betrifft. Mit außerordentlicher Eindringlichkeit hat der Erzähler gerade den Kummer veranschaulicht, der ihm erwachsen ist, weil er elternlos unter Fremden aufwachsen muß; andererseits auch, daß der Verlust seines Sohnes das Leben des Vaters von Grund auf verstört hat. Natürlich, es ist ein uraltes klassisches Sagenmotiv, ein schon zu Aristoteles' Zeiten ehrwürdiges Versatzstück der Epen und Tragödien, mit »Wiedererkennung« und »Glückwechsel« und insofern keine besonders originelle Erfindung unseres Autors. Indessen dürfte die besondere Variante, die er der Sache gegeben hat, den didaktischen Sinn dieser Episoden unterstreichen. Wenn die Fernensehnsucht, die Abenteuerlust, der Überdruß an bürgerlich-familiärer Einschränkung und ähnliche obstinaten Gefühle zum seelischen Inventar jener Zwölf- bis Sechzehnjährigen gehören, auch die konfliktschwangere Spannung zwischen Sohn und Vater manche Träumerei vom Ausreißen mit sich bringen mag (auch Ernst Jünger hat immerhin gestanden, seine »Afrikanischen Spiele« nicht ohne Anregung


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durch Karl May gespielt zu haben), dann mochte es der Autor mit Recht für angebracht halten, in seinem Geschichtenbuch dies deutlich sichtbare Warnzeichen aufzustellen. Es bedeutet: Man sei sich doch immer bewußt, wieviel menschliches Glück die väterliche Fürsorge und welches tiefe Unglück ihr Verlust für uns ist. Nicht daß er es so einfach seinen jungen Freunden gesagt hätte, das versteht sich, dazu weiß er allzu genau, daß, wer die Absicht merkt, verstimmt ist. Kein Wort also im Stil des Moralpaukers, umso mehr aber die eindrucksvolle, anschauliche und ganz einfach »fesselnde« Fabel: »O Allah, Allah, Allah! Er ist's, mein Vater, mein Vater!« Die frühere Furcht vor seinem Vater, die Abneigung gegen denselben, welche er zuweilen geäußert hatte, war plötzlich verschwunden. Er flog auf ihn zu und warf sich an seine Brust. (34)

6. D e r  Z a u b e r  l i e g t  i m  D e t a i l

Die erste Abteilung der Ghasuah, die Reiter, waren so schnell wie möglich der Fährte der beiden entflohenen Neger gefolgt. Der Fluß machte hier eine bedeutende Biegung nach links, also nach Osten; die Spur führte in fast schnurgerader Linie in eine baumlose Steppe hinein, deren kurzes Gras, von der Sonne verbrannt, wie vom Winde zerstreutes Heu am Boden lag. Der weit sich hinausdehnende Horizont war ringsum durch keinen einzigen erhabenen Punkt markiert.

Die Stapfen der Neger waren auf der harten Erde nicht zu erkennen; aber der Hund war seiner Sache gewiß, und geriet nicht für einen einzigen Augenblick in Unsicherheit.

Stunde um Stunde verrann. Die Strecken, welche man zurücklegte, wurden immer bedeutender, und noch immer war von den Flüchtigen nichts zu sehen. Sie mußten, wenn auch nicht im Galopp, doch immer im scharfen Trabe gelaufen sein, eine ganz außerordentliche Leistung, wenn man bedachte, daß sie einen Zeitvorsprung von nur zwei Stunden gehabt hatten.

Freilich waren die Pferde der Sklavenjäger bei weitem keine Radschi bak (35). Im Sudan verkommt die beste Pferderasse seht schnell, teils infolge der Feuchtigkeit zur Regenzeit, mehr noch aber durch die unvernünftige Behandlung seitens der dortigen Völker und der außerordentlichen Stechfliegenplage. Berüchtigt sind die Baudah- und Surrehtafliegen.

Zur heißen Jahreszeit trocknet der Boden so aus, daß die Pferde kein Futter finden. Da ziehen sich die Fliegen an die Flüsse zurück. Dann aber, wenn sich die Vegetation zu regen beginnt, entwickelt sich die Insektenwelt, und besonders die Familie der Dipteren, zu einer geradezu entsetzlichen Landplage. Ungeheure Schwärme stechender Mücken und Fliegen erfüllen die Luft und peinigen Menschen und Tiere auf das fürchterlichste. Die Pupiparen (36) bedecken dann die Pferde, Rinder, Kamele


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und andre Tiere in so ungeheurer Menge, daß die Haut gar nicht zu sehen ist. Die Surrehta (37) wird den Tieren geradezu lebensgefährlich; dasselbe sagt man auch von der berüchtigten Tsetse (38). Doch darf man ja nicht denken, daß der Stich oder Biß eines oder einiger dieser Insekten den Tod herbeiführt. Diese weitverbreitete Anschauung ist grundfalsch.

Geradezu undurchsichtige Mengen von Tabaniden, Culicinen, Sippobosciden, Musciden und wie sie alle heißen, hüllen die armen Tiere förmlich ein, so daß der ganze Körper derselben eine einzige große Wunde wird. Das unaufhörliche Ausschlagen, Stampfen und Sichbäumen ermüdet das befallene Tier, raubt ihm jede Ruhe und benimmt ihm auch den Appetit. Eine solche Tage, Wochen und Monate währende Tortur muß es krank machen, und schließlich umbringen. Der geringste Hautriß oder Satteldruck wird da zur jauchigen, von Maden wimmelnden Wunde, welche den Untergang des Tieres nach sich zieht. Die Pferde, Rinder und Kamele besitzenden Stämme ziehen um diese Zeit, um ihre Tiere zu retten, nach dem Norden.

Aus diesem Grunde und noch andern Ursachen wird man im Sudan selten gute Pferde zu sehen bekommen. Auch diejenigen, auf denen die Truppe Abd el Mots ritt, waren von der letzten Regenzeit und der jetzigen Dürre so mitgenommen, daß große Ansprüche an sie nicht gemacht werden konnten. Man mußte sie öfters langsam gehen lassen; sie trieften von Schweiß und hatten kurzen Atem. Diesem Umstande allein hatten die beiden Neger es zu verdanken, daß sie nicht so schnell eingeholt wurden.

Gegen Mittag rückte der östliche Horizont näher. Ein schwarzer Strich, welcher sich dort zeigte, ließ auf Wald schließen. Der Bahr-Djur-Arm des weißen Niles kehrte von seinem Bogen zurück. Die Gräser waren hier weniger dürr, und endlich traten einzelne Suffarahbäume vor die Augen. Diese Akazienart hat eigentümliche Anschwellungen an der Basis der Stacheln, aus denen sich die sudanesischen Jungens Pfeifen zum Spielen machen. Suffar heißt im sudanesischen Dialekte »pfeifen«; daher der Name dieses Baumes. (39)

Wir haben das hier vorliegende höchst charakteristische Stückchen Prosa mit Bedacht aus seinem Erzählzusammenhang gewissermaßen herauspräpariert; und zweierlei ist an diesem literarischen Präparat zu beobachten: seine didaktische Struktur und sein spezifisch ästhetischer Wert bezüglich der hier vorliegenden Technik des Erzählens.

Was die didaktische Struktur betrifft, so belegen wir hier exemplarisch jenes Verfahren, von dem schon andeutend gesprochen wurde. Es ist die Kunst, ein Stück Geographie-Unterricht in den Fluß der Erzählung nicht nur einzubetten, sondern es in dem Sinne zu integrieren oder - wenn man so sagen will - zu amalgamieren, daß solches Lehrmaterial selbst ein für den Ablauf der eigentlichen Handlung notwendiges Gliedstück, ein »Motiv« der Erzählung wird. Wie verhält es sich damit in diesem Fall? Der Erzähler ist mitten in seiner Geschichte von Tolo und Lobo, den beiden Negersklaven, denen es gelungen ist, aus


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der Gefangenschaft auf der Seribah der Sklavenjäger zu entfliehen. Aber natürlich kann nach Lage der Umstände ihre Flucht nicht lange unentdeckt bleiben. Zwei Stunden Vorsprung, so hat sich's ergeben, haben sie zwar, aber nun hat sich die Streitmacht der Sklavenräuber auf ihre Fährte gesetzt, und beritten, wie sie ist, müßten die Flüchtlinge in der weit offenen Steppe von ihrem Schicksal bald ereilt werden. Doch der Autor hat es mit ihnen anders vor. Er will sie gerettet werden und denjenigen Punkt des Nilufers erreichen lassen, wo gerade eben jetzt Joseph Schwarz und Ignatius Pfotenhauer mit ihrem Ruderboot anlangen werden. Aber sind nicht die Reiter den armen Fußgängern so sehr überlegen, daß sie sie unbedingt einholen müssen? Keineswegs, so macht uns nun der Autor klar, denn erstens, rechnet er uns vor, sind das so treffliche Läufer, und zweitens hapert es eben mit den Pferden. Wieso das? Ja, da muß man eben mal kurz einen Blick auf die Topographie, die Fauna und Flora der Sudanlandschaft werfen. Und das läßt er uns nun tun, kurz aber gründlich, einen ganzen Jahreszeitwechsel läßt er vor unseren Augen passieren, das Mücken- und Fliegen-Inferno, die ganze pharaonische Landplage, führt er uns schwirrend und brausend herauf, und selbst der Maden in den eiternden Wunden ist nicht vergessen. Begreifen wir nun, warum diese Pferde hier nicht das leisten können, was andere Pferde anderswo vor sich bringen? Wir begreifen es jetzt, und daß wir, so nebenher, soeben ein bißchen Geographiestunde hatten, das geht unserer zwölfjährigen Welt-Neugierde glatt mit in den Kauf. Denn es gehört ja zur Geschichte!

Und inzwischen kommt der östliche Horizont näher, da winkt Rettung, ein Waldstrich, der unsre Flüchtlinge bald aufnehmen und ihnen Versteck gewähren wird. Schon gibt es vereinzelt Bäume. Aber meint man etwa, damit gäbe sich dieser Erzähler zufrieden, uns mitzuteilen, daß da nun Bäume stehen, ganz einfach irgendwelche »Bäume«? Um keinen Preis tut er das, es müssen vielmehr ausgerechnet Suffarah-Bäume sein, eine ganz besondere Akazienart, von der nämlich (er hat nicht vergessen, w e m er das alles erzählt) die sudanesischen Jungens sich ihre Pfeifen schneiden.

Wohlgemerkt: hat die Sudan-Topographie, mit der der Autor den raschen Fortgang der Geschichte erst einmal unterbrochen hat, auch in erster Linie ihren lehrhaften Wert, so hat sie denn doch - außer, daß


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sie uns den schlechten Zustand der Pferde erklärt - eine weitere Bedeutung in Bezug auf die epische Technik. Keineswegs nämlich, daß uns die Abschweifung in die Geographie etwa den Faden der Geschichte verlieren ließe und womöglich gar die »Spannung« unterbräche, ist vielmehr gerade der Kunstgriff, den Ablauf der Geschehnisse erst einmal für eine Weile auszusetzen, ein beliebter Trick des Erzählers, unsere Spannung, d. h. die Ungeduld, endlich zu erfahren, wie das Abenteuer ausgehen wird, aufs höchste zu steigern. Dem Leser wird eingeheizt, und das ist recht so.

Unser Beispiel gibt aber auch Anlaß zu einer weiteren literarästhetischen Betrachtung. Wie er, unser Autor, sich nicht mit bloßen »Bäumen« zufrieden gibt, sondern genau ins Detail geht, so hat er sich auch nicht damit begnügt, uns einfach, klipp und klar von einer »Insektenplage« zu berichten, sondern er hat sie alle für uns aufgeboten: die Tabaniden, Culicinen, Sippobosciden, Musciden, die Surehta, die Tsetse und die Pupiparen, und wenn dies alles auch mehr oder weniger nur Wörter sind, deren genaue Bedeutung zu erfassen der naive, ungelehrte Leser nicht in der Lage sein dürfte, so hat der Klang dieser Namen doch seine Wirkung, das Bedrohliche, Bösartige, Lästige und Unheimliche der Phantasie dieses Lesers recht anschaulich zu machen. Das hat beschwörende Kraft, es wirkt wie ein Zauber, der uns die Realität, die Wahrheit des uns Mitgeteilten unmittelbar zu garantieren scheint.

Und der Zauber liegt im Detail.

Wenn wir in unseren Betrachtungen davon ausgegangen sind, daß wir gefragt haben, woher die literarischen Masern unserer Halbwüchsigen, das Karl-May-Fieber, wohl rühren möchten, so haben wir hiermit ganz ohne Zweifel wieder ein wenig mehr von dem Geheimnis des seltsamen Zauberers gelüftet. Er zaubert W a h r h e i t mit keinem anderen Mittel als mit dem einer scheinbar bis ins Pedantische gehenden Genauigkeit des Details. Die psychologische Wirkung, die das hat, kann man so beschreiben: aus der Tatsache, daß der Erzähler sich die Mühe und die beschwerlichen Umstände macht, uns seine Sache bis in die klitzekleinen Einzelheiten zu erläutern, muß man doch füglich schließen, daß alles das w i r k l i c h   w a h r ist. Denn warum sollte er sich sonst die Arbeit machen und wie sollte er sonst überhaupt darauf verfallen? Daß immer nicht das Was einer Begebenheit, sondern das


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Wie von Interesse ist, dieses uralte Gesetz der epischen Technik haben wenige so konsequent befolgt wie dieser unser Autor. Das ist - mehr noch, als daß er so »spannend« geschrieben hat - der Hauptgrund dafür, daß er seine jungen (und alten) Leser so sehr zu fesseln, in den Bann zu schlagen vermag, und auch natürlich für das eine Zeitlang so gängige Mißverständnis, als habe er, Karl May, etwa die Geschichten des Old Shatterhand und des Kara Ben Nemsi leibhaftig selbst erlebt.

Noch an einem anderen Baum aus unserer Geschichte will ich zeigen, was gemeint ist. Dabei geht es um das Schicksal des Professors Joseph Schwarz, der in Begleitung des geheimnisvollen »Elefantenjägers« (er wird sich später als der verlorene Vater des »Sohns des Geheimnisses« entpuppen) aufgebrochen ist, um die armen Niam-niam im Süden vor dem Überfall der Sklavenjäger zu warnen. Dabei passiert ihnen nämlich ein Mißgeschick, das die Vorsehung in Gestalt des planenden Geschichtenautors über die beiden verhängt hat: sie werden von den Sklavenjägern ihrerseits gefangengenommen. Wie aber nun das, wo sich's doch um zwei so kluge, umsichtige Leute handelt? Wie konnte es geschehen, daß man sie heimlich hat beobachten und schließlich überraschen können! Nicht anders als so, daß da jemand unbemerkt hinter einem Baum versteckt gewesen sein müßte. Aber wie kommen Menschen dahin, so rein zufällig, denn die Absicht, unsere Freunde zu beschleichen, können sie nicht gehabt haben, weil sie ja von deren Existenz noch gar nichts wissen? Unser Autor hat das Problem auf seine bewährte Art gelöst. Es kann sich natürlich auch hier nicht um irgendeinen Baum schlechthin handeln, es muß schon ein ganz besonderer sein, wenn auch nicht ein solcher, von dem man sich Pfeifen schneidet. Das hört sich nun so an:

Als die beiden Reiter das Ufer ... erreichten, befanden sie sich zwischen hohen Kafalahbäumen (40), von deren Stämmen und Ästen lose Epidermisfetzen hingen, welcher Umstand ihnen die botanische Bezeichnung papyrifera verliehen hat. Die dünneren Zweige trugen eine Menge kunstvoller Nester, welche von zahlreichen Orangewebervögeln bevölkert waren. Auf der Sohle des breiten Flußbettes stand ein fast undurchdringliches Dickicht von Ambag (41), welcher Strauch in der heißen Jahreszeit bis auf die Wurzel abzusterben und während oder nach der Überschwemmung sich zu erneuern pflegt. Diese Büsche standen noch, weil es an diesem Orte zurückgebliebenes Wasser gab. Man ersah aus der deutlichen Fährte, daß die Sklavenjäger am diesseitigen Ufer hinab, an diesem Wasser vorüber und jenseits wieder hinaufgegangen waren, ohne anzuhalten und ihre Tiere zu tränken.


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»Ich begreife nicht, warum sie das nicht thaten«, sagte Bala Ibn. »Unsere Kamele sind jedenfalls müder als die ihrigen, und wir müssen ihnen hier eine kurze Rast gönnen.«

Die beiden stiegen ab und leiteten ihre Tiere die Steilung hinunter bis an das Wasser. Dort setzten sie sich an einem Busche nieder, welcher von dichten Cissuswinden durchschlungen war. Während sie ihre Tiere trinken und dann an den Sträuchern knuspern ließen, sprachen sie über die Absicht ihres gegenwärtigen Rittes miteinander, und zwar nicht in leisem Tone. Sie glaubten sich vollständig allein, befanden sich dabei aber leider im Irrtume.

Auf der Höhe des andern Ufers stand ein Schedr es simm (42), an dessen Stamm zwei Männer gegessen hatten. Die Euphorbie war von ihnen angebohrt worden, und der Saft tropfte in ein untergestelltes Trinkgefäß. Beide waren Neger, nur mit dem Schurz bekleidet; aber ihre Bewaffnung, welche aus Messer und Flinte bestand, bezeichnete sie als Asaker (43), die zu Abd el Mot gehörten.

Schwarz und der Araber ahnten, als sie sich dem Regenbette näherten, nicht, daß sie sich ganz in der Nähe der Sklavenjäger befanden. Sie hatten nicht sehen können, daß es jenseits des Chors eine Maijeh gab, deren Wasser der Entstehung eines kleinen Waldes günstig gewesen war. In diesem letzteren hatte Abd el Mot, welcher die Gegend von früher her kannte, sein Lager aufgeschlagen ...

Beim Passieren des Regenbettes hatte einer der Asaker die Euphorbie gesehen und war dann mit einem seiner Kameraden zurückgekehrt, um sich in den Besitz des Saftes zu setzen, mit welchem man Messer, Lanzen und Pfeile zu vergiften pflegt. Während diese beiden Männer mit dieser Arbeit beschäftigt waren, erblickten sie zu ihrem Erstaunen die zwei Reiter, welche auf ihren müden Kamelen sich langsam dem Chor näherten.

»Zwei Weiße!« sagte der eine. »Wer sind sie, und was können sie hier nur wollen?« (44)

Das, so muß man sagen, ist ohne Zweifel wieder so ein Stück epischer Qualitätsarbeit. Hier ist alles in sich schlüssig und sind alle Umstände mit einer solchen Präzision und anschaulichen Ausführlichkeit wiedergegeben, daß dem Leser kein anderer Schluß übrigbleibt als der: es kann in Wahrheit gar nicht anders gewesen sein. Das ist Imagination, ist die Illusion einer Wirklichkeit; es ist die Kunst, Wahrheit zu erfinden, die das Genie des Erzählers ausmacht. Je mehr anschauliches Detail er aufbietet, umso vertrauenswürdiger wird er seinem Publikum: als Gewährsmann dafür, daß das, wovon er erzählt, auch tatsächlich e c h t ist. Wir nennen das die »d i c h t e r i s c h e Wahrheit« und meinen damit - horribile dictu - natürlich im Grunde dasselbe, was, auf einer anderen Plattform als der literarischen, die Gabe, recht überzeugend zu l ü g e n, genannt werden müßte. Daß diese Gabe - überzeugend zu lügen - im übrigen recht speziell auf dem Felde des Kriminellen den Hochstapler charakterisiert, das mag darauf hindeuten, welche seltsame


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Problematik sich uns hier in bezug gerade auf den Menschen und Schriftsteller Karl May auftut. Wir wollen in diesem Zusammenhang nicht näher darauf eingehen, aber doch dies noch zu erwägen geben. Zu der Zeit, als über den alternden Schriftsteller Karl May die Diffamierungskampagne der Presse hereinbrach, weil damals seine lange zurückliegenden Vorstrafen bekannt wurden, ging ein Slogan durch den Blätterwald, der lautete: »Der Verbrecher als Erzieher«. Das war speziell auf Karl Mays Rolle als Jugendschriftsteller gemünzt. Und die Empörung über eine solche heuchlerische Doppelrolle warf sich pharisäisch in die Brust. Wir hingegen, aus dem historischen Abstand nicht nur, sondern auch, wie wir meinen, aus der besseren Einsicht, sagen ausdrücklich: Ja, es ist so, denn die gleiche Fähigkeit schöpferischer Phantasie, die den unberatenen Jugendlichen einst in die abenteuerlichen Köpenickaden seiner Hochstaplerstreiche gerissen hatte, entpuppte sich, ins Literarische sublimiert, als das Genie des Epikers und als diejenige Faszinationskraft, die allein das Interesse sehr junger Leser zu erwecken und festzuhalten vermag. Als conditio sine qua non.

Noch an einem dritten Beispiel mag gezeigt werden, welche Schärfe, welche Genauigkeit die Bilder seiner Phantasie unter der Feder dieses Autors anzunehmen vermögen. Eine Infernoszene blendet auf, als Emil Schwarz und Pfotenhauer aus einem Versteck den Zug der Sklavenkarawane an sich vorbeiziehen sehen:

Nun bot sich den beiden ein Anblick, welcher ihre Herzen erzittern machte. Sie hatten eine Ghasuah, eine Sklavenkarawane vor sich.

Von dem Pferde eines der vorderen Reiter ging ein Seil aus, welches um die Hälse von fünfzehn hintereinander schreitenden männlichen Negern, deren Hände man auf den Rücken gebunden hatte, geschlungen war. Die Schwarzen waren vollstandig unbekleidet und ihre Körper mit aufgesprungenen Schwielen bedeckt. Sie hatten wohl nicht die verlangte Fügsamkeit gezeigt und infolgedessen die Peitsche bekommen.

Nun folgten drei Reiter und hinter denselben zwölf Neger, welche ebenso gefesselt waren. Außerdem trug oder vielmehr schleppte jeder einen schweren Holzklotz je an einem Fuße. Auch sie waren mit Schwielen bedeckt und konnten sich kaum mehr fortbewegen.

Hinter diesen und wieder andern Reitern kam eine Reihe von Sklaven, welche die gefürchtete Schebah trugen, eine schwere Holzgabel, in welcher der Hals des Gefangenen steckt.

Dann kamen schwache Frauen und Mädchen, welche Lasten schleppten, unter denen sie fast zusammenbrachen. Dabei waren ihnen kurze Stricke an die Fußknöchel gebunden, so daß sie nur kleine Schritte machen und an Flucht nicht denken konnten.


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Ihnen folgten eng gefesselte Knaben, deren Gesichter zum Erschrecken unförmig geschwollen waren. Man hatte ihnen die Guluf geschnitten, das heißt drei Messerschnitte in jede Wange gemacht, als ewiges sichtbares Zeichen der Sklaverei. Die Wunden eiterten und wurden von Insekten durchwühlt.

Ein weiteres Glied des Zuges bildete eine Anzahl von Negern, denen die Hände an die Knie festgebunden waren, so daß sie in gebückter Stellung, mit waagerechtem Oberkörper gehen mußten. Kurz, die Feder sträubt sich, die Qualen zu schildern, welche man angewendet hatte, um die Gefangenen gefügig zu machen und sie an der Flucht zu verhindern. Einer Mutter war sogar der verwesende Leichnam eines wohl achtjährigen Knaben, jedenfalls ihres Kindes, auf den Rücken gebunden worden. Sie hatte unter stetem Weinen nach ihm verlangt, und da war er erschossen und in dieser schrecklichen Weise mit ihr vereinigt worden. (45)

Ein Schreckensbild also, eine Szene, wie aus Dantes Inferno genommen, und eine jener Textstellen übrigens, über deren didaktische Bedeutung und Zulässigkeit in einem Buch, das für Knaben und Jugendliche bestimmt ist, sicherlich diskutiert werden könnte angesichts derjenigen unter den Kritikern dieses Schriftstellers, die vorzugsweise immer auf Züge von sogenanntem Sadismus in seinen Büchern hingewiesen haben. Wir wollen später darauf zurückkommen. Hier geht es darum, der epischen T e c h n i k dieses Autors auf die Spur zu kommen. Und man sieht, es geht hier genau so zu wie bei der Veranschaulichung jener Fliegenplage oder dem Genauigkeitsfanatismus, der einen Baum nicht einfach nur einen Baum sein läßt. Hier zieht nicht eine graue, amorphe Elendsmasse vorüber, sondern gestalthaft klar wird sie uns vom Erzähler in ihre differenzierenden Einzelheiten aufgelöst. In Gruppen zunächst, deren genaue Zahlen wir sogar zur Kenntnis zu nehmen haben: Fünfzehn Neger zuerst, mit den Hälsen an einem langen Seil gefesselt, dann ihrer zwölf mit Klötzen an den Füßen, dann diejenigen, die die gefürchtete Schebah trugen, die Frauen und Mädchen sodann, unter den Lasten zusammenbrechend, die Knaben schließlich mit ihren eiternden Wunden im Gesicht. Und, als sei ihm auch dies noch allzu summarisch, hebt der Erzähler, exemplarisch und gleichsam in Großaufnahme, noch die Figur jener unglücklichen Mutter heraus, die den verwesenden Leichnam ihres Kindes auf dem Rücken trägt. Was aber eine »Schebah« ist, das hat er (außer der hier stichwortartigen Bemerkung) schon 330 Seiten vorher seinen Lesern ausführlich erzählt: Unter Schebah versteht man einen schweren Ast, dessen eines Ende eine Gabel bildet. In diese Gabel wird der Hals des Sklaven während des Trans


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portes gesteckt und durch ein Querholz festgehalten. Der Ast geht nach vorn; an ihn werden die Hände des Gefangenen, mit denen dieser ihn tragen muß, gebunden. Dadurch behält der Gefesselte den freien Gebrauch der Füße und ist dennoch am Entrinnen verhindert. (46)

Man meine nun beileibe nicht, wir hätten irgend Mühe gehabt, Textstellen aufzufinden, um den besonderen epischen Stil, von dem hier die Rede ist, exemplarisch zu belegen. Vielmehr ist es gerade diese Detailbesessenheit, die die Gesamtheit des Buches (wie übrigens auch aller anderen Reiseerzählungen Karl Mays) bis in alle Teile hinein durchgehends charakterisiert. Das ist s e i n Stil und gewissermaßen das Gütezeichen, an dem man ihn erkennt. Sollte man sagen: seine Virtuosität? Denn offenbar verhält es sich so, daß dieser Schriftsteller, dem seiner ganzen Art nach Differenzierung und Verfeinerung seiner epischen Mittel durch Verinnerlichung, Psychologisierung, Beseelung versagt blieb, diesen Ausfall durch seine Leidenschaft für das Detail der räumlichen, sichtbaren Erscheinungswelt schöpferisch kompensiert hat.

In dieser Epik der Taten und Tatsachen gibt es aber kein lyrisch-gefühliges Ungefähr, kein Halbdunkel, kein verschwommenes Andeuten, sondern stets Präzision des Faktischen, die bei aller Ausschweifung bis in mammuthafte Romanstrukturen nirgends die Plastik des Einzelnen, die Genauigkeit der Konturen aus dem Auge verliert. Gewiß, es ist eben nicht die hochgezüchtete, verinnerlichte und psychologisierte Struktur, die moderne Romanciers vom Schlage eines Thomas Mann kultiviert haben, es ist ein urtümliches, irgendwie vorwelthaftes, irgendwie bei Homer, bei den Sagas beheimatetes Gebilde, das dieser seltsame Autor noch mitten in die differenzierte Literaturwelt der Moderne hineingestellt hat. Aber daß diese Zeit es so bereitwillig aufnahm, sein unzeitiges Erzählwerk, so daß es mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Tode seines Schöpfers noch fort und fort zu wirken vermag, und es ist kein Ende abzusehen, das beweist doch, wie zeitlos gültig sich in ihm ein sehr lebenszäher Typus des Epischen dargestellt hat, ja vielleicht, wie Hermann Hesse es formulierte, »ein Typus von Dichtung, der unentbehrlich und ewig ist«. (47)

Die spröde Härte des Faktischen, die ein Werk wie die »Sklavenkarawane« kennzeichnet und die, wie wir meinten, etwas von den frühen epischen Schöpfungen der Menschheit konserviert zu haben scheint,


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sie ist ohne Zweifel der spröden Sachlichkeit und Knabenhärte derer verwandt, die sich als Leser davon angesprochen finden. Und was den Zauber betrifft, der im Detail liegt, so ist es, wenn wir Thomas Mann glauben wollen, der »Genius der Epik selbst«, der, wie er sagt, überall da am Werke ist, wo ein Abbild der Welt »großartig und g e n a u« und mit »unzähligen Episoden und Einzelheiten« gegeben wird, mit Einzelheiten, »bei denen er selbstvergessen verweilt, als käme es ihm auf jede von ihnen besonders an«. (48)

(Fortsetzung und Schluß im nächsten Jahrbuch)


Die angeführten Texte aus »Die Sklavenkarawane« werden zitiert nach der Ausgabe der Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig, o. J., 3. Aufl. (im folgenden »Skl.« abgekürzt). Die in Klammern beigefügten Zahlen beziehen sich auf die Leseausgabe des Karl-May-Verlages, Bamberg, Gesammelte Werke, Bd. 41.

21 Sklavenraubzug (Anmerkung Karl Mays)

22 Skl. 15 f. (22 - 24)

23 Skl. 194 f. (566 - 67)

24 Fritz Prüfer, Die Jugendschrift »Der Blaurote Methusalem«, methodisch-psychologische Streiflichter, in: Karl-May-Jahrbuch 1918, 98 - 112

25 Skl. 313 f. (368 f.)

26 König der Niam-niam (Anm. K. Mays)

27 So nennen sich die Niam-niam selbst (Anm. K. Mays)

28 »Sohn der Treue« (Anm. K. Mays)

29 Skl. 96 - 98 (120 - 22)

30 Skl. 99 (123)

31 Skl. 494 (566)

32 Skl. 150 (186 f.)

33 Skl. 151(188)

34 Skl. 485 (556)

35 Vollblut (Anm. K. Mays)

36 Lausfliegen (Anm. K. Mays)

37 Pangonia (Anm. K. Mays)

38 Glossina morsitans (Anm. K. Mays)

39 Skl. 141 - 43 (176 - 78)

40 Boswellia papyrifera (Anm. K. Mays)

41 Herminiera (Anm. K. Mays)

42 Giftige Euphorbie (Anm. K. Mays)

43 Soldaten (Anm. K. Mays)

44 Skl. 220 - 22 (272 - 74)

45 Skl. 456 f. (527 f.)

46 Skl. 227 (280)

47 Vossische Zeitung v. 9. 9. 1919; Neudruck in: Hesse, Gesammelte Werke Bd. 12 (Schriften zur Literatur 2), Frankfurt 1970, 354 ff.; vgl. Mitt. der KMG Nr. 5/Sept. l970

48 Thomas Mann, Die Kunst des Romans, in: Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, 2. Bd., Fischer-Bücherei (1968) S.353


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