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HEINZ STOLTE

Literaturbericht




1. Fritz M a s c h k e: Karl May und Emma Pollmer, die Geschichte einer Ehe = Beiträge zur Karl-May-Forschung, Band 3. Karl-May-Verlag, Bamberg 1973, XX u. 259 Seiten.

2. Ingrid B r ö n i n g: Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem. Aloys Henn Verlag, Ratingen, Kastellaun, Düsseldorf 1973, 235 Seiten.

3. Gert A s b a c h: Die Medizin in Karl Mays Amerika-Bänden. Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Zahnmedizin der medizinischen Fakultät der Universität Düsseldorf, 1972 (Dissertationsdruck), 90 Seiten.

4. Gert U e d i n g: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1973, 206 S.

1.

Das seit langem angekündigte Buch von Fritz Maschke über Karl Mays Ehe mit Emma Pollmer ist nunmehr vom Bamberger Karl-May-Verlag als dritter Band der von mir betreuten Reihe der »Beiträge« in stattlicher äußerer Gestalt und sorgfältiger, großzügiger Drucklegung herausgebracht worden. Der Verfasser, Mitglied der Karl-May-Gesellschaft und langjähriger Forscher in Sachen dieses Autors, hat sich in seinem Werk die Aufgabe gesetzt, das Bild der Emma Pollmer, das im Zuge der Ehewirrnisse und der sich daran anschließenden Prozesse zweifellos über Gebühr ins Negative verzerrt worden ist, objektiver und gerechter, als es bisher allgemein üblich gewesen ist, zu würdigen. Wie weit dieses Ziel erreicht werden konnte, muß ich als Herausgeber


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dieser Schrift dem Urteil des kritischen Lesers überlassen. Jedenfalls wird ihm hier ein ausführliches und aus vielerlei bisher unbekannten persönlichen Zeugnissen angereichertes Lebensbild vor Augen geführt: »Bedrängnis«, »Geldsorgen«, »Geldsegen«, »Sturmzeichen«, »Zerrüttung«, »Umnachtung« - das sind die Kapitel der Darstellung und die Stationen des hier nachgezeichneten Schicksals. Indem dabei einmal nicht Karl May selbst, sondern Emma Pollmer im Mittelpunkt des Interesses steht, wird die Entwicklung des Schriftstellers diesmal von einem uns bisher ungewohnten Aspekt her ausgeleuchtet.

Doch nicht nur der darstellende Text, sondern auch der ihm beigegebene Anhang der »Dokumentation«, der die ganze zweite Hälfte des Buches ausmacht, dürfte das besondere Interesse aller künftigen Benutzer dieses Werkes finden. Künftiger Forschung wird hier zum ersten Male Material an die Hand gegeben, das bisher mehr oder weniger unzugänglich in Archiven schlummerte. In erster Linie handelt es sich dabei um den vollständigen Abdruck der Prozeßakten zur sogenannten »Affäre Stollberg«, jenem letzten der insgesamt vier Kriminalverfahren gegen den Schriftsteller, das im Jahre 1879 noch einmal mit seiner Verurteilung zu drei Wochen Gefängnishaft endete. Die Vollständigkeit des Materials zu diesem Fall ermöglicht einen sehr detaillierten Einblick in Begebenheiten, die sich zu einer geradezu novellistisch geschlossenen Episode zusammenfügen. Unbefugte »Ausübung eines öffentlichen Amtes« nannte die Anklage jenes unglückselige Unternehmen, in dem sich der spätere Autor des Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi in einer Detektivsache versuchte, um den plötzlichen und gewaltsamen Tod Eduard Emil Pollmers, eines Onkels der Emma Pollmer, aufzuklären. Seine Recherchen hatten ein paradoxes Ergebnis, denn statt einen Mörder zu entlarven, geriet er selbst ins Gefängnis. Daß Karl May in diesem Falle bitteres Unrecht geschehen ist, das hat der Marburger Strafrechtler Prof. Dr. Erich Schwinge, der schon vor kurzem den Fall Karl May auch in seinem großen Sammelwerk »Berühmte Strafprozesse« (unter dem Pseudonym Maximilian Jacta) behandelt hatte, in Form eines den Stollberg-Akten vorangestellten Gutachtens nachgewiesen. Für ihn ist dieser Fall »nicht nur literaturhistorisch, sondern auch rechtsgeschichtlich und soziologisch aufschlußreich und interessant«.


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Ein weiteres Bündel Prozeßakten des Amtsgerichts Dresden aus den Jahren 1890 und 91 betrifft Zahlungsklagen gegen Karl May und beleuchtet auf diese Weise dokumentarisch seine wirtschaftliche Lage in jener Zeit, über die gemeinhin noch immer märchenhafte Vorstellungen im Schwange sind. Schließlich enthält der Anhang noch eine Sammlung von 29 Privatbriefen von Karl May und Emma, einige Gelegenheitsgedichte des Autors, 17 Abbildungen und 13 Faksimile-Wiedergaben.

2.

Das bedeutsame Thema, dem sich das Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft schon im Band 1972/73 mit einer Untersuchung »zur didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch "Die Sklavenkarawane"« zugewandt hat und dessen Erörterung in diesem und dem kommenden Bande weiter fortgesetzt wird, hat nun, unabhängig hiervon, auch eine wissenschaftliche Behandlung vor dem akademischen Forum erfahren. Ingrid Bröning promovierte in Marburg mit einer erziehungswissenschaftlichen Dissertation über »Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem«. Die Arbeit ist soeben im Aloys Henn Verlag als Buch erschienen. Schon das Faktum als solches ist ja geeignet, als ein höchst erfreuliches gebucht zu werden, denn zum einen war es endlich an der Zeit, daß auch von Seiten der Erziehungswissenschaft ein für sie doch so eminent wichtiges, ja geradezu provozierendes Phänomen, dieser einmalige, große Modellfall der Literaturpädagogik, entdeckt und einer wirklich exakten, methodischen Analyse unterzogen werden mußte -, und zum anderen wird der Kenner des bisherigen Diskussionsstandes zur Literaturpädagogik es als bemerkenswert ansehen, daß ein so renommierter wissenschaftlicher Verlag, dessen einschlägige Publikationen bisher eher der Verdammung Karl Mays zuneigten (Fronemann), nunmehr einer Abhandlung Freistatt gewährt, in der - alles in allem - dieser Autor mit gewichtigen Gründen als ein positiv zu wertender Entwicklungshelfer pubertärer Altersstufen ausdrücklich rehabilitiert wird.

Dieses Buch wird Aufsehen machen. So gewiß es nämlich ist, daß der Jugendliebling Karl May mit seinem säkularen Leseerfolg noch


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immer den meisten unserer Pädagogen höchst fatal ist, so gewiß gehört auch immer noch ein Quantum Mut dazu, eine These wie die oben angedeutete vor der Phalanx der Fachgenossen zu vertreten. Kein Wunder also das bedächtige Nicken der Köpfe und Hochziehen der Augenbrauen im engeren Kreise unserer Karl-May-Experten: ob der Tatsache nämlich, daß diese »Lanze« von weiblicher Hand geführt wurde, wo doch die Vorliebe für Winnetou und Old Shatterhand gemeinhin nicht dem schwachen Geschlecht, sondern den knallharten Knaben als Lese-Laster nachgesagt wird.

Aber im Ernst: Ingrid Bröning hat ihre Sache mit umfassender Kenntnis ihres Forschungsgegenstandes, der Reiseerzählungen Karl Mays, mit bedeutender Sorgfalt und Umsicht, vor allem aber mit methodischer Klarheit beim Herausarbeiten der möglichen Aspekte ihrer Analyse dargestellt. Vom »Dilemma der Literaturpädagogik« (S. 11) in bezug auf Karl May geht sie aus (und übrigens in nahezu wörtlicher Übereinstimmung mit dem, was w i r im Jb. 1972/73, S. 171 auch als »Dilemma« bezeichnet haben!), um angesichts der immer nur pauschalen und peripheren oder unqualifizierten Urteile über May, die von Seiten der Literaturpädagogik bisher allein vorliegen, ihr Vorhaben einer solchen umfassenden Untersuchung zu begründen. Im ersten Hauptteil ihres Buches entwirft sie sodann eine kurze Biographie des Autors, im Anschluß an Wollschlägers Rowohlt-Buch vor allem, aber unter Herausstellung derjenigen psychologischen (und psychoanalytischen) Gesichtspunkte, deren Erfassung für die Deutung des Werkes vom Standpunkt einer pädagogischen Psychologie wesentlich erscheint (Blindheit, Großmutterbindung, Bedeutung des Vaters, Spaltung des Ich usw.). Wir werden - ungeachtet vielleicht einiger kleiner Ungenauigkeiten - ihrem klugen Urteil in diesen Ausführungen im ganzen zustimmen.

Der zweite Hauptteil der Arbeit fragt nach den Bewertungsgrundsätzen für »das gute Jugendbuch«, wie sie bisher von der herkömmlichen Literaturpädagogik erarbeitet worden sind, faßt diese zusammen nach ihren Hauptpunkten und mißt daran den vermuteten pädagogischen »Wert« der Reiseerzählungen. Schon hierbei ergibt sich ihr ein im ganzen positives Fazit: die Reiseerzählungen als »Kunstwerk«, ihre Altersangemessenheit, ihre Bedeutung für die »Erweiterung des Blick


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feldes« und die Rolle der May-Lektüre für die Förderung der Persönlichkeitsentfaltung werden nach weiter differenzierten Themenkreisen im einzelnen untersucht, wobei sich herausstellt, daß ganz offenbar diese Bücher gerade den programmatischen Forderungen auch derjenigen Pädagogen, die sie bisher immer verdammt haben, auf eine erstaunliche Weise entsprechen. Demgegenüber sieht die Verfasserin auch gewisse Züge in den Reiseerzählungen, die ihr problematisch erscheinen: so beispielsweise »die dualistische Weltordnung« und das ihr entsprechende »Menschenbild« sowie den bei Gelegenheit abenteuerlicher Unternehmungen in Erscheinung tretenden »autoritären Führungsstil«.

Der besondere und originale Beitrag Ingrid Brönings, über die Anwendung herkömmlicher Kategorien und Prinzipien hinaus, liegt aber im dritten Hauptteil ihrer Untersuchung. Die herkömmliche Literaturpädagogik, so meint die Verfasserin, hat darin ihre allzu engen Grenzen, daß sie sich damit zu begnügen pflegt, Literatur- K r i t i k zu sein und gute oder schlechte Zensuren an Jugendbücher zu verteilen. Jenseits davon aber beginnt erst die eigentliche und zentrale Forschungsaufgabe, sofern Literaturpädagogik wirklich »pädagogisch relevant werden will« (S. 12). Nicht die »intentionalen« Erziehungstendenzen solcher Bücher gilt es zu zensurieren, sondern die tatsächlich von ihnen erzielte Wirkung, ihre nachweisbare »Faszinationskraft« soll erklärt und gedeutet werden. Im Falle Karl Mays ist solche Faszinationskraft unleugbar seit Jahrzehnten bewährt. »Bis hin zur Süchtigkeit« werden junge Leser von seinen Büchern gefesselt. Wenn dies aber so ist, so muß man annehmen, daß Kinder im pubertären Alter in ihnen etwas finden, was nicht nur ihr Bewußtsein, ihre Vorstellungskraft beschäftigt, sondern tief in seelische Bereiche des »Unterbewußten« und »Unbewußten« hineinwirkt und dabei heftigen Triebspannungen und vitalen Bedürfnissen entgegenkommt. Kompensatorische und komplementäre Wirkungen aus der Zone der Phantasie in den Raum des Unbewußten werden zugleich als Entwicklungsimpulse des biologischen und charakterologischen Reifungsprozesses wirksam. Sie werden gebraucht, es besteht ein Bedürfnis danach, und nur deshalb kann Faszination entstehen.

Wenn man dies auch wohl schon seit langem gewußt hat, so ist die Untersuchung Ingrid Brönings doch meines Wissens der erste umfassende


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Versuch, dem Sachverhalt exakt und methodisch im einzelnen am gegebenen Beispiel nachzuforschen. Die Verfasserin bedient sich dabei psychoanalytischer bzw. tiefenpsychologischer Kategorien und Modelle, wie sie in den Schriften C. G. Jungs entwickelt worden sind. Der Begriff der »Archetypen« spielt dabei die zentrale Rolle, hier aufgefaßt als diejenigen literarischen Motive, an denen als an Bildsymbolen von gleichsam mythischer Aussagekraft urtümlich-menschheitliche Strukturen ihren Ausdruck finden, wie sie auch durch sie aus keimhafter Latenz zu Wirkung und Entfaltung gebracht werden können. Sie, die Archetypen, wirken unterschwellig ins Unbewußte hinein. Die Methode, auf Mays Reiseerzählungen angewandt, erweist sich nun als ungemein fruchtbar und erbringt eine Fülle höchst interessanter Ergebnisse, die die Verfasserin am Ende zusammenfaßt: »Die Karl-May-Begeisterung hat ... nicht nur einen Grund, sondern auch einen Sinn. Denn indem Karl May die unbewußten Probleme der Kinder zu Beginn der Pubertät im Unbewußten bearbeiten helfen und auf diese Weise den Individuationsprozeß begünstigen kann, ist er pädagogisch relevant. Diese Bedeutung wird ihm bleiben, solange Pubertät so verläuft, wie sie bisher verlaufen ist.«

Es blieb nicht aus, daß die Untersuchung des Archetypischen im Werke Mays, insofern sie sich besonders auch mit der »Landschaftssymbolik« beschäftigte, die Verfasserin zu einer Auseinandersetzung mit den Thesen von Arno Schmidt aus dessen Sitara-Buch zwingen mußte. Daß sie dabei zu der Überzeugung kommt, die Hypothese von der Sexualberieselung der Kinder durch die Karl-May-Bücher sei völlig unhaltbar und als mißbräuchliche Anwendung psychoanalytischer Methoden ebenso zu verwerfen wie die durch nichts zu erhärtende Denunziation angeblicher homosexueller Praktiken Karl Mays, das ist ein sehr bemerkenswertes Neben-Ergebnis dieser Untersuchung. Bemerkenswert deshalb, weil die kritiklose Übernahme solcher Thesen in der öffentlichen Diskussion um Karl May weithin um sich gegriffen hat.

Wir sagen gewiß nicht zuviel, wenn wir feststellen, daß Ingrid Bröning durch dieses Buch nicht nur der speziellen Karl-May-Forschung zu einem bedeutsamen Schritt vorwärts verholfen, sondern darüber hinaus der Literaturpädagogik insgesamt, als einer wissenschaftlichen Disziplin, neue Wege und Möglichkeiten erschlossen hat.


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Aber nach all dem Lob, das wir hier einem Buch gespendet haben, das unseren eigenen Intentionen auf eine so überraschende Weise nahekommt, darf auch nicht der betrübliche Befund verschwiegen werden, den die äußere Form, in der sich diese Abhandlung uns darstellt, dem kritischen Leser zeigt. Es müssen außer dem Druckfehlerteufel noch allerhand andere Teufel hier im Spiele gewesen sein, zum Beispiel einer, der speziell für falsche Zeichensetzung zuständig ist, um eine so erkleckliche Zahl von Fehlern, wie sie sich hier findet, zu erzeugen. Wünschen wir also dem Buch - auch aus diesem Grunde - eine baldige zweite Auflage.

3.

Wenn e r das erlebt hätte! Daß jemand mit einer Arbeit über die Medizin in s e i n e n Werken zum Doktor der Zahnmedizin promovierte! Wie besonders stolz und glücklich wäre er gewesen! Denn ganz gewiß hatte der Wunschtraum, einmal Mediziner, Arzt zu sein, schon von Kindheit an (vom Hebammenberuf der Mutter und ihrer Berührung mit der Medizin angeregt) zu den vielen unerfüllten Lebenszielen des Webersohnes Karl May gehört, und nicht zufällig war die Rolle eines Doktor Heilig eine seiner Hochstaplermasken gewesen, lange ehe er in seinen Büchern dem Ich-Helden in der Freiheit der Phantasie seine Erfolge als Heilkundiger andichtete. Die Medizin spielt daher in der Tat eine wichtige Rolle in seinen Erzählungen. Gert Asbach ist dieser Sache nun mit wissenschaftlicher Genauigkeit und bemerkenswerter Kenntnis der einschlägigen Literatur nachgegangen. Er untersucht die Amerika-Bücher Karl Mays, gibt aber auch diagnostische Hinweise zur Pathographie des Schriftstellers selbst sowie der medizinisch relevanten Einschläge in dessen Selbstbiographie. Systematisch geordnet, werden aber insbesondere die medizinischen Themen der Amerika-Bücher abgehandelt, wobei die Frage nach den Quellen sich vor allem auf die 40 Werke der damaligen Fachliteratur erstreckt, die sich noch heute in Karl Mays Privatbibliothek befinden. Daß dabei auch das »Kreutterbuch« des Matthiolus, das May in »Leben und Streben« erwähnt hat, zu Ehren kommt, das ist eine interessante Einzelheit. Die von mir


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in »Das Phänomen Karl May« in bezug auf den Dichter diagnostizierte »Pseudologia phantastica«, von der auch Claus Roxin in seiner Abhandlung über die Straftaten (Jb. 1971, S. 74 ff.) ausführlich gehandelt hat, wird von Gert Asbach ausdrücklich bestätigt. Was freilich die Zahnmedizin betrifft, das Spezialfach unseres Doktoranden, so erwiesen sich die Amerika-Bände als wenig fündig, und man versteht, daß er in dieser Verlegenheit wenigstens auf die kuriose Geschichte zurückgreift, in der sich Kara Ben Nemsi als Zahnarzt betätigt, indem er den Pascha von Mossul (»Durch die Wüste«) schmerzlos von einem Eckzahn befreit - eine Anekdote, nicht ohne den Hautgout medizinischer Hochstapelei. Verwunderlich ist nur Asbachs Behauptung, May habe dies »in den ersten beiden Bänden« erzählt, wo es sich doch vielmehr nur um den Bd. 1 der Gesamtausgabe handelt (Freiburger Ausg. S. 511 ff.). Als Beitrag zum biographischen Gesamtbild Karl Mays und insbesondere zur Kenntnis seiner schriftstellerischen Technik erschließt uns diese medizinische Dissertation zweifellos einen auch literaturwissenschaftlich ergiebigen Aspekt.

4.

Gert Ueding geht es in seinem Essay »Glanzvolles Elend« nicht eigentlich speziell um eine Abhandlung über den Autor Karl May, sondern um sehr viel allgemeinere und grundsätzlichere Probleme, nämlich um den Versuch, eine traditionelle Literaturwissenschaft, die sich - ob bürgerlich oder marxistisch - bisher immer nur an die »von ihr selber inthronisierten Helden« gehalten hat, auf ihre »Unterschlagungen ungeheuren Ausmaßes« (S. 7) hinzuweisen und die bisher so schamhaft »ausgeklammerte Literatur« in den Kreis ernsthafter Bemühungen einzubeziehen. Auch wenn er seine Abhandlung im Untertitel einen »Versuch über Kitsch und Kolportage« nennt, so bedeutet diese Firmierung nicht, wie man zunächst annehmen könnte, daß hier mit elitehafter Arroganz dem literarischen Pöbel seine geliebten Gartenzwerge und Tarzane madig gemacht werden sollten (wie doch noch bei Killy), sondern im Gegenteil: den »Zugang zum Verachteten« (S. 8) zu erschließen, indem die Kolportage als eine schichtenspezifische Erscheinung


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des literarischen Untergrundes - in ihren Formen wie in ihren Wirkungen - nach der ganzen Breite ihrer soziologischen Bedeutung ernsthaft gewertet werden soll.

»Für Ernst Bloch« - diese Widmung hat Ueding seiner Abhandlung vorangestellt, und mit Recht, wie uns scheint, denn nicht nur hat Ernst Bloch im Zuge seiner Philosophie vom »Prinzip Hoffnung« und seiner Analyse der Sozialutopien am frühesten auf die symptomatische Bedeutung der Kolportage für die Erkenntnis der unterschwelligen Wunsch- und Triebspannung im gesellschaftlichen Gefüge unserer Zivilisation hingewiesen, sondern auch im einzelnen folgt Ueding jenen »Spuren« (so der Titel des hier anzogenen Werkes von Bloch), die dieser sein »Vorgänger« ins Niemandsland der Literaturwissenschaft eingezeichnet hat. Der neue Fährtenleser betreibt sein Geschäft sehr exakt, systematisch und analytisch, ohne freilich das eigene Vergnügen an seinem Gegenstand zu verleugnen, das denn auch der Arbeit, unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Akkuratesse, ihre Lesbarkeit, ihre literarische Qualität verleiht.

Uedings Methode ist also die der Literatursoziologie, und gerade im Vergleich mit der psychoanalytischen Arbeitsweise Ingrid Brönings zeigt sich neuerlich, von wie verschiedenen Seiten her sich der Fall Karl May als Testgegenstand sehr differierender wissenschaftlicher Disziplinen fruchtbar erweist. Denn auch Ueding, so sehr er den Rahmen seines Essays ins Weite gespannt hat, kommt doch nicht umhin, namentlich im zweiten Teil seiner Untersuchungen immer wieder auf Karl May als einen Prototyp der von ihm behandelten Literaturspezies zurückzugreifen, wo es darum geht, charakteristische Züge der Kolportage am Beispiel exakt zu belegen. So kommt es denn doch auf ein Stück Karl-May-Philologie hinaus, und Kapitel wie das über »Das kolportierte Abenteuer«, die »Ungleichzeitigkeit und ihre Folgen«, die »Ausfahrt des gedrückten Lebens« und den »gefesselten Leser« gehören in dieser Hinsicht zu den gehaltvollsten des Buches. Das große und faszinierende Spiel der Kolportage mit Träumen und Wünschen wird hier in einem reich facettierten Gesamtbilde darstellt. »Und das Ergebnis dieses Spiels«, so heißt es (S. 161), »ist die Verwandlung des Schemas in ein Traumsujet, in dem es sich menschlich leben läßt. Durch ihren spielerischen Charakter fördert so die Kolportage die Fähigkeit des Lesers,


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das ihm überraschend Fremde sogleich in konkrete, persönliche und affektgetragene Vorstellungen zu übersetzen. Denn in der ausgefabelten "Selbst- und Welterweiterung" (Bloch, Prinzip Hoffnung) erkennt er seinen eigenen Mangel wieder und fühlt sich angeregt, ihm mit gleicher Aktivität abzuhelfen, wie das "musterhaft" im Roman geschieht. Derart von Kolportage gefesselt zu sein, ist wahrhaftig keine Schande. Hier nun hätte die Geschichte der mißachteten Literatur: der Kitsch- und Kolportageliteratur, zu beginnen, ein umfangreiches Unterfangen, dem kein Einzelner gerecht zu werden vermöchte, das aber jenseits aller modischen Trivialliteraturforschung auf der Tagesordnung einer Literaturwissenschaft steht, die aus dem hermetischen Museum ihrer Bildungsgüter heraustritt, eine unterdrückte Vergangenheit zum Zwecke der Aufklärung in der Gegenwart zu rekonstruieren. Die Schemata der Kolportage erschüttern auch auf andere Weise, als die Verfasser beabsichtigten. Die Geschichte, die sie aufbewahren, berichtet von den Leiden der Niedrigen - wo anders wären ihr Elend und ihre Sehnsucht so abgeschmackt, glänzend und hoffnungsvoll zugleich aufgeschrieben worden?«

Die Leser dieses Jahrbuchs werden Gert Ueding bereits als den Verfasser eines Funk-Essays über den Waldröschen-Roman kennen, dessen Text in einem von der Karl-May-Gesellschaft herausgegebenen Sonderheft (»Karl Mays Waldröschen, ein Kolportageroman des 19. Jahrhunderts«) veröffentlicht worden ist. Die dort entwickelten Gedanken sind auch in das neue Buch Uedings eingegangen, wo sie nun in einem Zusammenhang erscheinen, der - wie man sieht - der Literaturwissenschaft überhaupt weitgesteckte programmatische Ziele vorzeichnet.


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