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KARL MUTH

Nachruf auf Karl May



Über Karl May heute schon ein allseitig gerechtes Wort zu sprechen, ist nicht leicht. Weder seine Gegner noch seine zahlreichen Anhänger und Leser sind voraussichtlich durch seinen Tod von ihrer Leidenschaft geheilt, von ihren Vorurteilen frei geworden. Die Prozesse, die ihn bis in die Krankenstube verfolgten, werden ihren Fortgang nehmen. Was dabei herauskommt, kann der Öffentlichkeit zwar gleichgültig sei, aber es wird doch vorerst einer ruhigen, sachlichen Beschäftigung mit dem Manne und seinem jahrelangen, außergewöhnlichen Wirken im Wege stehen.
  Mit Karl May und seiner Schriftstellerei ist nicht bloß ein Stück Jugendliteraturfrage, sondern ein Stück deutscher Kulturfrage verknüpft. Und das ist so, ob man in ihm nun, wie es in letzter Zeit allzu einseitig geschah, einen literarischen und jugendpädagogischen Schädling sehe, oder ob man ihn für das Muster eines interkonfessionell brauchbaren, wenn auch hauptsächlich durch negative Vorzüge ausgezeichneten Reiseerzählers halte.
  Wer wurde gelesen wie er, d.h. mit solcher nie verbleichender Gunst der verschiedensten Volks- und Berufsschichten? Und wo ist die Altersgrenze, über die hinaus er sich keiner Erfolge mehr hätte rühmen können? Es ist noch gar nicht ausgemacht, ob wirklich die Jugend, sagen wir von zwölf bis zwanzig Jahren, seine Kerntruppe bildete. Unzählige Leute des Handwerkerstandes, der kaufmännischen und Beamtenberufe, die nicht geringe Zahl weiblicher Lesetiger und dann höher hinauf, selbst die breiten Schichten jener sogenannten Gebildeten, die eine akademische Laufbahn im Rücken haben, - sie alle gehören in großen Scharen zur Lesergemeinde »Old Shatterhands«. Er hatte seine Verehrer in vielen Redaktionsstuben, bei Leuten vom


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grünen Tisch und vom Katheder, und selbst in den Presbyterien war er ein gern willkommener Gast in Mußestunden. Mancher hat sich erst spät und nicht mit ganz gutem Gewissen vom ihm abgewendet, als das Kesseltreiben seinen Höhepunkt erreicht hatte und Epitheta wie »geborener Verbrecher« durch die Luft flogen. Wenn man sich die Mühe machen wollte, heute ans Licht zu ziehen, was selbst ernste Blätter und Zeitschriften oder Kritiker mit Namen über die ausgezeichneten Eigenschaften der Mayschen Romane gesagt haben, wie sie sich, um der Freigebigkeit des Verlegers willen und angesichts so zahlreicher, schöner, sogar in Leder gebundener Bände, zur Anerkennung der literarischen, pädagogischen und unterhaltenden Vorzüge haben hinreißen lassen, man würde aus dem Ekel nicht herauskommen. Denn kaum war die »Vielseitigkeit« Mays ruchbar geworden und gewisse Gerüchte von seiner Vergangenheit in die Öffentlichkeit gedrungen, da begann ein wahrer Hexentanz, und unter den rührigsten Tänzern sah man gar manchen der früheren Schwärmer und Belobiger. In Fluß gekommen ist die Kampagne gegen May im Anschluß an die Literaturbewegung unter den deutschen Katholiken. Aber seinen Anhang, seine blinde Verehrerschaft hat May keineswegs nur auf katholischer Seite besessen. Das ist mehrfach an anderer Stelle (z. B. der ›Köln.Volksztg.‹) nachgewiesen worden. Es immer wieder ausdrücklich zu betonen, verlangt jedoch die Gerechtigkeit, nachdem einzelne Fanatiker die Popularität dieses literarischen Abenteurers gerne bei der katholischen Leserschaft ausschließlich finden wollten. Allerdings hätte May verhältnismäßig geringeren Erfolg im katholischen Lager davongetragen, wäre der literarische Geschmack daselbst besser geschult und wären die Ansprüche an den geistigen und sittlichen Gehalt auch bei der Jugendliteratur höhere gewesen. Als man daher in Angriff nahm, unserer literarischen Kritik das Gewissen zu schärfen, da war es unvermeidlich, auch auf die ungebührliche Rolle hinzuweisen, die ein Karl May in einem damals noch weitverbreiteten Familienunterhaltungsblatt und darüber hinaus bei uns spielen konnte. Denn die Schätzung, die er hier erfuhr, war sie gleich nicht anders geartet als bei seinen nichtkatholischen Lesern, mußte doch bedeutend beängstigender ins Gewicht fallen, weil ihr keine höher geartete Literatur das Gegengewicht hielt. Als ich daher im Jahre 1898 auf die


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Gefahr hinwies, die ein also hochgezüchteter May-Kultus für unser literarisches Leben und die Geschmacksbildung unserer Jugend habe, spielten die später für die Beurteilung auch des  M e n s c h e n  Karl May in den Vordergrund geratenen persönlichen Gesichtspunkte noch keine Rolle. Das Urteil beruhte lediglich auf  i n n e r e n  Kriterien. Erst mehrere Monate später kam man dahinter, daß May zur selben Zeit, als er für den ›Deutschen Hausschatz‹ seine Reiseerzählungen schrieb, seine Feder auch im Dienste einer literarischen Schundproduktion gebrauchte, die reichlich mit pornographischen Zutaten gewürzt war. Für diese Zutaten hat er zwar die Verantwortung auf den Kolportageverleger Münchmeyer abgewälzt, aber dieser war damals schon tot. Die Art und Weise, wie er sich sodann in den zahlreichen Prozessen, die hier ihren Ausgang nahmen, verhalten hat, die unlösbaren Widersprüche, in die er sich verwickelte, und nicht zuletzt der Umstand, daß er selbst in bezug auf seine sittlich einwandfreien Erzählungen im vollen Ernst zur Steigerung seines Erfolges die nackte Lüge kultiviert hatte, machte, daß man ihm, von direkten Beweisen (wie Stileigentümlichkeiten, Korrekturen, Zeugenaussagen) ganz abgesehen, nicht glaubte. Auch seine verblendetsten Anhänger hätten nach diesen Entdeckungen sein moralisches Ansehen für verloren geben müssen; aber so ungeheuer war die faszinierende Kraft seines erlogenen Abenteurertums, so meisterlich seine Kunst, die klaren Fäden zu verwirren, daß trotzdem viele erst an ihm irre zu werden anfingen, als aus seiner Vergangenheit Dinge zutage kamen, die nur durch schwere und wiederholte Kriminalstrafen hatten gebüßt werden können. Nun aber traf ihn mit ihrer ganzen Härte die Rache der Betrogenen. Wie mancher, der nun mit Spieß und Feuerbrand gegen ihn auszog, mochte früher dem unterhaltenden Reiz seiner Münchhausiaden unterlegen sein, ohne daß ihn je ein Zweifel über die Echtheit der meisten Schilderungen beschlichen hätte. Je länger diese Treibjagd aber währte, desto unerquicklicher wurde das Schauspiel. Die Lebius und Konsorten hatten ja wohl persönliche Gründe, den Kampf bis aufs Messer zu führen. Aber als nun dieser und jener, dem Amt und Stand weit bessere Aufgaben zu geben hatten, vom Ehrgeiz geplagt wurde, sich an dem toten Löwen literarische Sporen zu verdienen, da hatte nicht viel gefehlt, und die Stimmung wäre zugunsten des also Gehetz-


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ten umgeschlagen. Daß es nicht geschah, daran trug doch wieder letzten Endes er selber die Schuld. Er hatte nicht den Mut eines offenen, ehrlichen Bekenntnisses und Geständnisses. Er griff zu kleinlichen Mitteln, das Geschehene zu vertuschen, ja er nahm zu niedrigen Ausflüchten und Bestechungsversuchen seine Zuflucht und untergrub damit den letzten Rest von Achtung, die man ihm gerne als einem Manne gezollt hätte, der sich durch unermüdlichen Fleiß aus niedriger Stellung zu einem der gelesensten Autoren seiner Zeit emporgekämpft hatte. Denn auch jetzt, nachdem sein Name mit Schmach bedeckt war, blieb noch eines bestehen: Der Erfolg seiner Schriften war nicht auf Eigenschaften zurückzuführen, die an sich schlecht, niedrig, gemein genannt werden können. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß tüchtige Jugenderzieher - Namen tuen nichts zur Sache - diese Schriften duldeten, daß man sie in klösterlichen Internaten den Schülern zur Verfügung hielt, daß mehr als ein Dutzend Bischöfe sich empfehlend darüber geäußert haben? Und unter den jugendlichen Lesern waren es gewiß auch nicht gerade die schlechtesten, die ihren Tatendrang, ihre Liebe zu einem Leben der Gefahren und der Wagnisse, ihre noch ungeformte Sehnsucht nach einem Heldentum geistig daran auslebten. Von der subjektiven Unwahrheit, die dahinterstand, wußten sie ja nichts, und wenn man es ihnen gesagt hätte, so würden sie, genialer als der Autor, die Sache am Ende mit jenem Humor aufgefaßt haben, der solchen Fiktionen erst ihren wahren Reiz und ihre sittliche Rechtfertigung gibt. Von der Genialität dieser Auffassung besaß Karl May selber allerdings leider gar nichts. Das hat er durch nichts so sehr bewiesen als einerseits durch die feierliche Sentimentalität, mit der er seinem Schaffen nachträglich eine große symbolische Deutung zu geben suchte, andererseits durch die feige Flucht vor der erlösenden und reinigenden Wahrheit.
  Aber wie es so zu gehen pflegt: man gewöhnte sich im Eifer sittlicher Entrüstung daran, nur noch ganz allgemein von den »Schundromanen Karl Mays« zu sprechen. Weil er wirklich einmal Schundromane im geheimen geschrieben hatte (auch von Honoré de Balzac weiß man, daß er es reichlich getan hat, wenn auch nicht unter so erschwerenden Umständen), wurde nun die Marke »Schund« allem aufgeklebt, was seinen Namen trug. Jetzt, nachdem er tot ist und vor allem, nachdem


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die literarische Gefahr, die von dem beherrschenden Einfluß seiner Schriftstellerei ausging, beschworen ist, darf man wohl auf das Übertreibende und Unbillige dieses Verfahrens hinweisen. Wer diese Art von Literatur, von der sich die Bücher eines Capitain Russel, O'Reid, ja selbst Jules Vernes nicht wesentlich unterscheiden, überhaupt gelten läßt, darf auch den Mayschen Reiseerzählungen gegenüber keine verwerfende Haltung einnehmen. Denn auch rein schriftstellerisch betrachtet, sind sie so gut und so schlecht wie all diese reinen Unterhaltungsbücher. Man kann ihnen flotte Mache, einen leidlich sauberen und klaren Stil, lebhafte Anschaulichkeit, Laune, gute Erfindung und hin und wieder sogar erhöhte Empfindung in Inhalt und Ausdruck gar nicht absprechen. Sie sind den Gerstäckerschen Romanen im allgemeinen ebenbürtig und übertreffen sie in Einzelheiten. Wie bei allem, so schadet im Grunde auch hier nur das Übermaß. Ein halbes Dutzend davon ist erträglich, besonders, wenn sie richtig ausgewählt sind. Fünfzig und mehr Bände aber waren des Guten zuviel. Der anspruchsvollere Leser allerdings wird nicht einmal bei sechsen aushalten, denn die Manier dieses Schriftstellers wird schon offenbar, sobald man sich nur über zwei bis drei Bände bzw. Erzählungen hinaus gelesen hat. Man sieht dann unfehlbar, wie unwahr, selbstgefällig und eitel der Verfasser verfährt und wie er im Grunde immer mit den gleichen Mitteln die gleichen Wirkungen hervorbringt. Aber diese Erfahrung beschränkt sich nicht auf May allein. Man wird sie bei fast allen Autoren von großer Fruchtbarkeit und nicht schlechthin genialer Begabung machen. Was einzelnes betrifft, so wurde die Echtheit seiner landschaftlich-geographischen Schilderungen angezweifelt, besonders, nachdem sich herausstellte, daß er bei weitem nicht all die Länder auch nur flüchtig betreten hatte, über die er sich in seinen Büchern verbreitete. Der Einwand ist kleinlich. Was dichterische Phantasie auf Grund von Berichten anderer vermag, weiß man doch. Etwas anderes ist die Kenntnis von Volkssitten und -anschauungen. Hier verfährt May oft sehr willkürlich, und es hätte des Protestes eines Vollblut-Mohawk-Indianers - Ojijatheka Brant Sero -, des ehemaligen Vizepräsidenten der historischen Gesellschaft von Ontario, nicht bedurft, um zu wissen, daß aus Fenimore Coopers Lederstrumpferzählungen eine bessere Kenntnis des Indianertums zu gewinnen ist als aus den sentimentalen


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Winnetou-Geschichten. Aber trotz alledem bleibt ein gewisses Verdienst bestehen, das besonders in die Augen springt, wenn man die bei uns früher wuchernde Indianerliteratur zum Vergleich heranzieht. Es ist kein Zweifel, daß May den Standard dieses Lesefutters durch die - sei es nun geschäftlich berechnete, sei es ehrlich überzeugte - Verknüpfung mit humanitären und sittlichen Gedanken gehoben hat. Und davon war er schließlich selber so überzeugt, daß man sogar verstehen kann, wie er sich eine ganz besondere Mission beilegte und in diesem Sinn angesichts der schweren Angriffe und Beschuldigungen, denen er sich ausgesetzt sah, die Verse schreiben konnte:

Nach meines Lebens schwerem Arbeitstag
Soll Feierabend sein im heil'gen Alter.
Und was ich nun vielleicht noch schauen mag,
Das sing' ich Euch zur Harfe und zum Psalter.
Ich habe nicht für mich bei Euch gelebt,
Ich gab Euch Alles, was mir Gott beschieden,
Und wenn Ihr nun mir Haß für Liebe gebt,
So bin ich auch mit solchem Dank zufrieden.


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Seine Gegner werden sagen: Schauspieler bis zum Ende. Aber so gänzlich Lüge war vielleicht doch nicht alles. Jedenfalls hat er als Mensch schwer gebüßt, und da, wo nur der Neid gegen ihn aufstand, mag dieser sich befriedigt erklären. May ist tot, aber seine Schriften sind in einer Anzahl von über einer halben Million Bänden verbreitet. Das will am Ende doch etwas heißen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Frage Karl May wie bisher unsere Literaten und Pädagogen, so künftig auch den Kulturpsychologen einmal beschäftigen wird.

Nachbemerkung der Redaktion: Der Abdruck dieses Aufsatzes von Karl Muth soll dokumentieren; einen anderen Sinn könnte er heute nicht mehr haben. Denn daß der literaturkritische Ansatz des Verfassers nur noch historisch zu sehen ist, liegt ebenso auf der Hand wie die Gegenstandslosigkeit der einzelnen Argumentation, und beides bedürfte keines gesonderten Hinweises. Aber der Text zeigt zugleich etwas anderes, was auch heute noch der Aufmerksamkeit wert ist: er gibt ein Beispiel dafür, wie weit der Einfluß der Lebius-Verbreitungen in der Presse 1912 reichte und wie schwierig es offenbar auch für einen Kritiker von zweifellos gerechter Absicht und menschlicher Integrität war, Lüge und Wahrheit in den ihm gebotenen Informationen zu sondern. Unwahr sind nicht nur Einzelheiten wie der Hinweis auf »niedrige Ausflüchte und Bestechungsversuche«, zu denen May, »um das Geschehene zu vertuschen«, seine Zuflucht genommen habe, oder auf die Kapazität des protestierenden »Vizepräsidenten« Ojijatheka Brant Sero, der in Wirklichkeit nur ein von Lebius gedungener Zirkus-Indianer war; auch der Ton so mancher Verdächtigung ist von der allgemeinen Presse-Hetze der Zeit eingefärbt. Muth, der auf das »Übertreibende und Unbillige« hinweisen wollte, sah nur einen Ausschnitt dessen, was mit »übertreibend« und »unbillig« allzu milde ausgedrückt wäre; heute sähe er das Ganze - und er sähe, gerecht, vielleicht auch die Bedenklichkeit, die jenseits der Wahrheitshage darin liegt, in dieser Weise an einem Grab zu sprechen. Daß Karl Mays Tod der Anlaß für Muths Aufsatz war, ist aus dem Original-Abdruck ersichtlich, der den (falschen) Vermerk »gest. 1. April« enthält; freilich trägt er dort nur die Überschrift ›Karl May‹ ohne die Feierlichkeit eines »Nachrufs«.

Der Text entstammt der Zeitschrift ›Hochland‹, 1912, S. 249-252, und wir danken Herrn Dr. Wulfried Muth, dem Enkel Karl Muths, für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck. Daß wir den im ›Nachruf‹ wiedergegebenen Gedicht-Anfang aus Karl Mays Selbstbiographie ›Mein Leben und Streben‹, deren Manuskript verschollen ist, im Faksirnile der Handschrift abdrucken können, geht auf den erfreulichen Umstand zurück, daß dieses bereits zu Lebzeiten Mays im Druck erschienen ist: in der ›Neuen Illustrierten Zeitung«, Wien-Czernowitz (15. Jg. vom 15.6.1910), S. 4. Das gleiche Faksimile verwendete auch Franz Sättler für seinen Aufsatz ›Wie ich Orientalist und Reiseschriftsteller wurde‹, den er als Anhang zu seinen ›Reisen und Abenteuern‹ (Berlin-Weißensee o.J.) abdruckte; vgl. hierzu Mitt. der KMG Nr. 21 (Sept. 1974), Beilage ›Inform‹.


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