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HEINZ STOLTE

Ein Literaturpädagoge · Untersuchungen zur didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch ›Die Sklavenkarawane‹, 3. Teil


7.  D i e  V ö g e l  o d e r  d a s  L e i t m o t i v

Es gehört zu den auffälligsten Torheiten der Kritik, die einer sachlichen Beurteilung des Autors Karl May seit jeher abträglich gewesen sind, zu meinen, daß einer, der seine Erzählungen einfach, volksmäßig und jugendtümlich zu schreiben versteht, der ein Volks- und Jugendschriftsteller zu sein bemüht ist, notwendigerweise wohl ein Dummkopf und Primitivling sein müsse. Daß hingegen die Phantasiemächtigkeit, mit der dieser Mann Welt zu zaubern vermochte, sowohl was die Raumtiefe seiner Visionen wie das erstaunliche Detail-Filigran (das wir schon nachgewiesen haben) betrifft, eine hohe - wenn nicht intellektuelle, so doch künstlerische - Intelligenz verrät, daran ist gar kein Zweifel möglich.
  Künstlerische Intelligenz-, das ist in diesem Falle die souveräne Beherrschung einer Erzähltechnik, einer epischen Formensprache, die uns um so auffälliger vorkommen mag, je weniger wir annehmen können, daß Karl May sich etwa viel und gründlich  t h e o r e t i s c h  mit hier einschlägigen wissenschaftlichen Poetiken befaßt haben wird. Seine ›Briefe über Kunst‹49 behandeln denn auch mehr religiös-metaphysische und ethische Fragen als solche des Stils und der epischen Technik. Doch gewiß wird ihm aus den Zeiten seiner Studien im Lehrerseminar zumindest Lessing, dessen Toleranzideen und dessen ›Nathan‹ nachweislich auf das Weltbild und das Werk Karl Mays bedeutenden Einfluß geübt haben, auch als Verfasser der ›Hamburgischen Dramaturgie‹ und des ›Laokoon‹ einigermaßen vertraut gewesen sein. Und wenn die kritische Dramaturgie Lessings für ihn auch kaum von Belang werden konnte, so möchte man doch fast annehmen,


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daß aus dem ›Laokoon‹ jene dort von Lessing entwickelten Einsichten über die Grenzen von Malerei und Dichtung nicht ohne Einfluß auf den damals noch lernenden und suchenden künftigen Epiker geblieben sind.
  Jedenfalls entsprechen Technik und Stil seiner Erzählungen den axiomatischen Forderungen Lessings in einer geradezu idealen Weise. Daß die erzählende Dichtung die Kunst des zeitlichen Nacheinanders ist, demnach das »Transitorische« ihr eigentliches Element bildet, daß daher  b e w e g t e  Vorgänge, Ereignisse, Handlungen, Entwicklungen die spezifischen Inhalte des Erzählens zu sein haben, hingegen alles bloß malende Beschreiben oder Demonstrieren, weil es den Fluß der Bewegung im zeitlichen Nacheinander staut, die Vorstellung zu statuarischer Starre fesselt, gegen den »Genius der Epik« verstößt -, diesen Lehren hat der Erzähler Karl May (ob in bewußter Absicht oder aus dem angeborenen Instinkt des Epikers, das will ich hier nicht entscheiden) gewiß weitestgehend Folge geleistet. Die Aufhebung des Statischen ins Dynamische eines kaum je unterbrochenen Erzählflusses hat er sich so fast exemplarisch angelegen sein lassen, daß er sogar hierfür getadelt worden ist. Warum denn - so fragte man nämlich - gibt er uns, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur so sparsame, kurze und im Vorübereilen skizzierende  B e s c h r e i b u n g e n  von Städten und Landschaften? Warum verweilt er nicht mit seinen Lesern andächtig bei Stimmungsbildern,  m a l t  er uns nicht (als ein anderer Adalbert Stifter) die Topographie seiner Reisestationen farbiger und differenzierter? Statt dessen folgen die Aktionen und Dialoge in fast atemloser Hast. Da entlarve sich wohl eben der literarische Hochstapler, denn der  k o n n t e  ja nichts beschreiben von jener Wirklichkeit exotischer Schauplätze, weil er sie nie  g e s e h e n  hatte. Aber nur ein ganz Ahnungsloser in Sachen dichterischer Phantasie kann eine Vermutung wie diese im Ernste vorbringen. Ein Autor hingegen, dessen ganz spezielle Begabung, wie wir gezeigt haben, in der Erfindung der epischen Details lag, in jener Kunst, so recht überzeugend zu »lügen«, er sollte nicht imstande gewesen sein, topographische Gemälde, Landschaftspanoramen, Naturstimmungen kraft schöpferischer Phantasie hervorzuzaubern? Das ist kaum glaublich. Vielmehr sind hier Kunstverstand und epischer Instinkt bestimmend


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gewesen, wie ja denn auch jene scheinbare Pedanterie seiner Detailbeflissenheit, von der wir als von seinem »Gütezeichen« gesprochen haben, nie der Landschafts- und Genremalerei als solcher, sondern stets der epischen Handlungsführung dient.
  Daß Karl May mit zunehmendem Lebensalter und der damit einhergehenden Erfahrung, ja Routine als Schriftsteller über die naiven, unreflektierten Schreibgewohnheiten einer primitivwüchsigen Trivialliteratur zu kritischer Selbstdistanzierung und einer auch programmatisch aufgeschlüsselten theoretischen Besinnung, zu einer Art Poetik gelangt ist, das beweist jenes hochinteressante kleine Dokument, das quadratische Zettelchen, das er sich links von seinem Schreibtisch an die Fensterscheibe geklebt hatte, um es dort jederzeit, transparent, als Mahnung vor Augen zu haben:

Die Gestalten klar, hell, rein und groß.
Vermeide harte, grelle, schmerzhafte Lichter!
Klassische Formen, in erhabener, abgeklärter Ruhe!
Flimmere nicht! Sei nicht theatralisch!
Schlichte Wahrheit!
Hüte dich, zu schulmeistern!
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Und jedes dieser Worte doppelt unterstrichen -, das war demnach die ästhetische Gesetzestafel, die er stets bei der Arbeit sich vor Augen zu führen für notwendig und förderlich erachtete. Postulate gewiß, die wohl kaum so ausgelegt werden dürfen, als habe der Praktiker die Einsichten und Absichten, die er hier theoretisch formulierte, auch immer zu erfüllen vermocht. Am ehesten sicherlich das, was von den Gestalten gefordert wird, denn klar, hell, rein und groß: das immerhin läßt sich von Mays Phantasiegestalten sagen, daß er eine jede der vielen Figuren seiner Geschichten mit scharfen, klaren Konturen umrissen hat, und auch daß er, sofern es seine positiven Helden waren, sie »rein« und »groß« vor Augen zu stellen wußte, so deutlich und einprägsam jedenfalls, daß ja doch noch heute, nach mehr als einem halben Jahrhundert, die von ihm geschaffenen Protagonisten im Bewußtsein von Millionen, aber auch als immer wieder bemühte Film- und Bühnengestalten lebendig geblieben sind.
#Wenn dann das zweite Gebot dieser Gesetzestafel lautet: Vermeide harte, grelle, schmerzhafte Lichter, so möchte man schon eher meinen,


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daß solche Ermahnung insbesondere der Erkenntnis eigener Gefahren und Schwächen entspringt und jene Selbstkritik enthält, die mit der eigenen Kolportage-Vergangenheit abrechnete und die üblen Gewohnheiten aus der Münchmeyer-Zeit, das Krasse, Übertreibende, Plakative seiner frühen Mammutromane, abzubauen und zu überwinden bestrebt war.
  Doch was soll man zu den klassischen Formen sagen, noch dazu in erhabener, abgeklärter Ruhe? Das ist unverkennbar ein Stück Epigonen-Ästhetik aus der weimarisch-klassischen Tradition, das weist - möchte man meinen - über Lessing auf jenen Winckelmann zurück, dessen Formel von der »edlen Einfalt und stillen Größe«, mit der er die Kunst der griechischen Antike zu charakterisieren gesucht hatte, auf Goethe und seine Generation von so langwährendem Einfluß gewesen war. Aber »stille Größe« oder - mit Mays Version - erhabene, abgeklärte Ruhe in Karl Mays Abenteuerbüchern? Hier klafft wohl der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis am weitesten auseinander. Nach diesem Rezept sind sie wirklich nicht gemacht, seine bunten, wilden Geschichten. Man wird aber dennoch gut tun, die Selbstermahnung zu abgeklärter Ruhe nicht für eine bezüglich der Schaffensprozesse dieses Autors bedeutungslose Phrase zu halten, sondern vielmehr als einen Beweis dafür zu nehmen, daß er bewußt bestrebt war, die stets euphorische Übererregtheit und fieberhafte Gereiztheit, aus der heraus er seine Phantasiegebilde schöpfte, unter Kontrolle zu bringen. Daß nämlich die epische Tugend im Lessingschen Sinne, das Transitorische, Bewegte, Fließende seines Erzählstils immer auch in Gefahr steht, ins Lasterhafte umzuschlagen, so daß manche Partien seiner Bücher wie jagende Angstträume eines Paranoikers zu lesen sind, dessen scheint sich der Autor (so deute ich jedenfalls sein Monitum) zunehmend bewußter geworden zu sein, und man möchte meinen, daß in manchen Partien seines eigentlichen Alterswerks einiges von klassischen Formen sehr wohl zu verspüren ist. Ob aber verwirklicht oder nicht -, auf jeden Fall zeugt ein Mahnwort wie dieses vom rührenden Streben und lebenslangen Bemühen des Autors Karl May um Vervollkommnung seiner Kunst.
  Flimmere nicht! so heißt es dann imperativisch weiter, und gewiß, das ist ein gutes Wort und kräftig in seiner Art. Flimmern -, das heißt


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verundeutlichen, was deutlich, verschwommen lassen, was klar werden sollte. Flimmern heißt Konturen verwischen, heißt aber auch Ambivalenz zwischen Licht und Dunkel, zwischen Gut und Böse, zwischen Vorbild und Verworfenheit. Flimmern bedeutet: den Maßstab verlieren, die Werte vertauschen, das Schlechte als vorbildhaft, das Vortreffliche als öde erscheinen lassen. Flimmern heißt, moralisch interpretiert: das Zweideutige und Mehrdeutige, die sittliche Indifferenz. Und stilistisch interpretiert, auf die Sprache angewandt als auf das Werkzeug des Schriftstellers, ist »flimmernd« ein Ausdruck, der nicht trifft und greift, sondern ins vage Ungefähr, ins Schillernde und Unverbindliche verweist. Flimmere nicht! ist demnach eine Formel von umfassender Relevanz für jeden, dessen Handwerk das Schreiben ist, und ohne Zweifel - da ich nicht sehe, wo er sie wohl sonst gefunden haben könnte - ist sie auch sprachlich eine beachtliche Schöpfung dieses Autors. Was wir die »spröde Härte« seiner Erzählweise und seine »Präzision des Faktischen« genannt haben, ist eben das Ergebnis einer Technik, die sich jedes wie auch immer geartete »Flimmern« verbietet.
  Die Mahnung, nicht theatralisch zu sein, und der damit sogleich verknüpfte Hinweis auf schlichte Wahrheit, sie mögen uns (die wir so genau über die schlimmsten seiner Schwächen unterrichtet sind) vielleicht als ein besonders rührendes Zeugnis einer mit sich selber im Zwiespalt stehenden Natur erscheinen. Denn »theatralisch« war es doch wohl, und keineswegs »schlichte Wahrheit«, was er da literarisch in den Figuren seiner Selbstdarstellung, in Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, zu Monumentalgestalten hochstilisiert hatte und was er noch auf der Höhe seines Schriftstellerruhmes auch persönlich selber gewesen zu sein vorgab. Es war Theater gewesen, Vermummung und trügerischer Schein und - wenn man so will - die letzte seiner Hochstaplerrollen, aus der Sphäre des Kriminellen freilich ins Imaginative und Literarische sublimiert. Nicht theatralisch und schlichte Wahrheit! sind also Postulate seiner Selbstkritik als Schriftsteller und als Mensch. Und wenn er im Alterswerk die Ich-Figur seiner Bücher von der eitlen Beziehung auf sich selbst loslöste und (in ›Ardistan und Dschinnistan‹) zum surrealistischen Symbol umschuf, oder (wie in ›Winnetou IV‹, in der Erzählung ›Schamah‹ u. a.) als den ganz realen reisenden älteren


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Herrn erscheinen ließ, der er in Wahrheit war, dann mag man dies wohl für eine Konsequenz aus seiner selbstkritischen Ermahnung halten. Auch daß in den eigentlichen Jugendschriften wie der ›Sklavenkarawane‹ die Ich-Fiktion ganz aufgegeben ist, gehört sicherlich in diese Richtung seiner schriftstellerischen Entwicklung.
  Was aber insbesondere die schlichte Wahrheit betrifft, zu der er sich ermahnte, so bezieht sich das Wort zweifellos wohl vor allem auf Fragen des Darstellungsstils, meint also so viel wie Treue bei der Wiedergabe des Wirklichen, Realismus der Erzählweise. Auch das natürlich mußte bei einem Phantasten wie diesem dem exotisch wuchernden Dickicht seiner Traumwelt abgetrotzt werden.
  Hüte dich, zu schulmeistern! Gewichtig steht das am Ende der Gesetzestafel. Es bezeugt uns, daß dieser Autor sich seiner Neigung, der »Lehrer seiner Leser« zu sein, seiner didaktischen Leidenschaft, durchaus auch als einer latenten Gefahr für das eigentlich Künstlerische seines Schaffens bewußt war. Zu lehren, ohne zu schulmeistern, zu erziehen, ohne Moral zu pauken, das eben ist ja die »pädagogische List«, ist die »didaktische Struktur«, von der hier die Rede sein soll.
  Man geht wohl, nach all diesem, nicht fehl in der Annahme, daß der Autor Karl May, bei aller Wildwüchsigkeit seiner Phantasie und den ihm seiner Herkunft aus der Kolportage wegen anhaftenden Lastern des Vielschreibers doch in zunehmendem Maße darum bemüht gewesen ist, den Gebilden seines Erzählerfleißes planvolle Zucht, Form und Bändigung angedeihen zu lassen, ihnen also recht eigentlich künstlerische Qualität zu verleihen. Dem widerspricht es auch nicht, wenn er in ›Mein Leben und Streben‹ äußerte: Die Wahrheit ist, daß ich auf meinen Stil nicht im Geringsten achte. Ich schreibe nieder, was mir aus der Seele kommt, und ich schreibe es so nieder, wie ich es in mir klingen höre. Ich verändere nie und ich feile nie. Mein Stil ist also meine Seele, und nicht mein »Stil«, sondern meine Seele soll zu den Lesern reden. Auch befleißige ich mich keiner sogenannten künstlerischen Form. Mein schriftstellerisches Gewand wurde von keinem Schneider zugeschnitten, genäht und dann gar gebügelt. Es ist Naturtuch.51 Denn diese Äußerung bezieht sich, wie aus dem Zusammenhang hervorgeht, ausdrücklich auf die sogenannten »Reiseerzählungen« und den Vorwurf der Kritiker, diese seien stil- und formlos. Hingegen heißt es


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von den eigentlichen Jugendbüchern: Auch meine sogenannten »Union- oder Spemannbände« brauche ich hier nicht zu besprechen, weil man sie nirgends angegriffen hat, obgleich ich nur als Jugendschriftsteller angegriffen werde und sie die einzigen Sachen sind, die ich für die Jugend geschrieben habe.52
  Sie wurden nicht angegriffen! Wie es scheint, mit gutem Grunde. Tatsächlich besteht zwischen diesen Büchern, wie uns die ›Sklavenkarawane‹ bezeugt, und jenen Reiseerzählungen der strukturelle Unterschied gerade darin, daß der Autor das uferlose und eben deshalb formlose Dahinwuchern seiner Intrigengeschlinge und die sich durch Selbstzeugung fortsetzenden Abenteuerketten aufgegeben und statt dessen der Geschlossenheit und einem sinnvollen Aufbau der Erzählungen eine bemerkenswerte Sorgfalt gewidmet hat. Vom großen Bogen der Handlungsführung, dem konstruktiven Grundkonzept der ›Sklavenkarawane‹, das sich zugleich als pädagogische Intention erwiesen hat, ist ja die Rede schon gewesen. Hier geht es darum, den »Aufbau«, die »Architektur« unseres Buches des näheren und im einzelnen zu analysieren.
  Ingrid Bröning, die in ihrem Buch ›Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem‹53 den Fragen, um die es sich hier handelt, wohl bisher am eingehendsten und erfolgreichsten nachgegangen ist und die Wirkung der Karl-May-Bücher mit den Methoden der Psychoanalyse C. G. Jungs untersucht hat, weist im einleitenden Teil ihrer Arbeit mit Recht darauf hin, daß unter den normativen Forderungen, die man von Seiten der professionellen Literaturpädagogik, d. h. der Jugendbuch-Kritik, für das sogenannte »Gute Jugendbuch« aufgestellt hat, seit Heinrich Wolgast es so formulierte54, diejenige an erster Stelle steht, die da verlangt, das Jugendbuch müsse, wenn es »wertvoll« sein wolle, ein »Kunstwerk« sein. Wenn nun auch gegen eine solche Forderung gelegentlich opponiert worden ist, so dürfte es sich dabei doch wohl vor allem darum handeln, daß man vom Jugendbuch jede formalistische Künstelei fernzuhalten wünschte, ihm auch geschmäcklerische Ästhetisierung und das l'art pour l'art einer Bildungselite ersparen wollte. Die aus der Natur der Sache heraus mit Notwendigkeit abzuleitenden Prinzipien jedoch, das heißt solche, die deshalb zum Kunstwerkcharakter eines für Jugendliche bestimmten


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erzählenden Werkes beitragen, weil es sich eben um »Erzählung«, um die künstlerische Gattungsform des »Epischen« handelt, sie dürfen keineswegs vernachlässigt oder verfehlt werden, wenn das Werk, um das es sich handelt, seine Wirkungen nicht ebenfalls verfehlen soll. Eine Erzählung für die Jugend ist ein »Kunstwerk« sui generis, oder sie ist nicht, was sie sein soll.
  Zu den seit Urzeiten praktizierten Techniken des Erzählens, auf deren kunstverständiger Anwendung viel von der Faszination beruht, die Leser oder Hörer seit jeher in ihren Bann zieht, gehört aber das Kunstmittel des sogenannten » L e i t m o t i v s «. Wie in der Architektur, z. B. beim Aufbau einer größeren Fassade, bestimmte architektonische Elemente, etwa Säulen oder ähnliches, das Ganze durch sinnvolle Verteilung gleicher optischer Momente zugleich gliedern und zur Einheit zusammenbinden, und wie in der Musik die Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Tonfolgen einer Komposition Struktur verleiht (eine Kunst, die bekanntlich Richard Wagner mit besonderer Virtuosität ausbildete), so haben auch die Epiker seit Homers Zeiten großräumige Erzählkomplexe dadurch gegliedert, aber auch zur Einheit verklammert, daß sie einzelne Episoden, Teilhandlungen oder Kapitel mit deutlich herausgehobenen und durch auffallende Ähnlichkeit aufeinander verweisenden Einzelzügen, sogenannten »Motiven« ausstatteten. In bezug auf die epische Technik in mittelhochdeutschen Erzählwerken des Mittelalters konnte bereits vor Jahren nachgewiesen werden, daß etwa Dichter wie Eilhart von Oberg und Gottfried von Straßburg das hier beschriebene Kunstmittel des Leitmotivs zielstrebig und durchgehends praktiziert haben. Doch handelt es sich keineswegs um Eigentümlichkeiten einiger weniger Erzähler, sondern offenbar um eine Erscheinung, die der epischen Kunst überhaupt immanent zu sein scheint, insofern sie von den erzählenden Dichtern aller Zeiten und Sprachen immer wieder neu ad hoc entwickelt und gewissermaßen zwangsläufig »erfunden« werden konnte. Ich habe seinerzeit dieses Phänomen mit dem Begriff »Motivreim«55 bezeichnet, um damit auszudrücken, daß die Wiederkehr gleicher oder fast gleich strukturierter Motive einzelne Handlungsteile einer Erzählung ebenso miteinander verklammert, wie dies der Reim mit einzelnen Versen eines Gedichts vermag.


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  In der neueren deutschen Literatur wäre in diesem Zusammenhang insbesondere auf das Beispiel Thomas Manns hinzuweisen, der seinerseits des öfteren bekannt hat, er habe diese seine epische Technik aus der Musik Richard Wagners adaptiert. Wenn daher beispielsweise in seiner Novelle ›Tristan‹ jene Frau Klöterjahn, sooft sie erscheint, kaum ohne das klopfende kleine blaue Äderchen auf ihrer Stirn erwähnt wird, so handelt es sich hier um ein solches Leitmotiv, das natürlich zugleich dadurch Bedeutung erhält, daß es immer auf einen Gehalt, eine Grundidee hinweist, die den Kern der ganzen Dichtung ausmacht, nämlich auf die Gebrechlichkeit und die Gefährdung einer vom »Geist« und von der »Kunst« versehrten Existenz. Dies ist freilich ein Leitmotiv, ein »Motivreim« von sehr verfeinerter und zarter Natur, und nicht so ätherisch, sondern grobkörniger, robuster in ihrer Art, aber dennoch im engsten Zusammenhang mit den Praktiken einer elitären Hochliteratur stehend, nämlich aus dem »Genius der Epik selbst« gebürtig, ist diejenige Spielart des Erzählens, die wir hier am Beispiel der ›Sklavenkarawane‹ entdecken.
  Daß es die Aufgabe eines echten Jugendschriftstellers sein müsse, mit dem Ziel, seine Leser ihrem Alter gemäß zu unterhalten, zugleich die Intentionen der Erziehung und der Belehrung zu verbinden, ist oft gefordert worden, und der Autor Karl May war sich dessen seiner pädagogischen Herkunft aus dem Lehrerseminar wegen auch durchaus theoretisch bewußt. In der Praxis des Erzählers bedeutete das, wie wir schon in früherem Zusammenhang erwähnt haben, daß die gleichen Erzählungsmotive, auf denen die unterhaltsame Spannung beruhte oder durch die etwa der künstlerische Zweck des Leitmotivs erreicht werden sollte, zugleich pädagogische und didaktische Bedeutung haben müßten. Nun hatte sich dieser Autor, wie bereits nachgewiesen, offensichtlich das pädagogisch-didaktische Ziel gesetzt, seine jugendlichen Leser nicht nur mit Fakten der Geographie und anderer Naturwissenschaft bekanntzumachen, sondern überhaupt den schulmüden Pennäler für später unter Umständen zu ergreifende wissenschaftliche Berufe zu motivieren. In diesem Falle hatte er es nun, neben anderem, speziell auf die Ornithologie abgesehen, die denn auch namentlich in der Gestalt Pfotenhauers mit in den Kern des Geschehens gerückt wurde. Das Interesse für die Vogelwelt und die


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damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Fragen zu wecken, das war seine didaktische Intention. Aber wie er sie nun in echte Erzählung, in Dichtung integrierte, dies zu beobachten dürfte eines eingehenderen Studiums wert sein.
  Schon dies, daß nun überall Vögel fliegen in diesem Buch, bringt Leben, Bewegung und den Flair des Poetischen hinein. Und schon auf den ersten Seiten der Erzählung erscheint das Vogelmotiv, um als »erregendes Moment« die eigentliche Handlung in Bewegung zu setzen. Übrigens sogleich in einer in sich selbst »motivreimenden« Verdoppelung, in zweifacher Variante, zunächst nämlich als bloße Jagdepisode, sodann in einer Sinnbeziehung, durch die mit dem ersten geschöpften Verdacht das Ringen des reisenden Naturforschers Emil Schwarz mit seinem Karawanenführer und die Abwehr von dessen gemutmaßten Mordplänen ausgelöst werden. Im ersten Falle, als episodisches Jagdmotiv, sieht die Sache so aus:

Plötzlich rief er (Emil Schwarz) seinem Kamele ein lautes » Khe khe!« zu, das Zeichen zum Anhalten und Niederknieen. Es gehorchte; er stieg aus dem Sattel und griff nach seinem Gewehre.
  »Allah!« rief der Schech. »Gibt es einen Feind?«
  Dabei blickte er sich ängstlich nach allen Seiten um.
  »Nein,« antwortete der Reisende, indem er in die Luft deutete, »es gilt nur einem dieser Vögel.«
  Die Araber folgten mit ihren Augen seinem Fingerzeige.
  »Das ist ein Hedj mit seiner Frau,« sagte der Schech. »Gibt es ihn nicht auch in Eurem Lande?«
  » Ja, aber von einer andern Art. Er wird bei uns Weihe, Corvus, genannt. Ich will auch einen Hedj haben.«
  »Du willst ihn schießen?«
  »Ja.«
  »Das ist unmöglich, das bringt kein Mensch fertig, mit dem besten Gewehre nicht!«
  »Wollen sehen!« lächelte der Fremde.
  Die beiden Weihen waren der Karawane nach Art der Raubvögel gefolgt, immer gerade über derselben schwebend. Sie senkten sich jetzt, als die Reiter hielten, langsam weiter nieder, indem sie hintereinander eine regelmäßige Spirale beschrieben. Der Fremde setzte die Brille zurecht, stellte sich mit dem Rücken gegen die Sonne, um nicht geblendet zu werden, zielte einige Sekunden lang, mit der Mündung des Hinterladers dem Fluge der Vögel folgend, und drückte dann ab.
  Das voranfliegende Männchen zuckte, legte die Flügel zusammen, spannte sie wieder auf, aber nur für wenige Augenblicke, dann konnte er sich nicht mehr in der Luft erhalten; er stürzte zur Erde nieder. Der Fremde eilte der Stelle zu, an welcher der Vogel lag, hob ihn auf und betrachtete ihn. Die Araber kamen herbei, nahmen ihm den Hedj aus der Hand und untersuchten denselben
.


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  »Allah akbar - Gott ist groß!« rief der Schech erstaunt, »du hattest eine Kugel geladen?«
  »Ja, eine kleine Kugel, keinen Schrot.«
  »Und ihn doch getroffen!«
  »Wie du siehst!« nickte der gute Schütze. »Das Geschoß ist ihm in die Brust gedrungen, mitten in das Leben, was freilich nur Zufall ist; aber auf den Leib hatte ich doch gezielt. Es freut mich, daß der Schuß so gut gelungen ist, denn so ist der Balg ganz unverletzt.«
  »Einen Hedj zu schießen, mit einer Kugel, aus solcher Höhe! Und ihn auch an dieser Stelle zu treffen! Effendi, du bist ein ausgezeichneter Schütze; bei uns verstehen die Lehrer an den Medressen nicht zu schießen. Wo hast du das gelernt?«
  »Auf der Jagd.«
  »So hast du schon früher solche Vögel gejagt?«
  »Vögel, Bären, wilde Pferde, wilde Büffel und viele andre Tiere.«
  »Gibt es die in deinem Vaterlande?«
  »Nur die ersteren. Die letzteren schoß ich in einem andern Weltteile, welcher Amerika heißt.«
  »Von diesem Lande habe ich noch nichts gehört. Sollen wir den Hedj in das Gepäck stecken?«
  »Ja. Ich werde ihn heute abend am Lagerfeuer abbalgen, wenn es überhaupt ein Feuer geben wird.«
  »Es gibt eins, denn an dem Bir Aslan wachsen viele und dichte Sträucher.«
  »So hebt ihn bis dahin auf! Es ist das Männchen, welches wertvoller als das Weibchen ist.«
  »Ja, es ist das Männchen; auch ich kenne es. Seine Witwe ist davongeflogen und wird um ihn trauern und klagen, bis ein andrer Hedj sie tröstet. Allah sorgt für alle Geschöpfe, selbst für den kleinsten Vogel, am allerbesten aber für die Dijar ed djiane
56, welche er jährlich in sein Paradies aufnimmt, wenn sie von uns gehen.«
  Dieser Glaube ist in Ägypten viel verbreitet. Der gewöhnliche Mann weiß nicht, daß die Schwalben, welche er eigentlich »Snunut« nennt, ihre wirkliche Heimat in Europa haben und nur während unsrer Winterszeit nach Süden gehen. Da sie im Frühling verschwinden, ohne daß er erfährt, wohin, so erklärt er sich, wohl meist auch infolge ihres traulichen, menschenfreundlichen Wesens, diese Erscheinung in der Weise, daß er annimmt, sie fliegen nach dem Paradiese, um bei Allah zu nisten und ihm die Gebete der Gläubigen vorzuzwitschern.
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Die kleine Episode ist damit in sich abgeschlossen, das Vogel-Thema zugleich über das Jagd-Motiv hinaus erweitert, indem es mit zusätzlicher Information (die Zugvögel betreffend) angereichert worden ist. Nun kann die Variante des Hedj-Motivs dem Erzähler die eigentliche Fabel in Gang setzen helfen:

  Nachdem der unterbrochene Ritt fortgesetzt worden war, sah man nach einiger Zeit einzelne kahle Berge, welche sich im Süden und Norden der eingeschlagenen Richtung erhoben. Dies gab dem Fremden Veranlassung, auch nach rückwärts zu blicken. Sein Auge blieb an einigen winzig kleinen Punkten hängen, welche dort scheinbar unbeweglich in der Luft schwebten. Er zog sein Fernrohr aus der Satteltasche und beobachtete diesel-


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ben einige Zeit. Dann schob er das Rohr wieder in die Tasche zurück und fragte: » Ist der Weg, den wir reiten, ein vielbesuchter Handelsweg?«
  »Nein,« antwortete der Schech. »Wenn wir den Karawanenweg hätten einschlagen wollen, so hätten wir einen Bogen reiten müssen, auf welchem uns zwei Tage verloren gegangen waren.«
  »Hier ist also keine Karawane zu erwarten?«
  »Nein, weil es in der trockenen Jahreszeit auf dem Pfade, den wir ritten, kein Wasser gibt. Das unsrige ist auch bereits zur Neige gegangen. Die Schläuche sind leer.«
  »Aber am Bir Aslan werden wir sicher welches finden?«
  »Ganz gewiß, Effendi.«
  »Hm! Sonderbar!«
  Er machte dabei ein so bedenkliches Gesicht, daß der Schech ihn fragte: »Woran denkst du, Herr? Gibt es etwas, was dir nicht gefällt?«
  »Ja.«
  »Was?«
  »Du behauptest, daß wir uns auf keinem Karawanenwege befinden, und doch reiten hinter uns Leute.«
  »Hinter uns? Unmöglich! Dann müßten wir sie ja sehen!«
  »Das ist nicht notwendig.«
  » Wie kannst du es dann für so gewiß behaupten?«
  »Weil ich zwar nicht sie, aber doch ihre Spur sehe.«
  »Effendi, du scherzest!« meinte der Schech in überlegenem Tone.
  »O nein. Es ist im Gegenteil mein vollständiger Ernst.«
  »Wie ist es einem Menschen möglich, die Spuren von Personen, die Darb und Ethar
58 von Personen zu sehen, welche hinter ihm reiten!«
  »Du denkst nur an die Spuren, welche durch die Füße der Menschen und die Hufe der Tiere dem Sande eingedrückt werden. Aber es gibt auch Spuren, welche sich in der Luft befinden.«
  »In der Luft? Allah akbar - Gott ist groß; er kann alles, denn ihm ist alles möglich. Aber daß er uns erlaubt hat, Spuren in der Luft zurückzulassen, davon habe ich noch nichts gehört.«
  Er musterte den Fremden mit einem Blicke, als ob er ihn nicht für ganz zurechnungsfähig halte.
  »Und doch ist es so. Die Spuren sind da. Man muß nur die Augen für sie haben. Denk an den Hedj, welchen ich geschossen habe!«
  » Was hat er mit den Darb und Ethar zu thun?«
  »Sehr viel, denn er selbst konnte unter Umständen die Ethar von uns sein. Hast du ihn schon bemerkt, bevor ich ihn schoß?«
  » Ja. Das Pärchen folgte uns seit dem Morgen. Und als wir am Steine ruhten, schwebte es immer über uns. Der Hedj hält sich, wenn er kein andres Futter findet, zu den Kamelen, um dann alles, was die Reiter während der Ruhe beim Essen fallen lassen, aufzuzehren. Auch lauert er auf die Vögel, auf die Madenhacker, welche den Karawanen folgen, um den Tieren das Ungeziefer abzulesen.«
  »Also du gibst zu, daß an der Stelle, über welcher der Hedj schwebt, sich eine Karawane befindet?«
  »Ja.«
  »Nun, da hinter uns fliegt ein zweites Paar, zu welchem sich jetzt unser verwitwetes Weibchen gesellt hat. Siehst du sie?«


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  Der Schech blickte rückwärts. Seinen scharfen, wohlgeübten Augen konnten die Vögel nicht entgehen.
  »Ja, ich sehe sie,« antwortete er.
  »Dort muß eine Karawane sein?«
  »Wahrscheinlich.«
  »Und doch befinden wir uns auf keinem Wege. Das hast du selbst gesagt. Die hinter uns reitenden Leute folgen unsren Spuren.«
  »Sie werden den Weg nicht kennen und sich also an unsre Fährten halten.«
  »Eine Karawane hat stet seinen Schech el dschemali und auch noch andre Männer bei sich, welche den Weg genau kennen.«
  »Aber der beste Khabir
59 kann sich einmal verirren!«
  »In der großen Sahara, ja, aber nicht hier in dieser Gegend, südlich von Dar Fur, wo von einer wirklichen Wüste streng genommen gar nicht die Rede sein kann. Der Schech der Karawane, welche hinter uns kommt, kennt die Gegend ebenso gut wie du; er muß sie kennen. Wenn er trotzdem vom Karawanenwege abgewichen ist, um uns zu folgen, so hat er es auf uns abgesehen.«
  »Auf uns abgesehen! Effendi, welch ein Gedanke! Du denkst doch nicht etwa, daß diese Leute zu einer. . .«
  Er sprach das Wort nicht aus. Er hatte Mühe, seine Verlegenheit zu verbergen.
  »Daß sie zu einer Gum
60 gehören, wolltest du wohl sagen?« fuhr der Fremde fort. »Ja, das ist meine Meinung.«
  »Allah kerihm - Gott ist gnädig! Welch ein Gedanke, Effendi! Hier in dieser Gegend gibt es keine Gum. Die ist nur im Norden von Dar Fur zu suchen.«
  »Pah! Ich traue diesen Leuten nicht! Warum folgen sie uns?«
  »Sie folgen uns, aber verfolgen wollen sie uns nicht. Könnten sie nicht denselben Zweck haben wie wir?«
  »Den Weg abzukürzen? Das ist freilich möglich.«
  »Das ist nicht nur möglich, sondern es wird wirklich sein. Mein Herz ist ferne davon, Befürchtungen zu hegen. Ich kenne diese Gegend und weiß, daß man in derselben so sicher ist wie im Schoße des Propheten, den Allah segnen wolle.«
  Der Fremde warf ihm einen forschenden Blick zu, welcher dem Schech nicht gefallen wollte, denn er fragte: »Warum blickst du mich an?«
  »Ich sah dir in die Augen, um in deiner Seele zu lesen.«
  »Und was findest du darin? Doch die Wahrheit?«
  »Nein.«
  »Allah! Was denn? Etwa die Lüge?« - »Ja«
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So geht es nun weiter, die Ereignisse sind schon im Fluß, und den unmittelbaren Fortgang des hier wiedergegebenen Gesprächs haben wir schon in früherem Zusammenhang zitiert.62 Wir meinen, daß wir der von uns vermuteten künstlerischen Intelligenz unseres Autors, aber auch dem Ursprung des Karl-May-Fiebers unserer Zehn- bis Vierzehnjährigen und damit dem Rattenfängerzauber eines begnadeten Didaktikers an Hand des hier herausgehobenen Textteils vielleicht besonders nahezukommen vermögen.


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  Wie er schon im ersten kleinen Abschnitt dieses Textes Weite und Höhe des landschaftlichen Raumes erzeugt, das verrät diese sicher gehandhabte Kunst des Epikers: Der  R i t t  geht weiter - da haben wir das Transitorische; die Landschaft  v e r ä n d e r t  sich, indem Berge auftauchen, weit im Norden und im Süden - und der junge Leser erschafft sie gleichsam in sich selber, diese hingedehnte, in unbegrenzter Freiheit zu allen Fernen geöffnete Landschaft, dieses Urbild, den »Archetyp« aus Seelenabgründen einer im Aufbruch und Umbruch begriffenen Vitalität. Erinnere ich mich recht, so dürfte (von aller Spannung durch besonders arrangierte Abenteuer ganz abgesehen) gerade der hier erzeugte Phantasiezauber in fast  a l l e n  Büchern dieses Autors den wichtigsten, intensivsten Lesereiz, das eigentlich  p o e t i s c h e  Element darstellen: das Reiten durch unendlich gedehnte grüne Savannen, braune Steppen oder gelbe Wüsten.63 Und auch in die Höhe des Himmels wird nun unsere Phantasie gelenkt: winzig kleine Punkte hängen da scheinbar unbeweglich in der Luft. Das imaginiert uns sogleich die blaue Unendlichkeit südlicher Himmel und Horizonte, und wenn der Autor nun seinen Fremden noch umständlich das Fernrohr aus der Satteltasche holen und einige Zeit hindurchblicken läßt, dann ist auch dies Fernrohr ein Requisit epischer Symbolik, durch das eben Weite, Ferne, Raumtiefe recht anschaulich in unser Bewußtsein gebracht werden sollen.
  Und jetzt schaltet der Erzähler, weiter verlebendigend, wieder auf eine seiner beliebten Dialogpartien um. Da wird nun in der Tat alles herausgeholt, was das Motiv hergibt. Daß jene winzigen zwei (nein, es sind drei!) Punkte am fernen Himmel genügen, um im Hin und Her spannungsvoller Dialektik die endliche Entlarvung eines getarnten Schurken herbeizuführen, dieses spannende Ereignis, dessen stufenweisen Fortgang wir mit aller Knabenschläue mitzudenken vermögen, muß uns gewiß mit großem Entzücken erfüllen. Noch dazu - und wir gestehen ehrlichen Herzens, daß wir diese seine Kunst entschieden bewundern - hat der Autor seinem Motiv vom Vogelflug auf eine doppelte Weise eine überraschende Pointierung abgewonnen, wenn er seinen Fremden listigerweise von Spuren reden läßt. Wie kann man Spuren lesen von Leuten, die doch erst hinter einem kommen? Und gar die schlitzohrige Schäkerei, es seien eben Spuren in der Luft! Der-


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gleichen Pointen sind gewiß ganz nach dem Geschmack seiner jungen Leser, die dabei das eigene Eingeweihtsein und Besserwissen gegenüber der maulaufsperrenden Torheit des Schechs mit Behagen genießen mögen. Dies aber vor allem bindet Erzähler und Leser einerseits und Haupthelden und Leser anderseits zu einer gleichsam verschworenen Kumpanei. Hier redet keiner zu Kindern, dem man es anmerkt, daß er sich künstlich dumm stellt, um von den Unmündigen verstanden zu werden, sondern einer, der auch seine kindlichen Leser für intelligent hält, an ihre Intelligenz appelliert und als Gleicher zu Gleichen spricht. Man ist »in«, ist aufgenommen, darf mitspielen. Man ist gefordert, nun auch alle Gefahren und Abenteuer mit durchzustehen bis zum Ende. Zu diesen Forderungen, Provokationen gehört auch (und das unterscheidet Karl Mays Jugendbücher von fast allen Werken dieser Gattung und dürfte nicht wenig zu seiner ausnahmehaften Beliebtheit beigetragen haben), wie er auch darin seine Leser für voll nimmt, daß er ihnen zumutet, so umfangreiche romanhafte Literaturwerke zu konsumieren, wie etwa die ›Sklavenkarawane‹ mit ihren 496 Seiten (Bamberger Ausgabe 569 S.) oder der ›Blau-rote Methusalem‹ mit 546 Seiten (Bamberger Ausgabe 524 S.) es sind. Dickleibige Romane, statt schmalbrüstiger Bilderbüchlein! Und nachdem also die Spannung mit Hilfe des Vogelmotivs erzeugt ist, geht es hinein in eine anscheinend ins Grenzenlose ausgedehnte Welt, deren Weite und Fülle uns auf gar nicht absehbare Zeit aufzunehmen verspricht. »Eskapismus« gewiß, aber doch eben eine Flucht ins Andere, die den innersten Bedürfnissen einer im Aufbruch befindlichen Mentalität Jugendlicher aufs genaueste entspricht. Wie die Flucht wieder ins Heimische zurückführt, diese pädagogische List war uns schon aufgegangen. Daß aber das Großlinige und Weitgespannte dieses Bogens die Grundbedingung dafür ist, daß der Wandel, die unmerkliche Vertauschung der Zielvorstellungen willig mitvollzogen wird, dürfte didaktisch das Wesentliche an der Sache sein.
  So wird denn auch das epische Kunstmittel des Leitmotivs nach Art der Romantechnik über sehr weitläufige Erzählpartien hinweg weitergesponnen. Das Vogel-Thema tritt insbesondere dann im 7. Kapitel (»Der Sklaverei entronnen«) wieder in den Vordergrund: Ignatius Pfotenhauer, genannt »Vogel-Nazi«, weil er seines Zeichens Orni-


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thologe ist, und Joseph Schwarz fahren im Boot den Nil abwärts. Soeben belehrt Pfotenhauer seinen Gefährten darüber, daß er von ihm nicht mit »Doktor« angeredet werden möchte.

» . . . In dera g'lehrten Welt bin ich als Herr Doktor Ignatius Pfotenhauer bekannt. Daheim, wo ich z'Haus bin, nennen s' mich nur den Vogel-Nazi, weil ich nun einmal eine ganz b'sondere Liebhaberei hab' für alles, was da fleugt, aber nit kreucht. Hier z'Land heißen s' mich gar Abu el Laklak, den ›Vater des Storches‹, wegen meiner Nase, die mir aber ebensowenig feil ist, wie dir die deinige. Nachhero, weil ich dich einfach Sepp nenne, weil dein Vorname Joseph ist, so kannst mir auch die Lieb' und Güt' erweisen, mich Nazi, oder Naz, zu heißen, was bedeutend kürzer ist als Ignatias, mit vier Silben. Hast's verstanden?«
  »Sehr wohl! Hoffentlich verspreche ich mich nicht wieder.«
  »Das möcht' ich mir halt ausg'beten haben! Weißt, ich bin einmal ein b'sonderer Kerl, und so - - halt, siehst ihn fliegen?«
  »Wen? Wo?«
  Der Graue war eifrig aufgesprungen und rief erregt, indem er mit der Hand nach aufwärts deutete: »Dort - hier - da kommt er g'flogen! Kennst ihn schon?«
  »Ja. Es ist ein Perlvogel, Trachyphonus margaritatus.«
  »Richtig! Hast's schon g'wußL Weg ist er!« stimmte der Graue bei, indem er sich wieder niedersetzte. »Aber weißt auch, wie die Eing'bornen ihn nennen!«
  »Noch nicht.«
  »Da hast wieder aan' Beweis, daß sie gar gute und auch g'spaßige Beobachter sind; sie benennen ihn und sie nach der Stimme, wann s' schreien. Er schreit nämlich: bescherrrretu, bescherrrretu! Weißt, was das in dera hiesigen Sprachen bedeutet?«
  »Ja, hast dein Kleid zerrissen, hast dein Kleid zerrissen!«
  »Richtig! Das Weibchen sieht nämlich dunkel aus und hat weiße Flecken drauf, was grad so ausschaut, als ob sie Löcher in dera Toiletten hätt'. Sie aber antwortet ihm hernach: bak-si-ki, bak-si-ki! Was heißt das?«
  »Näh's zusammen, näh's zusammen!«
  »Auch das ist richtig. Wann der Volksmund mit solcher Naivität von denen Vögeln spncht, so möcht' man diese Leutln nur schwer für Menschenfresser halten.«
64

Die hier wiedergegebene Kleinepisode um das Vogelmotiv ist das erste Glied einer langen Kette von variierenden Wiederholungen, und stets ist der erzähltechnische Sinn dieser Einlage der gleiche: sie unterbricht im Fluß befindliche Handlung oder Auseinandersetzung, staut und steigert damit die Spannung, die Neugierde darauf, wie es wohl weitergeht; sie bringt Lebendigkeit, Bewegung und Perspektive in das Landschaftsbild (denn meistens fliegen die Vögel in hohem Bogen über den Nil); sie vergegenwärtigen exotische Umwelt; sie bringen ein kleines Stückchen ornithologischer Information und - nicht zuletzt - ein wenig Folklore, verbunden mit der Aufforderung, ja


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nicht gering von der Intelligenz der Naturvölker zu denken. Durch die nahezu wörtliche Wiederholung kommt zudem zunehmend für den jungen Leser ein Element des Komischen in die Sache, denn nun kennt man sich schon aus, daß der »Graue« wieder einmal sein Steckenpferd reitet. Wiederholungen dieser Art - die das Formelhafte des Märchens adaptieren - werden von kindlichen Lesern keineswegs als störend empfunden, im Gegenteil, man begrüßt sie mit der Freude des Wiedererkennens, als ein Ritual, das uns dessen vergewissert, daß alles in dieser Geschichte so läuft, wie es laufen muß. Wer bemerkt hat, mit welcher Begeisterung Kinder immer wieder dieselbe Geschichte erzählt haben wollen, auch wie sie darauf bestehen, daß alles mit den gleichen Worten formuliert werde, versteht auch, daß der Autor in hohem Maße gerade durch dieses Mittel (das dem differenzierteren Geschmack vielleicht als klischeehaft erscheint) genau das Rechte getroffen hat. Übrigens folgt die erste Wiederholung schon wenige Seiten nach dem hier zitierten Text, diesmal verknüpft mit einer weiteren Abwandlung des Vogelthemas; Pfotenhauer erzählt, warum er Ornithologe geworden sei:

» . . . An meiner Wiegen hat man mir's freilich nit g'sungen, daß ich mich mal so auf die Ornithologie verinteressieren würd', und fünfzehn Jahre später auch noch nit. Ich selber hab' auch nit dran gedacht und erinnere mich noch heute mit Schreck an das erste ornithologische Abenteuer, das ich damals erlebte.«
  »Was war das?«
  »Das war - nun, dir kann ich's ja erzählen; sonst aber red' ich nimmer gern davon - das war, da ich als Gymnasiast in der Quart g'sessen bin. Der Professor für die Naturgeschicht' hat mich nit gern g'habt, weil ich ihn in meiner Dummheiten immer nach Dingen g'fragt hab', die kein Mensch beantworten kann.«
  »Das kommt in diesem Alter häufig vor, ist aber meist ein Beweis von regem Wissensdrang.«
  » Wissensdrang? Der Professor hat's halt immer Voreiligkeit und Neugierd' g'nannt, und nur auf eine G'legenheit gesonnen, es mir heimzugeben. Das war zum Osterexamen. Ich hab' a neues Vorhemd ang'legt, und den neuen blauseidenen Schlips drumrum, und nachhero g'meint, daß ich mit diesem Staat das Examen schon b'stehen muß. Es ist auch ganz leidlich 'gangen, bis hin zu dera Naturg'schicht'n. Die Fragen wurden reihum g'richtet; als ich dran komm', erheb' ich mich, und was wird mich da der Professor fragen, he!«
  »Nun, was denn?«
  »Warum die Vögel Federn haben?«
  »Ja, da hat er dir's freilich heimzahlen wollen. Was hast du ihm denn geantwortet?«
  »Was ich g'antwortet hab'? Nun, zunächst hab' ich mir denkt, daß er - - halt, dort sitzt er! Siehst du ihn?« Er war wieder aufgesprungen und deutete erregt nach dem Ufer,


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wobei seine Nase sich zur Seite bog, als ob sie sich ganz speziell für diese Gegend interessiere.
  »Wer? Wo?« fragte Schwarz.
  »Dort oben auf dem Sunutbaume
65, ganz auf der Spitze.«
  »Ach so, ein Flußadler, Haliaetus vocifer, ein prachtvolles Tier!«
  »Das ist er. Die Eingeborenen nennen ihn Abu Lundsch. Er frißt fast ausschließlich Fische, und weißt, wie die Leute hier sein Geschrei verdolmetschen?«
  »Nein.«
  »Sef
66, Charif67, jakull hut, hut. Wie heißt das auf deutsch?«
  »Im Sef und Charif verzehre ich Fische.«
  »Richtig! Auch hier hast wieder ann Zeichen von liebevoller Beobachtung der Natur. Die Negern sind gar nit so stupid und verständnislos, wie man sie beschreibt. Wenn ich an deiner Stell' wär', so thät ich a Buch zu ihrer Ehrenrettung verfassen.«
  »Das wird vielleicht geschehen, wenn ich Zeit dazu finde.«
  Jetzt wurde die Aufmerksamkeit der beiden auf den Steurer gelenkt, welcher ein kurzes Kommandowort aussprach, worauf die Schwarzen ihre Ruder einzogen.
68

Von nun an nutzt der Erzähler auch die Anekdote »Warum die Vögel Federn haben« als situationales Leitmotiv: immer wieder läßt er den Vogel-Naz ansetzen, sein erstes ornithologisches Abenteuer zu erzählen, und immer wieder wird er an der entscheidenden Stelle, die die Antwort auf diese Frage bringen müßte, durch irgendein dazwischentretendes Ereignis unterbrochen. Auch dies eine Art Ritual, und daß es eine Geschichte ohne die erwartete Pointe bleibt, das wird von Mal zu Mal mehr von seinem jungen Lesepublikum als die eigentliche komische Pointe begriffen und belacht. Auch geht das Buch ganz zu Ende, ohne daß wir den Schluß der Geschichte erfahren. Die letzte ihrer Varianten findet sich noch 240 Seiten später, und wir stellen auch sie hierher, um die besondere Technik motivischer Analogiebildung am Beispiel zu demonstrieren:

Sie wandten sich nicht nach dem See, sondern gingen am Ufer des Maijeh hin, weil dort eher ein Nilpferd zu treffen war als am ersteren. Es wurde heller, so daß sie nun deutlich sehen konnten. Der Graue hatte auf alles acht. Einmal blieb er stehen und deutete auf eine eigenartige Fährte.
  »Wissen S', wer da g'laufen ist?« fragte er.
  »Natürlich ein Hippopotamus!«
  »Ja. Sehen S' sich die Spur g'nau an! Dieser Behemot ist da aus dem Wasser kommen, und man sieht seine Spur deutlich im weichen Moor. Rechts und links eine Reihe von Stapfen, einen vollen Fuß im Durchmesser, und in der Mitt' einen Streifen auf der Erd', auf welcher er den Bauch schleift. Das ist - - ah, haben S' g'sehen?«
  »Ja.«
  » Was war's? Es fuhr da aus dem hohlen Stumpf heraus, wo es ganz gewiß Ameisen gibt.«


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  »Ein Erdferkel.«
  »Lateinisch?«
  »Orycteropus aethiopicus.«
  »Richtig! Und arabisch?«
  »Abu Batlaf, ›Vater der Klauen‹.«
  »la, weil's so lange Nägel hat. Ich hab' eine solche Klau' zum erstenmal bei unsrem Professor von dera Naturg'schicht g'sehen, welcher in seiner Sammlung viele solche Raritäten g'habt hat Er war gar kein übler Ornitholog, und ich hab' gar viel von ihm profituert, aber leiden hat er mich nit können.«
  »Das ist doch sonderbar,« meinte Schwarz
69, indem sie wieder vorwärts schritten. »Sie sind doch gar kein übler Bursche!«
  »Bin's auch nie g'wesen. Aber wißbegierig war ich stets, und da hab' ich ihm oft Fragen vorg'legt, die selbst der klügste Mensch nit beantworten kann. Das hat ihn g'ärgert, und er ist auf den Gedanken 'kommen, mir das bei Gelegenheit zurückzuzahlen. Die ist auch bald eingetreten. Wissen S' wann?«
  »Nun?« fragte Schwarz gutwillig.
  »Beim Examen. Da hat er mich in eine Verlegenheit g'bracht, die ich niemals nit vergessen werd'. Ich sprech' zwar nit davon, denn es hat keinen Zweck für andre, aber gegen einen Freund braucht man nit so zugeknöpft und verschlossen zu sein, und darum will ich's Ihnen anvertrauen. Sie sagen's doch nit weiter?«
  »Fällt mir nicht ein!« beteuerte Schwarz.
  »Nun, das war nämlich so! Es sollt Examen sein, grad' als ich in dera Quart g'sessen bin. Das war natürlich aan Ehrentag, und so hab' ich mich fein sauber g'macht und einen blütenweißen Brustlatz vorgebunden mit breitem Kragen und den neuen, bunten Schlips drumrum. So fein ausgestattet, wie ich da g'wesen bin, hat mir's im Examen natürlich gar nit fehlen konnt. Ich war also ganz sicher und g'wiß und wartete auf die Frag', die an mich kommen werd'. Sie ist auch kommen, aber was für eine! Raten S' doch einmal!«
  »Bitte, erzählen Sie lieber weiter.«
  »Ja, das kann ich thun, denn erraten können S' diese Frag' doch g'wiß nimmermehr. Ich bin also aufg'standen, weil das die Höflichkeit erfordert, und da hat er g'meint, ich soll ihm sagen, warum die Vögel Federn haben. Was sagen S' denn nun dazu?«
  » Was soll ich sagen? Ich bin doch nicht gefragt worden, sondern Sie sind es!«
  »Das ist richtig!«
  » Was haben Sie denn geantwortet?«
  »Nun, zunächst hab' ich gar nix g'sagt. Ich hab' halt nur so da gestanden und den Professoren ang'schaut, wie der Mops den Mond zur Mittagszeit, denn ich hab' mir gar nit derklären konnt, wie er zu dieser Fragen 'kommen ist. Nachhero aber hat mich das Ingenium ergriffen und ich bin --«
  Er hielt mitten in der Rede inne, denn es war ein Schuß gefallen, und zwar nicht weit von ihnen . . .
70

So spaßhaft der Autor dieses sein Motiv von der unbeantworteten Frage auch in der Ökonomie seiner Erzählung verwendet, so didaktisch ist es doch gemeint, und die einprägsame Wiederholung der Fragestellung samt dem Ausbleiben einer einfachen Antwort mag am Ende auch den unbefangenen jungen Leser darauf aufmerksam ma-


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chen, daß hier denn wohl im Scherz die »tiefere Bedeutung« verborgen liegen möchte. Daß die Frage, die ohne Antwort bleibt, ein  P r o b l e m  umschreibt, das - wenn man so will - unmittelbar auf das zentralste Anliegen der Naturwissenschaft seit Darwins Zeiten hinweist. Er könnte, dieser junge Leser, darauf kommen, daß in der Tat, wer des Vogel-Nazis Frage zu beantworten versuchte, damit der Kernfrage aller Biologie konfrontiert wäre. Sollte der Autor mit seiner Geschichte also nicht etwa nur unterhalten, sondern, wenn's ginge, die Köpfe seiner Adepten auch auf eine recht ernsthafte Weise haben motivieren wollen? Jedenfalls kann man sich, um der tatsächlichen Bedeutsamkeit der Pfotenhauer-Anekdote auf die Spur zu kommen, an die Aussage eines so sachverständigen Biologen wie des Verhaltensforschers Konrad Lorenz halten. In seinem Buch ›Das sogenannte Böse‹ hat der »Vater der Graugänse« bezüglich der Vogelfedern fast so etwas wie die Antwort gegeben, die der »Vater des Storches« uns schuldig geblieben ist, wenn es dort heißt: »All die zahllosen komplexen und zweckmäßigen Baupläne der Tier- und Pflanzenkörper verschiedenster Art verdanken ihr Dasein der geduldigen Arbeit, die seit Jahrmillionen von Mutation und Selektion vollbracht wird. Davon sind wir fester überzeugt als Darwin selbst es war und ... mit größerer Berechtigung. ...Unsere Frage ›wozu?‹ kann eine sinnvolle Antwort nur dort erhalten, wo alle beiden großen Konstrukteure in der eben skizzierten Weise am Werke waren. Sie ist gleichbedeutend mit der Frage nach der arterhaltenden Leistung. Wenn wir fragen ›Wozu hat die Katze spitze, krumme Krallen?‹ und schlicht darauf antworten ›zum Mäusefangen‹, so ist dies kein Bekenntnis zu einer metaphysischen Theologie, sondern besagt einfach, daß Mäusefangen die besondere Leistung ist, deren Arterhaltungswert allen Katzen eben diese Form von Krallen angezüchtet hat ... Wenn wir hochdifferenzierte, regelhafte Gebilde vorfinden, die eben ihrer Gesetzmäßigkeit wegen von sehr hoher genereller Unwahrscheinlichkeit sind, wie etwa die komplizierte Struktur einer  V o g e I f e d e r   ..., können wir ausschließen, daß sie zufällig entstanden sind. Hier müssen wir fragen, welcher Selektionsdruck sie herausgezüchtet hat, mit anderen Worten, wozu sie da sind. Wir stellen diese Frage in der berechtigten Hoffnung auf eine verständliche Antwort, denn wir haben eine solche


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schon sehr oft, ja, bei genügendem Fleiß des Fragestellers fast immer erhalten. Daran ändern die wenigen Ausnahmefälle nichts, in denen die Forschung uns diese  w i c h t i g s t e  aller biologischen Fragen nicht - oder noch nicht - beantwortet hat.«71
  Ich will nun nicht einfach behaupten, daß Pfotenhauers Antwort, wenn er sie hätte geben können, so geradezu auf die des Neodarwinisten Lorenz hinausgelaufen wäre, doch war die Selektionstheorie Darwins, als May seine ›Sklavenkarawane‹ schrieb, immerhin seit 30 Jahren im Gespräch und in der Naturwissenschaft bis hin in ihre populären Darstellungen als Hypothese diskutiert. Es ist ganz unwahrscheinlich, daß der Autor der ›Sklavenkarawane‹, dessen naturkundliche Detailangaben in seinem Buch auf ausgedehnte Lektüre naturwissenschaftlicher Werke schließen lassen, in bezug auf Pfotenhauers Feder-Geschichte noch in der gleichen naiven Weise dachte, wie er das einst in seinen ›Geographischen Predigten‹ ganz im Sinne »metaphysischer Theologie« formuliert hatte: Der Bau eines jeden Thieres ist mit  w e i s e r  F ü r s o r g e  für seinen Aufenthalt und seine Lebensweise eingerichtet. Der Maulwurf, welcher seine unterirdischen Gänge gräbt, besitzt die dazu nothwendigen Schaufelfüße ebensowohl, wie der Fregattvogel die ausgebreitet 14 Fuß klafternden Flügel, um als kühnster der Segler die Oceane zu überfliegen.72 Es ist unwahrscheinlich, meinen wir, daß der Autor der ›Sklavenkarawane‹ nichts weiter bezweckt hätte als die fromme Besinnung auf eine »weise Fürsorge«, und das geht denn auch aus der letzten Version hervor, die er dem Leitthema noch ganz zum Schluß seines Buches gegeben hat. Da finden wir, wie erwähnt, die Hauptbeteiligten der abenteuerlichen Reise friedlich bei emsiger Arbeit in der deutschen Heimat wieder, auch den wunderlichen Slowaken Uszkar Istvan, nunmehr »Hausmann, Sprachlehrer und ornithologischer Autor«, von dem es heißt:
Unten aber, am Fenster rechts neben der Thür, sitzt in allen seinen Mußestunden ein kleines dünnbärtiges Kerlchen, emsig beschäftigt mit der so und so vielten Umarbeitung eines dicken Manuskriptes, welches den vielversprechenden Titel führt »Warum die Vögel Federn haben«. Dieser der Ornithologie Beflissene ist natürlich kein andrer als der »Vater der elf Haare«. Seit er mit seinen drei Herren . . . aus dem Sudan zurückgekehrt und als Hausmann des gemeinschaftlich bewohnten Gebäudes installiert worden ist, tituliert er sich Sprachlehrer, ohne aber einen Schüler zu bekommen, und hat es sich in den Kopf gesetzt, dem »Vater des Storches« durch die Herausgabe eines gelehrten Werkes zu beweisen, daß er auch Vögel gesehen und über dieselben nachgedacht habe.73


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Nicht also wohl erbauliche Andacht ist hier gemeint, sondern bei aller Verfremdung des Themas ins Komische doch eben Arbeit an einem »dicken Manuskript« und damit der Hinweis, daß hier ein  P r o b I e m  der Naturwissenschaft vorliegt, das des Schweißes der Edlen wert wäre. Denn darum, so heißt es vom »Vater der elf Haare«, nennt er sich »ornithologischer Autor« und hat sich als Thema seiner Arbeit gerade die berühmte Frage aus der ebenso berühmten Erzählung Pfotenhauers, welche auch heute noch nicht zu Ende gelangt ist, vorgenommen.74 Durchschaut man den Pädagogen? Die Geschichte ist auch heute noch nicht zu Ende gelangt! Die rechte Antwort zu finden bleibt also auch weiterhin Problem und Provokation für solche, die sich angesprochen fühlen möchten. Das aber eben ist »didaktische Struktur« eines erzählerischen Motivs, daß hier ein Autor  I e h r t  und  b i I d e t, ohne auch nur im geringsten gegen jenen Merkzettel zu verstoßen, auf dem es geheißen hatte: Hüte dich, zu schulmeistern!

  Noch an zwei Beispielen will ich die Technik des Leitmotivs belegen, weil dabei das Vogel-Thema in entscheidende Gelenkstellen der Haupthandlung integriert ist. Die erste betrifft noch einmal Pfotenhauer und Joseph Schwarz auf ihrer gemeinsamen Nilfahrt. Sie haben soeben im Zuge abenteuerlicher Ereignisse erfahren, daß Sklavenjäger mit ihrer Raubkarawane nach Süden aufgebrochen sind, um das Negerdorf Ombula zu überfallen und dessen Bevölkerung in die Sklaverei zu verschleppen. Den beiden Braven ist es sogleich selbstverständlich, daß einer von ihnen wird auf eiligstem Wege nach Ombula gehen müssen, um die Bedrohten vor der tödlichen Gefahr zu warnen. Das freilich wird ein riskantes Abenteuer sein, und so erhebt sich ein edler Wettstreit zwischen ihnen,  w e r  diese Aufgabe übernehmen soll.

»So kommen nur wir beide in die engere Wahl,« sagte Schwarz zu dem Grauen. »Meinst du, daß wir uns mit dieser Angelegenheit befassen?«
  »Natürlich! Erstens ist es unsre Pflicht, den Bedrohten zu helfen, und zweitens wird es mir eine wahre Passion sein, diesem Abd el Mot eine Nase zu drehen, die fast noch größer ist, als die meinige. Ich werde also schauen, daß ich ein Kamel bekomme, und dann nach Ombula reiten.«
  »Das kann ich nicht zugeben. Ich habe dieselbe Verpflichtung, wie du. Die Sache ist außerordentlich gefährlich, und so mache ich den Vorschlag, daß wir losen.«


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»Hab' nix dagegen. Gefahr gibt's hier überall. Ob ich mit dem Boote deinem Bruder entgegenfahr', oder ob ich nach Ombula reit', das ist schnuppe; denn hier wie dort kann's einem ans Leben gehen.«
  »So nehmen wir zwei Stücke Schilf, ein langes und ein kurzes, und dann -«
  »Nein!« fiel ihm Pfotenhauer in die Rede. » Wir selbst wollen das Los nit machen. Die Vögel mögen zwischen uns entscheiden. Paß auf, wann wieder einer über den Fluß kommt. Fliegt er von drüben herüber, so gilt's für dich; fliegt er aber von hier hinüber, so muß ich die Botschaft übernehmen. Soll's so gelten?«
75

Während man weiterfährt, wartet man nun aufs Vogelflug-Orakel, dessen Entscheidung sich freilich hinauszögert. Erst im folgenden, 8. Kapitel, trifft sie ein.

Die beiden Deutschen saßen still am Bug des Fahrzeuges. Die bevorstehende Trennung sollte nur eine kurze sein, konnte aber auch eine lebenslängliche werden. Der ›Vater des Storches‹ arbeitete innerlich; das war seinem Gesichte abzunehmen, welches sich von Minute zu Minute in andere Falten legte....
  »Nimm es doch nicht so schwer, alter Freund!«
  »Schweig! Wann ich einen lieb hab', so seh ich ihn nicht gern einer Gefahr entgegengehen, in der ich ihm nicht beistehen kann. Das kannst dir doch denken, und --- halt, schaust sie? Da kommen's g'flogen!«
  Er war aufgesprungen und deutete nach dem jenseitigen Ufer, von welchem eine ganze Schar schreiender und kreischender Vögel herübergeflogen kam. Seine ausgestreckte Hand folgte der Richtung ihres Fluges, und seine Nase, welche sich erhoben hatte, that ihrerseits ganz dasselbe.
  »Kennst sie?« fragte er.
  »Ja. Es sind Sporenkiebitze, Hoplopterus spinosus.«
  »Richtig! Du bist gar kein übler Vogelkenner. Es ist selten, daß sie um diese Zeit so hoch in die Luft gehen. Jedenfalls sind s' da drüben von einem Nilpferd aufg'scheucht worden. Weißt auch, wie sie hier zu Lande heißen?«
  »Siksak.«
  »Und warum?«
  » Weil sie so schreien.«
  »Hast recht. Dieses Sik-sak, sik-sak, wann man's am Morgen aus hundert Schnäbeln hört, klingt grad so, als ob der Fuchs seinen Namenstag feiert. Jetzt sind s' herüber und im Schilf verschwunden, wo sie im Morast nach Schnecken suchen.«
  Da er die Vögel nicht mehr sah, setzte er sich wieder nieder und fuhr fort: »Ich will hoffen, daß wir im Dorf der Dschur wirklich a schnelles Kamel bekommen. Der von uns, den es trifft, hat sich für sechs Tag' mit Proviant zu versehen. Der andre aber hat zu warten und auf deinen Bruder aufzupassen. Aber wo soll er das thun? In der Nähe von der Seribah Omm et Timsah kann er es nicht thun.«
  »Nein, das kannst du nicht, weil die Besatzung der Seribah dich nicht sehen darf,« antwortete Schwarz, indem er leise lächelte. »Du wirst vielmehr weiter hinab bis nach der Seribah Madunga fahren, deren Bewohner unser Steuermann kennt. Er sagte, daß wir dort gut aufgenommen würden. An dieser Seribah muß mein Bruder vorüberkommen;  d u  kannst ihn gar nicht fehlen, falls er eher kommt, als ich von Ombula zurückkehre.«
  »Du?«, fragte der Graue erstaunt.


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  »Ja, ich!«
  »Du willst nach Ombula? Nit ich soll hin? Wer hat denn das g'sagt?«
  »Du selbst hast es so angeordnet«
  »Ich? Ist mir im ganzen Leben gar nit eing'fallen!«
  »Oho! Wer hat denn bestimmt, daß der Flug der Vögel entscheiden soll?«
  »Ich.«
  »Nun, er hat doch entschieden!«
  »Davon weiß ich nix. Willst mir wohl 'was weismachen? Denkst wohl, daß ich so a Firlfax bin, der ---«
  Er hielt inne, machte den Mund weit auf und starrte den Gefährten eine ganze Weile sprachlos an. Die Spitze seiner Nase hob sich auch empor, als ob sie ebenso betroffen sei wie ihr Herr. Dann platzte er los: »Meiner Seel', daran hab' ich ja gar nit mehr gedacht! Die Sporenkiebitz sind doch über's Wasser g'flogen!«
  »Na also! Und in welcher Richtung?«
  »Von drüben herüber.«
  »Also bin ich es, auf den das Los gefallen ist. Das gibst du doch zu?« . . .
  »... Wer hätt' denken können, daß das Los dich treffen thät!«
  »Warum sollte es dich leichter als mich treffen?«
  »Weil ich's so schlau darauf ang'fangen hab'.«
  »Wieso?«
  »Ich hab' g'sagt, wann der Vogel von hierhin aber fliegt, so soll ich g'meint sein. Ich hab' mir natürlich g'dacht, daß wir auf unsrer Seiten hier mit dem Boote die Vögel aufstören werden.«
  »Dann hast du dich freilich verrechnet, denn ein aufgestörter Vogel wird nicht über unser Boot hinweg nach dem fernen rechten Uferfliegen, sondern vielmehr das nahe, linke aufsuchen.«
  »Dann darfs nix gelten, weil meine Dummheit schuld ist, daß dich's troffen hat.« »Nein, lieber Freund, es gilt. Gib dir keine Mühe! Sie würde unbedingt vergeblich sein.«
76

Abgesehen von der Beobachtung, wie dem Vogel-Motiv vom einfallsreichen Erzähler immer neue Varianten abgewonnen werden, mag der hier zitierte Text dokumentieren, daß solche Varianten keineswegs schablonierte Leerformeln darstellen, sondern zu lebendigen Sinnträgern des Epischen ausgestaltet werden, wo die Gelegenheit günstig ist. Daß hier das Vogelflug-Orakel einen zweiten Hauptstrang der Handlung einleitet, der nun Joseph Schwarz in Abenteuer und Gefahren bringt, aus denen ihn sein Bruder Emil am Ende erretten muß, das ist nur die ganz äußerliche, konkret-stoffliche Funktion des Motivs an dieser Stelle. Aber der Autor hat der Sache darüber hinaus, und beinahe überreichlich, alles an ethischer und menschlicher Substanz entlockt, was das Motiv nur irgend hergeben konnte. Da sind zwei Freunde-, aber was heißt das eigentlich: Freundschaft? Das bleibt nur ein Wort, wenn es sich nicht in konkreter Anschaulichkeit


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einer Situation vergegenwärtigt, die Entscheidung und Handeln erfordert. So hier. Es ergibt sich die unabwendbare Notwendigkeit, daß einer von beiden ins gefährliche Abenteuer hinaus muß. Daß dies sein  m u ß  (so bemerkt unser junger Leser sehr wohl), ist freilich allein ein moralischer Zwang, ein sittliches Gebot, denn es ist unsere Pflicht, den Bedrohten zu helfen. Und daß unsere Freunde sich keinen Augenblick besinnen, etwas für die Rettung der Afrikaner zu wagen, ehrt sie und charakterisiert sie in den Augen des Lesers ohnehin. Mehr noch die liebevolle Besorgnis, die nunmehr einer um den anderen hegt. Da werden die Kunstfiguren echt lebendig, wenn wir jeden bemüht sehen, dem anderen die Strapaze und die Lebensgefahr zu ersparen. Und vorzugsweise seinen Pfotenhauer hat der Erzähler an dieser Stelle in seiner knorrigen und liebenswerten Solidität charakterisiert, uns einen tiefen Blick in die Runzeln und Falten seiner Seele tun lassen. Wie er erst eiligst protestiert, als der Freund das Los durch zwei Schilfstengel entscheiden lassen will. Wie er glaubt, besonders listig zu sein, indem er das Orakel des Vogelflugs vorschlägt. Wie er dann seiner Sache so sicher ist, daß er gar nicht merkt, daß die Vögel schon gegen ihn entschieden haben, während er noch immer so fest mit entgegengesetzt fliegenden rechnet. Wie sich schließlich herausstellt, daß seine scheinbare Klugheit eine Dummheit gewesen ist, und wie er sich nun die Schuld dafür beimißt, das Unglück seines Freundes geradezu unausweichlich herbeigeführt zu haben. Das alles mit seiner Fülle des Menschlichen ist zweifellos höchst originell erfunden und wirkungsvoll durchgeführt. Da sitzt er nun, der listige Vogelkenner, und hat seine Vögel doch nicht so gut gekannt, wie es wohl nötig gewesen wäre. Und es wurmt ihn sehr:

»So lang mal her und gibt mir aane Ohrfeigen, aber a tüchtige! Ich hab's verdient. Wann dir was Böses g'schieht, so werd' ich nie im Leben wieder Ruhe finden! Aber so ist's! Man denkt wunder wie g'scheit man ist, und daß man den Sack bei allen vier Zipfeln hat, und doch macht man Fehler, die kein Schulbub größer machen kann.«
  Er senkte den Kopf und zog die graue Bedeckung desselben so tief in die Stirn, daß man von seinem Gesichte nur die Nase sah. Aus der fortwährenden Bewegung, in welcher sich dieselbe befand, war zu schließen, daß er sich mit allerhand reuevollen Gedanken beschäftigte, denen er aber keinen Ausdruck gab. Er blieb von jetzt an in beharrliches Schweigen versenkt und erhob selbst dann den Kopf nicht, wenn eine Schar von Vögeln über ihn dahinrauschte. Das war das sicherste Zeichen, daß er ungewöhnlich tief in sich versunken sei.
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Da haben wir unser Vogelflug-Motiv gewissermaßen in der Null-Fassung, ganz gegensinnig verwendet, und gerade dies, daß die stereotype Schau  n i c h t  abgezogen wird, obgleich da Scharen von Vögeln dahinrauschen, ist jetzt das anschauliche Mittel, uns den Seelenzustand unseres ornithologischen Helden recht lebhaft zu vergegenwärtigen. Und es ist kein Zweifel, daß diese Figur uns von jetzt ab kein papierener Homunkulus sein wird, sondern ein unverwechselbares und unvergeßliches Menschenwesen, ein vertrauter Freund.
  Das letzte Beispiel aus der Leitmotiv-Kette, das wir hier herausgreifen wollen, dient der letzten entscheidenden Episode, der großen Befreiung, als einleitendes, erregendes Moment, so wie es das Vogel-Thema gewesen ist, mit dem die erste Aventüre eröffnet wurde. Hier schließt sich ein Kreis, der - dramaturgisch gesprochen - »Schürzung« und »Lösung« zusammenfaßt. Es ist die Begebenheit im 19. Kapitel, wo die Raubkarawane mit den Gefangenen in die Schlucht einzieht, die sich später als eine Falle erweisen soll. Wir haben ja einzelne Bilder von diesem Vorbeimarsch bereits hervorgehoben, um an ihnen die Technik der Detaillierung zu belegen. Emil Schwarz und Pfotenhauer liegen im Hinterhalt und belauern die Ankommenden.

Jetzt näherten sich zwei Reiter, welche weiße Haiks trugen und nebeneinander ritten. Kaum hatte Schwarz das Gesicht des einen, wenn auch erst von weitem, erblickt, so stieß er hervor: »Abu el Mot! Da ist er endlich!«
  »Ja, das ist er,« nickte Pfotenhauer, »und der andere ist Abd el Mot. Und schauen S', wer kommt da gleich hinter ihnen! Er lebt, er lebt! Sehen S' ihn neben dem Sejad ifjal?«
  Sie waren es, Joseph Schwarz und der Elefantenjäger. Sie sahen verhältnismäßig wohl aus, trugen ihre Anzüge noch und schauten ziemlich trotzig drein. Von Ergebung in ihr Schicksal fand sich in ihren Zügen keine Spur.
  »Gott sei Dank!« hauchte Schwarz. »Ich möchte hinspringen und ihn herausreißen!«
  »Da verderben S' alles!«
  »Das weiß ich wohl. Ich muß mich beherrschen. Aber sagen will ich es ihm, daß ich da bin. «
  » Um des Himmels willen, verraten Sie uns nit!« raunte ihm der Gefährte ängstlich zu.
  »Haben Sie keine Sorge! Ich gebe ein Zeichen, welches Joseph genau kennt.«
  Der Elefantenjäger und sein Leidensgenosse waren Seite an Seite so aneinander gefesselt, daß sie nicht auseinander und auch die Arme und Hände nicht bewegen konnten. Außerdem hatte man jedem einen Strick um den Leib geschlungen und an die Steigbügel Abd el Mots befestigt. Schon waren sie der Schlucht nahe, da ließ sich das eigentümliche Gekrächze eines Geiers hören. Niemand achtete auf dasselbe, denn Geier gibt's im Sudan massenhaft; Joseph Schwarz aber warf sofort den Kopf empor; seine Wangen röteten sich


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und seine Augen leuchteten auf. Er sah rechts über die Büsche hinüber, woher der Laut gekommen war, und erblickte zwischen den vordersten Bäumen einen Arm, welcher ein Gewehr schwang. Er hatte seinen Schritt nicht für einen Augenblick inne gehalten und senkte nun den Kopf wieder nieder. Er besaß Selbstbeherrschung genug, sein Entzücken zu bemeistern. Ganz, ganz leise aber flüsterte er seinem Gefährten, mit dem er eben durch den Eingang schritt, zu: »Welch ein Glück, daß Abu el Mot nicht auf den Schrei dieses Geiers achtete!«
  »Warum?« fragte der andre ebenso leise.
  »Es war kein Vogel, sondern mein Bruder.«
  »Allah ja Allah! Wer soll - - -«
  »Still, nicht so laut! Man hört es ja! Ich kenne dieses Krächzen ganz genau; es hat uns auf unsern Reisen in fernen, gefährlichen Ländern oft als Mittel gedient, uns zusammenzufinden, ohne uns rufen zu müssen, wenn wir uns für kurze Zeit getrennt hatten. Ist er allein, oder hat er noch andre mit, das ist ganz gleich: er holt uns heraus, mitten aus dem Lager, und zwar ganz gewiß noch heute abend oder spätestens in der Nacht . . .«
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Stimmt es, daß die Geier, wo sie sonst literarisch bei Karl May auftauchen (wie Ingrid Bröning in ihrer Betrachtung über den »archetypischen« Symbolwert der Tiere ausgeführt hat)79, »stets auf Gefahr und Tod hinweisen«, und es lassen sich zahlreiche Beispiele aus anderen Werken Karl Mays dafür anführen, so hat er jedenfalls hier das Geiermotiv einmal ins total Gegenteilige abgewandelt. Hier wenigstens ist der Schrei des Geiers Symbol und Signal der Freiheit und des Glücks. In keinem anderen Buch dieses Autors aber fliegen  s o v i e l e  Vögel wie in diesem. Man könnte versucht sein, nach der verborgenen, tiefenpsychologischen Ursache dafür zu fragen. Folgen wir unserer Gewährsmännin in diesen Dingen, so wäre der Vogel, »weil er sich in der Luft, die eine Geistabbildung darstellt, bewegen kann, allgemein ein Symbol des intuitiven Einfalles, des Gedankenfluges.«80 Mag es sich nun aber auch verhalten, wie es will, mit all den Vögeln in diesem Buch: ein Stück lebendiger Poesie sind sie auf jeden Fall.

(Fortsetzung und Schluß im nächsten Jahrbuch)

49 Nr. 1-5 veröffentlicht in der von Leopold Gheri herausgegebenen Zeitschrift ›Der Kunstfreund‹ (Innsbruck 1906/07), Nr. 6 erstmals in KMJB 1920, 65 ff.; heute in bearbeiteter Fassung in: Karl Mays Ges. Werke, Bd. 49 ›Lichte Höhen‹, Bamberg 1956
50 Faksimiliert in: Otto Forst de Battaglia, Karl May - ein Leben, ein Traum, Zürich - Leipzig - Wien 1931; früher (bis 26. Aufl.) auch in: Karl Mays Ges. Werke, Bd. 34 ›Ich‹; femer in: Werner Raddatz, Das abenteuerliche Leben Karl Mays, Gütersloh 1965, 183


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51 Karl May, Mein Leben und Streben, Selbstbiographie Band I, Freiburg o.J. (1910), 228
52 a.a.O., S.208, man vergleiche auch Heinz Stolte, Der Volksschriftsteller Karl May Radebeul, 1936, 105-109
53 Ingrid Bröning, Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem, Ratingen - Kastellaun - Düsseldorf 1973
54 Heinrich Wolgast, Vom Kinderbuch, Leipzig 1906
55 Heinz Stolte, Eilhart und Gottfried, Studie über Motivreim und Aufbaustil, Halle 1941
56 Vögel des Paradieses = Schwalben (Anm. Karl Mays)
57 Sklavenkarawane 10 f. (16 f.)
58 Spuren, Fährten (Anm. Karl Mays)
59 Führer (Anm. Karl Mays)
60 Raubkarawane (Anm. Karl Mays)
61 Sklavenkarawane 12-14 (18-21)
62 Jb-KMG 1974, 173 f.
63 Zur Landschaftssymbolik vgl. Bröning a.a.O., S. 126-133
64 Sklavenkarawane 152 (189)
65 Acacia nilotica (Anm. Karl Mays)
66 Heiße Jahreszeit (Anm. Karl Mays)
67 Regenzeit (Anm. Karl Mays)
68 Sklavenkarawane 153 f. (190 ff.)
69 Pfotenhauers Gesprächspartner ist diesmal nicht Joseph, sondern Emil Schwarz.
70 Sklavenkarawane 391-393 (454-456)
71 Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, 23./24. Aufl., Wien 1969, 20 f. (seit 1974 auch bei dtv)
72 Karl May, Geographische Predigten (Kapitel ›Mensch und Thier‹), in: ›Schacht und Hütte‹, Jg. 1, Dresden 1875/76, S. 214 (vgl. auch Ges. Werke Bd. 72, Bamberg 1968, 391)
73 Sklavenkarawane 495 (567 f.)
74 ebenda
75 Sklavenkarawane 167 f. (209); an dieser Stelle ist der Text der Union-Ausgabe, aus der wir zitieren, merkwürdig korrumpiert. Es heißt dort: »Fliegt er von drüben herüber, so gilt's für mich, fliegt er aber von hier hinüber, so mußt du die Botschaft übernehmen.« Das ist das genaue Gegenteil von dem, was Pfotenhauer in der gleichen Union-Ausgabe nur drei Seiten weiter wirklich gesagt zu haben behauptet: »Ich hab'g'sagt, wann der Vogel von hierhinüberfliegt, so soll ich g'meint sein.« Eine mögliche Erklärung für die seltsame Entstellung wäre, daß vielleicht der Autor erst die erste Version (wie in der Union-Ausgabe) niedergeschrieben, sich dann den Fortgang umgekehrt gedacht und im Manuskript eine Korrektur angebracht haben könnte, die dann vom Setzer später übersehen worden ist. Die Barnberger Ausgabe Bd. 41 hat die Stelle sinngemäß berichtigt.
76 Sklavenkarawane 168-171 (211-213)
77 Sklavenkarawane 171 (213 f.)
78 Sklavenkarawane 457 f. (529 f.)
79 Ingrid Bröning, a.a.O., S. 142
80 ebenda


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