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HEINZ STOLTE


Die Affäre Stollberg · Ein denkwürdiges Ereignis im Leben Karl Mays*



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Kennen Sie ihn noch? Den seltsamsten Herrn, der je auf einem Pferde saß und durch den Wilden Westen geritten ist: »Ich bin der Herr Kantor emeritus Matthäus Aurelius Hampel aus Klotzsche bei Dresden.«1 Sie kennen ihn, das heißt: wenn Sie je Karl Mays Jugendbuch ›Der Ölprinz‹ gelesen haben. Er gehört, dieser Kantor emeritus, in die lange Reihe der Clowns, Harlekine, Bajazzi, jener Hanswurste, mit denen der Volks- und Jugendschriftsteller Karl May seine Erzählungen so üppig ausgestattet hat, zum Entzücken namentlich seiner jungen Leser, die ihnen den gleichen Applaus zollen wie dem unvermeidlichen dummen August, der die Hohe Schule artistischer Zirkusnummern zu kontrapunktieren pflegt.

   So clownisch albert er sich durch die fünfeinhalb hundert Seiten des ›Ölprinz‹, der Kantor emeritus aus Klotzsche bei Dresden, und seine Hanswurstaufgabe ist es, die epische Ökonomie der Erzählung betreffend, immer alles falsch und dümmlich zu machen, was die hohen Helden so meisterhaft und vollendet bewältigen. Seine Komik fährt dahin auf den Flügeln einer weltungemäßen, absurden fixen Idee: ein großer Komponist zu sein; und so kommt er in den Wilden Westen der Musik wegen, nämlich hier die große Heldenoper zu schreiben, zu der er sich Anregungen sucht, die aber niemals geschrieben werden wird. Ist er etwa, dieser sächsische Herr mit der heroischen Opernidee, eine verkappte Parodie auf Richard Wagner?

   Wir lassen das dahingestellt, aber auf jeden Fall ist seine Figur interessant genug, nämlich als Musikclown gewissermaßen die Ungemäßheit, Weltverlorenheit und Unbürgerlichkeit des  K ü n s t l e r s  zu repräsentieren. »Haben Sie eine Ahnung davon, wie viele und welche Indianerstämme hier wohnen?« - »Die gehen mich doch nichts an!« - »Kennen Sie die Unwegsamkeit des Landes, die wilden Schluchten


*Vortrag, gehalten auf der 3. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Gelsenkirchen am 20. Sept. 1975


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und Canons, die Öde der Bergregion, die Trostlosigkeit der Wüsten, besonders derjenigen, welche zwischen Kalifornien, Nevada und Arizona liegt?« - »Geht mich auch nichts an!« -- »Verstehen Sie die Sprachen der Indianer, der hiesigen Weißen ?« - »Brauche ich nicht! Meine Sprache ist die Musik. « - »Aber der wilde Indianer wird ganz und gar nicht musikalisch mit Ihnen sprechen und verfahren! Wie es scheint, wissen Sie gar nicht, welchen Gefahren Sie sich aussetzen. . .« - »Gefahren? Ich habe Ihnen bereits gesagt, wie ich darüber denke. Ein Jünger der Kunst, ein Sohn der Musen hat keine Gefahren zu fürchten. Er steht so hoch über dem gewöhnlichen Leben wie die Violine über dem Rumpelbasse; er lebt und atmet den Äther himmlischer Akkorde und hat mit irdischen Dissonanzen nichts zu schaffen.«2 Nun ja: Hoch über dem gewöhnlichen Leben, und hat mit irdischen Dissonanzen nichts zu schaffen -, das klingt nach Schillers Ästhetik und als sei's darauf abgesehn, den jungen Gymnasiasten eine tüchtige Prise Pfeffer und Salz in den etwas verblasenen Idealismus zu streuen, den er, Karl May, seinerseits während seiner Seminarzeit zur Genüge kennengelernt haben wird.

   Es steckt aber noch mehr dahinter. Schon in anderem Zusammenhang habe ich gelegentlich die Meinung vertreten und darauf hingewiesen, daß unter allen Gestalten, die der Radebeuler Erzähler in so ungeheurer Vielzahl literarisch geschaffen hat, die Narrenfiguren als tiefenpsychologische Bedeutungsträger, als chiffrierte Botschaften aus dem Seeleninnenraum ihres Schöpfers und Autors besondere Aufmerksamkeit verdienen.3 Wo Humor, wo Komik erscheint, wo gelacht werden soll bei diesem Erzähler, gelacht über Sonderbarkeiten, Schwächen, Fehler und Verschrobenheiten seiner Hanswurste, da wird man sicher sein können, daß hinter der komischen Verfremdung, der lustig verzerrenden Karikatur etwas im Kern sehr, sehr Ernstes, ja, Schlimmstes und Bösestes aus der Selbsterfahrung und dem Welterleben des Autors selber verborgen ist. Verborgen und doch offenbart!

   Denn daß er aus Sachsen ist, dieser Herr, daß er ein Kantor außer Diensten ist (und daran mag man sich wohl erinnern, daß in jener Zeit der Lehrer im Dorf oft zugleich auch der Kantor war und diesen Titel führte), daß er sich als Komponist berufen fühlt und musikalische Pläne wälzt -, nun, es kann kein Zweifel sein: hinter der verfremdenden Maske dieser Figur erkennen wir die wohlbekannten Züge jenes anderen sächsischen Herrn, der, seines Amtes verlustig, allen Ernstes eine gemessene Zeitlang versucht hat, seine Existenz auf die Musik zu stellen. Wir wissen von den Konzerten, die er gegeben hat, und einige seiner Kompositionen sind ja überliefert. Und daß das Auswandern


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nach Amerika in jener Zeit seines Infernos zumindest als Wunschtraum ihm vorschwebte, wissen wir auch. Kurzum: dieser Matthäus Aurelius Hampel ist kein anderer als Karl May, ein Karl May freilich, der in dieser seiner komischen Inkarnation die eigenen Hoffnungen, Torheiten und Versagungen aus überwundener Lebensperiode von sich abtut und als Narrenposse stilisiert. Der arme, davongejagte, amtsenthobene, von Lebensangst gehetzte und von der Polizei gejagte Karl May jener Inferno-Jahre, hier darf er nun als Bajazzo auferstehen, als Hampel, und das heißt - nomen est omen - als lustiger Hampelmann, der, wenn man am Bändel zieht, zwanghaft immer dieselben Verrenkungen und Zuckungen vollführt.

   Zu diesen seinen clownischen Zuckungen gehört eine, die man geradezu als einen nervösen Tick bezeichnen kann, und die, unaufhörlich über Hunderte von Seiten dieses Buches wiederholt, schließlich dem Leser gar nicht mehr lustig vorkommen mag, vielmehr als Syndrom einer schwer traumatisierten Psyche. Immer nämlich, wenn eine der Personen den seltsamen Mann mit »Herr Kantor« anredet, gerät er in Aufregung und hebt zu einer umständlichen Zurechtweisung an. »Ich bitte aber sehr, recht vollständig zu sein; sagen Sie also lieber, Herr Kantor emeritus! Dann weiß gleich jedermann, daß ich den Orgel- und Kirchendienst quittiert habe, um meine sämtlichen Befähigungen nun ganz allein der harmonischen Göttin der Musik zu widmen.«4 So sagt er, oder, zwei Seiten später: »Bitte wiederholt recht sehr: Kantor emeritus! Es ist wirklich nur der Vollständigkeit halber. Man könnte denken, daß ich noch immer zu Klotzsche bei Dresden die Orgel spielen muß, während ich doch schon seit zwei Jahren einen Nachfolger habe.«5 Und wieder ein paar Seiten später: »Bitte, bitte . . . Herr Kantor emeritus, wie ich Ihnen schon hundertmal gesagt habe. Es ist wahrhaftig nur der Vollständigkeit wegen und weil ich mir kein Amt anmaßen darf, welches ich nicht mehr bekleide.«6 Und so weiter, und so fort -, er sagt es in der Tat immer wieder mit gleich verdächtiger Aufregung und stereotyper Beharrlichkeit.

   Was ist mit ihm los? Was ficht ihn an, oder vielmehr, was hat seinen Urheber, den Autor Karl May, bewogen, dieser seiner lustigen Figur einen solchen tic nerveux anzudichten, ein so penetrantes Stigma, daß einem dabei das Lachen schließlich vergehen muß? Was schreibt er sich hier vom Herzen und aus der Seele?

   Ich meine, die verschlüsselte Botschaft aus dem endothymen Grunde (wie der Psychologe sagt) wird demjenigen nicht unverständlich sein, der, was diesen Autor betrifft, eine Vorstellung davon hat, auf wie verblüffende Weise sich bei ihm erlebtes Schicksal in


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erdichteten Figuren und Episoden zu spiegeln pflegt.7 Denn wieder tun wir hier einen Einblick in die psychologischen Mechanismen des literarischen Schaffens. Das Stichwort, auf das es hier ankommt, ist deutlich genug gefallen, Sie haben es vernommen: » . . . weil ich mir kein Amt anmaßen darf!«

   Er darf sich kein Amt anmaßen, der Herr Hampel aus Klotzsche bei Dresden, und das ist seine Angst, die ihn umtreibt, die ihm ständig im Nacken sitzt: Nur ja sich kein Amt anmaßen! Nur ja nicht, daß jemand sagen könnte, man hätte sich ein Amt angemaßt!

   Wir fassen ihn an diesem Punkt, und wir fassen ihn richtig: eben dies muß, wenn nämlich Herr Hampel ein anderer, verfremdeter Karl May ist, wie wir meinen, zugleich ein Trauma seines Autors sein. Gebranntes Kind scheut das Feuer, und so sehen wir den Kantor emeritus eben dasjenige fürchten, was seinen Urheber Karl May einst so empfindlich gebrannt hat.


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Eine literarische Figur wie diese, so sehr sie eigentlich nur am Rande des Geschehens steht, im Zusammenhang der erzählten Geschichte, nimmt, sobald man sie auf solche Weise betrachtet und deutet, unversehens an Wichtigkeit zu: sie wird gleichsam transparent, gibt hintergründige Perspektiven frei, wird uns durchschaubar. Wir schauen durch sie hindurch auf das Dahinter. Und das ist - allemal - der Urheber, der Autor selbst mit all seinem Menschlichen und Allzumenschlichen, dem er sich ausgesetzt gesehen hat zu seiner Zeit und in seinem besonderen Schicksal. Was aber den Fall des sächsischen Emeritus Hampel betrifft, so ist er einer von ganz besonderer Eindeutigkeit. Seine panische Angst, nur ja nicht unbefugter Ausübung eines Amtes beschuldigt zu werden, sie deutet aufs bestimmteste zurück auf ein sehr genau zu fixierendes Ereignis, eines, das sicherlich zu den denkwürdigsten in dem an Merkwürdigkeiten nicht gerade armen Leben unseres Schriftstellers gehört. Wir nennen es, vielleicht nicht ganz glücklich, die »Affäre Stollberg«.

   Affäre Stollberg -, das ist, konkret gesprochen, zunächst für uns ein häßliches, uralt-verstaubtes Aktenstück, das die Bezeichnung trägt: »Untersuchungs-Acten des Königlichen Gerichts-Amtes Stollberg wider Carl Friedrich May aus Ernstthal wegen  A u s ü b u n g  e i n e s  ö f f e n t l i c h e n  A m t e s . . . beendigt durch verurth. Erkenntniß, ergangen 1878«.8

   Und das hier erwähnte sogenannte »Erkenntnis«, das Gerichtsurteil (um das sogleich in seiner ganzen Gespreiztheit und Häßlichkeit zu


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demonstrieren) lautete folgendermaßen: »In der Untersuchung gegen Carl Friedrich May erkennt das unterzeichnete Königl. Gerichtsamt für Recht: Weil genannter May, wie seines Leugnens ungeachtet durch die in der Hauptsache mit einander übereinstimmenden zeugeneidlichen Aussagen Ludwig Kossuth Jähn's Bl 4 fg. und 34 fg., und Ernst Ferdinand John's Bl. 5 fg. u. 36 flg., in Verbindung mit den Angaben Carl Eduard Huth's Bl. 3 fg. und Ernst Ferdinand Jahn's und den übrigen Ergebnissen der geführten Untersuchung thatsächlich festgestellt worden ist, am 25. April 1878 nach Niederwürschnitz gekommen ist, sich in der Sonntag'schen Restauration dem Wirth Sonntag und den Zeugen Jähn und den beiden Gebrüdern John gegenüber für einen höheren, von der Regierung angestellten Beamten, welcher in Betreff der von der Königlichen Staatsanwaltschaft zu Chemnitz vorgenommenen gerichtlichen Aufhebung des am 26. Januar vorigen Js. in einem Stalle des Huth'schen Gasthofes todt aufgefundenen Barbiers Pollmer Erörterungen anzustellen habe, ausgegeben und eine Befragung Jähn's und der Gebrüder John über diese Seiten der vorgedachten Königlichen Staatsanwaltschaft geschehenen amtlichen Erörterungen vorgenommen hat, ohne hierzu ein Recht zu haben, mithin unbefugt sich mit Ausübung eines öffentlichen Amtes befaßt hat, so ist deshalb eingangsgedachter May nach § 132 des Reichsstrafgesetzbuches Drei Wochen lang mit Gefängniß zu bestrafen, sowie die Kosten der Untersuchung zu berichtigen verbunden. Von Rechts - Wegen! Das Königliche Gerichtsamt Stollberg, am 9. Januar 1879.«9

   O ja, meine sehr verehrten Zuhörer, Sie haben natürlich recht, und ein jeder, der mit einer solchen geballten Ladung unfreiwilliger Komik, linguistischer Amtsschimmel-Akrobatik konfrontiert wird, hat das Recht zu lachen. Wir wollen auch den Autor dieser literarischen Höchstleistung nicht vergessen, dessen Name das Dokument als Unterschrift krönt: Es war der Assessor Repmann, der hier mit einem einzigen Satz einen ganzen Schriftsteller zu Boden geschlagen hat; ein Überschriftsteller gewissermaßen, ein Old Shatterhand der forensischen Stilkunst: Ein Satz, ein Schlag - und da liegt er und rührt sich nicht mehr, der arme Karl May. Unbefugt hatte er sich mit der Ausübung eines öffentlichen Amtes befaßt!

   Was war geschehen? Was lag hier vor?

   Die seltsame Affäre aus dem Leben Karl Mays, von der das zopfige Dokument, das wir zitiert haben, kündet, gehörte ja noch Jahrzehnte nach dem Tode des Schriftstellers zu den völlig unbekannten Details seiner Biographie. Erst in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts, so wird berichtet10, erhielt der Verleger Euchar Albrecht Schmid in


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Radebeul Kenntnis davon, daß es so etwas überhaupt gegeben habe, und erst 1958 gelang es Adolf Stärz, die betreffenden Akten im Staatsarchiv Dresden ausfindig zu machen. In gewisser Weise war dies eine kleine Sensation. Bis dahin hatte man doch angenommen, daß der Schriftsteller nach dem dritten seiner Kriminalprozesse, der Verurteilung im Jahre 1870 zu Mittweida und seiner Entlassung aus der dritten Haft am 2. Mai 1874, nicht wieder gerichtlich bestraft worden sei, daß ihm also mit der Aufnahme seiner Tätigkeit als Redakteur die endgültige »Resozialisierung«, die Überwindung seiner Jugendverwirrungen gelungen sei. Nun jedoch mußte man erfahren, daß es da noch eine vierte Strafsache gegeben hatte, und zwar ganze vier Jahre nach der Entlassung aus dem Zuchthaus Waldheim, und sogar drei Wochen Gefängnis hatte er im Jahre 1879 abzubüßen gehabt.

   Das Bild seiner Biographie schien ins Wanken gebracht, er war also, so mußte man annehmen, noch einmal wieder rückfällig geworden, und das zu einer Zeit, wo er doch wenigstens schon die Grundlage zu einem bürgerlichen Auskommen hatte legen können. Gehörte er denn doch zu den »Unverbesserlichen«, den Kriminellen, denen mit keiner noch so harten Erfahrung auf den rechten Weg geholfen werden kann?

   Wir sind nun dank des Dokumentenfundes in der glücklichen Lage, auf handschriftliche Darstellungen des Falles durch den Delinquenten selber zurückgreifen zu können, und so höre man hier, wie Karl May (in der kürzesten seiner Fassungen) die Sache hat aufgefaßt wissen wollen, und zwar in seinem Unterthänigsten Bittgesuch an Seine Majestät Herrn Albert, König von Sachsen, zu Dresden am 2. 7.1879:

   Vor nun über Jahresfrist verbreitete sich das Gerücht, daß man in Oberwürschnitz einen nahen Verwandten von mir erschlagen habe; einige Wenige erzählten, er sei überfahren worden. Der Vater des Todten, zugleich mein Schwiegervater, welcher gern Gewißheit haben wollte und doch durch hohes Alter und Kränklichkeit verhindert war, sich persönlich zu erkundigen, bat mich, dies an seiner Stelle zu thun und zu diesem Zwecke nach Würschnitz zu gehen. Ich erfüllte seine Bitte und ließ mir in einer Restauration des genannten Ortes den Hergang erzählen. Er wurde mir von den meisten der Anwesenden als Mord dargestellt; dennoch aber und obgleich auch zwei Augenzeugen dies fest behaupteten, nahm ich die Überzeugung vom Gegentheile mit zurück.

   Obgleich ich meine Erkundigungen mit der größten Behutsamkeit aussprach, sah ich mich später unter Anflage gestellt. Zwei von den etwa zwanzig anwesend Gewesenen wurden gegen mich vernommen; ich hatte Niemand gekannt und sah mich in Folge dessen außer Stande,


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Gegenzeugen zu stellen. Einzelne aus dem Zusammenhange gerissene Worte, Verdrehungen, die wohl absichtslos und in Folge des mit der Zeit abgeschwächten Gedächtnisses geschahen, waren die Ursache, daß ich mich zu drei Wochen Gefängnis verurtheilt sehe.

   Ich bin Literat und arbeite in der Redaction einiger belletristischer Journale. Mehrere meiner erst begonnenen größeren Arbeiten befinden sich gegenwärtig im laufenden Drucke, so daß ich von ihnen wöchentlich ein bestimmtes Quantum zu liefern habe. Selbst wenn mir das Schreiben während einer Haft von der angegebenen Dauer gestattet wäre, würde es mir unmöglich sein, den eingegangenen Verpflichtungen nachzukommen, was den Verlust meiner Stellung zu den betreffenden Journalen sofort nach sich zöge und mich für lange Zeit in die schlimmste pecuniäre Lage versetzte. Bei der jetzt so engen Verbindung zwischen den Herausgebern und Verlegern würde die Nichterfüllung meiner Verbindlichkeiten bald allgemein bekannt sein, das Vertrauen zu mir verloren gehen und ich in eine dauernde Schädigung geraten, welche nicht in der Absicht des Richters gelegen hat.

   Aus diesem Grunde gestatte ich mir das ebenso dringende wie tief ergebene Bittgesuch: Ew. Majestät wolle in Gnade geruhen, durch Kürzung meiner Haft oder Verwandlung derselben in eine Geldstrafe die mir drohende Gefahr huldreichst abzuwenden! Die Erfüllung dieser unterthänigsten Bitte würde eine schwere Sorge von meinem Herzen nehmen, die Meinigen vor großem Leide bewahren und mich und sie Ew. Majestät zu immerwährendem Dank verpflichten.11


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Man kann wohl nicht umhin, vor aller Prüfung auf seinen Inhalt ein Dokument wie dieses nach seinem Stil zu würdigen. Nicht so sehr, daß der »Literat« Karl May die Sache natürlich verständiger darzustellen weiß als der Assessor Repmann mit seinem Satzungeheuer -, das ist wohl ganz selbstverständlich. Aber wer sich einen Begriff davon machen will, was denn eigentlich der deutsche Untertanenstaat von damals gewesen ist, der mag es hier bezeugt finden; dieses Knien und Kriechen vor der geheiligten Obrigkeit, dies unterthänigste Bittgesuch eines - wie es noch einleitend heißt - ganz gehorsam Unterzeichneten, ein tief ergebenes Bittgesuch, und Ew. Majestät wolle in Gnade geruhen -, und am Ende die Schlußformel, die ich hier noch zitieren will: Mit schuldigster Hochachtung und tiefster Ehrerbietung verharrt Ew. Majestät ganz ergebener Karl May. Das alles aber, muß man wissen, ist keineswegs das Gewinsel eines einzelnen, vielleicht besonders jämmerlichen Individuums, sondern die Norm, die von


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jedem, wer immer er sein mochte, im amtlichen Verkehr mit der Obrigkeit, mit all diesen Duodezfürsten und Potentätchen, gefordert war. Keiner war ausgenommen, und es berührt uns heute schier schauerlich, in alten Dokumenten etwa einen großen Mann wie Fichte vor dem Herzog von Sachsen-Weimar »alleruntertänigst in Ehrfurcht ersterben« zu sehen. Ersterben!

   Es wundert uns also nicht, daß im Falle Karl Mays Seine Majestät durchaus nicht »geruhen« wollte, sondern seinen untertänigsten Untertan die drei Wochen Gefängnis absitzen ließ. Aber vielleicht war die Sache, um die es sich handelte, eben doch nicht so harmlos gewesen, wie der Bittsteller sie dargestellt hat? Man weiß, daß man ja zweifellos Ursache hat, allem, was er so von sich selber berichtet hat je und je, mit einem gerüttelten Maß an Skepsis zu begegnen. Es ist schlimm mit ihm. Er, der als Erzähler mit so großartiger Erfindungskraft Wirklichkeit zu zaubern weiß, mit der Akribie und Detailbesessenheit eines scharfsinnig berechnenden Konstrukteurs, er erweist sich, sobald es darum geht, über sich selbst und die von ihm persönlich erlebte Wirklichkeit zu berichten, als schlechthin unzuverlässig. Er phantasiert auch hier, und bestimmt nicht aus böser Absicht, aber er garniert und verändert seine eigene Wirklichkeit, je nachdem sie ihm in den Rahmen einer schönen und wirkungsvollen Geschichte zu passen scheint. Und man muß annehmen, daß er sich dessen nur sehr vage bewußt war.

   Man sollte es kaum glauben: selbst in seinem Begnadigungsgesuch an den König, einem Text also, der amtlicher Nachprüfung offenstand, stimmt ja fast nichts. Der nahe Verwandte, dessen Tod er aufzuklären versucht habe, war weder ein »naher«, noch überhaupt ein »Verwandter« Karl Mays, der Schwiegervater war nicht sein Schwiegervater, und hätte selbst dann nicht sein Schwiegervater sein können, wenn May seine Emma Pollmer zu jener Zeit schon geheiratet hätte, weil er nämlich nicht der Vater Emmas, sondern ihr Großvater war. Und daß es nicht bloß zwei Zeugen waren, die man in der Sache gegen ihn vernommen hatte, zeigt jedem ein bloßer Blick in die Gerichtsakten.

   Es ist wahrhaftig schlimm mit ihm. Wie soll man ihm nur glauben, und was soll man ihm glauben? Was war wirklich geschehen?12

   Eduard Emil Pollmer, ein Sohn des Hohensteiner Barbiers Christian Gotthilf Pollmer, desselben, den Karl May fälschlicherweise als seinen Schwiegervater bezeichnet, war wie sein Vater Barbier geworden, jedoch früh auf die schiefe Bahn geraten, so daß er nach mehreren Vorstrafen als Säufer und Vagabund dahinvegetierte. Er war neunundvierzig Jahre alt, als er am 25. Januar 1878, sinnlos betrunken, im


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Dorf Niederwürschnitz nachts auf der Straße von einem Pferdefuhrwerk überfahren wurde und dabei den Tod fand.

   Der Todesfall wurde amtlich untersucht und nach Feststellung der Ursache, nämlich des Überfahrenwordenseins im Zustande der Volltrunkenheit, zu den Akten genommen und für polizeilich und gerichtlich erledigt erklärt. Dennoch hielten sich Gerüchte, die dahin lauteten, es habe sich keineswegs um einen Unfall, sondern um eine Schlägerei, einen Totschlag oder sogar um einen Mord gehandelt. Es ist richtig, daß der damals siebzigjährige und kränkelnde Vater Pollmer die Version, es liege ein Verbrechen vor, das durch falsche Aussagen von Beteiligten und Zeugen vertuscht worden sei, um einen Schuldigen zu schützen, geglaubt und Karl May, den Verlobten seiner Enkelin Emma, um Aufklärung der Sache gebeten hat. Vermutlich ging es ihm darum, die Schande, daß sein Sohn im Suff auf eine so beschämende Art umgekommen war, von sich abzuwenden, und da wäre ein Tod durch Mörderhand sehr viel ehrenvoller, zumindest erträglicher gewesen. Und immerhin war in dieser Sache bereits ein Untersuchungsverfahren gegen »Böhme und Genossen« anhängig gewesen, hatte jedoch nichts Belastendes erbracht.

   Nun war Karl May damals in Dresden als Redakteur beim Verleger Bruno Radelli tätig und lebte, noch unverheiratet, mit Emma Pollmer, die als seine Ehefrau galt, in einer gemeinsamen Wohnung in Neustrießen. Die Ehe war noch immer nicht geschlossen, weil der alte Pollmer Schwierigkeiten gemacht hatte. Ein Vorbestrafter war ihm wohl als Gatte seiner Enkelin nicht recht. Man begreift, daß der junge Mann, als der grollende Alte ihn nun zur Hilfe rief, sich mit besonderem Eifer daran machte, dem Vertrauen, das ihm da bekundet wurde, auf möglichst glänzende Weise gerecht zu werden. Und überhaupt: da war ja, müssen wir auch begreifen, der Nerv getroffen, der ihn munter machte. Hier gab es einen Fall, ein Geheimnis, ein Verbrechen vielleicht, eine dunkle, verworrene Geschichte, ein Abenteuer, das auf seinen siegreichen Helden wartete.

   Und der Unverbesserliche, in diesem Sinne Unverbesserliche, daß er nämlich nie so recht die Grenze zwischen poetischer Phantasie und gefährlicher Wirklichkeit hat wahrnehmen können oder wollen, er machte sich wohlgemut auf den Kriegspfad. Machte sich auf, um aus der Provinz seiner Träumereien in die Wirklichkeit zu gehen, jene rauhe und brutale Wirklichkeit, von der Schiller sagt:


Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit,
Leicht beieinander wohnen die Gedanken,
Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.


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Aber er, der Traumwandler zeit seines Lebens, dachte vermutlich wie sein Emeritus Hampel: Gefahren ? . . . Ein Jünger der Kunst, ein Sohn der Musen hat keine Gefahren zu fürchten. Und dann juckte ihn wohl der Old Shatterhand im Blute, die große Wunschgestalt seiner Phantasie, die eben damals in ihm zu spuken begann und kurze Zeit später, 1879, im ›Deutschen Hausschatz‹ das Licht der Literatur erblicken sollte.13

   Wir haben schon immer betont14, daß im Falle Karl Mays sich durchaus nicht ein seinen Anlagen nach Krimineller in einen guten Bürger verwandelt habe, um nach moralischer Bekehrung und Reinigung nun sein Brot auf ehrliche Art und Weise, nämlich als Schriftsteller, zu verdienen; daß vielmehr, gerade umgekehrt, ein seiner tiefsten Anlage und Begabung nach zum Schriftsteller, zum Erzähler geborener Phantasiemensch nur deshalb aus dem Rahmen der ehrbar-bürgerlichen Gesellschaft herausgeglitten ist, weil die manisch in ihm arbeitende Vorstellungskraft, Voraussetzung aller poetischen Leistung, vorerst kein ihr angemessenes Wirkungsfeld fand und finden konnte. Anders gesagt: die streng und bös mit Tretminen und Selbstschüssen besetzte Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit nicht zu begreifen und dabei zu Schaden zu kommen, das ist eine oft zu diagnostizierende Berufskrankheit vieler genialer Poeten, namentlich unter den Erzählern.

   Er zog also aus, der Redakteur Karl May, als Rächer der Enterbten und um die Bösen das Fürchten zu lehren, und wir können es uns lebhaft vorstellen, wie die Sache in seiner Phantasie sogleich glorreiche Formen annahm, wie er im Aufwind euphorischer Siegerstimmung dem Kampfplatz entgegeneilte: Hoppla, jetzt komm ich!


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Den Spuren des Verstorbenen galt es zu folgen, wenn der mutmaßliche Tatbestand geklärt werden sollte; und der Gute hatte, mit shakespearescher Konsequenz seiner Rolle getreu, seinen Tod gefunden, als er gerade auf dem Weg von einer Kneipe in die nächste begriffen war, nämlich vom Gasthof »Zum braven Bergmann« in Niederwürschnitz zur Restauration »Gute Quelle« in Neuölsnitz. Sicherlich brachte unser Amateurdetektiv einen fertigen Operationsplan im Kopfe mit, als er am Donnerstag, dem 25. April 1878, erst in der einen, dann in der anderen Gastwirtschaft vorsprach und mit seinen Erkundigungen begann. Es war schon ein Vierteljahr seit dem fraglichen Ereignis vergangen, die Beteiligten zudem sicherlich mißtrauisch geworden durch das vorangegangene Verfahren gegen »Böhme und Genossen«.


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Karl May mochte sich sagen, daß es darauf ankommen würde, den etwa anzutreffenden Zeugen der Ereignisse und Zechkumpanen des Verstorbenen mit einer gewissen Würde und Autorität gegenüberzutreten. Ohne Zweifel war sein Plan fein gesponnen, aber wie sich sein Auftreten in den Augen nicht so auf feine Nuancen achtender Bergarbeiter spiegelte, das zeigen die ihn belastenden Zeugenaussagen im Stollberger Kriminalprozeß.

   »Ich war eines Vormittags«, so erzählt der Bergarbeiter Ernst Ferdinand Jahn, »in der Sonntagschen Restauration, als ein Fremder eintrat und sich erkundigte, ob nicht vor einiger Zeit ein Mann hier überfahren worden wäre. Wir bejahten dies und äußerte er hierauf, ›Es ist doch gar nicht möglich, daß ein Mensch, der überfahren ist, noch so weit laufen kann . . . Ich werde den Leichnam ausgraben lassen.‹ Wir meinten, es hieße doch, man sollte die Todten ruhen lassen, worauf er antwortete: ›Das ist mein Dienst, daß ich dies untersuche, ich lasse ihn wieder ausgraben und so und so viel - er nannte eine bestimmte Anzahl - Ärzte herkommen: wenn der Staatsanwalt nicht richtig gehandelt hat, lasse ich ihn einstecken; ich bin dazu von der Regierung eingesetzt.‹ Einen bestimmten Titel und Namen nannte er nicht. Er stand anscheinend in mittleren Jahren, hatte einen blonden Schnurrbart und grauen Überzieher an. Als er nach nicht zu langem Aufenthalt das Schanklokal verließ, sagte er noch beim Bezahlen des Bieres: ›das Glaß Bier bezahle ich nicht aus meiner Tasche, das muß der Staat bezahlen.‹«15

   Und der Bergarbeiter Friedrich August John gab dem Untersuchungsrichter zu Protokoll: »Er sagte u. A., wenn der Staatsanwalt falsch gehandelt hätte, wollte er ihn einstecken lassen; er wäre etwas höheres als der Staatsanwalt, er wäre von der Regierung eingesetzt.«16

   Hierzu stimmt nun genau, was der Schuhmacher Ludwig Kossuth Jähn auf Befragen zu berichten wußte: »Ende April d. J. sagte mein Quartierwirth Laukner eines Vormittags in der zwölften Stunde beim Nachhausekommen zu mir, es säße Einer drüben in der Sonntagschen Restauration, der untersuchte die Pollmersche Sache noch einmal. Ich ging hinüber, um Bier zu holen und sagte dabei Einer dem anwesenden John, ich sei derjenige, unter dessen Fenstern Pollmer gelegen hätte. Der anständig gekleidete Herr rief mich darauf zu sich und frug, was ich wüßte, worauf ich ihm dasselbe antwortete, was ich früher dem Herrn Staatsanwalt angegeben hatte. Er äußerte sodann ›Wenn der Staatsanwalt nicht richtig gehandelt hat, laß ich ihn einstecken - zu was sind denn die Kerle da?!‹ Der Wirth Sonntag frug Jenen, was er wäre, worauf er als Antwort erhielt: ›Er sei von der Regierung eingesetzt und


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etwas höheres, wie der Staatsanwalt.‹ Der Fremde hat sich auch dahin geäußert, er wolle den Leichnam wieder ausgraben lassen. Einen bestimmten Titel hat sich der Unbekannte nicht beigelegt.«17

   Damit erschöpft sich recht eigentlich das, worauf das Amtsgericht Stollberg seinen »Kriminalprozeß« aufgebaut hat. Ein mageres Fundament, muß man sagen, denn daß sich jemand etwas Höheres dünkt als ein Staatsanwalt, das soll vorkommen und ist wohl nicht strafbar. Zu verlangen, daß bei vorliegenden neuen Verdachtsmomenten der Leichnam ausgegraben und neu obduziert werde, ist - unter Einhaltung des Rechtsweges - keineswegs ein strafwürdiges Unterfangen. Wie es sich mit dem Bier verhält, das er nicht aus eigener Tasche bezahlt haben will, kann man nicht recht wissen; vielleicht gehörte das zu den Spesen, für die sein Auftraggeber, der alte Pollmer, aufkam, um sie bei etwa wieder aufgenommener Untersuchung den Gerichtskosten zuzurechnen, die dann der Staat erstatten müßte?

   So bleibt eigentlich nur die Zeugenbehauptung, May habe geäußert, »er sei von der Regierung eingesetzt«. Das wäre natürlich recht gravierend, aber dagegen steht nun die Aussage, die der Wirt des anderen Gasthofes, Karl Eduard Huth aus Niederwürschnitz, gemacht hat, die wie folgt lautete: »Ende vorigen Monats erschien ein anständig gekleideter Mann in meinem Gasthofe in grauem Überrock, mit kleinem Hütchen als Kopfbedeckung und schwarzem Schnurrbärtchen. Er sagte, daß er Redakteur einer Zeitung in Leipzig sei und nannte mir auch seinen Namen, auf den ich mich jedoch leider nicht mehr besinnen kann . . «18

   Es gehört zu den schwerwiegenden Einwänden, die man gegen die Verhandlungsführung in der Affäre Stollberg vorbringen kann, daß die eindeutige Bekundung, May habe sich als »Redakteur« vorgestellt, vom untersuchenden Richter in keiner Weise berücksichtigt worden ist. Man kann sich ja doch nicht innerhalb des gleichen Personenkreises zugleich als Redakteur und als hoher Staatsbeamter ausgeben, da das eine das andere ausschließt. Statt dessen, so ergeben die Akten, machte man May zum Vorwurf, er habe von einer »Zeitung in Leipzig« geredet, also auch hierin die Unwahrheit gesagt, da er doch in Wirklichkeit Redakteur einer Zeitschrift in Dresden sei. Wenn der Beschuldigte daraufhin zu bedenken gab, der Wirt habe wohl Leipzig und Dresden in seiner Erinnerung verwechselt, so dürfte er genau das Richtige getroffen haben, zeigt sich doch die Ungenauigkeit des Huthschen Erinnerungsvermögens auch darin, daß er das von anderen Zeugen richtig beschriebene blonde Schnurrbärtchen für ein schwarzes ausgegeben hat.


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Gebührend zu würdigen wäre gewiß auch gewesen, was die übrigen drei Zeugen übereinstimmend bekundet haben: »Einen bestimmten Titel hat sich der Unbekannte nicht beigelegt.« Dies aber erst hätte den Tatbestand einer Amtsanmaßung, der unbefugten Ausübung eines Amtes, nach dem Sinn und den Buchstaben des Gesetzes dingfest gemacht. Es kann daher gar kein Zweifel daran sein, daß das Gericht ein glattes Fehlurteil gefällt hat und daß dem Schriftsteller, nimmt man es mit den auch damals geltenden gesetzlichen Bestimmungen genau, bitteres Unrecht geschehen ist. In diesem Sinne hat denn auch der Strafrechtler Erich Schwinge, der dem großen Publikum eher unter seinem Pseudonym Maximilian Jacta und durch sein bedeutendes Bestseller-Werk »Berühmte Strafprozesse« bekannt ist, in einer der Stollberg-Affäre gewidmeten Untersuchung eindeutig genug geurteilt: »Unbestreitbar hat im Fall Stollberg der Schriftsteller Unrecht erlitten.« Und er führt dies vor allem auch darauf zurück, daß Karl May sich von einem ganz unfähigen Rechtsbeistand nicht in der richtigen Weise vertreten und beraten gesehen hatte.19


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Hätte wirklich ein besserer Rechtsanwalt, ein klügerer Verteidiger für seinen Klienten einen Freispruch herausholen können? Man wird skeptisch bleiben müssen. Abgesehen davon, daß es natürlich ohnehin müßig ist, heute, fast ein Jahrhundert später, Richterschelte betreiben zu wollen, ist es wohl ergiebiger, sich zu fragen, warum denn ein sicherlich nicht allzu böswilliges Gericht dazu kam, rundweg alles, was der Angeklagte zu seiner Verteidigung vorgebracht hat, souverän unter den Tisch zu kehren und gegen ihn zu entscheiden. Und da muß man die ganze Atmosphäre der Zeit und des Milieus in Rechnung stellen. In Rechnung stellen, welchen üblen Leumund ein Vorbestrafter wie Karl May bei denen, die Bescheid wußten, hatte, die ganze hämische Verachtung, die ihm, einem Paria, in der stickig engen Kleinbürger- und Kleinstadtwelt entgegengebracht wurde. Wir haben es schwarz auf weiß, dokumentiert in dem Schreiben an die Königliche Staatsanwaltschaft zu Chemnitz, mit dem der in Ölsnitz zuständige Polizeibeamte, der Brigadier Ernst Oswald, das Verfahren gegen May ins Rollen brachte. Nicht nur, daß darin präzis behauptet wird (nach angeblichen Berichten der später als Zeugen Verhörten), May habe sich für einen »Höheren Beamten aus dem Ministerium« ausgegeben, es wird darin über ihn auch eindeutig Diffamierendes mitgeteilt: »Derselbe ist Socialdemokrat durch und durch und soll gegenwärtig Schriftsteller der Socialdemokratischen Blätter sein. Noch ist zu


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bemerken daß über denselben seinen Lebenslauf überhaupt Verbrecherbahn der Rathspolizeiwachtmeister Doßt in Ernstthal die beste Auskunft ertheilen kann, denn pp. Mai soll schon verschiedene Strafen auch 7 bis 8 Jahr Zuchthaus, verbüßt haben. Da auch über diese Handlungsweise pp. Mai zur Bestrafung gezogen werden dürfte, so verfehlt man nicht Vorstehendes gehorsamst in Anzeige zu bringen.«20

   Man verfehlte nicht, gehorsamst! »Socialdemokrat durch und durch«, wenn nichts anderes, dann mußte diese Beschuldigung zünden in einer Zeit, die mit den Sozialistengesetzen schwanger ging, mußte dieses dem Denunzianten höheren Orts ein Ansehen verschaffen. Im Zuchthaus hat er gesessen, Sozialdemokrat ist er auch, also wird er wohl auch »über diese Handlungsweise zur Bestrafung gezogen« werden müssen, das eben war das bösartige Vorurteil gegen Karl May, mit dem der Brigadier das richterliche Ergebnis wie ganz selbstverständlich präjudizierte. Über diesen seinen Schatten würde er niemals hinwegspringen können, der gewesene Zuchthäusler, welche Anstrengungen auch immer er machte. Und der, wie Oswald ihn ohne Anstände betitelt, »Schwindler, Socialdemokrat und abgesetzte Schullehrer Mai, Karl Friedrich«21, er wird auch vom Gendarm Theodor Backmann in Ernstthal gebührend gewürdigt, der sich eifrigst erbietet, den »bekannten Schwindler und fortgejagten Schulmeister« in Ernstthal mit den Zeugen zu konfrontieren, um, wie er schreibt, »den Urian zu recognosieren«.22 Den Urian! So gierig ist die Meute, das Opfer zu zerfleischen, daß das Gerichtsamt Stollberg sich genötigt sah, den Gendarm Backmann schriftlich zu ermahnen, daß - wie es im Schreiben vom 12. Juli 1878 heißt - »pp. Mai sich bereits wegen der ihm beigemessenen Anmaßung eines öffentlichen Amts bei unterzeichnetem Gerichtsamt in Untersuchung befindet und Sie infolgedessen sich jedes selbständigen weiteren Vorgehens gegen Genannten zu enthalten haben.«23

   Nichtsdestoweniger war das Urteil gegen den »pp. Mai« gefallen, ehe die Verhandlung nur begonnen hatte. Es half dem Beschuldigten auch nichts, daß er alle von den Zeugen gegen ihn vorgebrachten belastenden Punkte zurückwies, die ihm in den Mund gelegten Äußerungen als Mißverständnisse oder ungenaue Erinnerungen der Zeugen deutete. Sie hätten sich vielleicht gedacht, hätten vermutet, daß er etwas sei, was zu sein er niemals behauptet habe, und meinten nun, Äußerungen wie, daß er von der Regierung komme, die sie vielleicht unter sich getan hätten, seien von ihm selber verlautbart worden.

   Das ist, wird man mit Bestimmtheit annehmen dürfen, eine völlig


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zutreffende Deutung der Angelegenheit. Sie ist deshalb so evident, weil ein Verhalten wie dieses so ganz und gar in das Charakterbild, in die Denkweise Karl Mays, wie wir ihn nun einmal kennen, zu passen scheint. Seine Neigung zur Camouflage, zur Geheimnistuerei, das listige, doppeldeutige Inszenieren der eigenen Person, um den Partner zu beeindrucken, ja, das alles - kennen wir das nicht aus hundert ähnlichen Fällen in seinen Reisegeschichten? Es wird ja zweifellos seine Richtigkeit haben, was Karl May in seinem Gnadengesuch ausführte, daß er nämlich seine Erkundigungen mit der größten Behutsamkeit anstellte. Sicherlich, und insoweit darf man ihn mit seinem Old Shatterhand, seinem Kara Ben Nemsi identifizieren. Und eben deshalb hat man ihn, wie wir sagten, zu  U n r e c h t  verurteilt.

   Zu Unrecht wurde er verurteilt, das ist wahr, aber  u n s c h u l d i g  - das ist ebenso wahr - unschuldig war er nicht. Unschuldig war er nicht daran, daß man ihn mißverstand, daß all diese Jahn und Jähn und John, mit denen er es da zu tun hatte, Gottweißwas in ihm vermuteten. Was er, Karl May, die größte Behutsamkeit nennt, war ja eben nichts weiter als die verschmitzte List, so aufzutreten, daß ohne Nennung eines bestimmten Amtes oder Titels (wie wir vernahmen) der Eindruck entstehen mußte, ein ganz Großer, ganz Hochgestellter habe sich nun der Sache angenommen. Und er mag wohl die ehrfürchtigen Mienen um ihn herum genossen haben, fühlte sich in seiner Rolle auch wie sein künftiger Karl Sternau, oder gar als ein »Fürst des Elends«, dem beschieden sein mochte, »Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft« zu lösen und Unrechtes wieder recht zu machen.

   Es kam ja nicht viel dabei heraus, und er mußte - wenn es stimmt, was er im Gnadengesuch schrieb - den Eindruck gewinnen, daß es wohl mit dem alkoholischen Verkehrsunfall seine Richtigkeit gehabt habe. Aber er schied von den beiden Schauplätzen seiner Auftritte jedenfalls mit aller Arglosigkeit, zufrieden mit sich und der Welt und nicht ahnend, daß diese böse Welt hinter seinem Rücken sogleich sich aufmachte, um die gewaltige Rechtsmaschinerie des Staates gegen ihn in Bewegung zu setzen.

   Wir aber, den Spuren der Ereignisse unsererseits folgend, meinen es so: Nicht das ist das eigentlich Problematische, das eigentlich Interessante an diesem Fall, ob jener Richter die Verhandlung gerecht oder ungerecht geführt habe, das ist endgültig vergangen und höchstens als ein Stückchen Rechtsgeschichte aufhebenswert. Ein Bagatellfall, der abgetan ist. Wohl hingegen mag uns diese »Affäre Stollberg« als exemplarisches Modell zur Literaturpsychologie bedeutsam sein. Denn was trat hier zutage, an dieser im ganzen doch eher


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tragikomischen Farce? Nichts weniger als das verschlungene Ineinander von Leben und Dichtung, das den Fall Karl May ja überhaupt zu einem geradezu klassischen Studienobjekt macht. Es ist dieselbe Persönlichkeit, die ihr Leben lebt und ihre Phantasiewelt dichtet. Beide, das Leben und das literarische Werk, stehen unter dem gleichen Gesetz, und die gleichen Motivationen sind es, die den Menschen in die Aktionen und Reaktionen, in die Konflikte seines Daseins treiben und den Dichter zu den Fabeln und Motiven seiner Phantasieschöpfungen ermächtigen. So begreift man denn hier, daß derselbe Phantasiemensch, der im literarischen Raum der unbegrenzten Möglichkeiten sein fiktives Ich zur Omnipotenz eines Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi stilisierte, in fataler Verwechslung sich an einer Wirklichkeit versuchte, die auch nur den geringsten solcher Versuche unbarmherzig niederschmetterte. Was in seinen Romanen wieder und wieder mit dem strahlenden Sieg des listigen und starken Helden endet, hier in der schnöden Realität einer banalen Spießerwelt diente es nur dazu, ihn selbst hinter Schloß und Riegel zu bringen.


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Das Verhältnis von Leben und Dichtung, das wir hier meinen, ist übrigens ein  r e z i p r o k e s. Wenn die schöpferische Phantasiewelt eines geborenen Erzählers, wie unser Exempel zeigt, immer wieder den mit solcher Begabung ausgezeichneten, aber auch geschlagenen Menschen dazu verführt, Wunschwelt in Wirklichkeit umzusetzen, und dadurch einen Konflikt mit der Gesellschaft heraufbeschwört, so bleiben die Erfahrungen mit seiner Wirklichkeit, und besonders die tief verletzenden, Wunden schlagenden unter ihnen, nicht ohne Einfluß auf das literarische Werk. Nein, sie prägen es geradezu, zeigen ihre Spuren allüberall und wollen abreagiert sein, sobald ein solcher Autor die Welt seiner Vorstellungen im Werk zu objektivieren beginnt. Dann entstehen solche Motive, Chiffren, Figuren, wie wir sie einleitend in der Clownsgestalt des Emeritus Hampel vorgeführt haben: Abreaktion eines schmerzlichen und den Autor so zutiefst beschämenden Ereignisses seiner bösen Vergangenheit. Und es ist ein Akt seelischer Hygiene, möchte man sagen, wie dieser Karl May auf solche Weise eine für ihn traurige, ja vielleicht tragische Erfahrung ins Komische wendet, sie mit der Kraft eines unzerstörbaren Humors gewissermaßen aufhebt.

   Das ist das eine: der Humor. Aber der Dichter, Herrscher in einem Reich des Imaginären, hat noch eine andere Möglichkeit, mit den Kümmernissen seines Lebens fertigzuwerden. Was im eigenen Schick-


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sal so böse, so falsch gelaufen ist, so ganz anders, als man es sich in seinen kühnen Wünschen erhofft hatte, das eben kann man in jenem Reiche, in dem man Herrscher ist  r i c h t i g  laufen lassen, ins Gute, ins Siegreiche verkehren. Man kann sich schadlos halten an der schnöden Wirklichkeit dieser Welt, kann sich herrliche Triumphe schaffen. Dichtung als Wunscherfüllung, so sagt man, und zweifellos ist es gerade diese Seite der Sache, für die insbesondere Karl May, das geschlagene Stiefkind des Lebens, zutiefst empfänglich sein mußte.

   Und so sehen wir denn, durch all die vielen Geschichtenbände seines Erzählwerks hindurch, immer von neuem den Fall Stollberg als literarisches Motiv auftauchen. Was in Niederwürschnitz und Neuölsnitz so kläglich mißlang, Old Shatterhand und namentlich Kara Ben Nemsi führen es immer wieder zu glorreichem Ende. Ich weiß nicht, wie oft und in welchen vielfach verfremdeten Varianten der imaginäre Reiseheld die Leute, bei denen er erscheint, auf solche Weise düpiert, daß sie ihn für etwas anderes halten, als er ist, und nicht nur für etwas Größeres und Höheres, oft auch (Old Shatterhands beliebtester Trick) für etwas Geringeres, als er ist. Man sollte die Werke einmal unter diesem Aspekt durchforsten. Aber immer  g e l i n g t  ihm, was er vorhat, und immer - wohlgemerkt - in einer guten und uneigennützigen Sache. Ich will nur eines dieser Beispiele hier vorführen, vielleicht das eindrucksvollste und verräterischste.

   Es ist auf seiner Reise ›Durchs wilde Kurdistan‹, daß Kara Ben Nemsi einen Auftrag ausführt, um den ihn der befreundete Scheik der Haddedihn, Mohammed Emin, gebeten hat. Dem alten Mohammed Emin geht es um seinen Sohn Amad el Ghandur, der in die Hände der Türken gefallen ist und in der Festung Amadijah gefangen gehalten wird. Erkennt man schon hier etwas an der Struktur des Motivs, was an die Stollberg-Affäre erinnert, indem ja auch dort ein Vater in der Angelegenheit seines unglücklichen Sohnes einen Helfer geworben hat? Und wie Karl May nach Niederwürschnitz ins Abenteuer zieht, so Kara Ben Nemsi nach Amadijah, mitten hinein ins Zentrum der feindlichen Macht. Die Affäre Amadijah ist ja freilich viel komplizierter und episodenreicher als die Affäre Stollberg, aber liest man die Geschichte mit der Aufmerksamkeit auf das, was beide gemeinsam haben, so wird man aus dem Staunen nicht herauskommen. Die Identität, eine freilich verschleierte, verfremdete Identität geht ja bis in scheinbar ganz beiläufige Details. Wie seltsam zum Beispiel, daß Mohammed Emin, als aufgebrochen werden soll, sich in den Bergen von Kaloni den Fuß vertreten hatte, und so war ich gezwungen, drei Wochen lang seine Wiederherstellung abzuwarten.24 Warum nur, fragt


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man sich wohl erstaunt, muß er sich den Fuß vertreten? Das hat im Rahmen der Geschichte selbst überhaupt keine Bedeutung, aber man begreift es sogleich, wenn man sich erinnert, daß nach Karl Mays damaliger Darstellung der alte Pollmer durch hohes Alter und Kränklichkeit verhindert war. Selbst eine so kuriose Einzelheit wie die, daß May in Niederwürschnitz sein Bier, wie er behauptete, »nicht aus seiner Tasche« bezahlte, findet sich im Amadijah-Abenteuer wieder, indem Kara Ben Nemsi den Wein, den er einkaufen läßt, nicht aus seiner Tasche, sondern der des David Lindsay bezahlt: Erreichte mir die Börse hin, ohne daß es ihm einfiel, zu bemerken, wie viel ich ihr entnahm. Er war ein Gentleman und ich ein armer Teufel.25

   Und auch sonst sind alle wesentlichen Momente der Stollberg-Geschichte in dieser Affäre Amadijah deutlich sichtbar integriert. Vor allem natürlich das listige Rollenspiel, haarscharf auf der Grenze zur Hochstapelei, und diesmal, in Amadijah, sogleich ins Überdimensionale stilisiert: »Herr, du bist ein geheimer Abgesandter des Anatoli Kasi Askeri oder gar des Padischah«, so läßt er den Kommandanten von Amadijah vermuten, und höher geht's nimmer!26 Er beläßt es dabei, und so erteilt er gar Befehle, aber ein bestimmtes Amt oder einen bestimmten Titel hat sich auch dieser Kara Ben Nemsi nicht beigemessen: Der Mutessarif von Mossul selbst, so behauptet er geheimnisvoll vor dem Kommandanten, ist gewillt, »mir in Beziehung auf diesen Kriegszug eine Aufgabe zu erteilen«. Und auf die präzise Frage, welche Aufgabe das denn sein solle, antwortet er: »Hast du einmal etwas von Politik und Diplomatik gehört, Mutesselim ? . . Ich darf von ihr nicht sprechen, und du hättest es nur durch eine feine und kluge Ausforschung erfahren können.«27 Nun also: Politik und Diplomatie! Das ist das Stichwort. Aber es findet sich in bezug auf solche Diplomatie hart am Rande der unbefugten Ausübung eines öffentlichen Amtes denn doch im Amadijah-Text eine Stelle, die man haargenau auch als einen Kommentar zu Mays Stollberg-Affäre lesen könnte: Ich hatte die Kühnheit, mich als einflußreiche Persönlichkeit zu fühlen (sic!); ich handelte abenteuerlich, das ist wahr; aber der Zufall hatte mich nun einmal, sozusagen, an eine Kletterstange gestellt und mich bis über die Hälfte derselben emporgeschoben; sollte ich wieder herabrutschen und den Preis aufgeben, da es doch nur einer Motion bedurfte, um vollends empor zu kommen?28

   Auf so merkwürdige Weise liefert das literarische Produkt uns den psychologischen Schlüssel für das biographische Ereignis. Er hatte die Kühnheit, sich als einflußreiche Persönlichkeit zu  f ü h l e n! Und das ist die Stelle, an der er sterblich war, unser Karl May.


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Aber weiter: die Tatsache, daß in der Stollberg-Affäre alkoholische Exzesse, dort des jüngeren Pollmer, eine entscheidende Rolle spielten, findet sich im Amadijah-Abenteuer wieder in dem Umstand, daß Kara Ben Nemsi seinen Erfolg namentlich durch die Alkoholisierung seiner beiden Hauptgegenspieler gewinnt. Und auch - merkwürdig und besonders verräterisch in einem doch mohammedanischen Milieu - der Hauptschauplatz von Niederwürschnitz, nämlich das Wirtshaus, ist mit einer kleinen Variante in die Amadijah-Geschichte übernommen, nun freilich nicht als Bierkneipe, sondern als Weinstube.

   Das Verblüffendste jedoch an dem hier analysierten Befund scheint mir der Umstand zu sein, daß der Autor sogar seinen Strafprozeß von damals in verwandelter Gestalt mitten in seine Amadijah-Geschichte hineingenommen hat. Ja, auch Kara Ben Nemsi geht nicht ganz ungeschoren aus seinem Abenteuer hervor, und mit einer jähen Wendung, die die Handlung erfährt, sieht er sich plötzlich entlarvt, angeklagt, vor Gericht gestellt. Zeugen tauchen auf, die wider ihn aussagen, und es scheint um ihn geschehen zu sein. Zwei Zeugen sind es, interessanterweise, genau wie Karl May einst in seinem Gnadengesuch von zwei Zeugen gesprochen hatte. Aber hier, nicht wahr, befinden wir uns im Märchen. Und wenn er einst geheimnist hatte, er wolle den Staatsanwalt einstecken lassen, wenn der seine Pflicht nicht tue, hier geschieht es wirklich: die obersten Machthaber werden abgesetzt vom Padischah, die Zeugen werden als Betrüger, ja, als Verbrecher entlarvt, und am Ende heißt es: Sie wurden alle beide abgeführt.29 Welcher Triumph, und unnötig ist es zu sagen, daß Kara Ben Nemsi am Ende auch das erreicht, dessentwegen er in sein Abenteuer gezogen ist: ein verlorener Sohn wird befreit, ein alter Vater ist wieder glücklich. Ihm aber, dem Befreier, wird die ihm gebührende Apotheose zuteil: »Du bist ein großer Held . . . Du bist wie Kelad der Starke.«30

   Hier endet unsere merkwürdige Geschichte von Stollberg und Amadijah. Wir betrachten sie wohl, meine verehrten Zuhörer, mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Und das ist auch recht so. Hier fassen wir ja die beiden Seiten einer höchst eigenartigen menschlichen Existenz. Sehen den Menschen als die arme, geschundene Kreatur, wie sie sich, verachtet und entehrt, mit den Mißgeschicken des Daseins und den Gefährdungen der eigenen Seele herumschlägt; sehen andererseits den Träumer und Phantasten, wie er sich ein zweites, ein besseres Leben dichtet. Bemitleidenswert der eine, beneidenswert der andere. Aber vielleicht, so darf man wohl vermuten war ihm am Ende das wirkliche Leben, das schreckliche, gar nicht


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so wichtig mehr; und bedenkt man, welche berauschenden Erfüllungen er sich zu bereiten wußte, indem er all seine Wunschbücher schrieb, so war er vielleicht - trotz allem - ein glücklicher, ein sehr glücklicher Mann.



1Karl May, Der Ölprinz. Erste Buchausgabe: Stuttgart-Berlin-Leipzig o. J. (1897) Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Reprint dieser Ausgabe: Bamberg (Karl-May-Verlag) / Braunschweig (Graff) 1974, S. 41
2Ebd., S. 45f.
3Stolte, Die Reise ins Innere, in: Jb-KMG 1975, 29 f.
4Karl May, Der Ölprinz, a. a. O., S. 41
5Ebd., S. 43
6Ebd., S. 47 f.
7Der in Anm. 3 genannte Aufsatz stellt darüber ausführliche und grundsätzliche Untersuchungen an.
8Die Akten zur »Affäre Stollberg« sind publiziert als Anhang zu: Fritz Maschke, Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe = Beiträge zur Karl-May-Forschung, Bd. 3, Bamberg 1973, 137-196 (im folgenden zitiert als »Maschke«).
9Maschke, 172. Der schwindelerregende Satz ist zwar syntaktisch mit einiger Akrobatik korrekt zustandegebracht worden, dafür sind seinem Verfasser aber offenbar die Fakten durcheinandergeraten: Zeile 8 muß es statt Ernst Ferdinand John heißen: Ernst Ferdinand Jahn; Zeile 10 statt Ernst Ferdinand Jahn müßte stehen: Friedrich August John. Zeile 20: »nurgedachten« ist korrumpiert aus orig. gemeintem »vorgedachten«.
10Maschke, 129
11Maschke, 189 f.
12Hierzu die Darstellung Maschke, 13-23. Eine Arbeit von Klaus Hoffmann über die »Affäre Stollberg« ist bisher ungedruckt. Sie ist mir als Manuskript bekannt.
13Maschke, 24
14Hierzu auch: Stolte, Kriminalpsychologie oder Literaturpsychologie. Zwei Hypothesen zum Fall Karl May, in: Mitt. d. KMG, Nr. 2 (Dez. 1969), S. 4-7. Das damals von mir angekündigte Buch von Erich Wulffen über »Karl Mays Inferno« ist leider noch immer nicht erschienen.
15Maschke, 142 f.
16Maschke, 143
17Maschke, 141 f.
18Maschke, 141
19E. Schwinge, Karl Mays Bestrafung wegen Amtsanmaßung (Fall Stollberg), in: Beitr. z. KM-Forschung, Bd. 3, 130-136
20Maschke, 140
21Maschke, 160
22Maschke, 161
23Maschke, 160 f.
24Karl May, Durchs wilde Kurdistan (Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. II), Freiburg (1892), 115
25Ebd., 292
26Ebd., 286
27Ebd., 188 f.
28Ebd., 203
29Ebd., 287
30Ebd., 290





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