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HEINZ STOLTE

Auf den Spuren Nathans des Weisen

Zur Rezeption der Toleranzidee Lessings bei Karl May



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Nicht leicht wird die Verblüffung übertroffen werden, die im April des Jahres 1906 ein jüdischer Knabe zu Berlin empfunden hat, nachdem er einen von ihm heiß ersehnten Brief seines Lieblingsautors Karl May empfangen und gelesen hatte. Ihm, dem jungen Herbert Friedländer, war es ja dabei um eine Sache gegangen, die, wie er sehr wohl ermessen konnte, über sein ganzes ferneres Leben und Schicksal entscheiden mußte. Er hatte gewiß lange mit sich selber gerungen, ehe er sich daran machte, an den verehrten Mann in Radebeul zu schreiben. Und er schrieb:

»Sehr geehrter Herr May! Ich bin eifriger Leser Ihrer werten Bücher. Am meisten haben mich die Bücher "Winnetou" und "Weihnacht" interessiert. In dem letzteren hat mir besonders das Lied "Ich verkünde große Freude" gefallen. Da dieses nicht ganz im Buche steht, so bitte ich Sie, mir dasselbe vollständig zu schicken. Aber noch eine andere große Bitte habe ich an Sie. Ich bin nämlich durch Ihre Bücher bewogen worden, zum Christentum überzutreten. Nun weiß ich nicht, auf welche Weise ich dies meinem Vater mitteilen soll. Nun bitte ich Sie, mir aus der Klemme zu helfen, indem Sie an meinen Vater schreiben. Wenn Sie die große Güte besitzen wollen, an meinen Vater zu schreiben, so bitte ich Sie, diesem Brief das Lied beizulegen. Indem ich Sie um baldige Antwort bitte, verbleibe ich mit vielen Grüßen Ihr Herbert Friedländer, Berlin S 42, Wassertorstr. 41, III.« (1)

Unter der Flut von Zuschriften, die einem Mann von der Bekanntheit Karl Mays tagtäglich ins Haus kam, muß der Empfänger dieses Briefes die vertrauensvollen Zeilen des Herbert Friedländer sogleich als etwas Besonderes, Wichtiges herausgefunden haben, denn auf den 10. April hatte dieser seinen Brief datiert, und schon drei Tage später,


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am 13. April, antwortete ihm Karl May von Radebeul aus das Folgende:

»Mein lieber, guter Junge! Du bist durch meine Bücher bewegt worden, zum Christentum überzutreten? Es freut mich sehr, daß diese Bücher Dein Herz bewegt haben, aber Du kennst noch nicht einmal den Glauben Deiner Väter und den Christenglauben noch viel weniger. Wie kannst Du da reif genug sein, zwischen ihnen wählen zu dürfen? Ich sage Dir als aufrichtiger und gewissenhafter Christ: der Glaube Deiner Väter ist  h e i l i g ,   i s t   g r o ß ,   e d e l   u n d   e r h a b e n . Man muß ihn nur kennen und verstehen. Einen solchen Glauben wechselt man nicht einiger Bücher wegen und noch viel weniger des Geldes oder des Geschäftes wegen. Du bist noch viel zu jung und zu unerfahren. Nur im reiferen Alter und nach langen Kämpfen und Erfahrungen gewinnt der Mensch die Einsicht, die dazu gehört, einen solchen Wechsel vorzunehmen.

Aber lies meine Bücher in Gottes Namen weiter! Sie sind nicht etwa nur für Christen, sondern überhaupt für alle geschrieben, die das Ziel der edlen Menschlichkeit vor Augen haben. Denn glaube mir, mein lieber Junge: es kann keiner ein guter Christ oder ein guter Israelit sein, der nicht vorher ein guter Mensch geworden ist.  W e r d e   b r a v   u n d   g u t ,   u n d   g l a u b e   a n   G o t t !   D u   b i s t   z u   a l l e r   Z e i t   s e i n   E i g e n t u m ,   s e i n   K i n d . 

Sei stets aufrichtig gegen Deinen Vater und grüße ihn von mir! Schreib auch mal wieder! Dein Karl May.« (2)

Das Dokument, das auf eine so klare, überzeugende Weise ein Bekenntnis zu Humanität und religiöser Toleranz enthält, gehört zweifellos zu den wichtigsten, aber auch schönsten Zeugnissen der sonst doch so vielfach schillernden Persönlichkeit dieses Schriftstellers. Grund zur Verwunderung hat man aber in der Tat, wenn man die entschieden abwiegelnde Ermahnung in seinem Brief mit dem oft geradezu missionarischen Engagement vergleicht, das sich in den meisten seiner Bücher zu Worte meldet. Herbert Friedländer hatte ja recht, wenn er in seiner Zuschrift als völlig unbezweifelbar annahm, Karl May, dieser christianissimus unter den Schriftstellern seiner Zeit, dessen Old-Shatterhand- und Kara-Ben-Nemsi-Mythen man denn auch zutreffend als verkappte  L e g e n d e , als säkularisierte Heiligengeschichte hat klassifizieren können (3) werde die Nachricht von seiner


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Bekehrung zum Christentum mit tiefer Genugtuung, ja mit Jubel über die glücklich gerettete Seele aufnehmen. War nicht auch Winnetou so gestorben? »Schar-lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ.« (4) Und das »Lied«, das den Knaben Herbert so enthusiasmiert hatte und dessen  g a n z e n  Text ihn so sehr zu erfahren verlangte, war das nicht schon ein solcher Jubelgesang, wie ihn die Chöre des Himmels anstimmen mochten über den bekehrten Judenknaben in Berlin? Würde nicht selbst der Vater, der orthodoxe Israelit, von der Gewalt dieser Verse überzeugt und versöhnt werden, wenn nur der Herr May die »große Güte besitzen« wollte, sie dem Brief an den Vater beizulegen -,  d i e s e  Verse:

Ich verkünde große Freude,
Die euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!

Jubelnd tönt es durch die Sphären,
Sonnen künden's jedem Stern;
Weihrauch duftet auf Altären,
Beter knieen nah und fern.

Horch, da schallt vom nahen Dome
Feierlich der Glocken Klang,
Und im majestätschen Strome
Schwingt sich auf der Chorgesang:

»Herr, nun lässest du in Frieden
Deinen Diener zu Dir gehn,
Denn sein Auge hat hienieden
Deinen Heiland noch gesehn!« (5)

Und so fort, bis es dann, einen solchen Tatbestand der Bekehrung feiernd, heißt:

Darum gilt auch dir die Freude,
Die uns widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Auch  d e i n  Heiland Jesus Christ! (6)

Ebenso ist ersichtlich, daß Antithesen wie »Christus oder Mohammed« oder »Babel und Bibel« im Werk dieses Autors sich provokatorisch genug bemerkbar machen und namentlich Kara Ben Nemsis orientali


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sche Abenteuer immer zugleich zum höheren Ruhme des Christentums bestanden werden.

Daß es dennoch in Mays Antwortbrief an Herbert Friedländer keineswegs jubelnd durch die Sphären tönt, vielmehr in so eindringlicher Weise darauf hingewiesen wird, wie heilig, groß, edel und erhaben die Religion des Judentums sei, ja sogar (für einen Schriftsteller gewiß ein Sprung über den eigenen Schatten) die Mahnung erhoben wird, wie töricht und leichtfertig es sei, einiger Bücher wegen seinen angestammten Glauben zu wechseln, denn nicht um Konfessionen oder Religionen gehe es, sondern um das Ziel der edlen Menschlichkeit -, das alles deutet in der Tat auf einen - scheinbaren oder wirklichen? - Zwiespalt in Denken und Weltanschauung dieses Autors und darüber hinaus auf weitläufigere geistesgeschichtliche und kultursoziologische Zusammenhänge hin.

Schon vor Jahren habe ich den Versuch unternommen, an der Gestalt Karl Mays und seinem Werk deutlich zu machen, daß der Typus des klassischen »Volksschriftstellers«, angesiedelt in jener kulturellen Ebene, die man heute eher mit dem Begriff der Trivialliteratur zu benennen pflegt, eine höchst interessante Mittlerstellung einnimmt zwischen einem Unten und Oben unserer Kulturwelt, indem er, seiner sozialen Herkunft nach, einerseits in der geistigen Primitivschicht des Vulgus samt allen dahin gehörigen Traditionen zu Hause ist, anderseits aber auch, dank seiner intellektuellen Kapazität, an jener »Hochkultur« geistigen Anteil hat, die wir als die sogenannte »Bildungssphäre« in aller Regel als die »eigentliche«, gewissermaßen offizielle Geistes- und Literaturgeschichte dargestellt finden. (7) So schöpfte denn ein Karl May mit der einen Hand aus den ergiebigen Quellen des sozialen und geistigen Undergrounds, als da sind: Märchen, Sagen, Legenden, Räuberromantik, Moritat und Kolportage, auch aus den Ressentiments und Hoffnungen der Enterbten, Beleidigten und Erniedrigten, aus Not und Elend des Webermilieus, den utopischen Träumen und rebellischen Regungen der plebejischen Mentalität; mit der anderen aber griff er stets nach den Sternen, soweit er ihrer habhaft werden konnte, nämlich durch das Studium im Lehrerseminar, das autodidaktische Bemühen langer Gefängnisjahre und jenen ausgedehnten Lese- und Lerneifer späterer Zeit, für den die


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dreitausend Bände seiner Privatbibliothek, die er hinterlassen hat, noch heute zu zeugen vermögen. Zwei Welten polarisieren sich in seinem Werk. Eine Mischstruktur entsteht, am deutlichsten belegbar am Genre seiner Reiseerzählungen, in denen primitivwüchsige Motive aus Kolportage, Moritat, Räuberroman und Märchen sich verbinden mit wissenschaftlich exakt zusammengetragenen Fakten der Geographie, Ethnographie, Linguistik, Zoologie, Kulturgeschichte und einiger anderer Disziplinen, um miteinander solche eigenartig faszinierenden Gebilde zu erzeugen, die je nachdem verwegene Traumwelt oder detailgetreue Realität vorspiegeln.

Auf ganz ähnliches Gemenge stoßen wir, wenn wir den  e i n e n  Komplex zu gesonderter Betrachtung herausgreifen, auf den der hier angezogene Briefwechsel hinweist, die Frage nach den religiösen Überzeugungen dieses Autors. Auch in dieser Beziehung hat Karl May, wie sein Werk belegt, das ganze Requisit vulgärreligiöser Vorstellungen aufgenommen und literarisch rekapituliert, wie es ihm nolens volens aus Schule, Konfirmandenunterricht und Seminarlehre zugewachsen ist, plane Katechismusformeln und naive Anthropomorphismen. Ja, noch über das ihm »von Haus aus« Zugekommene hinaus hat er sich ohne große Skrupel sogar in der weihrauchschwangeren Sphäre der »Marienkalender« betätigt und überhaupt dem »Volksglauben« Rechnung getragen, wo immer es ihm angemessen erschien.

Ganz gewiß aber war er niemals und in keiner Zeile das, was man einen konfessionellen Eiferer nennen könnte. Nicht nur, daß ihm, dem Protestanten, seine Klassifizierung als katholisch im »Kürschner« völlig gleichgültig war, er hatte auch für verketzerte Religionsgemeinschaften wie etwa die »Teufelsanbeter« die lebhafteste Sympathie (Durchs wilde Kurdistan) und hat sicher wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Zeit in Deutschland dazu beigetragen, Grundkenntnisse über den Islam und den Koran populär - und letztlich sine ira et studio - zu verbreiten. Was ihn nämlich aus Enge und Vermieftheit auf einen wesentlich freieren Standpunkt trug, das waren eben die ganz gegenläufigen Einflüsse aus jener Bildungssphäre, in der sich seit dem Zeitalter der Aufklärung die Säkularisierung der Hochkultur vollzogen hatte. Kennzeichnet man die Linie dieser Entwicklung etwa mit den Namen Lessing, Goethe, Schiller, bis hin zu Ludwig Feuerbach, so


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läßt sich in der Tat aufzeigen, daß der vermeintliche Naivling in ebendieser Traditonskette des modernen humanistischen Denkens eine nicht unehrenhafte Position einnimmt.

Wie wenig May einer religiösen Dunkelmännerei verfallen war, bis zu welchen erstaunlichen Konsequenzen seine »freidenkerischen« Anschauungen zu gehen vermochten, das wissen wir erst seit kurzem, seit nämlich die frühesten seiner erhaltenen schriftlichen Aufzeichnungen, die noch aus der Gefängniszeit stammen, veröffentlicht worden sind. (8) Da hat der einsame Mann in der Zelle versucht, seinen eigenen religiösen Standpunkt in einer Art Brevier zu formulieren. Und da heißt es: Es geht ein großer Gedanke durch die ganze Schöpfung, die ganze Welt, die ganze Menschheit: der Gedanke der Entwickelung. () Je mehr sich aber der Mensch entwickelt, desto mehr kommt er zu der Erkenntniß, daß Vieles, was er außer sich gesucht hat, in ihm selber wohnt und lebt, und so wird und muß auch einst die Zeit kommen, in welcher er seinen Gott in sich selbst fühlt und findet und den Teufel in die Rumpelkammer unter das alte Eisen wirft. Kirchen, Pagoden, Synagogen etc. werden verschwinden; Tauf- und Confirmationsscheine wird selbst ein Antiquitäten- oder Raritätensammler kaum aufzuweisen haben, und der aufgeklärte Mensch wird mit demselben Gefühle in die Vergangenheit zurückblicken, mit welchem der geschulte Reiter an den Augenblick denkt, an welchem er sich das Hosenkreuz zerplatzte, als ihn das Pferd zum ersten Male abwarf. () Wie nun aber schon die Geburt des Gottessohnes eine sittliche Unmöglichkeit ist, weil sich Gott durch den intimen Umgang mit der Braut eines Andern um sein ganzes moralisches Renomme bringt und sich dem heidnischen Mädchenjäger Zeus gleichstellt, so kann auch unmöglich durch den blos  l e i b l i c h e n  Tod eines  e i n z i g e n  Menschen, dessen Sterben noch dazu durch seine Auferstehung paralisirt wurde, der  l e i b l i c h e ,  g e i s t i g e  und  e w i g e , also der  d r e i f a c h e   T o d   d e r   g a n z e n   M e n s c h h e i t  gehoben werden. Christus kann kein Erlöser sein erstens weil er selbst ein Mensch und zweitens weil er eben blos ein einziger Mensch ist. Wenn ich die Schuld eines Andern bezahlen will, so darf ich nicht selbst Schuldner sein und muß die  g a n z e  Summe entrichten. - Ich kenne einen Gott blos im Menschen, der sich zu Allmacht und Allwissenheit erheben und dessen Leben ein durch Generationen fortgesetzt


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ewiges sein soll. Wir sind nicht Ebenbilder Gottes, sondern Gott ist das Ideal des Menschen wie er einst sein wird und sein muß. Diesem Gedanken entspricht das Christenthum durch die Lehre von der Seligwerdung und das Heidenthum durch die Erhöhung ihrer Helden zu Halbgöttern. (9)

Hierzu halten wir noch, um das Bild abzurunden, was der junge Karl May Genaueres über den »Teufel« zu notieren wußte: Also der Mensch muß sich entwickeln, d. h. er muß sich immer mehr dem Standpunkte nähern, auf welchem er seine Bestimmung erreicht hat, auf welchem er sich voll und ganz als den Herrn der Erde fühlt. Wie nun das Kind eines Vaters bedarf, in welchem es den Herrn über alle seinem Gesichtskreise nahe liegenden Erscheinungen und Verhältnisse sieht, wie manche Erzieher ferner eines bösen Wesens bedürfen, mit welchem sie gleichsam als Popanz den Zögling von bösen Wegen und Thaten abzuschrecken vermeinen, so bedurfte auch der Mensch auf der Stufe seiner Kindheit eines allmächtigen etc. Vaters, den er Gott nannte, und so stellten auch die damaligen Erzieher eine Krautscheuche ins Feld, welcher sie den Namen Teufel gaben. (10)

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Man bemerkt das Problem. Was sich in den hier zitierten Texten zu Worte gemeldet hat, scheint auf eine entscheidende Weise alles das zu paralysieren, was uns an konventionell Christlichem aus so vielen seiner Bücher entgegentritt. Und auf jeden Fall straft es jene Einfaltspinselei Lügen, mit der Klara May uns den toten Gatten hat malen wollen: »Du sollst dir deinen Gott nicht erschüttern lassen . . . Ich will nicht, daß auch nur ein Schatten in deine Seele falle. Mir raubt keiner meinen felsenfesten Glauben . . .« (11) Denn mit dem »felsenfesten Glauben« muß es sich ja gerade etwas dubios verhalten haben. Könnte man auch wohl argumentieren, der junge Mann habe zwar vor Zeiten Anfechtungen von verderblicher Freidenkerei gehabt, aber er habe sie letztlich ohne Schaden überstanden, wie man die Masern übersteht, und sei mit größerer Reife zu dem echten und rechten, jedenfalls »felsenfesten« Glauben zurückgekehrt, so hätte eine solche


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These doch auf jeden Fall wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Niemand, der je in Kategorien von so voltairianischer Freizügigkeit gedacht hat, kann in Wahrheit in die abgelegten konfessionellen Kinderschuhe zurückschlüpfen. Und zum andern: es läßt sich nachweisen, daß ein und dieselbe Quelle, aus der sich die Freigeisterei des jungen Karl May ganz zweifellos die entscheidenden Impulse geholt hat, noch für den Greis in Radebeul die gleiche Autorität und Vorbildlichkeit besessen hat. Gewiß hat Claus Roxin mit vollem Recht bereits darauf hingewiesen, daß Mays umstürzlerische Thesen »an  F e u e r b a c h  gemahnende Denkbemühungen« seien (12) und in der Tat ist die Hypothese vom Wesen der Religionen, daß der Mensch darin  a u ß e r   s i c h   g e s u c h t   h a t , was doch  i n   i h m   s e l b e r   w o h n t   u n d   l e b t , fast haargenau einer der Grundgedanken, aus denen Ludwig Feuerbach sein religionskritisches Werk »Das Wesen des Christentums« entwickelt hat. Indessen ist es unwahrscheinlich, daß der jugendliche May unmittelbar mit der Feuerbachschen Philosophie in Berührung gekommen sein könnte. Sein Bildungsgang und seine eingeschränkten Möglichkeiten schließen es fast mit Sicherheit aus. Doch weisen die gleichen Thesen ja doch auch über Feuerbach hinaus zurück auf ein literarisches Werk, das sehr wohl dem jungen May auch der Seminarzeit zugänglich gewesen ist, weil es inzwischen längst in den Rang klassischer Geltung gelangt war, auf das Werk Gotthold Ephraim  L e s s i n g s .

Es sind einige verräterische Wendungen und Kennwörter, die auf einen unmittelbaren Zusammenhang mit Lessing hindeuten. So wenn von Karl May so auffällig der  a u f g e k l ä r t e   M e n s c h  beschworen wird, so befinden wir uns damit ganz im Einflußbereich jener »Aufklärung«, für die Lessing als der literarische Prototyp gelten muß. Und vollends, wenn Karl May von der Entwicklung spricht und davon, daß die Religionen für die Entwicklung der Menschheit dasselbe seien, was ein  V a t e r  und  E r z i e h e r  für das heranwachsende Kind, Religion also als ein Erziehungsprozeß aufgefaßt wird, an dessen Ende der Mensch seine Bestimmung erreicht hat, so deuten dergleichen Formulierungen nicht nur unbestimmt auf Lessingsches Fluidum, sondern ganz präzise auf ein identifizierbares einzelnes Werk, nämlich Lessings Abhandlung »Die Erziehung des Menschengeschlechts«. (13) Ohne auf


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die Einzelheiten der sehr differenzierten Gedankenführung Lessings, die insgesamt den Entwurf einer Geschichtsphilosophie konzipieren, einzugehen, brauchen wir uns nur die ersten vier Paragraphen, in denen einleitend die Grundidee des Ganzen anvisiert wird, vor Augen zu halten, um die Herkunft der betreffenden May-Thesen eindeutig zu belegen. Denn dort liest man es: »(õ 1) Was die Erziehung bei dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte. (õ 2) Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlecht geschehen ist und noch geschieht. (õ 3) Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten, in der Pädagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht untersuchen. Aber in der Theologie kann es gewiß sehr großen Nutzen haben, und viele Schwierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts vorstellt. (õ 4) Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch  a u s   s i c h   s e l b s t  haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlecht nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.« (14)

Das geht, wie man sieht, bis in wörtliche Übereinstimmungen, und noch näher betrachtet (was wir hier in der Kürze dieses Aufsatzes nicht tun können) würde sich die völlige Identität herausstellen lassen, die zwischen den religiösen Anschauungen Mays und denen seines Vorbildes herrscht. Das Wesen der Lessingschen Religionsphilosophie besteht ja darin, daß er aus den Prinzipien der Aufklärungsideologie heraus den Absolutheitsanspruch des Christentums und natürlich auch aller anderen Religionen und Konfessionen verneint, daß er eine Art theologischer Relativitätstheorie entwickelte, der zufolge man »in allen positiven Religionen . . . weiter nichts, als den Gang zu erblicken« habe, »nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Ortes einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll«. (15)

Die Relativierung aller positiven Offenbarungen und Religionen als Stadien und Varianten einer als Erziehungs- und Bildungsprozeß


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verstandenen geistesgeschichtlichen Entwicklung der Gesamtmenschheit, an deren Ende der aus eigener Vernunft Gott als die alles umfassende Einheit denkende Mensch stehen würde, der dann der Offenbarungen und Religionen nicht mehr bedürftig wäre -, diese Auffassung führt in unmittelbarer Konsequenz zu dem Lessingschen Postulat der religiösen  T o l e r a n z . Religion als eine Art Schule, in der die Menschheit Stufe um Stufe zum Ziel der freien Humanität aufzusteigen habe, um am Ende, wie eben der Heranwachsende aus der Schule, aus dieser Institution entlassen zu werden: das ermöglicht dem Aufklärer Lessing (und Karl May folgt ihm darin aufs getreueste), eine freigeistige eigene Position jenseits aller Konfessionen zu vereinen mit einer durchaus positiven Wertung dieser historischen Religionen, nämlich des Christentums, des Judentums und des Islam, sofern - und das ist die conditio sine qua non - in ihnen Humanität (und nicht Aberglaube) verwirklicht wird. Es ist ganz eindeutig und gewiß hundertfach zu belegen, daß May unverrückbar in allen Phasen seines literarischen Schaffens in diesen von Lessing gewiesenen Bahnen gedacht hat. Hierhin löst sich auch der zunächst und auf den ersten flüchtigen Blick so erstaunliche Widerspruch völlig auf, den man zwischen seinem Friedländer-Brief oder gar seinen Aufzeichnungen »Hinter den Mauern« und seinem christlichen Engagement als Schriftsteller konstatieren zu müssen meinte. Man kann eben durchaus ein Christentum der Vernunft, der Humanität, der im praktischen Leben zu bewährenden Frömmigkeit leben und lehren, auch wenn man Mythen und Dogmen für bloße vergängliche Symbole oder Formen hält, die, sobald sie mit dem von ihnen gemeinten Inhalt erfüllt wären, aufgehoben werden könnten, so daß dann eben Kirchen, Pagoden, Synagogen verschwinden werden und Tauf- und Confirmationsscheine auch ein Antiquitäten- oder Raritätensammler kaum aufzuweisen haben wird. Kein Widerspruch, vielmehr die einfache Konsequenz aus der Lessingschen Entwicklungs- und Toleranzidee. In diesem Zusammenhang mag man denn auch die Episode von Winnetous sogenannter Bekehrung richtig interpretieren, denn zwar heißt es da: »Winnetou ist ein Christ«, aber eben doch ganz ohne Tauf- und Confirmationsschein und nicht, weil er seinen Eintritt in eine evangelische oder katholische Kirche proklamiert, sondern weil er


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sich, wie man nachlesen kann, vom einst racheschwörenden Krieger zu dem entwickelt hat, was May mit einem vielleicht kitschig anmutenden, in Wahrheit aber von Goethe adaptierten Begriff (16) den Edelmenschen genannt hat. Winnetou stirbt als Christ nicht infolge eines plötzlichen Offenbarungs- und Bekehrungsaktes, sondern weil er das, als was er stirbt, seiner verwirklichten Menschlichkeit nach schon lange gewesen ist.

Wie sehr übrigens Karl May selbst sich der Problematik dessen bewußt war, daß er gerade als Hausautor einer katholischen, d. h. betont christlichen Familienzeitschrift so erfolgreich tätig war, das kann man aus der diesbezüglichen Diskussion ablesen, die sich in seinem Briefwechsel mit Sascha Schneider vorfindet. (17) Schneider hatte, wie er mitteilte, den Auftrag, Illustrationen der biblischen Geschichte für den Religionsunterricht zu malen, abgelehnt, weil ihm »Schule und Kirche . . . in ihrer jetzigen Institution einfach ein Greuel« seien. »Die Unverständigsten und Intolerantesten regieren da. Prüderie und Nüchternheit, Poesielosigkeit und Fetischismus ist auf die Fahne dieser dunklen Reactionäre geschrieben. Das Christentum ist für die Masse.« (18) Aber er erntet mit diesem Brief den striktesten Widerspruch und Tadel seines Freundes. Für ganz falsch hält dieser Schneiders Entscheidung, denn es sei geradezu eine moralische Pflicht, die ihm angetragene Aufgabe zu übernehmen, schon damit dergleichen in die richtigen Hände kommen und nicht den inhumanen Schädlingen überlassen werde. In dieser Beziehung verweist er, als auf eine ganz prinzipielle Entscheidung, auf seine eigene Art, diese Dinge anzugehen. Das ist, so wird man bemerken, der den neueren Soziologen so wohlbekannte Konflikt zwischen  A n p a s s u n g  und  W i d e r s t a n d , der sich noch jedem gestellt hat, der mit eigenen Idealvorstellungen in einer vorgeprägten Gesellschaftsstruktur schöpferisch tätig sein will. Und darum denke ich über die beiden Begriffe »Kirche« und »Schule« zwar  g a n z   g e n a u   w i e   S i e , aber ich weigere mich nicht, auch sie für etwas »Werdendes« zu halten, und fühle mich verpflichtet, zu diesem »Werden« genau das mit beizutragen, was mir von Gott  h i e r z u  gegeben worden ist. (19)

Das ist eindeutig genug, und die spezifisch Lessingsche Relativierung der historisch-faktischen Religion, ihre Umwertung im Sinne


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eines Entwicklungs- und Erziehungsprozesses, aus einem Absolutum in ein  W e r d e n d e s , schaut scharf erkennbar heraus. Zwischen Mays Texten »Hinter den Mauern« und diesem Brief an Sascha Schneider (1906) liegen über drei Jahrzehnte, und es ist ersichtlich, daß sich an seinen Überzeugungen von damals durchaus nichts geändert hat. Auch nicht in bezug auf die scharf kritische Beurteilung des gegenwärtigen historischen Zustandes der Kirchen. Vielmehr heißt es weiter in seinem Brief: Unverstand, Intoleranz, Prüderie, Nüchternheit, Poesielosigkeit, Fetischismus, das Alles ist ja richtig, aber  d a s   s o l l   u n d   m u ß   d o c h   a n d e r s   w e r d e n , nicht? Und  w e n n  es anders zu werden hat, von wem soll denn diese Änderung angeregt und durchgesetzt werden? Doch nur von denen, die hierzu berufen sind und von der »Natur« hierzu ausgerüstet wurden! Wer aber sind diese Berufenen? Etwa die Schulpedanten selbst? Oder die salbungsvollen, breitmäuligen, lippenlosen »Heiligen der letzten Tage«?  . . . Die Religion, die uns wirklich und wahrhaftig erlösen soll, darf uns nicht von Pedanten und Oratoristen vorgetragen werden, sondern sie muß uns vom Künstler gezeigt und in das Herz gebildet werden! (20)

Und er findet, seiner exemplarisch-anschaulichen Art als Didaktiker gemäß, ein treffendes Gleichnis, wenn er hinzufügt: Nun denken Sie sich einen Arzt, der da sagt: »Ich hasse die Cholera; darum kann ich mich nicht um das schlechte, verseuchte Wasser bekümmern, welches die Leute trinken müssen, weil sie kein besseres haben.« (21)

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Schon vereinzelt ist mehrfach bei sich bietender Gelegenheit in der sich mit Karl May beschäftigenden Literatur auf den stark bemerkbaren Einfluß Lessings aufmerksam gemacht worden. So gelegentlich meiner Interpretation der »Geographischen Predigten« (22), auch bei meiner Ausdeutung der »Sklavenkarawane«, nämlich vor allem bei der Charakterisierung seiner epischen Technik im Hinblick auf Lessings »Laokoon« (23), und seiner Humanitäts- und Toleranzidee im Hinblick auf dessen »Nathan« (24). Auch Ekkehard Bartsch hat kürzlich in seiner Ausgabe von Mays »Die Rose von Kairwan« darauf hingewiesen, daß


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May in der Erzählung »Eine Befreiung« ersichtlich »ein Motiv aus Lessings "Nathan der Weise" (Jude nimmt Christenmädchen an Kindesstatt an) in interessanter Abwandlung aufgenommen« hat. (25) Daß darüber hinaus aber die Lessing-Nachfolge dieses Autors sein gesamtes Denkbild wie auch die Konzeption der entscheidenden Handlungsläufe, vieler Motive, ja sogar der mythischen Ich-Gestalt seines Kara Ben Nemsi geprägt hat, das wird einer aufmerksamen Analyse in seinem ganzen Umfang erst allmählich deutlich werden.

Was die Spuren der Lessingschen Entwicklungslehre, seiner Hypothese von der »Erziehung des Menschengeschlechts«, seinen aufklärerischen Glauben an eine Perfektivierung der Humanität betrifft, so sind sie deutlich genug überall da lesbar, wo sich May theoretisch mit diesen und ähnlichen Fragen auseinandergesetzt hat, beispielsweise außer in seinen »Geographischen Predigten« auch in den »Briefen über Kunst« (26), in seiner in Lawrence, USA, gehaltenen Rede »Drei Menschheitsfragen« (27), in seiner Autobiographie »Mein Leben und Streben« (28) und schließlich in seiner Wiener Rede »Empor ins Reich der Edelmenschen« (29). Wir können in diesem Zusammenhang nicht auf die Einzelheiten eingehen, aber es ist in all diesen Dokumenten der Gedanke der Entwicklung, des »Empor«, der geistigen und moralischen Befreiung zu einer veredelten Menschlichkeit dominierend. Die Versicherung weiterhin, die Karl May namentlich in Selbstverteidigung während seiner letzten Lebenszeit wiederholt abgegeben hat, daß es ihm von Anfang an auch in seinem erzählerischen Werk um die Menschheitsfrage, um die nach ihrer wahren Bestimmung suchende Menschenseele gegangen sei, eine Behauptung, die man häufig als mehr oder weniger unzutreffend abzutun pflegte, wird immer wahrscheinlicher, besonders seit die nun bekannt gewordenen Texte »Hinter den Mauern« erwiesen haben, daß Lessingsche Thesen schon von allem Anfang an in seinem Denken die entscheidende Rolle gespielt haben. Wenn vielleicht die Grundidee auch nicht in allen Stücken seines Erzählwerkes exakt festgehalten worden ist, so bezeugt doch die Anlage des ganzen epischen Kosmos in zwei kontinuierlich verlaufenden Ketten, die in »Winnetou IV« einerseits und »Ardistan und Dschinnistan« anderseits enden, daß hier wirklich an so etwas wie ein exemplarisches Stück Menschheitsentwicklung gedacht war. »Ardi


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stan und Dschinnistan« vollends hat dann die Lessingsche Idee von der Entwicklung und Erziehung vom Niederen ins Höhere sehr monumental in Symbolik und Mythos umgesetzt.

Bei all dem, was bisher angedeutet wurde, ist es freilich auffällig, daß der Name Lessing im erzählerischen Werk dieses Autors, soviel ich es jedenfalls sehe, ganz fehlt. Nur in einem seiner journalistischen Beiträge aus seiner frühen Redakteurzeit bei Münchmeyer, dem 1875 in der Zeitschrift »Schacht und Hütte« veröffentlichten Bericht »Ein jetzt Vielgenannter« erzählt Karl May von dem Vater des damals skandalumwitterten Eisenbahnunternehmers Strousberg: Einer der angesehensten jüdischen Bewohner Neidenburgs war der alte Kaufmann »für Alles« Strausberg, der koscher lebte, die Synagoge fleißig besuchte und einen Laden besaß, in dem alles Mögliche und Unmögliche zu sehen und zu haben war. Dabei aber durfte man ihn nicht für einen gewöhnlichen Krämer halten; denn er war einer der Gebildetsten unter seinen Mitbürgern und Glaubensgenossen, schwärmte für unsere Klassiker, kannte  L e s s i n g s   » N a t h a n «   f a s t   a u s w e n d i g , liebte die Musik und hatte als guter Patriot tapfer gegen Napoleon mitgefochten. (30)

Eine Textstelle wie diese mag nicht sehr bedeutend aussehen, ist aber doch höchst aufschlußreich. Hier nämlich taucht, ganz am Anfang seines literarischen Schaffens schon, gewissermaßen sogar in der Verdoppelung, die entscheidende Modellfigur auf, denn der alte jüdische Kaufmann, glaubenstreu, kein gewöhnlicher Krämer, tapferer Patriot, einer der Gebildetsten unter seinen Mitbürgern, das ist ja bereits die getreue Nachbildung des größeren literarischen Vorbildes, des Lessingschen Nathan, dem, wie es im Drama heißt:

Sein Gott von allen Gütern dieser Welt
Das Kleinst' und Größte so in vollem Maß
Erteilet habe . . . Das Kleinste: Reichtum. Und
Das Größte: Weisheit. (31)

Eine solche Figur auch mochte dem Briefschreiber Karl May vorschweben, wenn er seinen Herbert Friedländer so eindringlich auf den eigenen Vater verwies und ihn zu grüßen bat.

Daß sich der Erzähler May über seine eigene Faszination durch Lessing und insbesondere dessen Werk »Nathan der Weise« sonst so


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beharrlich ausgeschwiegen hat, hat gewiß seinen Grund darin, daß dergleichen Phänomene eben zu den esoterischen Antrieben schöpferischer Abläufe gehören, wenn man will: zu den Werkstattgeheimnissen eines Schriftstellers, die er um so hermetischer in sich verschließt, je wichtiger sie ihm sind. Auch mag, wer sich in einer Art dauernder Imitatio zu seinem verehrten Vorbild befindet, sich dessen nach einiger Zeit kaum noch bewußt sein, daß er in den Spuren eines anderen schreitet. Und schließlich hat denn ja auch Karl May Lessingsche Ideen und Motive keineswegs etwa klischeehaft übernommen, sondern er hat sie sich in einer Weise schöpferisch anverwandelt, daß ihre Herkunft verdunkelt sein mochte.

Indessen haben wir noch das Zeugnis Klara Mays in ihrem Aufsatz »Die Lieblingsschriftsteller Karl Mays« (32), wo es heißt: »Hoch schätzte Karl May Lessing, ganz besonders "Minna von Barnhelm", ihr nachstrebend wollte er seine "Pantoffelmühle" als Volksstück schaffen, aber mit Gesang.« Das ist nicht gerade sehr illuminierend, und Wollschläger hält (in seiner Anmerkung dazu) die Verbindung, die Klara May hier zwischen Lessings »Minna« und Mays fragmentarischem Singspielschwank aus den sechziger Jahren wahrhaben will, für schlicht »aberwitzig«. (33) Daß allerdings »Minna von Barnhelm« sich der besonderen Vorliebe Karl Mays erfreut hat, mag man wohl glauben, und es scheint mir auch ganz evident, daß sie höchst befruchtend auf seine eigene Produktion gewirkt hat. Lessings Lustspiel war ohne Zweifel das Modell, das nach Zeitkolorit, Milieu und Fabel May bei seinen Humoresken vom »Alten Dessauer« inspiriert hat. Eine genauere Analyse könnte das bis in Einzelheiten der Motive belegen.

Einer anderen Aussage Klara Mays wird man mehr Beweiskraft und Authentizität zuerkennen. Am 2. Mai 1902 trug sie nach einem Theaterbesuch mit Karl und Emma May in ihrem Tagebuch ein, was nach Stil und Inhalt offenbar eine nahezu wörtliche Wiedergabe dessen ist, was May in einem den Theaterabend beschließenden Gespräch geäußert haben mag: »Nathan der Weise. Solche Meisterleistungen sollten wir Menschen  a u s w e n d i g  lernen. Diese Arbeit Lessings steht mir  ü b e r   d e r   B i b e l . Man sollte dem heranreifenden Menschen diese edlen Keime tief ins Herz pflanzen, dann, dann würde Frieden werden, das Dogma könnte nicht wie eine Mistel auf jedem


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Baum der Religion nisten und sich am Saft aufsaugen. Brüderlichkeit, Einigkeit, Reinheit in Wort und Gesinnung. Danach  m ü s s e n  wir streben. - Wie der liebe, gute Karl dabei ist. Welche Kraft und wieviel Gutes steckt in diesem Manne.« (34) Es wird uns hier nicht ausdrücklich gesagt, daß die Formulierung zum Thema »Nathan« von dem »lieben, guten Karl« selbst stammt, aber das anschaulich gewählte Beispiel von der Mistel auf dem Baum der Religion sowie die Tatsache, daß hier wieder, genau wie siebenundzwanzig Jahre vorher im Strousberg-Artikel, im Zusammenhang mit Lessings »Nathan« von  a u s w e n d i g  lernen die Rede ist, machen es mehr als wahrscheinlich. (35) Man wird nicht zweifeln, daß auch May selber, wie sein alter Jude von Neidenburg, seinen »Nathan« seit früher Jugend »fast auswendig« kannte. Die Folgen dieser Tatsache für sein eigenes schriftstellerisches Werk sind fast unübersehbar. Einiges davon soll hier hervorgehoben werden.

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Zur Klarstellung der für diese Untersuchung relevanten geistesgeschichtlichen Zusammenhänge dürfte es vorab nützlich sein, hier in aller Kürze ein Stück Literaturgeschichte zu rekapitulieren, so wie es zweifellos auch zum Bildungsbesitz schon des jungen Karl May gehört hat.

Gotthold Ephraim Lessing hatte in den Jahren 1767 bis 1770 seinen Aufenthalt in Hamburg genommen, denn dort hatte der allgemeine Aufschwung des Theaterwesens in Deutschland zur Gründung eines sogenannten »Nationaltheaters« geführt, an dem Lessing als Dramaturg tätig sein sollte. Hier schrieb er seine berühmte »Hamburgische Dramaturgie«. Zu seinen persönlichen Freunden in Hamburg gehörte der Philosoph und Theologe Hermann Samuel Reimarus, einer der merkwürdigsten Männer seiner Zeit. Während er in den von ihm veröffentlichten Schriften einen theologischen Standpunkt vertreten hatte, der die Wahrheiten der sogenannten Offenbarung und der Dogmen von den Wahrheiten der Vernunft her begründete und stützte, auch in seinem öffentlichen Wirken am Gymnasium Johanneum zu Hamburg dem orthodoxen Pastorat keinerlei Anlaß zur


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Kritik bot, schrieb er insgeheim an einem großangelegten Werk, seiner »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes«, in dem er ebendiese Offenbarung, nämlich die Texte der Bibel, einer radikalen, die geltende Orthodoxie vernichtenden Kritik unterzog. Das Werk war streng gehütetes Geheimnis, und nur treueste Freunde, zu denen Lessing zählte, waren darin eingeweiht. Reimarus starb schon 1768. Als das Hamburger Theater nach einjähriger Spieldauer schließen mußte, nahm Lessing 1770 die Stellung eines Bibliothekars an der herzoglich braunschweigischen Bibliothek in Wolfenbüttel an, in der er dann über ein Jahrzehnt bis zu seinem Tode im Jahre 1781 wirkte. Eine Ehe, die er mit Eva König, der Witwe eines verstorbenen Hamburger Freundes, schloß, brachte ihm kein Glück, denn bald, bei der Geburt eines Sohnes, starben Frau und Kind.

Um so grimmiger stürzte sich der unermüdliche Aufklärer in den literarischen Streit. Er veröffentlichte einige Hauptteile der »Apologie« des Reimarus unter dem Titel »Fragmente des Wolfenbüttelschen Ungenannten« während der Jahre 1774-78 und erregte damit weithin Aufsehen, vor allem aber wütendes Ärgernis bei der die (protestantische) Kirche beherrschenden Orthodoxie. Gegen Lessing als den Herausgeber wandte sich der Hamburger Hauptpastor Goeze, und Lessing beantwortete dessen Streitschriften mit scharfen und glänzend geschriebenen Abhandlungen, seinem sogenannten »Anti-Goeze«. Es war in diesem Zusammenhang, daß er auch seine Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechts« verfaßte. Weniger radikal als der noch anonym gebliebene Reimarus, aber mit spitzerem Florett und eleganteren Paraden, focht Lessing gegen Goeze für Aufklärung, Geistesfreiheit und Duldsamkeit in religiösen Fragen, gegen starrsinnige Dogmatik und törichten Buchstabenglauben, unter dem Beifall des ganzen gebildeten Publikums in Deutschland. Der Streit mußte freilich beendet werden, als der Herzog von Braunschweig Lessing weitere Veröffentlichungen in dieser Sache untersagte. Lessings »Anti-Goeze« aber stieg in der folgenden Zeit in den Rang eines klassischen Dokuments der deutschen Geistesgeschichte auf und gilt bis heute als das unerreichte Musterbeispiel einer literarischen Streitschrift. Karl May übrigens muß und wird sie gekannt haben, und nicht nur dies: er hat ja, ebenso wie das Modell der Lessingschen


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»Minna« in seinen Dessauer-Schwänken, das Modell des »Anti-Goeze« in seinem eigenen »Anti-Pöllmann« angestrebt. Die im Jahrbuch 1976 unter dem Titel »Auch "über den Wassern"« (36) veröffentlichten Texte zeigen es ganz deutlich. Man hat schon angemerkt, daß diese Polemik eine bei May nicht allzu häufig zu konstatierende Treffsicherheit und gedankliche wie stilistische Gewandtheit auszeichnet, auch daß sie eine grimmige Fr e u d e am Raufen und Zuschlagen verrät, die bei den schweren Diffamierungen, denen er sich gerade damals ausgesetzt sah, bemerkenswert ist. Nun, das ist Lessingsche Schule, Lessingsche Fechtschule! Und Parallelen sind ja auch unverkennbar. Dort ein orthodoxer Pastor, hier ein bigotter Pater. Der eine wie der andere Verkörperung eines Typs, wie ihn einst Ulrich von Hutten in seinen Dunkelmänner-Briefen persifliert hat. Und gewiß hat May dem Lessingschen »Anti-Goeze« nützliche Paraden und Finten abgelernt: hier wie dort ist die Technik in der Hauptsache die gleiche, nämlich einen Gegner, der sich zum Wächter von Moral und Christlichkeit aufgeworfen hat, eben darin ad absurdum zu führen und der Lächerlichkeit preiszugeben, daß man nachweist, wie unchristlich, ja antichristlich solches Christentum in Wahrheit ist.

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Nachdem ihm die Waffe der direkten Polemik durch die Zensur aus der Hand geschlagen worden war, faßte Lessing den Plan, dieselben Ideen, die er gegen Goeze verteidigt hatte, in verhüllter Form, einer literarischen Camouflage, vorzutragen. Er tat es, wie es immer die bewährte Taktik freierer Geister gewesen war, die unter dem Druck autoritativer Systeme zu wirken verdammt waren, indem er die Sache, die zu vertreten war, scheinbar in örtlich und zeitlich weit vom Hier und Jetzt abgelegenes Milieu versetzte: er schrieb sein Drama »Nathan der Weise« und veröffentlichte es im Jahre 1779. Ein halbes Jahrtausend zurück, in die Zeit der Kreuzzüge, verlegte er die Handlung; und indem er die dramatischen Figuren zudem in eine Örtlichkeit versetzte, die weit genug vom heimatlichen Herzogtum Braunschweig entfernt war, um das, was jene als Sinnträger Lessing


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scher Ideen vorzuführen hatten, der Reichweite heimatlicher Fanatiker zu entziehen, indem er sie in exotisches Kostüm verkleidete und in ein spezifisch orientalisches Intrigengeflecht verwickelte, waren die verfremdenden Masken und Kulissen gestellt, war die Bühne bereitet, nämlich das Jerusalem des Jahres 1192. Aber was auf dieser Bühne gespielt wurde, war doch nichts anderes, als was sich soeben erst zwischen Hamburg und Wolfenbüttel ereignet hatte, das ganze Drama nichts anderes als ein neuer »Anti-Goeze«. Der christliche Patriarch, der da im fernen Jerusalem herumläuft und Intoleranz schnaubt mit seinem grimmigen und bornierten: »Der Jude wird verbrannt!« ist - leicht durchschaubar - der verkleidete Hauptpastor Goeze aus Hamburg. Und Nathan, sein fanatisch von ihm angegifteter Gegenspieler? Man hat darauf hingewiesen, daß die Gestalt des weisen Juden von Lessing nach dem Modell seines Freundes, des Berliner Philosophen Moses Mendelssohn (37), konzipiert worden sei, aber zugleich - und das ist in der Werkstatt der dichterischen Phantasie gar nichts Widersprüchliches - symbolisiert sich darin Lessing selbst und seine Rolle im Goeze-Streit. Daß aber auch die Rolle des Braunschweiger Fürsten, der sich in den Kampf der Geister einschaltete, im Nathan-Drama in der Person des Sultans Saladin auftaucht als ein möglicherweise gefährlicher, aber im Grunde wohlmeinender Mann (und Lessing scheint trotz des Verbots den ihm übergeordneten Landesherrn so eingeschätzt zu haben), vervollständigt das Bild.

Bei der Berühmtheit, ja Klassizität, zu der Lessings Nathan und die Geschichte seiner Entstehung alsbald gelangten, der Publizität, die das alles in den literaturwissenschaftlichen Werken hatte, wird es nicht verwunderlich sein, daß Karl May, der von Jugend auf ein solches Modell als anzueiferndes Vorbild vor Augen hatte, davon nachhaltig beeindruckt war, nämlich insbesondere von der Verwandlungstechnik, dem Verfremdungstrick, dessen sich Lessing bediente, indem er sich und sein Anliegen ins  O r i e n t a l i s c h e  transponierte. Bemerkt man den Zusammenhang? Hier stehe ein Zitat als am rechten Platze, um die Affinität zwischen May und Lessing auch in diesem Punkte deutlich zu machen: Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat zu nehmen und konnte darum stets der Wahrheit gemäß behaupten, daß Alles, was ich erzähle,


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Selbsterlebtes und Miterlebtes sei. Aber ich mußte diese Sujets hinaus in ferne Länder und zu fernen Völkern versetzen, um ihnen diejenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen Kleidung nicht besitzen. (38) Bringen wir auch in Abzug, was an dieser Äußerung Karl Mays über seine Erzähltechnik schlitzohrige Apologetik sein mag, so ist es im Kerne richtig und bei sorgfältiger Analyse exakt nachweisbar, daß der Erzähler Karl May tatsächlich so verfahren ist. Wir haben eindrucksvolle Beispiele für diese besondere Technik, diese besondere Beziehung von »Dichtung und Wahrheit« bei Karl May in drei früheren Ausgaben dieses Jahrbuches bereits im Detail vorgeführt, so daß in diesem Zusammenhang nur darauf zurückzuweisen ist. (39) Auch die sogenannten »Spiegelungen«, das heißt die Verwendung von Personen, mit denen es der Autor im guten und bösen im Laufe seines Lebens zu tun gehabt hatte, als Figuren seiner exotischen Phantasiegebilde, sind seit langem mit Interesse vermerkt und mannigfaltigen Deutungen unterzogen worden. Hier gewinnt diese Technik unser Interesse speziell unter dem Gesichtspunkt, inwiefern auch sie von Lessing und insbesondere von seinem »Nathan« her inspiriert sein könnte. Ich wage die Behauptung, daß sie es ist. Sehr vieles spricht dafür, daß beispielsweise der Einfall, seine Geschichten gerade in den Orient zu verlegen, auch der, eine Art von konkurrierendem Zusammen- und Gegenspiel von Islam und Christentum wie einen Leitfaden durch alle diese Fabeln hindurchgehen zu lassen, nichts anderes sind als die Wiederaufnahme der Frage, die Lessing seinem Sultan Saladin in den Mund gelegt hat:

Da du nun
So weise bist: so sage mir doch einmal -
Was für ein Glaube, was für ein Gesetz
Hat dir am meisten eingeleuchtet? (40)

und die Beantwortung im Sinne Nathans und Lessings.

Verkleidung des Eigen-Erlebten in orientalisches Milieu und orientalische Masken, das war ja doch einer der wichtigsten, der weitesttragenden schöpferischen Einfälle Karl Mays; und wenn auch, um ihn in dem sächsischen Ex-Lehrer und Ex-Sträfling zu gebären, die Expeditionsberichte geographischer Forscher und die Märchen der


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Tausendundeinen Nacht beteiligt waren, so weist doch eben die Verbindung des orientalischen Kolorits mit der Religionsproblematik und der Toleranzidee aufs bestimmteste den Lessingschen »Nathan« als den eigentlich auslösenden Katalysator dieses Prozesses aus. Und ist es nicht entschieden auch eine Variante der alten Saladinschen Fangfrage, mit der May ja überhaupt seinen ganzen sechsbändigen orientalischen Mammut-Zyklus bedeutsam anheben läßt, wenn Halef - und das ist das  e r s t e  Wort und zugleich das erste Anschlagen des Leitthemas - seinen Sihdi fragt: »Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, welcher verächtlicher ist als ein Hund, widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?« (41)

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Was nun aber diesen selbst betrifft, den Sihdi, den mythischen Reisenden Kara Ben Nemsi, der da aus dem Abendland in den Orient gekommen ist, der die Lande durchstreift von Abenteuer zu Abenteuer, der hier und dort auftaucht, um den Bedrängten zu helfen, das Unrecht abzuwehren, und weiterzieht, wenn er eine seiner selbstgestellten Aufgaben erfüllt hat, eine Lichtgestalt von schimmernder Ritterlichkeit, die nur das eine Ziel zu erstreben scheint, den Wert der eigenen Religion, der christlichen, durch nichts als die  T a t e n  des  G u t e n  zu bewähren, aber nie durch dogmatische Rechthaberei -, dieser Ritter ohne Furcht und Tadel ist einst unmittelbar aus Lessings »Nathan« in die Phantasiewelt des Radebeulers eingegangen. Er ist kein anderer als jener Lessingsche Tempelherr, der Kreuzritter aus Deutschland, der heroische Helfer, der - so setzt das Drama ein - Nathans Pflegetochter Recha aus ihrem brennenden Haus gerettet hat:

Er kam, und niemand weiß woher.
Er ging, und niemand weiß wohin. Ohn alle
Des Hauses Kundschaft, nur von seinem Ohr
Geleitet, drang, mit vorgespreiztem Mantel,
Er kühn durch Flamm und Rauch der Stimme nach,
Die uns um Hilfe rief. Schon hielten wir
Ihn für verloren, als aus Rauch und Flamme


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Mit eins er vor uns stand, im starken Arm
Empor sie tragend. Kalt und ungerührt
Vom Jauchzen unsers Danks, setzt seine Beute
Er nieder, drängt sich unters Volk und ist -
Verschwunden! (42)

Das ist  e r ! Und es ist bemerkenswert, daß die Figur des Tempelherrn sogleich in einem motivischen Kontext erscheint, der, wie der Kenner der Mayschen Erzählwelt weiß, in den Geschichten um Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand eine so bedeutende Rolle spielt. Das  B r a n d -Motiv kehrt in ihnen immer wieder und ist offensichtlich eine der Chiffren, in denen sich ein entscheidendes Erlebnis des jungen Karl May, das aus seiner Selbstbiographie bekannt ist, literarisch verschlüsselt hat. Hartmut Kühne hat auf diesen Bezug schon hingewiesen und die vielfachen Varianten des Feuer-Motivs aus dem Gesamtwerk registriert, so daß in diesem Zusammenhang nur auf seinen Aufsatz hingewiesen sei. (43) Der Herkunft des Motivs aus dem biographischen Erlebniskomplex des Schriftstellers widerspricht es übrigens keineswegs, daß hier die Hypothese vertreten wird, es stamme (auch und zugleich) aus einem literarischen Bildungsimpuls. Eben  w e i l  ein Erlebniskomplex des  M e n s c h e n  Karl May zugrunde lag, mußte sich ihm das literarisch so eindrucksvoll von Lessing fixierte Dramenmotiv um so nachhaltiger ins Bewußtsein prägen und - zur Nachahmung anbieten. Und so sieht, beispielsweise, das gleiche Motiv - der Held rettet ein Mädchen aus dem Feuer- in einer Mayschen Variante aus: »Das Thal brennt!« rief Sam, zu seinem Pferde eilend. » Vorwärts, Sir, sonst sind wir verloren!« Er sprach die Wahrheit. () Die Fluth des hochaufsprühenden Brennstoffes breitete sich mit unglaublicher Raschheit über das ganze obere Thal aus und hatte jetzt den Fluß erreicht. () Schon hatte ich den einen Fuß im Bügel, als ich einen klagenden Weheruf vernahm. Da, wo sie sich befunden hatte, als der Donnerschlag ertönte, lag die Frauengestalt, die an uns vorübergeschritten war, in den Knieen; der Schreck hatte sie niedergeworfen, und das Entsetzen lähmte ihre Bewegungen. Mit einem raschen Sprunge war ich bei ihr, zog sie empor, eilte mit ihr zu Arrow zurück und schwang mich in den Sattel. Und so weiter, bis es, nach einem langen aufregenden Wettrennen mit dem Feuer, am Ende heißt: Ich richtete meine


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Aufmerksamkeit natürlich auf Diejenige zunächst, welche der treue Arrow mit mir aus der Gluth gerettet hatte. Es war ein Mädchen; sie lag vor mir so bleich, so kalt und starr. (44)

Zieht man die verfremdenden Begleitumstände und die Transponierung ins Monumentale eines Ölbrands ab, so wird man nicht zweifeln, daß es sich um eine Episode handelt, zu der die Rettungstat des Lessingschen Tempelherrn Modell gestanden hat. Und daß Kara Ben Nemsi tatsächlich so etwas wie eine Reinkarnation jenes christlichen Ritters ist, der Lessingsche  C u r d  aus Deutschland in dem Mayschen  K a r l  aus Deutschland gewissermaßen integriert ist, erweist sich noch deutlicher in der Erzählung »Die Rose von Kairwan«, weil in ihr (diesmal freilich ohne das Feuer-Motiv) die Rettung eines jungen Mädchens durch Kara Ben Nemsi in einen episodischen Rahmen gesetzt ist, der ganz eindeutig die Struktur der Lessingschen Dramenhandlung entlehnt hat. (45)

In Lessings Drama ist der Tatbestand, um den es hierbei geht, der folgende. Der jüdische Kaufmann Nathan hat einst bei einem blutigen Pogrom seine Frau und seine sieben Kinder verloren. Fanatisierte Christen haben sie ermordet:

Ihr wißt wohl aber nicht, daß wenig Tage
Zuvor, in Gath die Christen alle Juden
Mit Weib und Kind ermordet hatten; wißt
Wohl nicht, daß unter diesen meine Frau
Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich
Befunden, die in meines Bruders Hause,
Zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt
Verbrennen müssen. () Als
Ihr kamt, hatt ich drei Tag und Nächt in Asch
Und Staub vor Gott gelegen, und geweint. -
Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet,
Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht;
Der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen - ()
Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder.
Sie sprach mit sanfter Stimm: »Und doch ist Gott!
Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan!
Komm! übe, was du längst begriffen hast,
Was sicherlich zu üben schwerer nicht,
Als zu begreifen ist, wenn du nur willst.
Steh auf!« - Ich stand und rief zu Gott: Ich will!


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Willst du nur, daß ich will! - Indem stiegt Ihr
Vom Pferd, und überreichtet mir das Kind,
In Euren Mantel eingehüllt. - Was Ihr
Mir damals sagtet; was ich Euch: hab ich
Vergessen. Soviel weiß ich nur; ich nahm
Das Kind, trugs auf mein Lager, küßt es, warf
Mich auf die Knie und schluchzte: Gott! auf Sieben
Doch nun schon Eines wieder! (46)

So hört man Nathan selber im Drama dem Klosterbruder berichten, worauf dieser ausruft: »Ihr seid ein Christ! Bei Gott, Ihr seid ein Christ! Ein beßrer Christ war nie!« Das ist, wie man seit jeher bemerkt hat, eine der Kernstellen des ganzen Dramas. Was Lessing darin gestaltete, ist das in den Willensgrund einer Existenz eingreifende, grundstürzende und den Menschen verwandelnde Erlebnis, dasjenige, das Nathan zu dem gemacht hat, als den man ihn nun den »Weisen« nennt; wenn nämlich Weisheit zugleich Güte, Menschenliebe und Mitleid einschließt. Es ist die totale Wendung, die große Umkehrung, das Metanoeite, das den ganzen Menschen ergreift und ihn in ein neues Verhältnis zur Welt versetzt. »Gezürnt, getobt . . . Der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen« -, und dann der plötzliche Sieg über den eigenen Haß und die eigene Rachsucht.

Wollen wir auch hier auf unserer Spur bleiben, so ist es nicht allzu schwer, herauszufinden, wo  d i e s e s  bedeutsame Motiv aus Lessings Drama sich in leichter Variante bei Karl May reproduziert hat: in seinem »Winnetou«. Schon das Wort, das wir oben zitiert haben, »Winnetou ist ein Christ«, klingt ja ganz wie ein Echo auf dieses: »Ihr seid ein Christ! Bei Gott, Ihr seid ein Christ!« Und ganz eindeutig läßt sich nachweisen, daß das Metanoeite des Lessingschen Nathan von May in seine Winnetou-Gestalt projiziert worden ist. Dem Pogrom, dem Nathans Frau und sieben Kinder zum Opfer fallen, entspricht in der Winnetou-Erzählung die Ermordung seines Vaters und seiner Schwester Nscho-tschi, und unter dem Eindruck dieses Geschehens will Winnetou den furchtbaren Schwur tun, jeden Weißen, den er je antrifft, zu töten. »Rache! Ich soll sie rächen, und, ja, ich werde sie rächen, wie noch nie ein Mord gerächt worden ist.« (47) Und weiter heißt es: Ja er war der Mann dazu, das auszuführen, was er wollte. Ihm, ihm wäre es gewiß gelungen, die Krieger aller roten Nationen unter sich zu


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versammeln und mit den Weißen einen Riesenkampf zu beginnen, einen Verzweiflungskampf, dessen Ende zwar kein zweifelhaftes sein konnte, der aber den wilden Westen mit Hunderttausenden von Opfern bedecken mußte. Jetzt in diesem Augenblick entschied es sich, ob der Tomahawk des Todes in dieser erbitterten Weise wüten sollte oder nicht! (48)

Indessen gelingt es seinem weißen Freunde, den Rachedürstenden von einem nicht mehr wieder rückgängig zu machenden Entschluß vorerst zurückzuhalten: »Hier liegt Nscho-tschi. Du sagst es selbst, daß sie mich liebgehabt hat und mit meinem Namen auf den Lippen gestorben ist. Auch dich hat sie liebgehabt, mich als Freund und dich als Bruder, und du hast ihr ihre Liebe reichlich zurückgegeben. Bei dieser unserer Liebe bitte ich dich, sprich den Schwur, welchen du thun willst, nicht jetzt aus, sondern erst dann, wenn die Steine des Grabes sich über der edelsten Tochter der Apachen geschlossen haben!« - Er sah mich ernst, fast finster an und senkte dann den Blick auf die Tote nieder. Ich sah, daß seine Züge milder wurden  . . . (49) Man erkennt - bei allem Abstand der geistigen Tonlage, in der dies hier vorgetragen wird, bei aller Transponierung ins Trivialliterarische einer Wildweststory - aufs deutlichste die Herkunft des Motivs aus der klassischen Tradition: Beschwörung des mörderischen Hasses im Namen der Liebe. Und genau wie in Lessings »Nathan« geht auch hier aus der Lebenskrise der gewandelte Mensch hervor: »Ich habe die vergangene Nacht dort bei den Toten zugebracht und im Kampfe mit mir selbst gelegen. Die Rache gab mir einen großen, kühnen Gedanken ein. Ich wollte die Krieger aller roten Nationen zusammenrufen und mit ihnen gegen die Bleichgesichter ziehen. Ich wäre besiegt worden. Aber in dem Kampf gegen mich selbst heut in der Nacht bin ich Sieger geblieben.« (50)

Aber kehren wir zu der Dramenhandlung bei Lessing zurück: Das hilflose kleine Wesen, das Nathan von jenem Reitknecht empfangen hat, ist ein christlich getauftes Mädchen, das er jedoch Recha nennt und mit aller Liebe großzieht, indem er es freilich in dem Glauben läßt, seine leibliche Tochter zu sein. Nicht so sehr im jüdischen, als vielmehr in »keinem Glauben« außer dem an die Vernunft läßt er sie heranwachsen. Das wird nun im Drama zum Konflikt, nachdem durch die Indiskretion der Christin Daja, die als Gesellschafterin im Hause


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Nathans lebt, dem Tempelherrn und durch ihn dem Patriarchen bekannt geworden ist, daß hier ein Jude eine Christin der für sie rechtmäßig zuständigen und allein-selig-machenden Kirche entzogen hat. In diesem Zusammenhang schnaubt der Patriarch sein: »Der Jude wird verbrannt!« Aber da der über die intolerante und fanatische Reaktion des Patriarchen erschrockene Tempelherr ihm die genauen Personalien der Betreffenden vorenthält, wird eine Intrige in Gang gesetzt, die das Ziel verfolgt, Recha ihrem Pflegevater Nathan zu entziehen und zwangsweise der rechtgläubigen Kirche einzuverleiben. Daß dies nicht gelingt, Recha ihrem Pflegevater nicht entzogen werden darf, ist das Fazit der äußeren Handlung, deren sinnbildhafte Bedeutung von der inneren Handlung her dadurch untermalt wird, daß der »weise Nathan« dem Sultan im Gleichnis von den drei Ringen sein klassisches Lehrstück von der Toleranz unterbreitet und damit der ganzen Handlung den höheren humanitären Sinn verleiht.

Dies also war das Modell, das dem Autor Karl May vorschwebte, als er seine Geschichte »Eine Befreiung« schrieb, die dritte der unter dem Rahmentitel »Die Rose von Kairwan« im Jahre 1894 veröffentlichten Trilogie. Da finden wir sogleich - unmißverständlich - das hauptsächliche Personal: den Juden und seine schöne Tochter sowie (als die Ich-Figur des Erzählers) den Helden und Retter aus Deutschland, den verwandelten »Tempelherrn«. Ich war von Tripolis nach Mursuk, der Hauptstadt der Provinz Fezzan, gekommen und bei dem reichen, jüdischen Handelherrn Manasse Ben Aharab, an welchen ich gute Empfehlungen hatte, abgestiegen. Er nahm mich mit großer Gastfreundlichkeit auf und that es nicht anders, ich mußte in seinem Hause wohnen und wurde in demselben geradezu wie ein Sohn gehalten. (51) So beginnt die Geschichte, und dieses wie ein Sohn gehalten klingt ja bereits wie ein fernes Echo auf Lessings Schlußszene mit dem Wort Nathans des Weisen an den Tempelherrn:

O meine Kinder! meine Kinder!
Denn meiner Tochter Bruder wär mein Kind
Nicht auch, - sobald er will? (52)

Und es ist ganz nach dem Modell des Nathanschen Haushalts vorgestellt, wenn es in der Mayschen Erzählung heißt: Wie wurde ich


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gebeten, mich zu schonen, mich ja nicht in Gefahr zu begeben! Ich habe auf meinen Reisen viel Güte, viel Liebe gefunden und kann wohl sagen, daß die Erinnerung an dieses gastliche Haus in Mursuk mit zu meinen schönsten gehört. (53) Es ist ein jüdischer Haushalt, der gleich demjenigen Nathans wie eine Insel in einer feindselig gesonnenen andersgläubigen Umwelt existieren muß, von mannigfaltigen Gefahren bedroht, und Manasse war nicht nur reich, sondern auch sehr stolz und lebte außerordentlich zurückgezogen, vielleicht auch aus dem Grunde, weil die Bevölkerung von Mursuk meist aus Muhammedanern besteht, von denen der Jude bekanntlich noch viel geringer als der Christ geachtet wird. (51) Auch Manasse war Wittwer (ganz wie sein Urbild Nathan) und hatte ein Kind, eine Tochter, welche Rahel hieß. Sie mochte, als ich mich bei ihm befand, fünfzehn Jahre zählen, war aber, dem südlichen Klima angemessen, körperlich und geistig nicht nur vollständig entwickelt, sondern sogar vielleicht das schönste Mädchen, welches ich jemals gesehen habe. (54) Nach so großen Lobesworten sollte der Leser wohl erwarten, hier müsse sich nun eine Liebesgeschichte anspinnen; aber dem ist nicht so, und es ist nur eine schwache Erinnerung an die entscheidende Vexation in Lessings »Nathan«, wo der Tempelherr doch so kopfüber zu Recha in Liebe stürzt, daß er Glaubens- und Rassenvorurteil ebenso wie seinen Tempelherren-Eid von sich abwirft, um freilich am Ende zu erfahren, daß Recha seine Schwester ist und sich seine große Leidenschaft in geschwisterliche Sympathie wird verwandeln müssen. Recht enttäuschend übrigens für den Leser oder Zuschauer, wie man zugeben wird, und man möchte dem Autor Lessing noch lange posthum darüber gram sein, daß er unterm Zwang seiner humanen Symbolik die beiderseits so herzhaft und überschwenglich anhebende Romanze so fade enden läßt. Nun, Karl May, wohl in Erinnerung an eigene Leseerfahrung mit Lessings »Nathan«, erspart seinem Leser solche Enttäuschung von vornherein: Es giebt verschiedene Arten von Reichthum. Man kann reich sein an Erfahrung, an Ehren, an Bildung - auch an Geld, und dieser letztere Reichthum hat an sich keinen Werth für mich. Aber dieses Gesicht! Ich unterlasse es, dasselbe zu beschreiben, denn was ich erzähle, soll keine Liebesgeschichte sein, doch auf diesen prächtig gezeichneten Lippen lagerte der Ausdruck stolzer Reinheit und weiblicher Güte, und aus den mandelför


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mig geschnittenen, großen, dunklen Augen leuchtete ein ruhiger, offener, selbstbewußter Blick, welcher erkennen ließ, daß die »Rose von Sokna« auch in Beziehung auf ihren Geist und ihr Gemüth mehr als ein gewöhnliches Mädchen sei. (55)

Was ich erzähle, soll keine Liebesgeschichte sein! So vorgewarnt, wird der Leser sich keinen falschen Erwartungen hingeben. Zwischen Rahel und Karl wird es ebensowenig zum Liebesbund kommen wie zwischen Recha und Curd. Nicht, daß es ohne Liebe und happy end abginge, aber der Erkorene wird ein anderer sein: Richard Forster geheißen, den Kara Ben Nemsi in dieser Geschichte aus böser Gefangenschaft befreit und dessen amerikanisch-deutsche Verwandtschaft mit wohlbekannten May-Figuren aus dem Old-Shatterhand-Part der Erzählungen aufzuklären hier eine ähnliche Rolle spielt wie die Aufdröselung verschlungener Verwandtschaften in Lessings »Nathan«.

Läßt man die typischen Abenteuer des Kara Ben Nemsi, die den ersten Teil der Erzählung anfüllen und als wichtigstes Ergebnis die Befreiung Forsters zeitigen, außer Betracht, so tritt im zweiten Teil das Lessingsche Modell noch deutlicher in Erscheinung. Der mit seinem neuen Freunde Forster von seinem Wüstenabenteuer nach Mursuk zurückkehrende Kara Ben Nemsi findet das gastliche Haus und seinen Besitzer Manasse in schrecklicher Verstörung vor: die schöne Rahel ist entführt worden. Was bei Lessing nur der böse Vorsatz des Patriarchen geblieben, aber nicht zur vollen Ausführung gediehen war, Recha ihrem Vater fortzunehmen und dem »rechten« Glauben gewaltsam zuzuführen -, hier in Karl Mays Geschichte wird es in bezug auf Rahel verwirklicht, mit der Variante nur, daß der Anschlag diesmal nicht von christlicher, sondern von islamischer Seite kommt: Rahel wird von beduinischen Räubern entführt, um in der »heiligen«, allen Ungläubigen verschlossenen Stadt Kairwan gewaltsam dem mohammedanischen Glauben gewonnen zu werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß es auch eine frühere Fassung der Geschichte gibt (56) , in der diese religiöse Problematik ganz fehlte und es sich um bloßes Kidnapping und ein gefordertes Lösegeld handelte; Beweis dafür, daß May, als er die zweite Fassung schuf, ganz bewußt das Modellschema des Lessingschen »Nathan« zum Muster genommen hat.


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Parallel dazu geht die Metamorphose, die der Autor mit der Gestalt seines Juden Manasse vorgenommen hat, der in der ersten Fassung ganz nach dem etwas primitiven Klischee des Handelsjuden gezeichnet, in der zweiten jedoch, wenn auch nicht geradezu ein Nathan, so doch ein in seiner Art edler Mann geworden ist. Ein edler Mann, der sogar seine Weigerung, die Zustimmung zur Glaubensänderung Rahels zu erteilen, mit dem Tode bezahlen muß. Er wird ermordet, kann aber sterbend noch ein Bekenntnis ablegen, durch das die wahre Herkunft seiner angeblichen Tochter enthüllt wird. Hierin zeigt sich die Entlehnung des Motivs von Lessing besonders deutlich, zugleich aber auch die verfremdende Umwandlung, die Karl May ihm hat angedeihen lassen: »Dieser Todte hat im Sterben ein Bekenntniß abgelegt. Er kam als armer Händler nach Dschidda, welches vor Mekka, der Stadt der Propheten, liegt. Dort forderte el Haua el Asfar (57) das Leben vieler Menschen. Manasse Ben Aharab sah auf der Gasse einen Sterbenden mit einem schönen, kleinen Mädchen liegen. Der Sterbende rief ihn zu sich und sagte ihm, daß er ein Nauti (58) aus dem Bilad Fransa (59) sei, das Kind aber sei das Enkelchen eines berühmten Reis (60) , welches er nach dem Bilad Fransa bringen solle, nun aber nicht bringen könne, weil er hier vom Tode überfallen worden sei. Er bat ihn, das Enkelchen nach Suez zum Konsul zu schaffen, und gab ihm ein Gezdahn (61) , welches dem Kinde gehörte. In demselben waren große Geldscheine und einige Papiere in fremder Sprache. Der Nauti starb nach wenigen Minuten; Manasse nahm das Kind und dessen Eigenthum. Er wollte ehrlich sein; aber die Geldscheine siegten über sein Gewissen. Er behielt sie und das Kind und vernichtete die fremden Papiere. In Kairo ließ er sich Gold für die Scheine geben und ging dann mit dem Enkelchen des berühmten Reis erst nach Tunis und dann gar hierher nach Mursuk, weil er glaubte, in dieser abgeschiedenen Gegend könne das, was er gethan hatte, nicht entdeckt werden. Er war dem Enkelchen ein guter Vater, konnte aber nie vergessen, daß er es betrogen hatte. Da nahte plötzlich der Tod, und er ließ mich kommen, um mir dies mitzuteilen. Sein Testament liegt hier in meiner Hand; sein Vermögen gehört der Enkelin des berühmten Reis, welche die Frau des Mannes aus Amirika werden soll.« (62)

So wird es dem von einer ersten Verfolgung der Räuber nach


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Mursuk zurückgekehrten Kara Ben Nemsi berichtet. Die Strukturverwandtschaft zur Lessingschen Dramenfabel ist deutlich: Wie Recha ist Rahel ein Christenkind, wie Nathan hat Manasse den hilflosen Säugling von einem ihm unbekannten Boten empfangen, jener von einem Reitknecht, dieser von einem Matrosen. Hier wie dort werden auch Dokumente mit übergeben, die über des Kindes Abstammung Auskunft geben. Nathan wie Manasse sind ihrer Pflegetochter liebevoll zugetan und ein guter Vater, und beide verheimlichen ihr doch ihre wirkliche Herkunft. Es ist ja übrigens nicht zu übersehen, daß in Lessings Drama gerade diese Verhaltensweise Nathans im moralischen Sinne durchaus problematisch erscheint, und obgleich es im Zuge der Handlung nicht weiter als solches ausgespielt wird (höchstens von der doch durch ihren Fanatismus ins Unrecht gesetzten Partei Dajas und des Patriarchen), so ist es doch wohl ein Verschulden Nathans, wenn er auch die Erwachsene noch in der Täuschung, sie sei seine leibliche Tochter, beläßt. Interessant ist es, wie Karl May diesen bloß als  K e i m  vorhandenen Motivbestandteil aufgenommen und zum gehaltlichen Kern der Sache gemacht hat. Sein Manasse wird wirklich, und in einem nicht nur moralischen, sondern auch rechtlichen Sinne,  s c h u l d i g . Er veruntreut das Geld des Findelkindes und vernichtet die Urkunden. So wird das Ereignis der Kindesübergabe, das für Nathan nach Lessings Interpretation die Metanoia seines Lebens gewesen ist, für Manasse - geradezu umgekehrt - zur Meintat, zum Fehltritt, der als ein lastender Schuldkomplex, als Angst und als Reue, sein ganzes weiteres Leben beschwert hat. Daß solches Schuldgefühl bei Manasse jedoch auch in überkompensierende liebevolle Sorgfalt seinem Pflegekind gegenüber umschlägt, hat Karl May psychologisch richtig gezeichnet. Dies eben unterscheidet Manasse von einem bloßen Betrüger und läßt ihn als einen im Kerne anständigen, akzeptablen Charakter erscheinen. So ist denn sein Tod, den er im tapferen Widerstand gegen konfessionelle Erpressung erleidet, zugleich als Sühne seiner Schuld zu werten, sein Bekenntnis als tätige Reue; und indem sein Testament das mit dem unrechtmäßigen Gut erworbene Vermögen der einstmals Beraubten zufallen läßt, mag auch der materielle Schaden ausgeglichen sein.

Zu den Strukturveränderungen, die May mit dem Modell des


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Nathan-Komplexes vorgenommen hat, gehört auch, daß die Rettungstat, mit der Lessing seine Geschichte eingeleitet hat, vom Anfang in das Ende der Handlung gerückt worden ist: Kara Ben Nemsi, unterstützt von Forster, dem »Mann aus Amirika«, gelingt es, die entführte Rahel mitten aus der verbotenen Stadt Kairwan und aus den Händen fanatisierter Bekehrungseiferer zu befreien, wobei denn - wieder einmal - die Listen und Künste des strahlenden Märchenhelden in einem artistischen Paradestück brillieren.

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Wenn nun auch diese das Surreale streifende Ausstattung seines Ich-Helden mit schier wunderbaren Eigenschaften eine Eigentümlichkeit ist, in der sich die zweifellos pathologische Mythomanie einer defekten Personalität unmißverständlich ausgedrückt hat, so sei hier andererseits eine Beobachtung verzeichnet, die unserer Hypothese, May habe seinen Kara Ben Nemsi dem Lessingschen Tempelherrn nachgebildet und überhaupt Motive aus dem »Nathan« aufgenommen, weiterhin Vorschub leistet. Es handelt sich um das Motiv der  A p o t h e o s e , das Lessing gleich zu Beginn seines Dramas angeschlagen hat, um seinem Nathan Gelegenheit zu geben, daran die Problematik des Wunderglaubens lehrhaft und im Sinne der Vernunft und des Humanismus zu erörtern. Recha »schwärmt«, sie hält den strahlenden Helden, der sie aus den Flammen gerettet hat, für nichts Geringeres als ein göttliches Wesen, das vom Himmel herniedergestiegen sei. Wir ziehen den diesbezüglichen Text hier heran:

DAJA: Vornehmlich Eine - Grille, wenn Ihr wollt,
Ist ihr sehr wert. Es sei ihr Tempelherr
Kein Irdischer und keines Irdischen;
Der Engel einer, deren Schutze sich
Ihr kleines Herz, von Kindheit auf, so gern
Vertrauet glaubte, sei aus seiner Wolke,
In die er sonst verhüllt, auch noch im Feuer,
Um sie geschwebt, mit eins als Tempelherr
Hervorgetreten. - Lächelt nicht! - Wer weiß?
Laßt lächelnd wenigstens ihr einen Wahn,
In dem sich Jud und Christ und Muselmann
Vereinigen; - so einen süßen Wahn!


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NATHAN: Auch mir so süß! - Geh, wackre Daja, geh;
Sieh, was sie macht; ob ich sie sprechen kann. -
Sodann such ich den wilden, launigen
Schutzengel auf. Und wenn ihm noch beliebt,
Hienieden unter uns zu wallen; noch
Beliebt, so ungesittet Ritterschaft
Zu treiben: find ich ihn gewiß und bring
Ihn her. () Macht dann
Der süße Wahn der süßern Wahrheit Platz:
Denn, Daja, glaube mir: dem Menschen ist
Ein Mensch noch immer lieber, als ein Engel -
So wirst du doch auf mich, auf mich nicht zürnen,
Die Engelschwärmerin geheilt zu sehn?

DAJA: Ihr seid so gut, und seid zugleich so schlimm!
Ich geh! - Doch hört! doch seht! - Da kommt sie selbst.

RECHA: So seid Ihr es doch ganz und gar, mein Vater?
Ich glaubt, Ihr hättet Eure Stimme nur
Vorausgeschickt. Wo bleibt Ihr? Was für Berge,
Für Wüsten, was für Ströme trennten uns
Denn noch? Ihr atmet Wand an Wand mit ihr,
Und eilt nicht, Eure Recha zu umarmen?
Die arme Recha, die indes verbrannte!
Fast, fast verbrannte! Fast nur. Schaudert nicht!
Es ist ein garst'ger Tod, verbrennen. O!

NATHAN: Mein Kind! Mein liebes Kind!

RECHA. Ihr mußtet über
Den Euphrat, Tigris, Jordan; über - wer
Weiß für Wasser all? - Wie oft hab ich
Um Euch gezittert, eh das Feuer mir
So nahe kam! Denn seit das Feuer mir
So nahe kam: dünkt mich im Wasser sterben
Erquickung, Labsal, Rettung. - Doch Ihr seid
Ja nicht ertrunken: ich, ich bin ja nicht
Verbrannt. Wie wollen wir uns freun, und Gott,
Gott loben! Er, er trug Euch und den Nachen
auf Flügeln seiner  u n s i c h t b a r e n  Engel
Die ungetreuen Ström hinüber. Er,
Er winkte meinem Engel, daß er  s i c h t b a r 
Auf seinem weißen Fittiche mich durch
Das Feuer trüge - ()
Ich also, ich hab einen Engel
Von Angesicht zu Angesicht gesehn;
Und  m e i n e n  Engel. (63)

Dem  L e s e r  Karl May, dem Phantasten und Mythomanen, muß dieses Motiv von der Apotheose des Tempelherrn, seiner legendären Verklärung zum Himmelsboten, besonders ansprechend und ein


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drucksvoll gewesen sein. Schon die Vorstellung vom  S c h u t z e n g e l , den jeder Mensch habe, mußte da an eine untergründig eingeprägte Bildsymbolik der eigenen Psyche rühren, die ihm, wenn man seinem Bekenntnis folgen darf, von allerfrühester Kindheit her vertraut war. Wenn auch der Aufklärer Lessing solchen Schutzengel-Glauben durch den Mund Nathans keineswegs einfach negieren, sondern ihn als einen auch ihm so »süßen« Wahn bezeichnen läßt, so wird sich sein Schüler Karl May dadurch nur bestätigt gefühlt haben; und wenn es bei Lessing heißt, daß darin geradezu ein Juden, Christen und Muselmann vereinigendes, gemeinsames Glaubenselement vorliege, also doch wohl ein Argument für gegenseitiges Verstehen, für  T o l e r a n z , so verwundert es nicht, daß bei May noch in seinem Spätwerk das Engelmotiv in einem ähnlichen Sinne als Toleranzsymbol erscheint. So in »Und Friede auf Erden«, wo es dient, gegen religiöse und rassische Unduldsamkeit zu argumentieren: Ich hatte eine liebe, alte, gute Großmutter, die sagte mir . . .: »Bilde dir ja nie ein, daß du besser seist als andere Leute! Hinter jedem Menschen, mit dem du sprichst, steht sein Engel. Du kannst ihn nicht sehen; aber er ist da; er sieht alle deine Gedanken, und wenn sie mißwollend sind, so kränkst du ihn. Und bedenke, daß der Engel des Negers genauso licht, so rein und dankbar wie der deine ist!« (64)

Genauer betrachtet, entbehrt  d i e s e  Sinndeutung des Engelsymbols bei Karl May nicht der Originalität, wenn man sich nach Vergleichbarem in der Literatur umschaut: Großmutters Engel ist nicht der aus Gefahren rettende wie der Rechas, nicht Gottes Lob singender Erzengel wie in Goethes Faust, nicht existenzialistische Chiffre der Vollkommenheit wie bei Rilke -, sondern der einem jeden Menschenwesen verordnete Garant und Bürge dessen, daß  a l l e  diese Wesen Gott gleich lieb und wichtig sind, unabhängig von Stand, Rasse oder Religion, ein Symbol also der Humanität und jener Toleranz, die wir Achtung der Menschenwürde nennen. Und zweifellos war denn auch dieser »Wahn« Karl May ebenso »süß« wie Nathan, dem Weisen, und in diesem, keinem anderen Sinne sind die monumentalen Engelsstatuen von der hier zitierten großmütterlichen Reminiszenz her zu deuten, die er heraldisch bedeutsam in »Ardistan und Dschinnistan« aufstellte und die um 1918 den Bildhauer Paul Peterich zu dem »Brunnenengel«


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für den Garten von Karl Mays Villa in Radebeul inspirierten: sie sind nicht Phallussymbole, wie Arno Schmidt gemeint hat, sondern Mahnzeichen humaner Gesinnung, zu der die suchende Menschenseele auf dem Wege ist.

Und weiter: wenn Rechas Wundergläubigkeit in der oben herangezogenen Textstelle aus Lessings »Nathan« den menschlichen Nothelfer, den Tempelherrn, zu einem übernatürlichen Geisterwesen verfremdet, so findet sich hierzu bei Karl May eine nicht uninteressante Analogie. Das Motiv war ja mannigfaltig variierbar, und was dem Tempelherrn recht ist, konnte wohl Kara Ben Nemsi billig sein. An bedeutsamer Stelle, am Ende des Romans »Durch die Wüste«, ist es so weit, daß die Taten des Helden solche sagenhafte Dimension erlangt haben, daß seine Apotheose gleichsam fällig ist: »Erzähle es!« Und der Kurde tat es in folgender Weise: »Mohammed Emin, der Scheik der Haddedihn, saß vor seinem Zelte, um Rat zu halten mit den Ältesten seines Stammes. Da that sich eine Wolke auf, und ein Reiter kam herab, dessen Pferd grad mitten im Kreise der Alten die Erde berührte. »Sallam aaleikum!« grüßte er. »Aaleikum sallah« antwortete Mohammed Emin, »Fremdling, wer bist du, und woher kommst Du?« Das Pferd des Reiters war schwarz wie die Nacht; er selber aber trug ein Panzerhemd, Arm- und Beinschienen und einen Helm aus gediegenem Golde. Um seinen Helm war ein Shawl gewunden, den die Houri des Paradieses gewebt hatten; denn tausend lebendige Sterne kreisten in seinen Maschen. Der Schaft seiner Lanze war von reinem Silber; ihre Spitze leuchtete wie der Strahl des Blitzes, und unter derselben waren die Bärte von hundert erlegten Feinden befestigt. Sein Dolch funkelte wie Diamant, und sein Schwert konnte Stuhl und Eisen zermalmen. »Ich bin der Feldherr eines fernen Landes«, antwortete der Glänzende. »Ich liebe dich und hörte vor einer Stunde, daß dein Stamm ausgerottet werden soll. Darum setzte ich mich auf mein Roß, welches zu fliegen vermag wie der Gedanke des Menschen, und eilte herbei, dich zu warnen.« - » Wer ist es, der meinen Stamm ausrotten will?« fragte Mohammed. Der Himmlische nannte die Namen der Feinde. »Weißt du dies gewiß?« - »Mein Schild sagt mir alles, was auf Erden geschieht. Blicke her!« Mohammed sah auf den goldenen Schild. In der Mitte desselben war ein Karfunkel, fünfmal größer als die Hand eines Mannes, und in diesem


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sah er alle seine Feinde, wie sie sich versammelten, um gegen ihn zu ziehen. »Welch ein Heer!« rief er. »Wir sind verloren!« - »Nein, denn ich werde dir helfen«, antwortete der Fremde. »Versammle alle deine Krieger um das Thal der Stufen und warte, bis ich dir die Feinde bringe!« Er gab hierauf seinem Pferde ein Zeichen, worauf es wieder emporstieg und hinter der Wolke verschwand.« (65)

Hier haben wir denn den wohlbekannten Kara Ben Nemsi verfremdet und verklärt als den »Glänzenden«, den »Himmlischen«, der aus der Wolke kommt und wieder hinter Wolken verschwindet. Aber schaut man sich ihn genauer an, so muß es doch überaus merkwürdig erscheinen, wie er denn da aus dem Himmel herabkommt, angetan nämlich mit Helm, Panzerhemd, Arm- und Beinschienen, bewaffnet mit Schild, Lanze und Schwert: ein leibhaftiger  R i t t e r  aus Kreuzzugszeiten. Kein Zweifel, es ist niemand anders als Lessings  T e m p e l h e r r !

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Spät im Leben, in seinem achtundfünfzigsten Jahre, betrat der Autor Karl May in eigener Person den orientalischen Schauplatz, auf dem er, die Lande auf und ab, sein fiktives Ich, den mythischen Reisehelden Kara Ben Nemsi, seit so vielen Jahren schon auf Abenteuer geschickt hatte. Die Geschichte dieser Orientreise der Jahre 1899 und 1900 und ihrer den Menschen wie den Schriftsteller May so stark aufwühlenden und in seiner Existenz verwandelnden Wirkung ist schon ausführlicher untersucht worden. (66) In  u n s e r e m  Zusammenhang soll daher hierauf nicht näher eingegangen werden, und wir begnügen uns mit der Feststellung, daß die Veränderungen im schriftstellerischen Werk vor allem  z w e i e r l e i  betreffen: einmal die zunehmende Symbolisierung und Allegorisierung seiner erzählerischen Motive, zum andern, dazu parallel laufend, das immer stärkere Hervortreten theoretisch-lehrhafter Elemente. Beide freilich dienen dem gleichen Zweck und Sinn, nämlich jene für den späten May so spezifische  W e l t f r i e d e n s i d e e  zu veranschaulichen, zu der sich bei ihm am Ende die Lessingsche  T o l e r a n z i d e e  ausgeweitet hatte. »Und Friede auf Erden« sowie


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»Ardistan und Dschinnistan« sind in dieser Beziehung wohl die beachtlichsten Dokumente.

Hier interessiert uns - zum Abschluß unserer Suche nach den Spuren Nathans des Weisen - vor allem die Tatsache, daß Karl May am 29. Juli 1899 auch nach Jerusalem kam, der Stadt Saladins und Nathans, Rechas und des Tempelherrn, und dort, mit Unterbrechungen, bis zum 20. August 1899, und wieder vom 7. Mai bis zum 13. Mai 1900 verweilte. Dies und der Ausflug, den er mit seiner Frau und dem Ehepaar Plöhn am 11. und 12. Mai 1900 von Jerusalem nach Hebron unternahm, sind die biographischen Fakten, die er dann einige Jahre später in seiner Novelle »Schamah« (67) als äußeres Handlungsgerüst verwendete. May selbst hat diese Erzählung sehr hoch eingeschätzt, ja sogar in seiner Anti-Pöllmann-Polemik gegen des Paters Angriffe geltend gemacht, er habe mit »Schamah« nicht weniger als einen Schlüssel zur Lösung der orientalischen Frage gegeben. (68) Nun, daß es mit dieser »Lösung« nichts wurde, beweisen uns die unverdrossen weiter veranstalteten orientalischen Blutbäder noch unserer Tage.

Sicherlich ist die Novelle »Schamah«, von diesem überzogenen Anspruch einmal abgesehen, auch sonst im Alterswerk Karl Mays ein besonders wichtiges und interessantes Dokument, bezeugt sie uns doch, daß die Kreuzritterpose des Kara Ben Nemsi, zu der das fiktive »Ich« des Autors sich jahrzehntelang mythologisiert hatte, die ganze pompöse Maskerade des Phantasten, jetzt von ihm abgefallen ist. Zwar ist auch »Schamah« eine Ich-Erzählung, aber das ist nun kein schimmernder Tempelherr mehr, der da durch Jerusalem geht, sondern genau der liebenswürdige, gütige, humorvolle, wohlmeinende ältere Herr, der er wirklich war, ein wenig weise geworden wohl auch, wenn schon kein »Nathan der Weise«, beileibe nicht, aber doch ein kleines Stückchen von ihm, ohne Zweifel. Und man lese nach, wie es diesem Herrn mit dem störrischen Esel ergeht, auf seinem Ausflug nach Hebron, und wie ihm erst der kleine Lausejunge vormachen muß, wie man den reiten soll -, man lese das nach und vergleiche es mit den sagenhaften Künsten des Kara Ben Nemsi noch in der Erzählung »Eine Befreiung«, und man wird ermessen, daß mit diesem seltsamen Menschen und Schriftsteller eine Verwandlung von kaum vorstellbarem Ausmaß vor sich gegangen sein muß, eine tiefe Krise seiner


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ganzen menschlichen und literarischen Existenz. Ausgedrückt hat er dies freilich in der ihm eigenen humoristischen Manier, als ein Stück Komik in der Gestalt des Knaben Thar, der am Anfang der Novelle, der Bedeutung seines Namens - Thar = Rache, Vergeltung - gemäß, mit pompösem Aufwand bunter Maskeraden die Rollen gewaltiger Rächergestalten der jüdischen Geschichte spielt, aber am Ende die Torheiten abtut und zu der Uberzeugung gelangt: »Ein wirklicher Held sein, kein gemalter, falscher!« (69)

Nein, kein Tempelherr und Kara Ben Nemsi, sondern der wirkliche, leibhaftige Karl May streifte da durch die Gassen Jerusalems und machte seine Einkäufe im Bazar und seinen Ausflug nach Hebron. Aber daß er sich da auf klassischem Boden bewegte, auf Lessingscher Szene, daran mußte ihn in der Stadt, in der sie so eng aufeinanderstießen, die latent brodelnde und gelegentlich sichtbar ausbrechende Feindschaft der Religionen erinnern. Die Probleme waren dieselben geblieben. Dies und die familiären Kümmernisse des »judarabischen« Kaufmanns, mit dem er näher bekannt geworden zu sein scheint, inspirierten ihn zu seiner Erzählung »Schamah«. Daß ihm aber dabei, wie schon so oft, auch diesmal Lessings »Nathan« als Modell vorschwebte, ist ganz evident, und insbesondere was den programmatischen Gehalt seiner Geschichte betrifft, das Ideal von Toleranz und Versöhnung, so ist er denn auch mit dem, was der weise Nathan bei Lessing in seiner berühmten Ringparabel ausgedrückt hat, auf das vollkommenste identisch. May hat hier jedoch noch ein weiteres Darstellungsmittel Lessings übernommen. Schon Lessing hatte zur dramatischen Veranschaulichung des Versöhnungsgedankens und des Ideals der Brüderlichkeit den Schluß seiner dramatischen Fabel stark symbolistisch eingefärbt. Dazu dienten ihm die zunächst verborgen gebliebenen, dann Zug um Zug aufgehellten Verhältnisse der Familie Saladins. Saladin - so rekapitulieren wir hier in Kürze - hatte einen Bruder namens Assad, der in seiner Jugend sich in ein Christenmädchen verliebte, die Heimat verließ, sich im Abendland mit seiner Geliebten verheiratete und zwei Kinder mit ihr hatte: Recha und Curd. Assad und seine Frau sind bald gestorben, Recha ist im Zuge kriegerischer Wirren in die Obhut Nathans gekommen und Curd als Tempelherr in die Gefangenschaft Saladins. Das alles wird nun


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aufgeklärt, und wenn sie in der Schlußszene des Dramas innig vereint als eine große  F a m i l i e  auf der Bühne stehen, der jüdische Adoptivvater und seine Adoptivtochter Recha, der christliche Tempelherr als ihr Bruder, der Mohammedaner Saladin und seine Schwester Sittah als beider Onkel und Tante, so symbolisieren sie nach Lessings Willen das, was er als Ideal eines aufgeklärten Humanismus darstellen wollte: Vernunft, Toleranz, Versöhnung, Brüderlichkeit, Frieden.

Eben dieses Modell hat Karl May mit leichter Abwandlung in seine Jerusalemer Novelle übernommen. Wie Saladin hatte auch der mohammedanische Kaufmann Mustafa Bustani einen Bruder, der ein Christenmädchen heiratete, darob von ihm und seiner ganzen Familie verstoßen und enterbt wurde, in das Land hinter dem Jordan ging und dort seit Jahren verschollen ist. Wie Assad hat auch der Verstoßene in seiner christlichen Ehe eine Tochter, Schamah, das heißt: Vergebung. Sie entspricht ihrer Rolle nach also der Recha in Lessings »Nathan«. Hingegen, und das ist die Variante, ist Thar, der dem Lessingschen Curd entspricht, der Sohn Mustafa Bustanis, und Thar und Schamah sind also nicht wie Lessings Curd und Recha Geschwister, sondern Cousin und Cousine. Wir wollen hier nicht auf die Einzelheiten der Handlungsführung eingehen. Sie ist reich mit teils schnurrigen, teils symbolträchtigen und auch mystischen Episoden ausgestattet. Nicht erst als Erwachsene, sondern noch im Kindesalter läßt May den Mohammedaner Thar und das Christenmädchen Schamah in liebevollem Einverständnis zueinanderfinden. Das ist das Ergebnis des Hebron-Ausflugs. Und das Ende der Geschichte ist wie im »Nathan«: die Überlebenden der auseinandergerissenen, lange durch Intoleranz entfremdeten Familie, Thar und sein Vater, Schamah und ihre Mutter, finden sich zusammen und bleiben innig vereint. Schamah hat Thar, die Vergebung hat die Rache überwunden.




1 Veröffentlicht im Karl-May-Jahrbuch 1924 (Radebeul) unter dem Titel »Der »Jugendverderber«. Ein Briefwechsel«.

2 Ebda.

3 So Verf. in: Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde Radebeul 1936, 80 ff. und hieran anknüpfend Gunter G. Sehm, Der Erwählte, in Jb-KMG 1976, 9-28


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4 Karl May, Winnetou III. Ges. Reiseromane, Freiburg (1893), Bd. IX, 474 (Bamberger Ausgabe, Bd. 9, 435)

5 Karl May, »Weihnacht!«. Ges. Reiseerzählungen, Freiburg 1897, Bd. XXIV, 10 f. (Bamberger Ausgabe, Bd. 24, S.13 in etwas anderer Zusammenstellung der Verse).

6 Ebda. S. 51 (Bamberger Ausg., S. 48). Der Urtext dieses Liedes mit dem Titel »Weihnachtsabend« ist neuerdings veröffentlicht in: Jb-KMG 1971, 125 f. Das Lied gehört zu den frühesten literarischen Arbeiten Mays und ist mit ziemlicher Sicherheit schon während seiner Haftzeit niedergeschrieben worden, wahrscheinlich in der Adventszeit 1867 (vgl. Hainer Plaul im Jb-KMG 1975,175, sowie Plauls Aufsatz im vorliegenden Jahrbuch, Fußnote 95)

7 Dies ist die Kernhypothese meiner in Anm. 3 erwähnten Jenaer Dissertation.

8 Karl May, Hinter den Mauern u. a. Fragmente aus der Haftzeit, in: Jb-KMG 1971, 122-143

9 Ebda. S. 129-131

10 Ebda. S. 129

11 Klara May, Die Lieblingsschriftsteller Karl Mays, mit Anmerkungen von Hans Wollschläger, in: Jb-KMG 1970, 152

12 Claus Roxin, Das zweite Jahrbuch, Jb-KMG 1971, S. 8

13 Hier zitiert nach: G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften, mit einem Nachwort von Helmut Thielicke. Stuttgart 1967, Univ.-Bibl. 8968

14 Ebda., S. 7 f.

15 Hierzu »Die Erziehung des Menschengeschlechts« in: Kindlers Literaturlexikon IV, 3228 (Hans W. Henschen)

16 Goethe: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut«.

17 H. Hatzig, Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft (Beiträge zur Karl-May-Forschung, Bd. 2), Bamberg 1967

18 Ebda., S. 109

19 Ebda., S. 111

20 Ebda.

21 Ebda.

22 Der Volksschriftsteller Karl May (wie Anm. 3), S. 53

23 Jb-KMG 1975, 99-101. May besaß den »Laokoon« in einer Sonderausgabe; vgl. Anm. 32

24 Jb-KMG 1976, 86; vgl. Anm. 32

25 Karl May, Die Rose von Kairwan, mit einem Vorwort von Ekkehard Bartsch (Reprint der Ausgabe Osnabrück 1894), Hildesheim-New York 1974, S. IX

26 Nr. 1-5 zuerst erschienen in der von Leopold Gheri herausgegebenen Zeitschrift »Der Kunstfreund« 1906/07, Nr. 6 im KMJb 1920, 65 ff. Heute enthalten in Ges. Werke, Bd. 49 »Lichte Höhen« (Bamberg 1956)

27 Nach Zeitungsberichten referierte Wiedergabe in: Ges. Werke, Bd. 34 »Ich«, 11.-20. Auflage (Radebeul 1931-1942). May hielt diese Rede am 18. Okt. 1908 zu Lawrence/USA.

28 Karl May, Mein Leben und Streben I, Freiburg (1910). Reprint dieser einzigen ungekürzten Auflage herausgegeben, eingeleitet und ausführlich kommentiert von Hainer Plaul, Hildesheim-New York 1975

29 Jb-KMG 1970, 52 ff.; in bearbeiteter Fassung enth. in Ges. Werke, Bd. 34 »Ich« (Radebeul und Bamberg)

30 Zitiert nach Ges. Werke, Bd. 72 (Bamberg 1968), S.286. Ich verdanke den Hinweis auf diese Stelle Claus Roxin.

31 Hier zitiert nach: G. E. Lessing, Werke in 2 Bänden, hsg. v. Paul Stapf, Tempel-Klassiker, Berlin-Darmstadt 1961, 1. Bd., S. 863

32 Jb-KMG 1970, 149-151. Klara May verweist in diesem Aufsatz auch auf den Bestand der Bibliothek Karl Mays. Zur Frage, inwieweit May Lessing wirklich


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gekannt und gelesen haben kann, dürfte die Tatsache einige Beweiskraft haben, daß sich in seinem Besitz die folgenden Werke befanden:
G. E. Lessing, Werke, 6 Bde., Dresden, Schreibmüller (o. J.); G. E. Lessing, Sämtliche Lyrische, epische und dramatische Werke und seine vorzüglichen Prosaschriften, Leipzig (o. J.); G. E. Lessing, Laokoon, Stg. 1873; Moderne Klassiker, Bd. 47: Lessing, Kassel 1854; ferner insgesamt 7 literaturwissenschaftl. Gesamtdarstellungen mit Kapiteln über Lessing (vgl. KMJb 1931, 270 f., 274).

33 Jb-KMG 1970, 154

34 Ich verdanke dieses Zitat einer Mitteilung von Ekkehard Bartsch.

35 Ähnlich äußerte sich H. Hatzig schon 1966 in den (maschinenschriftlichen) »Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft Karl-May-Biographie«: »Man wende . . . nicht ein, daß das Klaras, aber nicht Karls Meinung sei. Klaras Tagebuch ist ein getreuer Spiegel von Karls Seele. Da, wo sie sich eine eigene Meinung erlaubt, hat sie es ausdrücklich vermerkt.«

36 Nachdruck aus der Wiener »Freistatt« (1910) in: Jb-KMG 1976, 230-272

37 Moses Mendelssohn (1729-1786) bedeutender Vertreter der Aufklärungs-Philosophie, seit 1742 in Berlin, seit 1754 mit Lessing befreundet, der ihn zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit ermunterte.

38 Wie Anm. 28, S. 139

39 Waldröschen als Weltbild, in: Jb-KMG 1971, 17-38, bes. 30 ff.; Die Reise ins Innere, in: Jb-KMG 1975,11-33; Die Affäre Stollberg, in: Jb-KMG 1976,171-190

40 Lessing, Nathan, a. a. O. 888 (3. Aufzug, 5. Auftritt)

41 Karl May's Gesammelte Reiseromane, Bd. I, Freiburg (1892), S. 1

42 Lessing, Nathan, a. a. O. 834 (1. Aufzug, 1. Auftritt)

43 Hartmut Kühne, Karl Mays »Ölbrand«, in: Jb-KMG 1970, 258-262

44 Karl May, Der Ölprinz, zitiert nach: Frohe Stunden, II. Jg. (1877), Nr. 10, 174 f. (Reprint der KMG)

45 Wie Anm. 25, darin: »Eine Befreiung«

46 Lessing, Nathan, a. a. O. 925 (4. Aufzug, 7. Auftritt)

47 Karl May, Winnetou I, Ges. Reiseromane, Freiburg (1893), Bd. VII, 497 (Bamberger Ausg., S.460)

48 Ebda., S. 489 f. (Bamberger Ausg., S. 461)

49 Ebda., S. 499 (Bamberger Ausg., S. 462)

50 Ebda., S. 551 (Bamberger Ausg., S. 506)

51 Wie Anm. 25, S. 242. »Eine Befreiung« ist ebenfalls nach dem Text der Originalausgabe, doch mit angepaßter Orthographie, enthalten in: Karl May, Der große Traum, hrsg. von E. Heinemann und H. Stolte, dtv (Nr. 1034), München 1974

52 Lessing, Nathan, a. a. O. 950 (5. Aufzug, 8. Auftritt)

53 Karl May, Die Rose von Kairwan, a. a. O. 245

54 Ebda., S. 242 f.

55 Ebda., S. 244

56 Karl May, Die Rose von Sokna, in: Deutsche Gewerbeschau, Okt./Nov. 1878 Mühlhausen/Thür.; nachgedruckt in der Zs. Die Heimat, Wien 1881, unter dem Titel »Ein Wüstenraub«, in dieser Fassung jetzt in den Ges. Werken, Bd. 71 (Bamberg 1967)

57 Cholera (Anm. K. Mays)

58 Matrose (Anm. K. Mays)

59 Frankreich (Anm. K. Mays)

60 Kapitän (Anm. K. Mays)

61 Brieftasche (Anm. K. Mays)

62 Karl May, Die Rose von Kairwan, a. a. O. 333 f.

63 Lessing, Nathan, a. a. O. 835 f. (1. Aufzug, 1./2. Auftritt)

64 Karl May, Und Friede auf Erden. Ges. Reiseerzählungen, Bd. XXX (Freiburg 1904),


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203 f. (Zitat unverändert auch in Ges. Werke, Bd. 30, hrsg. von R. Schmid und H. Wollschläger, Bamberg 1959, S. 185)

65 Wie Anm. 41, S.630 f. (Bamberger Ausg., S.567 f.). Auf das Bemerkenswerte dieser Textstelle hat soeben in einem anderen Zusammenhang auch Gunter G. Sehm in seinem Aufsatz »Der Erwählte« (in Jb-KMG 1976, 22 f.) aufmerksam gemacht.

66 Vgl. H. Wollschläger und E. Bartsch, Karl Mays Orientreise 1899/1900, in: Jb-KMG 1971, 165-215

67 Erstdruck: Efeuranken, Regensburg, Jg. 18 (1907/08), H. 1-6; ferner in: Donau-Zeitung, Passau, 18. 8.-9. 10. 1908; erste Buchausgabe in der »Bibliothek Saturn«, Bd. 7 (Stuttgart 1910). Hier zitiert nach dem ersten unbearbeiteten Nachdruck in: Karl May, Der Große Traum, München 1974 (dtv 1034), 170-240.

68 So in: Karl May, Auch »über den Wassern« (1910); unveränderter Nachdruck in: Jb-KMG 1976, 260

69 Karl May, Der Große Traum, a. a. O. 225


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