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MARTIN LOWSKY

Problematik des Geldes in Karl Mays
Reiseerzählungen



I

Von Schätzen ist häufig die Rede in Karl Mays Erzählungen, nicht nur in der vom »Schatz im Silbersee«, einem der meistgelesenen Bücher Mays, wo das Schatzmotiv gleich zweimal im Titel anklingt. In der Höhle der Mixtecas und im Turm zu Babel, in den Kordilleren und in den Ardennen, in der Mapimi und am Nugget-tsil wird nach Schätzen gejagt. Das Motiv der Schatzsuche eignet sich vortrefflich für die Komposition einer Abenteuererzählung: auf den magisch funkelnden Schatz hin lassen sich alle Aktionen der auftretenden Personen ausrichten, er kann die Bösen von den Guten nach ihrer Einstellung ihm gegenüber trennen, der Kampf um ihn hält die Romangestalten und die Leser in Spannung. Gerade die »Silbersee«-Erzählung zeigt, wie geschickt es May versteht, den Schatz Schritt für Schritt als leitendes Element in die Handlung einzubauen, durch mehrere Nebenhandlungen den Leser davon ab- und dann wieder hinzulenken, um schließlich - am Silbersee - alle Fäden zeitlich und örtlich zusammenzuführen. Die Begeisterung des Lesers wird freilich nicht nur durch die Struktur der Erzählung, die auf ein zentrales Motiv aufbaut, geweckt und aufrechterhalten, auch dieses Motiv selbst, der Schatz, übt als solches seine Faszination aus: der Leser wird in seinen Wunschvorstellungen nach Reichtum in Hülle und Fülle angesprochen. Und wie ist es beim Autor? Hat er das Schatzmotiv nur deshalb so häufig gewählt, um die erzähltechnischen Vorteile auszunutzen und auf die Wunschvorstellungen seiner Leser einzugehen, oder haben ihn auch eigene Wunschvorstellungen dazu bewogen?

Mays Biographie gibt eindeutig Antwort, doch ehe wir sie heranziehen, sei an einen anderen Motivkreis erinnert: die reichen Leute in Mays Werk. Mays Ich-Held hat oft steinreiche Leute - David Lindsay, John Raffley, Emery Bothwell - zur Begleitung, deren unerschöpfli-


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chen Geldbeutel ihm für den Fortgang der Reise die materiellen Hilfsmittel verschaffen. Ob Kleider in Kurdistan, Hotelunterkunft auf Ceylon oder Reitpferde im Wilden Westen, Lindsay, Raffley und Bothwell bezahlen alles. Die reichen Begleiter lassen den Helden freier schalten und walten, als es ihm mit seinen eigenen bescheidenen Mitteln möglich wäre, und stellen dadurch ein wichtiges Strukturelement im Aufbau der Erzählungen dar. Diese Rolle der Reichen als Helfer der Helden ist mindestens ebenso bedeutsam wie ihre oft genannte Rolle als komische Figuren, die durch ihr ungeschicktes Verhalten Komplikationen und neue Abenteuer erzeugen. Die große Bedeutung der finanziellen Mittel im Ablauf der Erzählung macht deutlich, wie wichtig dem Autor die Frage nach dem Geld ist. Indem Karl May schildert, wie dem Helden Geld zur Verfügung gestellt wird, macht er in geradezu dynamischer Weise sichtbar, daß er selbst sehnsüchtig von solchem Geld geträumt hat. Auch malt May gerade die Situationen, in denen die Reichen ihr Geld vorweisen, sehr breit aus. Man denke nur an die ausladenden Szenen, in denen Lindsay Trinkgelder verteilt(1), oder an Lindsays unablässiges »Bezahle gut, sehr gut!«(2), das leitmotivisch diese Gestalt begleitet. Weitere Stellen zeigen, daß der Wunsch nach Geld bei May ständig präsent ist. Gastwirte erblassen vor Ehrfurcht oder Neid, wenn Westmänner mit purem Gold bezahlen, und arme Leute empfangen voller Glück das Geld, das Kara Ben Nemsi Verbrechern abgejagt hat. Passagen, in denen Bedürftige das bitter benötigte Geld geschenkt bekommen, finden sich vor allem in Mays Kolportageromanen: Eduard steckte das Geld ein, ergriff beide Hände des Gebers und sprach, indem ihm die Thränen in großen Tropfen über die Wangen rannen: » . . . Gott hat Sie uns gesandt, wie er früher seine Engel sendete.«(3) Sogar in der Selbstbiographie spürt man Mays Sehnsucht nach der klingenden Münze, wenn er die letzten Taler seiner Mutter nicht nur erwähnt, sondern sie ganz unvermittelt gleichsam vor den Augen des Lesers hinzählt: Sie legte ihm den Beutel vor. Er öffnete ihn und zählte. Es waren sechzig harte, blanke, wohlgeputzte Taler. Darob großes Erstaunen!(4) In fast allen Mayschen Erzählungen wird der Problemkreis Geld angeschnitten, und zwar so, daß - so können wir nun sagen - Wunschvorstellungen Mays dabei sichtbar werden.

Die grundlegende Erklärung hierfür liefert das soziale Milieu, in dem May aufgewachsen ist, das Weberelend im Erzgebirge des vorigen Jahrhunderts. May hat in seiner Kindheit und Jugend bitterste materi-


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elle Not kennengelernt, er mußte unter Hunger und Krankheit leiden. Wir erahnen die Intensität, mit der er sich aus diesem Milieu herausgesehnt hat. Diese Sehnsucht ist in sein Werk eingegangen, und zwar besonders augenfällig in den Szenen, wo Geld gesucht, verschenkt oder bezahlt wird: ganz einfach Geld steht hier im Zentrum. May hat ja bereits in den ersten Erfahrungen seiner Jugend gelernt, daß das Vorhandensein einer hinreichend großen Geldsumme die unabdingbare Voraussetzung für ein besseres Leben ist: Mays Mutter hat Geld aus einer Erbschaft für ihre Hebammenausbildung verwendet, und Mays Vater hat mit derselben Geldquelle einen Taubenhandel eröffnet.(5) Freilich waren es nur kleine Schritte zu einer Verbesserung - die beim Vater sogar mißlangen -, doch auch diese wären ohne das ererbte Geld nicht möglich gewesen. May hat frühzeitig diese Erkenntnis gewonnen: nicht sein Wollen entscheidet darüber, ob der im Elend Geborene die gesellschaftlichen Schranken überwinden kann, auch nicht sein Fleiß, denn selbst die unermüdlichste Arbeit liefert bestenfalls das Existenzminimum; der Aufstiegswillige kann nur dann erste Schritte aus dem Elend tun, wenn dank glücklicher Fügungen von außen Geld an ihn herangetragen wird. May hat seine Sehnsüchte nach einer besseren Welt ganz konkret fassen müssen: im Wunsch nach Geld.

Dabei sind es nicht nur die körperlichen Entbehrungen, die die Sehnsucht nach einem besseren Leben wecken. Es sind auch der Schmutz und die Beengtheit zu sehen, in denen die Armen ihr Leben fristeten, das ihnen buchstäblich ekelhaft erscheinen mußte. In seiner Selbstbiographie hat May zwar den Hunger und die Krankheiten erwähnt, die mangelnde Hygiene aber nur so weit angedeutet, wie es ihm die Peinlichkeit der Erinnerung gestattete. In fast amüsanten Worten(6) schildert er einen Tümpel hinterm Haus als einen Spielplatz seiner Kindheit und beschreibt sein kindliches Unverständnis über die polizeilich angeordnete Beseitigung des Tümpels. Unter der Oberfläche der humorvoll-naiven Schilderung wird das Elend dieses Lebensraumes fühlbar und sogar deutlich sichtbar in dem Wort vom Pest- und Cholerapfuhl(7), das May dem Bezirksarzt in den Mund legt. Bei der Darstellung der Ernstthaler Stammtischrunde heißt es: Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging von Hand zu Hand, von Mund zu Mund.(8) In den Kolportageromanen sind die Schilderungen detaillierter und greller, dort tritt der Ekel vor diesen Zuständen kraß


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hervor. Da essen Arme einen Kartoffel- und Runkelrübenbams . . . ein Zeug, dem man es gar nicht ansehen konnte, was es eigentlich war(9), da herrscht in einer Hinterhofwohnung ein fürchterlicher Duft, ja geradezu Gestank, den der Gesichtskrebs einer Frau verursacht(10).

Doch nicht nur Hunger, Siechtum, Beengtheit und Schmutz kennzeichnen dieses Milieu. Ein Weber hatte mehr als 80 Stunden in der Woche zu arbeiten, um für seine Familie auch nur den notwendigsten Lebensunterhalt - und oft reichte es nicht einmal zu diesem - zu verdienen. Dabei war die Möglichkeit, zu Arbeit und damit wenigstens zu einem kärglichen Lohn zu kommen, keineswegs immer gegeben, da oft die Aufträge ausfielen. Zu der Erschöpfung nach der täglichen angespanntesten Arbeit kam stets die Sorge um die nächste Zukunft. In diesem Kampf um das materielle Existenzminimum mußten die Eltern ihre Kinder vorrangig als schwere Belastung empfinden. Ja, sie mußten sie, wenn auch meist unbewußt, hassen. Wir zweifeln nicht daran, daß auch unter solchen Lebensbedingungen Eltern bereit sind, ihre Kinder zu lieben. Doch hat die bewußte Willensanstrengung, dem Kinde Liebe entgegenzubringen, immer mit der von außen diktierten entgegengesetzten Gefühlshaltung zu kämpfen. Karl May hat diesen Haß erfahren bei seinem Vater, der in der Wut auf die Kinder losschlug: wenn sein Vater arbeitete, waren wir in steter Angst, ihn zu erzürnen. Dann wehe uns! Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte »birkene Hans«, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im großen »Ofentopfe« einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen.(11) Karl May hat noch mehr Haß erlebt, als diese eine Stelle andeutet. Wir müssen sie im Zusammenhang mit einer Elendsschilderung aus dem »Verlorenen Sohn« sehen. Da will ein Schausteller einer blutarmen und verschuldeten Familie den vierjährigen Sohn abkaufen. Der Vermittler dieses Handels bringt dem Jungen eine Zuckertüte mit und fragt ihn, ob er mitkommen wolle. »Ja«, antwortete natürlich(!) der Junge, indem er ein Stück des Inhaltes in den Mund schob. Und auch die Eltern sind schließlich einverstanden: »Na, dann in Gottes Namen. Der Junge ist uns zwar an's Herz gewachsen, aber die Noth ist groß; er wird nicht länger zu hungern brauchen . . . «(12) Eltern und Kind werden so von der materiellen Not bedrängt, daß sie für Geld und Süßigkeiten sich voneinander abwenden und die familiären Beziehungen auflösen.


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Das Kind tritt, wie der weitere Verlauf des Romans zeigt, einen Leidensweg an. Karl May beschreibt damit nichts anderes als den Verfall der gemeinhin geforderten Tugenden Menschlichkeit, Nächstenliebe, Familiensinn unter den Bedingungen äußerster materieller Not, er schildert, wie aus materieller Not seelische Not erwächst. In seiner Lebensbeschreibung hat er diesen Zusammenhang durch sein Märchen von Sitara gleichnishaft-allgemein formuliert. Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, sagt er, nachdem er Ardistan als das Land der Gewalt- und Egoismusmenschen bezeichnet hat, und bevor er die materielle Not in seiner Familie beschreibt.(13) Diese Stelle belegt unzweifelhaft, daß May die seelische Not - das Leidenmüssen unter Gewalt und Egoismus - im Milieu seiner Herkunft als Folge des wirtschaftlichen Elends erkannt hat. Mays Streben nach einer materiellen Besserstellung, seine Sehnsucht nach Geld, schloß in sich immer auch den Wunsch nach Befreiung von psychischer Not, nach einem Leben unter humanen Bedingungen ein.


II

Einige immer wiederkehrende Motive im Werk haben uns auf die Bedeutung des Geldes in Mays Denken und Fühlen hingewiesen. Wir versuchen, die Reiseerzählungen unter diesem Gesichtspunkt zu untersuchen. Dem Kinde May hat sein Pate Reiseabenteuer erzählt.(14) Hier haben wohl Mays erste Träume von der Ferne und von einer anders gearteten Gesellschaftsordnung eingesetzt, in der man frei und glücklich leben kann. Mays Wilder Westen gibt diese Träume am deutlichsten wieder. Da leben Indianer und Westmänner, die ihre Bedürfnisse direkt und auf natürliche Weise befriedigen. Sie stillen ihren Hunger, indem sie sich Wild schießen, sie haben zwischenmenschliche Kontakte, indem sie sich Zeit für gemeinsame Abenteuer nehmen, sie lassen keine Unterdrückung aufkommen, indem sie nur Können und Wissen als Führerqualitäten gelten lassen. Man hilft dem in Not Geratenen, man gewährt dem Reisenden Gastfreundschaft, man teilt seine Habe mit dem Gefährten - eine Bezahlung gibt es nicht. Diese andere Gesellschaft kennt keine sozialen Schranken und keine aufgezwungenen Vorgesetzten. Das Entscheidende an ihr ist, daß in ihrem Aufbau das Geld fehlt: alle ihre anderen wesentlichen Eigen-


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schaften ergeben sich aus dieser einen. Denn in einer Gesellschaft, in der es kein Geld gibt, gibt es auch keinen Geldmangel und damit weder materielle noch seelische Nöte. Seine Erfahrung in der vom Geld beherrschten Umwelt verwendete May, wenn auch nicht immer bewußt(15), für die Konstruktion des Abenteuerraumes. Auf den ersten Blick muß Armut nach Oel-Willenborg als »durchgängige(s) Verhaltensmuster«(16) der Westmänner erscheinen, doch trifft dies nicht den Kern. Da Mays Wilder Westen in seiner Grundkonzeption kein Geld kennt, gibt es in ihm weder Armut noch Reichtum. Diese Begriffe sind auf den Westmann nicht anwendbar (solange er im Westen bleibt), er lebt nicht in Armut, sondern, wie Oel-Willenborg an anderer Stelle sagt, »in völliger "Wirtschaftsenthobenheit"«.(17) Das Fehlen des Geldes ist ebenso charakteristisch für Mays Freiraum, wie die Ausrichtungen am Geld charakteristisch ist für die zeitgenössische Zivilisation.

Immer wieder beispielhaft dargestellt wird dieser Antagonismus, wenn May die beiden Welten sich berühren läßt. In den Szenen, in denen der Westmann die Zivilisation aufsucht, kommt regelmäßig das Geld zur Sprache. So will sich Old Shatterhand nach abenteuerlichen Ritten in einem Store mit Kleidung und Munition eindecken. Die Nähe des Ladens, also der Zivilisation, kündigt sich durch zwei Männer an, von denen der eine (Harry) nach einem Wettritt meint: »Ihr seid außerordentlich gut beritten, Sir. Ist Euch der Hengst nicht feil?« Unabhängig hiervon sagt wenig später der andere (Forster): »Ich werde Euch das Pferd abkaufen, was kostet es?« Das Feilschen im Laden schließt diese Szenen ab.(18) Ebenso ist sofort vom Geld die Rede, als Old Shatterhand zum ersten Mal aus dem Westen zurückkehrt: er will sich seinen Arbeitslohn für seine Feldmessertätigkeit abholen.(19) Die Gasthäuser sind häufig Berührungspunkte zwischen diesen beiden Welten, und fast immer nennt May, wenn sein Held in ihnen übernachtet, die Logierkosten. Durch einen kurzen Dialog zwischen Winnetou und einem Wirt werden die am Geld verhaftete Zivilisation und die menschlichere, weil geldfreie Abenteuerwelt einander gegenübergestellt: »Was willst du hier in meinem Hause?« - »Gieb mir Brot zu essen und Wasser zu trinken!« . . . »Hast du Geld?« - »Wenn du in mein Wigwam kämst und um Speise bätest, würde ich sie dir ohne Geld geben.«(20) Meist kommen Konflikte auf den Helden zu, wenn er sich der Zivilisation nähert, wobei gerade Geld die Hauptrolle spielt. Bei dem


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erwähnten Pferdehandel gerät der Held in Mißkredit und wird als Coyote beschimpft.(21) Der erwartete Arbeitslohn wird ihm nur teilweise ausbezahlt; dabei hat er das Gefühl ärgerlicher Enttäuschung, denn die Arbeitgeber bezahlten . . . nur einen und steckten das Honorar der vier übrigen in ihre Taschen.(22) In den Gasthäusern geht es zumeist unsauber und unehrlich zu. Sauberkeit und Ehrlichkeit herrschen dagegen dort, wo die Übernachtung kein Geld kostet, also vor allem in den Lagern der Westmänner, aber auch vereinzelt bei uneigennützigen Gastgebern, etwa Mutter Thick (» . . . ich lasse mich partout nicht bezahlen«(23)). Auch in Mays Orienterzählungen findet sich die Gegenüberstellung der von Geld freien Gesellschaft der »Wilden« und der vom Geld beherrschten Zivilisation. In Gestalt der korrupten Beamten, die Steuern und Bestechungsgelder einziehen, wird sie mit der Welt der freien Beduinen konfrontiert, wo Gastfreundschaft und Freigebigkeit herrschen.

Eine exemplarische Schilderung des Zusammenpralls der beiden Welten liefert May mit den Ereignissen um Nscho-tschis Tod. Das Indianermädchen will die Zivilisation der Weißen aufsuchen; folgerichtig führt sie ihr Weg zuerst zu einem Goldversteck, wo sie sich mit dem nötigen Zahlungsmittel versorgen kann. Dabei trifft sie auf einen Vertreter der Zivilisation, einen geldgierigen Tramp, der sie des Goldes wegen ermordet. May will diese eine Untat als Musterfall für die Gesamtheit der Verbrechen verstanden wissen, die die Gesellschaft der Weißen an den Indianern begeht: »Er (Nscho-tschis Mörder) hat gehandelt als Sohn jener bleichen Rasse, die uns Vernichtung bringt«(24), sagt Winnetou. Da Geldgier das Handlungsmotiv dieses repräsentativen Einzelfalls war, muß, wenn wir Mays Andeutungen konsequent weiterführen, Geldgier auch die treibende Kraft bei der Vernichtung der Indianer durch die Weißen sein. Das Verhaftetsein am Geld erscheint damit als das Hauptübel der Zivilisation. Die vehemente Anklage der Indianerausrottung gereicht May zu großer Ehre, weil sie trotz aller Realitätsbezogenheit für einen Abenteuerschriftsteller keineswegs selbstverständlich war und ist. Neben den humanen Impulsen, die May zu einem Anwalt der Indianer gemacht haben, entdecken wir auch eine Quelle hierfür in Mays persönlichen Sehnsüchten. Die Verteidigung der Indianer ist für ihn notwendig, um weiterhin für seinen Traum von einer besseren Gesellschaft die reale Grundlage, nämlich die Welt der Indianer, zu haben.


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Die geldgierigen Tramps sind die Agenten der Zivilisation, die den Wilden Westen durchsetzen und zu vernichten versuchen, doch sie sind es nicht allein. May spricht von Gesindel und zählt zu diesem nicht etwa nur moralisch verkommene Menschen, sondern von ihm werden auch ein Millionär, ein Bankier, ein Offizier, ein Advokat, meinetwegen auch der Präsident der Vereinigten Staaten selbst als Gesindel angesehen, wenn sie den Lebensraum des Wilden Westens durch rücksichtsloses Verhalten zerstören.(25) Mays Helden wollen den Freiraum erhalten; ihre Auseinandersetzungen mit dem Gesindel stellen die Mehrzahl der Mayschen Abenteuer dar. Das letzte Ziel der Verbrecherjagden bei May ist nicht die Bestrafung des Einzelnen, sondern der Kampf gegen die Zersetzung des Freiraumes. So ist ein häufiges Motiv, daß die Westmänner die von Weißen gegeneinander aufgehetzten Indianerstämme zum Friedensschluß bewegen. Nicht realisieren die Helden in ihrem Freiraum das Prinzip des Obrigkeitsstaates, wie Gert Ueding meint(26), denn wer im Wilden Westen Unrecht tut, ist nicht notwendig ein Verbrecher im Sinne des Obrigkeitsstaates. Vielmehr sorgen die Helden dafür, daß die Zivilisation und die dort herrschende Obrigkeit - auch der Präsident der Vereinigten Staaten selbst - diesem Freiraum fernbleiben.


III

Die Entbehrungen seiner Kindheit und Jugend haben May zu dem Traum von einer Gesellschaft ohne Geld geführt, doch nicht nur zu diesem. In den meisten seiner Werke schildert May reiche Leute, die mit ihrem Geld Gutes tun. Kara Ben Nemsi schätzt es, um sich und dem Leser von den Abenteuern des Freiraumes Erholung zu verschaffen, bei wohlhabenden Gastfreunden abzusteigen. Seitenweise beschreibt May das Haus des reichen Kaufmanns Jacub Afarah, wo Kara Ben Nemsi allen erdenklichen Komfort genießt: Wir waren kaum eingetreten und hatten uns gesetzt, so erschien ein hübscher Knabe mit einem Becken voll glühender Holzkohlen, um die Pfeifen in Brand zu stecken . . . Wir rauchten und tranken schweigend fort . . . war uns bereits mit unbegreiflicher Schnelligkeit ein Bad bereitet worden . . . Als wir dem Bade entstiegen waren und uns umgekleidet hatten, kehrten wir als vollständig neue Menschen nach dem Selamlik zurück. May faßt zusam-


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men: Das war eine wirklich morgenländische Gastfreundlichkeit, deren Wert ich dankbar erkennen mußte.(27) Was May hier dankbar anerkennt, ist ganz allgemein der materielle Wohlstand, wo Nahrung im Überfluß, gesunde Sauberkeit und großangelegte Wohnungen vorhanden sind, also all dies, was er lange entbehrt und auch in den Jahren, als er diese Reiseerzählung schrieb, noch nicht zur Verfügung hatte. Auch außerhalb des Abenteuerraumes gibt es Punkte, wo sich Mays Helden wohlfühlen. May schuf nicht nur einen vom Geld unberührten Freiraum, sondern er bezog in seine Phantasie-Reisen auch die soziale Wirklichkeit, die vom Geld beherrscht wird, mit ein. Da May den Verfall der menschlichen Tugenden in der materiellen Not erlebt hatte, sah er im materiellen Reichtum die Grundlage, auf der sich erst Menschlichkeit entwickelt. Folgerichtig sehnte er sich, wenn er in seiner Phantasie die Gesellschaft, in der er lebte, nicht verließ, nach der Atmosphäre eines reichen Hauses. Mays Sehnsucht nach einem besseren Leben ließ ihn von einem Milieu träumen, wo das Geld im Überfluß vorhanden ist. Dort, wo keine Sorgen um die leiblichen Bedürfnisse die Menschen unter Druck halten, findet Kara Ben Nemsi Freundschaft, Freigebigkeit und die Freiheit, zu tun und zu lassen, was er mag.

Anders als in seinem Freiraum, in den er von vornherein die Institution Familie nicht mit hineingenommen hatte(28), führt er in den wohlhabenden Häusern ein harmonisches Familienleben vor, so wie es sich im Armenviertel seiner Erfahrung nach schwerlich entwickeln kann. In der eben genannten Kaufmannsvilla läßt May Vater und Tochter sich in gegenseitiger Liebe begrüßen, wobei auch die Freigebigkeit herauszuhören ist: »Allah vergolde dein Kommen, mein Vater!« grüßte sie. Er drückte sie herzlich an sich und sagte: »Geh zur Mutter und sage ihr, daß Gott mein Haus mit teuren Gästen segnet.«(29) Auch in den anderen reichen Häusern, wo Kara Ben Nemsi Gastfreundschaft genießt, beschreibt May intakte familiäre Beziehungen. Dabei steht häufig der Sohn des Hauses im Mittelpunkt, dem die Sorgen der Eltern gelten. Im Hause Latréaumont wird Kara Ben Nemsi durch den brillant eingerichteten Salon in das Familienzimmer geführt, wo ihm der Hausherr von dem Überfall auf seine Handelskarawane berichtet: »Der Verlust der Güter ist zu verschmerzen, aber Rénald, mein Sohn, mein einziger Sohn . . . ist nicht zurückgekehrt!«(30) Wir haben hier das Gegenstück zu dem Kindeshandel im »Verlorenen Sohn«. Dort zwingt die materielle Not die Eltern, sich von ihrem Kind loszusagen, hier in der Wohlha-


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benheit verzichtet man gern um seines Kindes willen auf materielle Güter. Die materiellen Bedingungen bestimmen das Verhältnis zwischen Eltern und Kind; Reichtum sichert dem Kind die Liebe seiner Eltern. Es fügt sich in dieses Bild gut ein, daß Rénald, anders als das verkaufte Kind, noch gerettet wird.

Zwar gibt es bei May auch arme Leute mit harmonischem Familienleben, doch nirgends wird es so liebevoll ausgemalt wie in den reichen Häusern. Hier erscheint die Familie als eine über Generationen hinweg gefestigte und durch den materiellen Besitz souverän aufrechterhaltene Ordnung, als eine autarke Einheit, die auf die Gunst der Umwelt nicht angewiesen ist. Die Kinder sind nicht mit Mühe zu versorgende Wesen, sondern ihnen wird von klein an eine Individualität zugestanden, in ihnen sehen die Eltern ihre Erben und Nachfolger, auf sie wartet schon früh eine Lebensaufgabe, die Teil ist einer ganzen Familiengeschichte.(31) Karl May hat sich nach solchen Familienverhältnissen gesehnt. Die herzliche Aufnahme, die Kara Ben Nemsi in reichen Familien findet, ist die Darstellung von Mays Wunsch, dort der Sohn des Hauses zu sein. Er sagt es deutlich: der Handelsherr Manasse Ben Aharab nahm mich mit großer Gastfreundlichkeit auf und that es nicht anders, ich mußte in seinem Hause wohnen und wurde in demselben geradezu wie ein Sohn gehalten.(32) So faszinierend May seinen Freiraum auch schildern konnte, er hat sich in seinen Wunschvorstellungen keineswegs nur von ihm und seinen Idealen leiten lassen; immer wieder kehrt die Phantasie aus diesem Freiraum in die Realität zurück, wo man auch gut leben kann, wenn man nur reich ist.

Reiche Leute gibt es auch unter den Reisegefährten der Mayschen Helden. Zum Teil sind es Nebenfiguren, die - wie Lord Castlepool (im »Schatz im Silbersee«) - ihr Geld in Reisen anlegen, aber in dem bereisten Raum nicht selbst aktiv handeln, sondern sich passiv von den Helden hindurchführen lassen; sie »verhalten sich dem Abenteuer gegenüber als Touristen«.(33) Auch Lord Lindsay paßt streckenweise in dieses Bild, doch bekennt der Erzähler: sein öfteres: »Zahle gut, well!« hatte viel für mich armen Teufel zu bedeuten gehabt.(34) Die Leitung bei den Abenteuerfahrten hat zwar Mays Ich-Held: » . . . Ihr müßt Euch nach uns richten«(35), bekommt Lindsay von ihm gesagt. Doch er bezeichnet Lindsay als Freund und Genosse, und der Leser erfährt detailliert, daß sie miteinander Kaffeehäuser besuchen, sich beim Dufte von Mokka und persischem Tabak rasieren und überhaupt verschö-


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nern lassen und gemeinsam eine Flasche famosen Ruster genießen.(36) Ständig zieht es Mays Helden in die Atmosphäre wohlhabender Kreise. In den eigentlichen Abenteuerhandlungen ist das Geld für den Helden ohne Bedeutung, doch in den Geschehnissen am Rande des Freiraumes, wo das Abenteuer eingeleitet wird oder Ruhepausen findet, weist ihm May häufig die tragende Rolle zu. Als Winnetou eine Reise in das Abendland macht und dabei krank wird, läßt May den Millionär Bothwell zwei der tüchtigsten Ärzte, welche es gab(37) engagieren, um Winnetou vor dem Tod zu bewahren. Hier wird allein durch Geld ein Leben, sogar das einer sonst souverän handelnden Gestalt, gerettet. Die ärztliche Versorgung hängt eben in der zeitgenössischen Gesellschaft (und das Problem ist bekanntlich heute noch aktuell) vom Besitzstand des Kranken ab. May selbst hatte ja die Heilung seiner Augenkrankheit den Beziehungen seiner Mutter zu Ärzten während ihrer Hebammenausbildung zu verdanken, die wiederum nur durch die Erbschaft ermöglicht worden war. Im Wilden Westen freilich hätte Winnetou etwa auftretende Krankheiten selbst heilen können - er leistet dort öfters selbst ärztliche Hilfe.(38) Doch fern von diesem Freiraum ist er wie jeder Normalbürger von teuer zu bezahlenden Ärzten abhängig. Noch deutlicher als durch diese Abhängigkeit eines Winnetou hätte May die Bedeutung des Geldes in der Zivilisation nicht illustrieren können.

Mays Gedanken schweifen vom Abenteuer in die Realität zurück. Sehnsüchtig blickt Mays Held zu John Raffley auf, der nach Abenteuer und Gefahren als Mitglied irgend eines berühmten Reiseklubs einsilbige Bemerkungen über die gehabten Erlebnisse(39) macht, während May mühsam seinen Lebensunterhalt durch das Ersinnen und Niederschreiben solcher Abenteuer verdienen mußte. Er konnte sich Einsilbigkeit nicht leisten! May, der als Habenichts durch seine Heimat vagabundiert war, träumte davon, ohne Geldsorgen die Welt zu bereisen. Im Buch läßt er dies fast wahr werden, wenn er Kara Ben Nemsis Erlebnisse als Gesprächsthema in einem Londoner Klub angibt(40) und sich damit indirekt Einlaß in den Kreis reicher Globetrotter verschafft, oder wenn er gar Raffley sagen läßt: »Ich wollte, Ihr wäret auf Raffley-Castle geboren worden!«(41)


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IV

Mays Werk ist von zwei Tendenzen geprägt. Einerseits wird die geldlose Gesellschaft erträumt, andererseits wird von dem Leben in wohlhabenden Kreisen geschwärmt; einerseits wird die Ausrichtung am Geld verdammt, andererseits wird auf Geld großen Wert gelegt; einerseits ist kein Geld nötig, andererseits ist viel Geld erwünscht. Beide Richtungen haben das Gemeinsame, daß sie aus der materiellen und geistigen Armut der Jugendjahre Mays hinausführen. Die eine Richtung führt weg von der Zivilisation, in den Freiraum der Indianer und Beduinen, der kein Geld kennt, die andere bleibt in der Zivilisation, aber führt in ihr nach oben, zu den Lords und Kaufleuten, wo Geld in Hülle und Fülle vorhanden ist. Nicht nur mit dem armen Morgenländer Hadschi Halef Omar, sondern auch mit dem reichen Abendländer Sir David Lindsay ist der Held befreundet. May schafft mit seinem Freiraum eine Gegenwelt zu den realen gesellschaftlichen Verhältnissen, doch auch diesen gibt er in seinen Erzählungen Raum. Die heimatliche Realität bleibt gegenwärtig. Dies hat auf den Leser eine besondere Wirkung. Es sind gerade diese heimatlichen oder abendländischen Elemente, die durch ihre Konfrontation mit der freien Abenteuerwelt diese erst plastisch vor dem Leser aufbauen. Die Abenteuerwelt gewinnt ihre Einzigartigkeit und wird richtig frei erst dadurch, daß der Held sie zuweilen auch verläßt und mit der Realität, vor allem auch mit Geldproblemen in Berührung kommt. Außerdem macht das Hin und Her zwischen der Geldkasse Lindsays und der leeren Tasche Halefs, zwischen dem Beduinenzelt und der Kaufmannsvilla den Helden dem Leser vertrauter, als wenn sich die Handlung stets nur in der Wildnis abspielen würde. Die Geldkasse und die Villa verbinden den Helden mit der Zivilisation, hier berühren sich seine Welt und die des Lesers. So erscheinen Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand dem Leser nicht nur als die großen Abenteurer, die »hinten, weit in der Türkei« ein gänzlich anderes Leben führen, sondern auch als Mitmenschen in der gegenwärtigen Gesellschaft. Der Held wird damit glaubwürdiger und mit ihm der ganze Freiraum. Der Leser kann sich mit dem Helden identifizieren. May benutzt zusätzliche Kunstgriffe, die Berührungspunkte zwischen Held und Leser noch mehr zu betonen. Er läßt im »Silbersee« Lord Castlepool für jedes erlebte Abenteuer eine Geldsumme bezahlen und erzielt hierdurch, wie Gert Ueding aufzeigt, ein


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»geheimes Einverständnis« zwischen Autor und Leser, denn der Leser kann »sich ja durch Erwerb des Buches ebenfalls in das Abenteuer einkaufen«.(42) Oder May läßt in der »Sklavenkarawane« den reisenden Gelehrten Schwarz durch sein daheim erworbenes Wissen den Einheimischen ebenbürtig sein, um, wie Heinz Stolte nachweist, durch diese »pädagogische List«(43) schulmüde Knaben zum Lernen anzuhalten.

Wolf-Dieter Bach hat die Flucht als ein Leitmotiv bei May entdeckt(44) und Mays Fluchten als »verzweifelte Springprozessionen« gedeutet: »So dient die Flucht in die Ferne doch nur der Erreichung der Heimat.« Auch in der Geldfrage »springen« Mays Erzählungen. Die beiden beschriebenen Tendenzen in dieser Frage liefern ein ständiges Wechselspiel zwischen der Weite des Freiraumes und der Enge der Zivilisation. Diese Sprünge führen aber auch zu Rissen und Widersprüchen im Werk.

»Verhaften? Mich, einen Peer und Gentleman aus Altengland?« schleudert John Raffley einem Beamten entgegen(45), und tatsächlich kann er sich dank seiner Beziehungen über engstirnige Rechtsnormen des Mudelliers hinwegsetzen. Der mit ihm befreundete Held erkennt dies dankbar an: Wenn ich bedachte, wie stolz und unnahbar sonst ein solcher Gebieter zu sein pflegt, konnte ich mir Glück zu meiner Bekanntschaft mit Raffley wünschen. Doch schon kurze Zeit später ist der Einfluß Raffleys für den Helden ohne Belang, denn als der Mudellier wieder einmal Forderungen stellt, heißt es kurzerhand: Ich lachte einfach darüber, während sich Raffley in eine (wenn auch nur kurze) Diskussion einläßt. Mays Held schwankt zwischen der Protektion durch den Lord und dem Vertrauen auf die eigenen Kräfte, zwischen Anpassung an die Hierarchien der Gesellschaft und unbeengter Eigeninitiative. Widersprüche dieser Art ergeben sich daraus, daß einerseits im Freiraum und in der Zivilisation völlig verschiedene Normen gelten, andererseits diese beiden Welten im Romangeschehen nicht immer klar getrennt sind. Ja, sie lassen sich auch nicht immer streng trennen, denn die Handlung, an der beide Welten Anteil haben sollen, muß in sich geschlossen sein. Das Abenteuerliche greift in den Alltag der Zivilisation ein, Einflüsse der Zivilisation finden sich auch in der Wildnis. In Entführungen von Millionärssöhnen und -bräuten aus dem wohlbehüteten Familienkreis in abgelegene Gegenden nimmt diese Verflechtung konkrete Gestalt an. Der Reiche - etwa Latréaumont im 1. Kapitel der »Gum« - versucht vergeblich, durch Lösegeldzahlungen


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die Befreiung zu erreichen, während der Held durch Mut und Klugheit die Entführten retten kann. Der Held macht dadurch dem Reichen klar, daß sein daheim so nützliches Geld in der Abenteuerwelt wertlos ist.

Die ambivalente Einstellung zum Geld, das einmal verachtet und dann wieder begehrt wird, kennzeichnet sehr oft die Gespräche und Exkurse über Geld und Reichtum. Old Shatterhand verzichtet auf die Schätze eines Goldlagers und sagt zu Winnetou: »Der Inhalt all der Placers, welche entdeckt worden sind, ist für die eigentlichen Finder doch meist nichts als nur "deadly dust" gewesen, wie du es stets zu nennen pflegst. Dieser Staub hat die Eigenschaft, erst in späteren Händen seine verderbliche Wirkung zu verlieren; ich gebe meine Hand nicht dazu her, die erste zu sein, welche nach ihm greift. Aber als wohlerwogenes und gern gespendetes Geschenk würde er, das bin ich überzeugt, viel oder vielleicht alles von seiner Schädlichkeit verlieren.«(46) Diese widersprüchliche Erörterung über Schädlichkeit und Nützlichkeit des Geldes führt ein Mann, der alles Geld abschaffen möchte, weil die Ausrichtung am Geld in seiner Welt ihm Unglück gebracht hat, und sich doch viel davon wünscht, weil er dann in seiner Welt glücklich leben könnte. Interessanterweise deklariert Winnetou, dem das Wort vom deadly dust in den Mund gelegt wird, wenige Seiten später das Goldlager als sein Eigentum.(47) Eine solche unerwartete Wendung findet sich in ähnlicher Weise auch an anderen Stellen im Werk. Im 2. Band von »Winnetou« erklärt May das Geld im Wilden Westen zunächst für bedeutungslos: »Und fragt . . . einen unserer berühmten Westmänner . . . nach dem Monney, welches er besitzt; er wird Euch in das Angesicht lachen.« Doch wenige Zeilen später wird ergänzt: »Aber es giebt doch vielleicht hier und da einen Trapper oder Squatter, der nicht lachen würde, wenn ich ihn nach dem "Metall" fragte.« Von Old Firehand und Winnetou heißt es dann: sie »könnten Euch zu Gold- und Silberlagern führen, von deren Dasein und Reichhaltigkeit kein anderer eine Ahnung hat«.(48) Diese Männer, die in ihrem Abenteuerraum in »Wirtschaftsenthobenheit« leben, besitzen also Gold in Hülle und Fülle. Auch andere Westmänner sind reich. Sam Hawerfield zahlt großzügig mit Nuggets und erklärt lässig auf die Frage, wo sein Goldversteck liege: »In Amerika ungefähr. Ich habe zum Beispiel ein schlechtes Gedächtnis und besinne mich auf den Ort gewöhnlich nur dann, wenn ich selbst etwas Gold brauche.«(49) Und wann tritt dieser Fall ein? May berichtet über Winnetou: Die geheimen Goldlager


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waren es, die er aufsuchte, wenn er einmal in die Lage kam, Geld zu brauchen. Im Wilden Westen war dies nie der Fall . . . Aber wenn er ein Fort oder eine sonstige Niederlassung aufsuchen mußte, um Munition zu kaufen, oder wenn er eine weitere Reise nach den »civilisierten« Gegenden unternahm, dann brauchte er Geld.(50)

Wir stellen also die erstaunliche Tatsache fest, daß Mays Westmänner, wenn sie ihren Freiraum verlassen und in die Zivilisation gehen, ebenso unbeschränkt die finanziellen Mittel zur Verfügung haben wie all die Adligen und Kaufleute, deren Reichtum Mays Held so schätzt. Ja, sie zeigen auch ein so sicheres und selbstbewußtes Verhalten, wie May es sonst nur seinen reichen Lords beigibt. Die »Wirtschaftsenthobenheit« seiner Helden hindert May nicht, sie auch mit dem für das zivilisierte Leben notwendigen Geld zu versorgen. Die Westmänner besitzen die Voraussetzungen dafür, in zwei Welten leben zu können. Sie meistern durch ihr Können das Leben im Freiraum, und sie sind durch ihr Geld die Überlegenen in der Zivilisation.(51) Wenn es auch oft unerquickliche Verhältnisse in der Heimat sind, die Mays Helden in den Westen treiben, so sind sie dennoch keine Ausgestoßenen, denn sie haben das Wesentliche, nämlich Geld, um in der Heimat bestehen zu können. Freilich, vor die Wahl gestellt, welche der beiden Welten ihm lieber ist, entscheidet sich der Westmann für die, wo er nicht nach dem Geld eingestuft wird. Der Prärieläufer Dick Hammerdull, der so reich ist, daß er »mit dem Gelde nicht (weiß), wohin«, erklärt gelassen: »Geht mir mit Eurem Osten und seinen Genüssen! Die einzigen und wahren Genüsse finde ich im wilden Westen, und für die hat man nichts zu bezahlen.«(52) Ebenso verachtungsvoll über die herrschende Gesellschaftsordnung äußert sich der Westmann Sam Hawkens, der, wie man mit Überraschung liest, es im bürgerlichen Leben zum verdiente(n) Vereinigtestaatenkapitän gebracht hat: »Übrigens, daß ich damals Offizier wurde, darauf gebe ich keinen leeren Kürbiskern. Zu einem tüchtigen Westmanne gehört weit mehr als zu einem Subalternoffizier.«(53) Dem Leben im Abenteuerraum, frei von Geld und Titeln, wird also vor dem bürgerlichen Leben der Vorzug gegeben, und zwar von Leuten, die Geld und Titel haben, die also kein Mangel zwingt, auf ein Leben in der Zivilisation zu verzichten. May, der von seinem Freiraum träumte, hat sich damit die besten Anwälte für seinen Traum und gegen die Realität geschaffen, die denkbar sind. Die herrschenden Zustände werden abgelehnt, nicht direkt in einer systematischen Argumenta-


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tion, sondern - was emotional viel stärker wirkt - durch die allseitige Überlegenheit der Westmänner.

Anders als die Westmänner können die Angehörigen der Zivilisation nicht ohne Schwierigkeiten die eigene Welt verlassen und die andere aufsuchen. Sie, und vor allem die Mächtigsten unter ihnen, nämlich die Reichen, laufen im Wilden Westen Gefahr unterzugehen. Der Reiche braucht den Westmann, wenn er in den Freiraum kommt, aber der Westmann braucht nicht den Reichen, wenn er die Zivilisation aufsucht. Damit ist der Westmann die souveränste Gestalt, die Karl May geschaffen hat. In ihr ist es ihm gelungen, seine beiden großen Sehnsüchte zu vereinen. Der Westmann hat das eine Glück, in Geldlosigkeit zu leben, und das andere Glück, ein reicher Mann zu sein.


V

Mays armselige Herkunft war bis jetzt das Material, das wir zur Deutung der Rolle des Geldes im Werk benutzt haben. Wir haben zwei Hauptmotive im Werk, die Geldlosigkeit des Abenteuerraumes und den Reichtum mancher Freunde des Ich-Helden als zwei Wunscherfüllungen des unter Geldmangel körperlich und seelisch leidenden Autors beschrieben. Der erste Wunsch zielt auf die Abschaffung allen Geldes, der zweite auf Herbeischaffung unerschöpflicher Geldmengen. Die Erfüllung beider Wünsche gelingt May in einer einzigen Gestalt, der des freien Westmannes, der Goldadern besitzt.

In diese glückliche Lage versetzt May jedoch nicht Old Shatterhand. Anders als die meisten seiner Kollegen kennt der beste aller Westmänner keine geheimen Schätze. Wenn er die Zivilisation aufsucht, kann er keine Nuggets vorweisen. Den höchsten Grad an Souveränität, den wir sonst bei Mays Westmännern feststellen, besitzt er also nicht. Zwar befindet sich der Ich-Held oft im Hause reicher Leute und genießt dann alle Vorzüge eines wohlhabenden Milieus; zwar steht ihm häufig die Geldbörse eines Lords offen, die ihm die materielle Basis für die Weiterreise bietet; zwar erscheint er in den Augen anderer als reich, wenn er das geraubte Geld der Verbrecher verschenkt. Doch all dieser Reichtum steht ihm nicht unumschränkt zur Verfügung, da er ihm nicht selbst gehört. Mays Ich-Held ist kein reicher Mann, ganz im


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Gegenteil. »Ich bin ein armer Schriftsteller«(54), bekennt Kara Ben Nemsi, und Old Shatterhand äußert sich zur Geldfrage einmal so: dem Millionär Emery aber war das eine Kleinigkeit, und der Apatsche brauchte nur in seinen Gürtel zu greifen, um einige Nuggets gegen gutes Geld umzuwechseln; ich, der Proletarier, wurde von beiden so mit durchgeschleppt.(55) Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, die Superhelden in körperlichen und geistigen Fähigkeiten, stehen, wenn es um Geld geht, in tiefer Abhängigkeit.

Warum ist Mays Ich-Held so arm? Warum gibt May ihm lediglich reiche Begleiter zur Seite, anstatt dieses Ich selbst reich - oder zumindest nicht arm - sein zu lassen? Wollte man die Problematik des Geldes im Werk allein aus den ökonomischen Bedingungen, unter denen der Autor herangewachsen ist, und den sich daraus ergebenden Wunschträumen erklären, so müßte man konsequenterweise erwarten, daß May gerade seine Ich-Gestalt und nicht nur Freunde von ihr in Wohlhabenheit versetzt. Dies aber hat May nicht getan. Aus welchen Gründen?

Suchen wir nach Gründen zunächst in den bewußten Absichten des Schriftstellers. Old Shatterhand erklärt: »Was ich zum Leben brauche, will ich keinem Finding-hole, sondern der geordneten Arbeit, welche Segen bringt, verdanken.«(56) May hat diese belehrende Äußerung, die die Arbeit als den alleinigen Weg zum Gelderwerb und zur Zufriedenheit preist, seinem Helden wohl mit der Absicht in den Mund gelegt, auf seine Leser erzieherisch einzuwirken, so daß man in der Armut des Helden eine erzieherische Absicht vermuten kann. In einem gewissen Grad deckt sich diese Äußerung auch mit dem Tun der Helden, die vorwiegend damit beschäftigt sind, ihren Mitmenschen zu helfen, also zu arbeiten. Doch auf der anderen Seite läßt Karl May seine Westmänner und auch den edlen Winnetou in Goldvorräte greifen, ohne daß Rechenschaft über eine geleistete Arbeit abgelegt wird, ganz abgesehen von den immer wiederkehrenden Geldgeschenken. Dem Prinzip, Geld nur durch Arbeit zu erwerben, wird also ständig zuwidergehandelt. Eine erzieherische Absicht kann also nicht der eigentliche Anstoß gewesen sein, das Roman-lch dem Reichtum fernzuhalten. Die moralisierenden Bemerkungen über Geld sind nur eine rationale Verbrämung für tiefer liegende Ursachen.

Man könnte eine Ursache darin vermuten, daß May die Fiktion schaffen wollte, er habe das Erzählte persönlich erlebt. Denn die


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Gleichsetzung von Autor und Roman-Ich erfordert, daß auch Vermögensverhältnisse und sozialer Status bei beiden annähernd dieselben sind. Andernfalls würde der Autor das Risiko eingehen, daß seine Leser durch eigenen Augenschein diese Identifizierung als falsch erkennen. Es erscheint von daher plausibel, daß Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi nicht Millionäre oder Besitzer von Goldadern sind, da May selbst zu dieser Zeit nicht wohlhabend war. Man muß sich aber fragen, warum May seine Ich-Gestalt so mittellos sein läßt, daß sie auf die Hilfe reicher Geldgeber angewiesen ist, oder warum zumindest er diese - seine - Abhängigkeit von diesen Geldgebern immer wieder herausstellt. Warum etwa betont er einmal bei der Planung einer Reise Old Shatterhands (in »Satan« II), daß Winnetous Geldmittel für ihn die Hauptsache(57) sind? Die Gleichsetzung von Autor und Held wäre nicht gefährdet worden, wenn May diesen als gutsituierten Schriftsteller geschildert hätte, der zwar sparsam, aber nicht in Geldnot leben muß. In anderen Zusammenhängen gibt nämlich May seinem Ich-Helden durchaus bessere Lebensbedingungen, als er selbst hatte. Beispielsweise stattet er ihn mit einer gymnasialen Schulbildung aus.(58) Überhaupt ist zu bedenken, daß May seinen Ich-Helden mit einer Vielzahl von Superlativen versah und daß er in seinen Abenteuern die glücklichen Zufälle häufte. Er nahm damit eine Fülle von Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten in die Gestalt und das Handeln seiner Hauptfigur auf, was der Fiktion, er erzähle Selbsterlebtes, nur abträglich sein konnte. Daher kann ihn eine Rücksichtnahme auf diese Fiktion auch nicht gezwungen haben, die Finanzlage des Helden an der Realität des Autors auszurichten. Vielmehr hätte etwa ein Goldfund Old Shatterhands nur eine Unwahrscheinlichkeit zu einer Vielzahl anderer hinzugefügt, ohne einen wesentlich neuen Gesichtspunkt für die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Reiseerzählungen zu liefern.

Die Armut des Helden könnte damit begründet werden, daß May seinen Helden dem Leser menschlich nahebringen wollte. Wir haben bereits gesagt, daß in den Reiseerzählungen die Berührung des Helden mit den Geldproblemen der Zivilisation den Abstand zwischen Held und Leser verringert. Sie werden dadurch einander nähergerückt, daß sie beide keinen Zugang zu Schätzen haben. Der Leser kann sich leicht mit diesem Helden identifizieren. Dagegen stehen die Hauptfiguren zweier Kolportageromane Mays, Oskar Steinbach (»Deutsche Herzen«) und Gustav Brandt (»Verlorene Sohn«), dem Leser viel ferner


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(was sich schon in ihren Ehrennamen »F ü r s t  der Bleichgesichter« und »F ü r s t  des Elends« andeutet, die auf die oberen Gesellschaftsschichten verweisen), und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie schwerreich sind. Nehmen wir an, daß May bei seinen Reiseerzählungen das Ziel vor Augen gehabt hat, seinen Lesern die Identifikation mit dem Helden leichtzumachen, so verstehen wir, daß der Ich-Held kein Prinz, wie Steinbach, und kein Lord und überhaupt kein reicher Mann sein kann. Aber wir können auf diese Weise nicht erklären, daß der Ich-Held in seinem sozialen Status und seinen Vermögensverhältnissen das völlige Gegenteil eines Prinzen ist. May hat bewiesen, daß er auch Angehörige der oberen Mittelschicht so schildern kann, daß jedem Leser die Identifikation mit ihnen möglich ist: die Hauptgestalten der »Sklavenkarawane«, die Brüder Schwarz, sind Professoren. Warum durfte Kara Ben Nemsi nicht so weit aufsteigen?

Wir erkennen also, daß für die Armut des Ich-Helden, die dem Charakter der Reiseerzählungen als Wunschträume eines im Armenmilieu Aufgewachsenen gänzlich widerspricht, nicht vom Autor bewußt verfolgte Ziele - zu belehren, sich mit seinem Helden gleichzusetzen, dem Leser die Identifikation mit dem Helden zu ermöglichen - verantwortlich gemacht werden können. Die Quelle für diese Armut muß im Unbewußten des Autors liegen. Wir haben davon auszugehen, daß in die Gestaltung des Ich-Helden unbewußtes, verdrängtes Material eingegriffen hat, das stärker gewesen war als die allgemeine Erfahrung des armseligen Lebens und den sich daraus ergebenden Wunscherfüllungsphantasien. Dieses Material muß sich, nach den Erkenntnissen der Psychoanalyse, primär aus den Eindrücken von Kindheitserlebnissen gebildet haben, so daß wir nun die Frage stellen können: Welches Erlebnis in der Kindheit hat Karl May psychisch so in Spannung versetzt, daß er im Buch sein zweites Ich mit allen erdenklichen körperlichen und geistigen Vorzügen, aber nicht mit dem so ersehnten materiellen Reichtum ausstatten konnte?


VI

Das Erlebnis Mays, nach dem wir suchen, hat das Ich der Reiseerzählungen entscheidend geformt, in dem immer wiederkehrenden Hinweis Mays auf die Armut des Ichs zeigt sich die Allgegenwart dieses


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Erlebnisses. Diese ständige Präsenz läßt erwarten, daß es deutlichere Spuren in den Reiseerzählungen hinterlassen hat, die uns, wenn uns die Entschlüsselung gelingt, eine Rekonstruktion ermöglichen. Bei der Suche nach solchen Spuren erweist sich, wie wir sehen werden, vor allem der 1. Band von »Winnetou« als fündig. Dies kann nicht überraschen. Denn erstens wird hier Old Shatterhand durch die Blutsbrüderschaft mit Winnetou der Zutritt in eine Familie - eine sonst dem Freiraum ferngehaltene Einrichtung - verschafft. Dies ermöglicht von Familienkonflikten der Kindheit gespeistem Material den Durchbruch an die Oberfläche, besonders auch deshalb, weil das exotische Kolorit das ursprünglich Privat-Häusliche so verfremdet, daß die auf Verdrängung bedachten Kräfte geschwächt werden. Zweitens ist das Ich in dieser Erzählung ein anderes als in den übrigen Reiseerzählungen. Während etwa in »Weihnacht« oder »Der Schut« May den Eindruck erweckt, er habe die beschriebenen Abenteuer kurz vor der Niederschrift erlebt, oder zumindest, er sei in seinem Denken und Fühlen seit dem Bestehen dieser Abenteuer derselbe geblieben, sind hier das Ich des Erzählers - des Schriftstellers und erfahrenen Westmanns - und das Ich des Helden - des Neulings im Wilden Westen - getrennt. Wir zitieren zwei Äußerungen, in denen sich der Erzähler von diesem Old Shatterhand distanziert: ein solches Greenhorn war damals auch ich . . . später freilich habe ich noch ganz andere (Westmänner) kennen gelernt.(59) Dieser Abstand zu seinem Ich-Helden befreit May von der Verpflichtung, alles, was er diesen tun läßt, billigen zu müssen. Der Ich-Held wird in seinem Handeln folglich weniger kontrolliert, und dies wiederum erleichtert verdrängten Regungen den Zugang. Hinzu kommt, daß sich hier der Autor, wenn auch nicht in die Kindheit, so doch in die Jünglingsjahre zurückversetzt, was zwangsläufig früh empfangene Eindrücke reaktiviert.

Die für unsere Untersuchung entscheidende Passage findet sich im 5. Kapitel des 1. Bandes von »Winnetou«, wo Old Shatterhand zum ersten Mal mit dem Gold der Indianer konfrontiert wird. Winnetous Vater Intschu tschuna scheint es ihm anzubieten:

»Aber da, wohin du willst, kannst du nicht von der Jagd leben wie hier. Du mußt Geld haben, und Winnetou sagte mir, daß du arm seiest. Du hättest Geld bekommen, wenn wir euch nicht überfallen hätten; darum hat mein Sohn mich gebeten, dir Ersatz zu bieten. Willst du Gold?«

Er sah mich bei dieser Frage so scharf und forschend an, daß ich mich wohl hütete, mit


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einem Ja zu antworten. Er wollte mich auf die Probe stellen.

»Gold?« sagte ich. »Ihr habt mir keines abgenommen, und so habe ich keines von euch zu verlangen.«

Das war eine diplomatische Antwort, weder ein Ja noch ein Nein. Ich wußte, daß es Indianer giebt, welche Fundorte edler Metalle kennen, aber niemals einem Weißen einen solchen Ort verraten. Intschu tschuna kannte jedenfalls solche Stellen, und jetzt fragte er mich: »Willst du Gold?« Welcher Weiße hätte da wohl mit einem direkten Nein geantwortet! Ich habe nie nach Schätzen getrachtet, welche von dem Roste und den Motten gefressen werden; dennoch hat das Gold für mich als Mittel zum guten Zwecke einen Wert, den ich gar nicht leugnen will. Diese Anschauung aber konnte der Apachenhäuptling wohl schwerlich begreifen.

»Nein, geraubt haben wir dir keines«, antwortete er; »aber du hast wegen uns nicht bekommen, was du bekommen hättest, und dafür will ich dich entschädigen. Ich sage dir, in den Bergen liegt das Gold in großen Mengen. Die roten Männer kennen die Stellen, wo es zu finden ist; sie brauchen nur hinzugehen, um es wegzunehmen. Wünschest du, daß ich welches für dich hole?«

Hundert andere an meiner Stelle hätten dieses Angebot angenommen und -- nichts bekommen; das sah ich dem eigentümlich lauernden Blicke seiner Augen an; darum sagte ich:

»Ich danke dir! Den Reichtum mühelos geschenkt zu bekommen, das bringt keine Befriedigung; nur das, was man sich erarbeitet und erworben hat, besitzt wahren Wert. Wenn ich auch arm bin, so ist das kein Grund, zu glauben, daß ich nach meiner Rückkehr zu den Bleichgesichtern Hungers sterben werde.«

Da ließ die Spannung, welche auf seinem Cesichte gelegen hatte, nach; er gab mir die Hand und meinte in einem wirklich wohlthuend herzlichen Tone:

»Diese deine Worte sagen mir, daß wir uns nicht in dir getäuscht haben. Der Goldstaub, nach welchem die weißen Goldsucher streben, ist ein Staub des Todes; wer ihn zufällig findet, geht daran zu Grunde. Trachte nie danach, ihn zu erlangen, denn er tötet nicht nur den Leib, sondern auch die Seele! Ich wollte dich prüfen.«(60)

In dieser Stelle bekennt sich Old Shatterhand zu Beginn seiner Laufbahn als Westmann und damit grundsätzlich zu dem Verzicht auf Gold, der ihn, wie wir festgestellt haben, wesentlich von anderen Westmännern unterscheidet. Doch nicht nur ihre zeitliche Einordnung hebt diese Stelle aus den anderen Geld-Szenen hervor. Bemerkenswert ist hier zunächst, daß Old Shatterhand bei diesem Goldangebot anfänglich schwankt, wie seine diplomatische Antwort zeigt, während er sonst sofort und eindeutig angebotenes Gold zurückweist. Sodann mutet es unwahrscheinlich an, daß Intschu tschuna, der in Old Shatterhand beinahe schon seinen Schwiegersohn sieht, ihn mit einem eigentümlich lauernden Blicke plötzlich auf die Probe stellen will. Schließlich enthält diese Stelle einen Widerspruch: angeblich kann der Häuptling die Anschauung nicht begreifen, Gold habe als Mittel zum guten Zweck einen Wert, während sonst Mays Indianer und auch dieser Häuptling dies sehr wohl verstehen, denn sie bedienen sich ohne


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Hemmungen ihrer Goldschätze, wenn es ihre Bequemlichkeit erfordert.

Diese Unsachlichkeiten belegen, daß an der Gestaltung dieser Szene unbewußte Regungen entscheidend beteiligt waren, um so mehr, als hier ein älterer Mann mit dem Blutsbruder seines Sohnes, also gleichsam Vater und Sohn miteinander reden. Dabei ist der Vater hier nicht nur Familien-, sondern sogar Stammesoberhaupt, und entspricht damit ganz dem Bild, das sich ein Kind von seinem ihm allmächtig erscheinenden Vater macht. Wir haben zweifellos in dieser Szene die literarische Umsetzung eines verdrängten Vater-Sohn-Konfliktes vor uns.

In diesem Gespräch erweist sich Old Shatterhand letztlich als der Überlegene, der die Absicht des Älteren durchschaut und ihn schließlich mit der Preisung des erarbeiteten Reichtums zufriedenstellt. Bedenken wir, daß Old Shatterhand das überhöhte Ich des Autors ist, so müssen wir auch in diesem Konflikt die Überlegenheit Old Shatterhands als Wunschtraum Karl Mays ansehen. Dies aber verschafft uns Kenntnis über das reale Erlebnis Mays, das hinter dieser Szene steht. Denn wir haben nur umgekehrt zu fragen: wie erginge es in einer solchen Situation einem anderen, der weniger klug und schlagfertig ist? Zweifellos würde dieser in seiner Sehnsucht nach Reichtum voller Freude bei diesem Goldangebot ja sagen; er würde aber nichts erhalten (Hundert andere an meiner Stelle hätten dieses Angebot angenommen und -- nichts bekommen) und damit zweimal bitter enttäuscht werden, nämlich in seiner Hoffnung auf Reichtum und auch in seinem Vertrauen auf den Vater (seines Blutsbruders); schließlich müßte er sich noch die Belehrungen über den Wert des erarbeiteten Goldes anhören, die hier Old Shatterhand selbst ausspricht.

Damit aber haben wir, so ist zu schließen, die Quintessenz des realen Vorfalls, wie ihn May erlebt hat, beschrieben. Ihm selbst ist einmal von seinem Vater Geld oder ähnlich Wertvolles versprochen worden; dieses Versprechen hat dann der Vater nicht gehalten, sondern ihn stattdessen zur Arbeit gezwungen. Natürlich kann es sich statt eines Versprechens des Vaters auch um eine feste Erwartung des Kindes gehandelt haben, die der Vater nicht erfüllt hat, was als Wortbruch registriert wurde. Daß hier vom Zwang zur Arbeit die Rede ist, steht nicht im Widerspruch dazu, daß wir ein Kindheitserlebnis vermuten, denn die Not im Webermilieu war so groß, daß in der Heimarbeit meist die Mitarbeit der noch nicht


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schulpflichtigen Kinder unumgänglich war. Mays eigenem Bericht entnimmt man, daß er als Sechsjähriger und eine Schwester im Alter von vier Jahren Handschuhe nähen mußten.(61)

Das frühkindliche Erlebnis, das wir nun in seinen Grundzügen kennen, läßt sich genauer ermitteln, wenn wir nicht nur Mays Hauptfiguren, sondern auch die Nebenfiguren betrachten, in die manches Autobiographische eingeflossen ist, das May seinem untadeligen Ich-Helden nicht beigeben konnte. Tatsächlich hat eine dieser Nebenfiguren ein Erlebnis, das zu unserer allgemeinen Charakteristik des Vorgangs einen konkreten Einzelfall liefert. Im 2. Band von »Satan und Ischariot« läßt May den im Armenhaus geborenen Konrad Werner von seiner Lehrzeit erzählen:

»Eines schönen Weihnachtsabends bescherte der Meister seine Familie. Er war ein armer Teufel und konnte nur wenig geben; aber jedes Kind bekam doch eine Kleinigkeit; das Allerwenigste wurde mir beschert, nämlich nichts. Als ich das nicht gelten lassen wollte, ging die Bescherung freilich los, und zwar mit dem Knieriem. Der Mann schlug mich so, wie er mich noch nie geschlagen hatte, und dann mußte ich mich mit blutrünstigem Rücken hinauf auf den kalten Dachboden legen, wo meine Schlafstatt war - ein Bündchen Stroh, welches nur noch Häckerling genannt werden konnte; eine Decke gab es auch nicht!«(62)

In diesem Lehrmeister, der so schlug, wie er mich noch nie geschlagen hatte, erkennen wir Mays Vater wieder, der seine Kinder, wie May berichtet, zuweilen so lange schlug, bis Vater nicht mehr konnte.(63) Und der so grausam geprügelte Knabe ist Karl May selbst. Er selbst hat die fürchterliche Enttäuschung erlebt, an einem Weihnachtsabend statt beschenkt geschlagen zu werden. Dieser Schluß von dem Erlebnis einer Nebenfigur auf Mays eigenes Schicksal ist nicht so voreilig, wie es scheinen mag. Denn wir entdecken weitere Spuren dieser Szene im Werk. Im ersten Kapitel von »Weihnacht« wird bei einer Christfeier unter armen Leuten ein Gedicht aufgesagt, und dann heißt es: »Blicke auf dein Kind hernieder«, wiederholte der Greis, -- »das sich sehnt nach deinem Licht; - der Verlorne naht sich wieder; -- geh mit ihm nicht ins Gericht! - Nicht, nein, nein!--- nicht ins Gericht!« rief er laut aus, indem er die Augen weit aufriß und mit einem angstvollen Blicke rund um sich starrte.(64) Sind dies nicht die Angstrufe eines Kindes, das die grausame Züchtigung durch den Vater abwehren will? Und dicht daneben, einige Seiten zuvor, findet sich auch das Gegenstück, die ersehnte Weihnachtsgabe: fünf blanke Gulden liegen unterm Christbaum und lösen bei den Beschenkten Freudenthränen aus.(65) Am


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Schluß dieses Buches wird wiederum zu Weihnachten Geld verschenkt, und zwar ein ganzer Haufen Goldkörner an den sterbenden Carpio, der diesen Schatz seinem Vater weitergibt mit den Worten: »Es macht mich so glücklich zu denken, daß er sich wenigstens nun dies eine Mal über seinen Sohn freuen wird.«(66) Das unbewußte Wunschdenken Mays ging in genau entgegengesetzter Richtung: wie glücklich wäre er gewesen, wenn er sich einmal über ein Geldgeschenk seines Vaters hätte freuen können. Nur in der Umkehrung, der radikalen Form der Entstellung, hat Mays unbewußter Wunsch an die Oberfläche des Bewußten vorstoßen können. Daß hier tatsächlich eine Umkehrung stattgefunden hat, bekräftigen die anschließenden Worte Carpios, der seinem Vater ausrichten läßt: »Sag ihm aber ja, dies sei keine Zerstreutheit oder Verwechslung, sondern es gehöre ihm wirklich alles!«(67) Durch das Phänomen der ständigen Verwechslungen Carpios gibt das Unbewußte des Autors zu verstehen, auch hier, gerade in Anbetracht der gegenteiligen Beteuerung Carpios, den Sachverhalt umzukehren. Übrigens geht auch bei dieser Weihnacht jemand leer aus, und zwar der Jäger Hiller, dem bezeichnenderweise einige Zeit zuvor als Zurechtweisung die Rute ins Gesicht(68) geworfen wurde. Schließlich erwähnen wir das Weihnachtsfest in Ardistan, das für die Bevölkerung so glücklich verläuft, weil eine Weihnachtsartikel-lndustrie aufgebaut worden ist, die den Menschen Arbeit und Geld verschafft: Das zahlreiche Personal . . . erhielt, was wir ihm versprochen hatten, und ein Jeder noch eine Geldsumme dazu als unsere Christbescherung. Sie jubelten.(69) Auch hier, mitten in der Weihnachtsfeier, fallen Schläge, hört man Peitschen klatschen(70). Gewalttäter stören das Fest: Man hatte sich in heiliger, seelischer Erhebung und Bewegung befunden, und war aus ihr in roher Weise herausgerissen worden. Man fühlte sich empört.(71)

Wenn bei Karl May das Motiv Weihnacht erscheint, so treten, das wollten wir zeigen, regelmäßig auch die Motive körperliche (Züchtigung) und psychische (Angst) Not sowie Geld hinzu. Dies bestätigt die These, daß Karl May an einem Weihnachtsabend von seinem Vater psychisch - durch Nichterfüllen einer Erwartung und brutale Ermahnung zur Arbeit - und körperlich - durch Prügel - mißhandelt worden ist, wobei ein ersehntes (Geld-)Geschenk der Anlaß war. May bezeichnet verschiedentlich die Weihnachtszeit als Unglückszeit: Überhaupt ist Weihnacht für mich und die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine


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verhängnisvolle Zeit gewesen.(72) Hans Wollschläger hat bereits auf die »Verknüpfung von "Weihnacht" und "Unglück"«(73) hingewiesen und dargelegt, daß May uns die Begründung für diese Behauptung letztlich schuldig geblieben ist. Unsere These kann die Begründung liefern. Der grausame Weihnachtsabend seiner Kindheit hatte ihn psychisch so getroffen, daß ihm die Weihnachtszeit nur mehr als eine Zeit der Ängste erscheinen konnte.

Das traumatische Erlebnis hat Mays Einstellung gegenüber seinem Vater und gegenüber dem Geld, das ihm, dem Kind, nur durch die Hände seines Vaters zugänglich werden konnte, entscheidend geprägt, und zwar in ambivalenter Weise.

Die eine Folge dieses Erlebnisses war, daß May den Vater, von dem er sich so betrogen sah, hassen mußte. Die Bösen unter den Reichen in Mays Werk (Abrahim-Mamur etwa), die wir bisher in unsere Darstellung nicht einfügen konnten, sind Darstellungen des Vaters. In den Augen des Kindes ist der Vater als der Geldverdiener in der Familie stets reich, so arm er auch an sich sein mag, und er ist dann böse, wenn er seinem Kind nichts abgibt. Das Bild vom bösen reichen Vater bei May wird durch ein biographisches Detail erhärtet: Mays Vater hat Geld, das der Familie gehörte, für sich allein verbraucht (wenn auch mit dem Ziel, seine ganze Familie aus dem Elend herauszuführen), als er die Erbschaft der Mutter vergeudete, er hat also auch objektiv eine Schuld auf sich geladen. Hans Wollschläger stellt hierzu die These auf, daß »May, der bis ins 50. Jahr Besitzlose, tief unbewußt offenbar sich selbst als den berechtigten Erben des Muttervermögens gefühlt hat . . . , und daß er, tief unbewußt, den Vorwurf, schuld an der Armut seines Lebens zu sein, mit zu den anderen Schulden des gehaßten Vaters fügte.«(74) Subtiler und deutlicher als in den bösen Reichen findet jedoch Mays Haß Ausdruck in der Vater-Gestalt Intschu tschuna. Hier nimmt May unbewußt Rache. Intschu tschuna, der Vater mit den Goldschätzen, muß sterben, gerade als er, am Nugget-tsil, sich von diesen Schätzen nehmen will. Er weigert sich kurz zuvor, Old Shatterhand zum Fundort mitzunehmen, ja droht, kaum aggressiver als der prügelnde Vater, sogar mit dem Tode: »Ich . . . würde . . . einen jeden niederschießen, der es wagte, uns zu folgen, um ihn zu erfahren.«(75) Dieses Verbot kommt Intschu tschuna teuer zu stehen, denn dieser Old Shatterhand, dem er brutal den Zugang zum Geld verwehrt, ist der einzige, der dann bei dem Mordanschlag noch hilfreich beisteht, der


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ihn, hätte er folgen dürfen, gerettet hätte. Old Shatterhand kann daher behaupten: »Intschu tschuna und Nscho-tschi haben den Tod gefunden, weil sie sich von mir entfernten.«(76) Der Vater muß sterben, weil er den Sohn nicht an das Gold läßt.

Das Eingehen auf die Forderung des Häuptling-Vaters, ihm nicht zum Goldversteck nachzugehen und überhaupt auf Gold zu verzichten, rückt eine andere, für unser Problem wesentliche Folge des Weihnachtserlebnisses in das Blickfeld. May, der wie jedes in einer Familie aufgewachsene Kind den Vater als für ihn allmächtige Instanz ansah und die von ihm aufgestellten Normen annehmen und schließlich verinnerlichen mußte, empfand unbewußt ein tiefes Schuldhewußtsein gegenüber dem Vater, weil er von ihm etwas erhofft hatte, was ihm dieser nicht zubilligte. May hatte den unbewußten Drang, bei seinem Vater etwas wiedergutmachen zu müssen, um so mehr, als er die elende Lage dieses Mannes als Ernährer einer Familie erkannt hat. Diesen Drang bezeugt schon die Tatsache, daß May gerade in der Weihnachtszeit stets sehr produktiv war(77), so als hätte er in dieser Zeit panische Angst davor, einen Vorwurf wegen mangelnden Fleißes zu hören. Wir verstehen nun die Geldgabe Carpios an seinen Vater auch als Sühneaktion des Sohnes für seine ihm nun unziemlich erscheinende an den Vater gerichtete (Geld-)Forderung. In ähnlicher Weise will Konrad Werner die Prügel seines Meisters diesem nicht nur verzeihen, sondern sogar mit Geld lohnen: »Er soll für jeden Hieb, den ich von ihm erhalten habe . . . eine Mark oder meinetwegen einen ganzen Thaler erhalten.«(78) Und Pitt Holbers beabsichtigt, seiner Tante als Dank für ihre Prügel sein Vermögen zu vermachen.(79) Diese extremen Beispiele für die rückhaltlose und schmerzreiche Anpassung an die vom Vater gesetzten Normen wären bereits aberwitzig, wenn May nicht selbst hier den Fortgang der Handlung gedämpft hätte: Werner erweist sich als Bösewicht, der letztlich niemandem Gutes tun will, und Holbers wird das Geld gestohlen.

Ein Zeichen für Schuldgefühle sehen wir auch darin, daß May später mehrfach auf das Gespräch über Geld mit Intschu tschuna zurückkommt. Dabei bekräftigt er seine früheren Worte: (daß ich kein Gold mag) »habe ich dir (d. i. Winnetou) einst versprochen, und ich halte mein Wort.«(80) Oder er gibt seine damalige Unaufrichtigkeit zu, als ihn Winnetou zur Rede stellt: »Ich hörte es damals deiner Stimme an, daß du doch vielleicht anders dachtest, als du sagtest. Das Gold hatte großen


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Wert für dich. Habe ich da recht gedacht?« - »Du hast dich wenigstens nicht ganz geirrt«, gestand ich ein.(81) Anschließend lehnt er wiederum, diesmal offenbar ehrlich, das Trachten nach toten Schätzen(82) ab, doch auch dies wird später relativiert. Im 4. Band von »Winnetou« ist Old Shatterhand beschämt, außerordentlich beschämt, daß er bei Winnetous Testament nur Gold und immer wieder nur Gold im Sinn gehabt habe.(83) Karl May wurde offensichtlich seiner eigenen Einstellung zum Geld nicht froh, so als ob er befürchtete, den Zorn des Vaters zu erregen. Der Widerstreit zwischen dem Eingehen auf die väterliche Forderung nach Geldverzicht und dem Haß auf diesen fordernden Vater zieht sich bis in Mays letzte Werke.

Karl Mays moralisierende Betrachtungen über die verderbliche Wirkung des deadly dust, die wir weiter oben als Ablehnung Mays einer vom Geld beherrschten Welt interpretiert haben, sind, auf ihren psychischen Ursprung zurückgeführt, der Nachhall dessen, was die Normen des Vaters einst von ihm verlangt hatten. Daß May eben nicht bei diesen belehrenden Bemerkungen über die Schädlichkeit des Geldes (die er im wesentlichen von seinem Vater übernommen hatte) stehengeblieben ist, sondern unter Umgehung aller Klischees einen Freiraum geschaffen hat, in dem nicht in unterdrückender Armut, sondern erhebender Geldlosigkeit gelebt wird, ist eine seiner literarischen Großtaten.


VII

Wir verstehen nun, warum Karl May nicht in der Lage war, in seinen phantastischen Reiseerzählungen seinem zweiten Ich den sehnlichen Wunsch nach Reichtum zu erfüllen. Auch seine Träume mußten sich nach den Maßstäben richten, die er als Kind in einer schmerzhaften Erfahrung von seinem Vater übernommen hatte, als dieser die Hoffnung auf eine ersehnte Gabe nicht erfüllte und stattdessen durch körperliche Züchtigung zur Arbeit trieb. Gefühle der Angst und der Schuld vor dem Vater sind es, die May hindern, Old Shatterhand Schätze finden zu lassen. Wie stark die Macht gewesen sein muß, die den Ich-Helden vom so begehrten Geld fernhielt, sehen wir umgekehrt an der großen, aller Fesseln ledigen, kaum zu bändigenden Kraft, die Mays Phantasie sonst zu entfalten vermochte, wenn er dieses Ich als


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körperlichen Heros und umfassend gebildeten Menschen in entfernteste Regionen reisen und kühnste Abenteuer bestehen ließ. Die Betrachtung eines speziellen Vorfalls in Karl Mays persönlicher Lebensgeschichte hat uns erklärt, was sich durch Betrachtung der sozialen Herkunft allein nicht deuten ließ.

Da der Traum vom großen Geld dem von der Armut Gepeinigten immer gegenwärtig war, mußte May in seinen Phantasieschöpfungen vermitteln zwischen dem unbewußten Zensor, der Geld verbot, und dem bewußten (oder vorbewußten) Geldwunsch. Die Westmänner mit Goldschätzen, die Lords und Kaufleute sind Wunschphantasien Karl Mays, die er zwar in Nebenfiguren, nicht aber in seinem Ich-Helden darstellen konnte. Der Ich-Held ist keiner von ihnen, aber er darf sich ihnen nähern. Die Begegnungen mit den reichen Lords, die dem Ich Geld zur Verfügung stellen, und den vornehmen Kaufleuten, die ihm Gastfreundschaft erweisen, sind Kompromißbildungen. Solange sich der Held in ihrem Bereich befindet, genießt er mit ihnen das Glück der Wohlhabenheit, erfüllt er sich den alten Wunsch nach Geld. Doch da er sich bei ihnen nur vorübergehend aufhält und auch betont, daß er nicht in ihre Kreise gehört, entwindet er sich dem Vorwurf, mehr zu fordern als die zu eigen gemachten väterlichen Gebote gestatten. Hinzu kommt, daß Kara Ben Nemsi für seinen Aufenthalt in diesem Milieu Gegenleistungen erbringt, indem er Lindsay begleitet und beschützt, Jacubs Nichte Senitza befreit oder Latréaumonts Sohn zurückholt. Er erarbeitet sich also den Zugang zur Wohlhabenheit und erfüllt damit wiederum ein Gebot des Vaters. May genehmigt seinem Roman-lch den wirtschaftlichen Aufstieg nur als Lohn für vollbrachte Arbeit - nicht etwa durch eine beiläufig entdeckte Goldader. (Dies erklärt, warum im Alterswerk, vor allem in »Und Friede auf Erden« und im 4. Band von »Winnetou« im Gegensatz zu den früheren Reiseerzählungen das Ich vermögend ist und seinen hohen sozialen Status in Hotel-, Luxusschiff- und Palastszenen betont. May hat sich ja als Schriftsteller zur Wohlhabenheit emporgearbeitet und kann ohne innere Angst seinen Ich-Helden in vornehmen Kreisen belassen.(84))

In dem Schwanken des Helden der Reiseerzählungen zwischen dem Anschluß an wohlhabende Kreise und dem Geldverzicht im Freiraum erkennen wir die »Springprozessionen« wieder, die May zwischen Zivilisation und Freiraum hin- und hertreiben. Dort, wo kein Geld benötigt wird und daher keines ersehnt zu werden braucht, gibt es keinen


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Widerstreit mehr mit den Vorschriften des Vaters. Dort erweist sich das Ich allen überlegen. Durch die Konstruktion des Freiraumes schuf sich May die Möglichkeit, in seiner Phantasie das durch die Geldwirtschaft bedingte Elend samt dem in diesem Elend entstandenen Vater-Sohn-Konflikt zu überwinden.



1 z. B. in II, 368 - Römische Zahlen beziehen sich auf unbearbeitete Bände von Karl Mays Gesammelten Reiseerzählungen bzw. Werken. Freiburg bzw. Radebeul

2 I, 325 und passim

3 Karl May, Der verlorene Sohn. Hildesheim-New York 1970-1972, Bd. 2, 507

4 Karl May, Mein Leben und Streben. Hrsg. v. Hainer Plaul. Hildesheim-New York 1975, 19

5 ebd. 19, 17

6 ebd. 14f.

7 ebd. 15

8 ebd. 83

9 Karl May, Der Weg zum Glück. Hildesheim-New York 1971, Bd. 2, 643

10 Karl May, Der verlorene Sohn, Bd. 3, 1277

11 Karl May, Mein Leben und Streben, 10

12 Karl May, Der verlorene Sohn, Bd. 1, 119f.

13 Karl May, Mein Leben und Streben, 8, 2

14 Hans Wollschläger, Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, 16f.

15 Man muß wohl hier, im Sinne der Psychoanalyse, von »vorbewußt« sprechen. »Unbewußte« Regungen Mays in der Geidfrage werden wir weiter unten erörtern.

16 Gertrud Oel-Willenborg, Von deutschen Helden. Eine Inhaltsanalyse der Karl-May-Romane. Weinheim-Basel 1973, 65

17 ebd. 66

18 VIII, 403, 411

19 VIII, 4f.

20 XV, 131

21 VIII,

413

22 VIII, 5

23 XV, 636

24 VII, 498 - Geldgier und damit verbundene Verbrechen erscheinen bei May häufig, wobei der Fall Nscho-tschi eine Sonderstellung einnimmt. Ihre Ermordung läßt sich nicht allein aus der Geldproblematik erklären, sondern muß auch als Frauenschicksal bei May gesehen werden. Vgl. Ingrid Bröning, Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem. Ratingen-Kastellaun-Düsseldorf 1973, 154f.; Martin Lowsky, Über die Wandlung des Frauenbildes in Mays Werk, in: Mitt-KMG Nr. 19 und 20 (1974), 19, 5; Gunter G. Sehm, Der Erwählte, in: Jb-KMG 1976, 9-28 (18). Die gleichzeitige Ermordung von Winnetous Vater werden wir weiter unten erörtern.

25 Karl May, Der Ölprinz. Bamberg-Braunschweig 1974, 17f.

26 Gert Ueding, Glanzvolles Elend - Versuch über Kitsch und Kolportage. Frankfurt a. M. 1973, 89f.

27 III, 367f.

28 vgl. Lowsky, Mitt-KMG 19, 4ff.

29 III, 365f.

30 X, 7, 11

31 Bach erklärt Mays Neigung zu »Edelleuten und Lordschaften« ebenfalls durch deren besondere Familienverhältnisse, nämlich durch ihren »Reichtum an Ahnen«, der für


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May eine »Plurifizierung der Mutter« bedeutet habe. Wolf-Dieter Bach, Sich einen Namen machen, in: Jb-KMG 1975, 34-72 (49)

32 Karl May, Die Rose von Kairwan. Hildesheim-New York 1974, 242

33 Ueding, a. a. O., 83f.

34 III, 353

35 II, 131

36 III, 549, 271f., 449

37 XXII, 2

38 Karl May, Der Schatz im Silbersee. Bamberg-Braunschweig 1973, 215. - Die Episode von Winnetous Krankheit, die so wenig in das Bild vom heldischen Häuptling paßt, hat freilich auch andere Gründe (abgesehen davon, daß May durch diese Krankheit den verfolgten Verbrechern den nötigen Vorsprung verschaffte): durch sie machte er sich und den Lesern deutlich, daß Winnetous Reise nach Afrika ein literarischer Mißgriff war.

39 XI, 388

40 I, 320

41 XI, 494

42 Ueding a. a. O., 84

43 Heinz Stolte, Ein Literaturpädagoge. Untersuchungen zur didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch »Die Sklavenkarawane«, 2. Teil, in: Jb-KMG 1974, 172-194 (172ff.)

44 Wolf-Dieter Bach, Fluchtlandschaften, in: Jb-KMG 1971, 39-73. Die folgenden Zitate: 48, 45

45 XI, 397; die folgenden Zitate: 488, 523

46 XXIV, 551

47 XXIV, 565

48 VIII, 408f.

49 IX, 317

50 XXIV, 122

51 Nicht jeder Bewohner des Wilden Westens ist allerdings in dieser glücklichen Lage. May weist auf Tausende und Abertausende von armen, roten Männern hin, die keine Goldlager kannten und deshalb in den Raubzügen der vordringenden Zivilisation die auch, wie wir sahen, ein Hauptthema bei May sind, nicht bestehen konnten (XXIV, 120).

52 XV, 606f.

53 Karl May, Der Ölprinz, 92f.

54 IV, 34

55 XXII, 57; Vgl. Kurt H. Schenk, »Ich, der Proletarier«, sagte Karl May, in: Mitt-KMG 19 (1974)

56 XXIV, 551

57 XXI, 262

58 Vgl. Karl May, Der Scout, in: Deutscher Hausschatz, 15. Jg. (1888/89) S. 383, wo May als Knabe den alten Vater Homer übersetzen mußte, sowie XXIV, 6ff.

59 VII, 8, 28

60 VII, 454f.

61 Siehe Karl May, Mein Leben und Streben, 40, wo May vom Handschuhnähen mit den Schwestern spricht; vgl. die Zeitangaben Plauls, ebd., Anm. 44 und Genealogische Tafel »May«.

62 XXI, 208

63 Karl May, Mein Leben und Streben, 10f.

64 XXIV, 53

65 XXIV, 49f.

66 XXIV, 607f.

67 XXIV, 608

68 XXIV, 534

69 XXXII, 187

70 ebd. 208


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71 ebd. 209f.

72 Karl May, Mein Leben und Streben, 8

73 Hans Wollschläger, »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays, in: Jb-KMG 1972/73, 11-92 (36)

74 Hans Wollschläger, Der »Besitzer von vielen Beuteln«. Lese-Notizen zu Karl Mays »Am Jenseits« (Materialien zu einer Charakteranalyse II), in: Jb-KMG 1974, 153-171 (157f.). Wollschläger liefert in dieser Arbeit eine Beschreibung der bösen Reichen als Vaterbilder.

75 VII, 484

76 VII, 507

77 wie Anm. 73, 38

78 XXI, 209

79 XV, 608f.

80 XXIV, 550f. Interessanterweise wird in den Wiederaufnahmen dieser Unterredung Winnetou als der damalige Gesprächspartner bezeichnet. Sollte hier die Erinnerung an den Vater und seine Ermordung zusammen mit den Schuldgefühlen verdrängt werden?

81 IX, 467

82 IX, 467

83 XXXIII, 243, 239

84 und sogar nun selbst Goldschätze entdecken; vgl. Jb-KMG 1970, 173ff.


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