//168//

KURT LANGER

Der psychische Gesundheitszustand Karl Mays
Eine psychiatrisch-tiefenpsychologische
Untersuchung



Es war, als ob diese Stimmen nicht in mir, sondern grad vor meinem äußern Ohr ertönten. Ich gab mir alle Mühe, sie zum Schweigen zu bringen, doch war das, so lange ich die Feder in der Hand hielt und zum Schreiben sitzen blieb, vergeblich . . . Das ging den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch und auch dann noch immer weiter. Kein anderer Mensch sah und hörte es; Niemand ahnte, was und wie furchtbar ich litt. Jeder Andere hätte das als Wahnsinn bezeichnet, ich aber nicht. Ich blieb kaltblütig und beobachtete mich.(1)

Die eigenartigen Seelenzustände Karl Mays, die er an dieser und an anderen Stellen seiner Selbstbiographie beschreibt, sind für den interessierten Psychiater und Tiefenpsychologen sowohl Gegenstand der Faszination als auch der fachlichen Neugierde; denn mit welcher Störung hat man es hier wohl zu tun? Karl May schildert neben halluzinatorischen Erlebnissen in seiner Selbstbiographie auch Stuporzustände, Depressionen, Umdämmerungen und Zwangshandlungen unter dem Einfluß imperativer Stimmen »Wir zwingen dich, dich zu rächen!«(2)

Ausgehend von den Phänomenen läßt sich eine bunte Palette von möglichen psychiatrischen Diagnosen erstellen: Hysterie in Verbindung mit Kleptomanie(3), Pseudologia phantastica(4), narzißtische Neurose(5), Verlangsamung des seelischen Reifungsprozesses (Erich Wulffen)(6), Haftpsychose(7); außerdem müßte auch eine echte endogene Psychose, vor allem eine Schizophrenie oder eine schizoaffektive Psychose, in die Reihe der differentialdiagnostischen Erwägungen mit einbezogen werden.

In der Literatur wird der Verdacht geäußert, Karl May habe aus Gründen der Selbstverteidigung Krankheitssymptome bei sich beschrieben, um sich zu entlasten, getreu dem Motto Heut würde man mich freisprechen(8). Dabei werden Karl May Kenntnisse der psychiatrischen Literatur seiner Zeit bescheinigt. Es sei ihm deshalb möglich gewesen, die verschiedenen Krankheitssymptome zu seiner Entlastung


//169//

vorzubringen, jedoch: »Die "inneren Stimmen" . . . sind freilich bereits Imagines einer höheren Einordnung; bei kälterem Licht besehen, und abgelöst von der belletristischen Überfärbung, zeigt sich der Zwiespalt weit verwischter, dumpfer in der tieferen Region der kaum mehr sichtbar abgegrenzten Antriebe: wenig wahrscheinlich ist, daß die Parteien des Getümmels dem Bewußtsein deutlich geworden wären, einem Bewußtsein, das - ohnehin unklar genug - von den immer dichter heraufreichenden, von Alkoholzufuhr aufgerührten Bodensätzen fehlschlägiger Erziehung am Ende nun ganz eingetrübt wird.«(9) Folgerichtig wird daraus der harte Schluß gezogen: »Heute . . . würde man May gewiß ebensowenig "freisprechen" wie damals . . . «(10)

Für den Untersucher ist die Frage, ob Karl Mays Schilderung seiner Seelenzustände wahr ist oder ob man sie als apologetische Täuschung bzw. möglicherweise Selbsttäuschung anzusehen hat, von entscheidender Wichtigkeit. In letzterem Fall wäre sie für eine psychiatrische Diagnose wenig brauchbar. Glücklicherweise läßt sich diese Möglichkeit aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen, und zwar aus folgendem Grund: Karl May war selbst ängstlich darauf bedacht, nicht als »psychiatrischer Fall« abgestempelt zu werden - Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank(11). Er beklagt sich in seiner Selbstbiographie über jenen Wissenschaftler (Wulffen), der sich unterfangen hatte, ihn »psychiatrisch« zu beurteilen. Aus vielen Zeilen spricht die Angst, man könnte ihn für »geistig« nicht gesund halten und ihn »atavistischer Schwachheiten« zeihen. Auch war ihm die gefährliche Nähe z. B. von halluzinatorischen Erlebnissen zu der Diagnose einer schizophrenen Erkrankung zweifellos gut bekannt (Jeder Andere hätte das als Wahnsinn bezeichnet). Wir können daraus folgern: Alle Mitteilungen Mays, die seiner Grundtendenz, für geistig gesund gehalten zu werden, zuwiderlaufen, sind höchstwahrscheinlich im wesentlichen wahr. Es ist einfach nach allem, was wir über Mays Verhalten in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern wissen, unvorstellbar, daß er sich in dieser Weise zu unrecht »belastet« haben sollte. Er neigte viel eher zum Verschweigen oder Verharmlosen (siehe z. B. seine Darstellung der »Kerzengeschichte« im Seminar zu Waldenburg). Einmal mehr zeigt es sich also, daß es sich lohnt, Mays Äußerungen ernst zu nehmen.

Über die traurige Kindheit Mays wissen wir aus seiner Selbstbiographie und aus der Sekundärliteratur recht gut Bescheid, die Trauma-


//170//

tisierung seiner Psyche war bereits Gegenstand verschiedener Untersuchungen. Es bedarf daher keiner näheren Begründung, daß sich in Mays Psyche ein besonders starkes Minderwertigkeitsgefühl entwickeln mußte. Minderwertigkeitskomplexe aber stehen nach Alfred Adler im Zentrum aller neurotischen Entwicklungen und führen zu intensiven Sicherungen, die sich vor allem in einem übersteigerten Macht- und Geltungsstreben äußern.(12) Während starke Minderwertigkeitsgefühle im allgemeinen aber zu Kompensationsversuchen auf der »sozial unnützen« Seite (Adler) führen, glückte May die Kompensation später in Form seiner literarischen Produktionen im sozial nützlichen Feld. Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi sind gelungene Sublimierungen seines sicher nicht unbedenklichen Strebens nach Überlegenheit. Vermutlich waren es starke Über-Ich-Bindungen, die ihm die Sublimierung ermöglichten und ein weiteres Abgleiten verhinderten.

Zunächst bleibt aber festzuhalten, daß ein schwaches, von Identitätskrisen geschütteltes Ich diese Kompensationsversuche notwendig machte.(13) Die Ich-Schwäche als solche begünstigt eine Inflation mit unbewußten Inhalten, wobei die traurige äußere Realität der Kindheit Mays den unlösbaren Konflikt zwischen Ich und Außenwelt, den Sigmund Freud für das Zustandekommen einer Psychose postuliert, förderte. In der Psychose wird eine neue Innen- und Außenwelt im Sinne der Wunschregungen des Es geschaffen.(14) Auch nach Alfred Adler spiegeln die Halluzinationen das Zutrauen, die Hoffnungen oder Befürchtungen des Patienten wider.(15)

Jedoch ist eine psychotische Reaktion bei dieser Interpretation nicht Folge eines Krankheitsprozesses, etwa einer cerebralen Stoffwechselstörung, sondern ein psychischer Abwehrmechanismus (Freud) bzw. eine Sicherung (Adler), gleichsam ein letzter Ausweg, der das vom völligen Zusammenbruch bedrohte Ich schützen soll. Beim Versagen aller - selbst der psychotischen - Abwehrmechanismen bleibt nur noch die Selbstvernichtung des Ichs, der Selbstmord. Es klingt wie eine Andeutung dieser äußersten Möglichkeit, wenn Karl May in seiner Selbstbiographie erzählt: Das verfolgte mich hin und her; das jagte mich auf und ab. Das schrie und jubelte und höhnte, daß mir die Ohren gellten. Als die Sonne aufging, fand ich mich im Innern eines tiefen, steilen Steinbruches emporkletternd. Ich hatte mich verstiegen; ich konnte nicht weiter. Da hatten sie mich fest, und da ließen sie mich nicht


//171//

wieder hinab. Da klebte ich zwischen Himmel und Erde, bis die Arbeiter kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern herunterholten.(16) Es mag das starke reiigiöse Tabu gegen den Suicid gewesen sein, das ihn vor dem Äußersten bewahrte.

Die schier unerträglichen seelischen Spannungszustände lösten übrigens bei ihm auch eine ihm selbst unverständliche Gier nach Alkohol aus, der er jedoch nicht nachgab.(17) Ein diagnostisch höchst bedeutsames Symptom, dessen Mitteilung allein schon für die Richtigkeit von Mays Bericht zeugt!

Die ganzen Umstände sprechen in der Tat dafür, daß es sich bei May um psychotische Auslenkungen eines schwer neurotischen Menschen handelte, daß aber eine endogene Prozeßpsychose auszuschließen ist. Die ungeheuer schöpferische Phantasie Mays, sein völlig intaktes Schaffen bis ins Alter hinein, die ihm sogar die Hinwendung zum symbolischen Roman auf einem hohen literarischen Niveau ermöglichten, lassen eine (auch nur angedeutete) schizophrene Defektsymptomatik völlig vermissen. Nicht so freilich die Bereitschaft zu psychotischen Reaktionen selbst im späteren Lebensalter: Noch im Jahre 1899 geriet er auf der großen Orientreise in einen derart unnormalen Zustand, daß man befürchtete, ihn einer Irrenanstalt zuführen zu müssen.(18) Zeitweise glaubte er, von seiner ersten Frau Emma vergiftet zu werden und aß daher nur von Speisen, die von Dienstboten vorgekostet worden waren.(19) Literarisch ist gerade in seinem Alterswerk eine Hinwendung zu archetypischen Bildern festzustellen. Er konnte sich auch mit den Gestalten seiner Phantasie wie mit lebenden Personen unterhalten (Hier allerdings waren die Hallazinationen nicht Ursache, sondern Folge der eigenen Gedanken und insofern steuerbar.) Die Grenzen zwischen Realität und Phantasie, zwischen bewußt und unbewußt, blieben bei ihm zeitlebens unscharf. Seine gelegentliche Vorliebe für den Spiritismus weist in die gleiche Richtung. Die halluzinatorischen Erlebnisse lassen sich nach Alfred Adler als »Objektivierung subjektiver Regungen« sehr gut deuten.

Diese lebenslange Neigung zu halluzinatorischen Erlebnissen bzw. psychotischen Reaktionen macht die Annahme Hainer Plauls(20), es habe sich bei Karl May um eine typische Haftpsychose gehandelt - auch abgesehen von dem fragwürdigen zeitlichen Zusammenhang, der im Widerspruch zu Mays eigener Aussage steht - unwahrscheinlich. Das schließt freilich nicht aus, daß es bei May auch während der


//172//

Haftzeit zu psychotischen Reaktionen kam, worauf sein Gedicht Kennst du die Nacht . . . (21) nach Meinung einiger hinweist.

Es fällt aber noch etwas auf: Die erstaunliche Distanz nämlich, mit der Karl May trotz allem seine Halluzinationen manchmal erlebt: . . . ich machte diese Beobachtungen mit einer Objektivität und Kaltblütigkeit, als ob es sich nicht um mich selbst, sondern um einen ganz andern, mir vollständig fremden Menschen handle.(22) Sinnestäuschungen, deren Trugcharakter vom Patienten selbst erkannt wird, nennt man Pseudohalluzinationen. Aufgrund von Einzelbeobachtungen kann ich bestätigen, daß Pseudohalluzinationen tatsächlich bei psychotischen Auslenkungen schwer Neurotischer vorkommen und die Diagnose Schizophrenie eher unwahrscheinlich erscheinen lassen.

Jener Karl May, der als junger Mensch von Sinnestäuschungen gepeinigt umherirrte und wie ein Vieh seinen Hunger mit Rüben stillte(23), litt an einem sogenannten Borderline-Syndrom, einem Grenzzustand zwischen Neurose und Psychose bzw. einer schweren Neurose mit Neigung zu psychotischen Eskalationen. Bei der Beurteilung seiner Straftaten würde ein heutiger psychiatrischer Gutachter dem Gericht die Anwendung des § 20 StGB (Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen) empfohlen haben. Karl May fand später einen guten Psychotherapeuten in Gestalt des katholischen Anstaltskatecheten Johannes Kochta und schaffte mit dessen Hilfe den Weg in die soziale Reintegration und zu gesellschaftlichem Ansehen. Bereits bei seinen frühen Straftaten kündigen allerdings gewisse komödiantenhafte und schelmische Züge andeutungsweise den späteren Dichter an.



1 Karl May, Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910); zitiert nach dem Faksimile-Nachdruck, hrsg. von Hainer Plaul, Hildesheim-New York 1975, 116f.

2 Karl May, Mein Leben und Streben, 162

3 Ludwig Gurlitt, Gerechtigkeit für Karl May. Radebeul 1919, 34; auch in: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34 »Ich« (28. Aufl.), Bamberg 1971, 441

4 Claus Roxin, Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: Jb-KMG 1971, 81ff.

5 Hans Wollschläger, »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. In: Jb-KMG 1972/73, 15ff.

6 zitiert nach Claus Roxin, a. a. O. 98

7 Hainer Plaul, Resozialisierung durch »progressiven Strafvollzug«. Über Karl Mays Aufenthalt im Zuchthaus zu Waldheim von Mai 1870 bis Mai 1874. In: Jb-KMG 1976, 134ff.

8 Eingabe Mays an Untersuchungsrichter Larrass, zitiert nach Claus Roxin, a. a. O. 100

9 Hans Wollschläger, Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, 36


//173//

10 Hans Wollschläger, Karl May, 35

11 Karl May, Mein Leben und Streben, 111

12 Alfred Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Frankfurt a. M. 1974 (Fischer-Taschenbuch 6236), 48ff.

13 Heinz Stolte, Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. Vortrag gehalten am 22.10.1977 in Freiburg; Abdruck in diesem Jahrbuch.

14 Sigmund Freud, Studien zur Psychoanalyse der Neurosen. Leipzig-Wien-Zürich 1926, 164ff.

15 Alfred Adler, Über den nervösen Charakter. Wiesbaden 1912, 119

16 Karl May, Mein Leben und Streben, 163

17 Karl May, Mein Leben und Streben, 159f.

18 Hans Woilschläger, »Die sogenannte Spaltung . . . «, a. a. O. 55f.

19 Hans Wollschläger, Karl May, 107

20 Hainer Plaul, a. a. O. (wie Anm. 7)

21 vgl. Faksimile-Abdruck in: Jb-KMG 1971, 123

22 Karl May, Mein Leben und Streben, 113

23 Karl May, Mein Leben und Streben, 164


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz