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HEINZ STOLTE

Mein Name sei Wadenbach
Zum Identitätsproblem bei Karl May*



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Sein Name sei Wadenbach, das behauptete jener Landstreicher, der am 4. Januar des Jahres 1870 abgerissen, ausgehungert und halb erfroren auf dem Dachboden eines Hauses im böhmischen Niederalgersdorf »unter verdächtigen Umständen«, nämlich schlafend, von Bewohnern entdeckt und alsbald von der k. u. k. Gendarmerie unsanft geweckt und vom Ort weg verhaftet worden war.(1) Hatte man einen Dieb erwischt, der mit finsteren Plänen eingestiegen war und den nur das Einschlafen gehindert hatte zu stehlen? Mitnichten! Vielmehr, als man das dürre Klappergespenst, dieses Haut-und-Knochen-Männchen, in das zwei Kilometer entfernte Bezirksgericht Bensen gebracht hatte, dort, in der warmen Amtsstube, erwachte das hohläugige Phänomen zu einem seltsam schillernden und faszinierenden Leben. Ein Dieb? Ein Landstreicher? Er? Lächerlich! Da warf er sich nun in die Brust, hob den Finger, blickte mit schwimmenden Träumeraugen durch das Fenster, durch die Wand und sprach - in offene Münder hinein: »Ich bin der Ökonom und Plantagenbesitzer Albin Wadenbach aus Orby auf der Insel Martinique. Martinique ist eine französische Insel. Mein Grundbesitz in Amerika repräsentiert einen Wert von 20000 Dollars!«

Wie er denn aber, ein Ökonom und Plantagenbesitzer, abgerissen, ohne Geld und ohne Papiere, auf den Dachboden eines fremden Hauses in Böhmen geraten sei? Das nun eben sei ja das Schlimme und eine ganz, ganz komplizierte Geschichte, die er ihnen denn wohl noch ausführlich erzählen müsse. Es folgte jener Roman, der, als quasi erste in sich geschlossene Reiseerzählung von Karl May, uns durch keine

* Vortrag, gehalten auf der 4. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Freiburg am 22. Oktober 1977.


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geringere Quelle überliefert wurde als durch die Kriminalakten des Mittweidaer Strafprozesses(2); jene phantastische Geschichte, von der schon Erich Wulffen, der sächsische Staatsanwalt und Kriminologe, in seinem dem Fall Karl May gewidmeten (noch immer ungedruckten) Buch geurteilt hat, dies sei im Leben des seltsamen Mannes der wohl entscheidende Augenblick gewesen, in dem erkennbar geworden sei, wie das Kriminelle in ihm ins Literarische gewissermaßen umzuschlagen begonnen habe.

Nämlich so:

Albin Wadenbach ist 22 Jahre alt, so gibt er zu Protokoll, evangelischer Konfession, zu Orby auf der westindischen Insel Martinique geboren als älterer Sohn des Grundbesitzers und Ökonomen Heinrich Wadenbach. Hier stutzen wir schon, wir, die wir wissen, wer hinter der Camouflage steckt: Zweiundzwanzig Jahre? Warum denn, in aller Welt, gerade zweiundzwanzig? Karl May, der Landstreicher von Niederalgersdorf, war, als man ihn halb erfroren und verhungert auflas, fast sechs Jahre älter, stand im achtundzwanzigsten Lebensjahr. Warum, so fragen wir, strich er so glattweg sechs Jahre von seinem Leben ab? Das konnte wohl kaum in dem ja verständlichen Bestreben begründet sein, seine eigene Identität zu verwischen und glaubhaft in eine Rolle zu schlüpfen; denn eher das Gegenteil riskierte er doch damit: Wer wäre nicht imstande, zwischen dem Habitus eines Zweiundzwanzigjährigen und dem eines fast Achtundzwanzigjährigen zu unterscheiden, zumal der Mann, den man hier vor sich hatte, ein paar Jahre hinter sich gebracht hatte, die - wie man so sagt - mehr als doppelt zählen?

Gewiß, eine Polizei, die es mit einem eben erst der Unmündigkeit Entwachsenen zu tun hätte, würde wohl nicht lange nach dunklen Zeitläufen in dessen Vergangenheit forschen. Soviel Kalkül wäre ihm schon zuzutrauen, und doch glaube ich, daß, als er vom Fleck weg seine erfundene Lebensgeschichte zum besten gab, eher ganz unbewußte, unreflektierte Verdrängungszwänge in ihm aufstiegen. Werfen wir nämlich einen Blick auf die wirklichen Daten seiner Lebensgeschichte, so entdecken wir leicht: Zweiundzwanzig Jahre, das war ja genau das Alter, in dem der amtsenthobene Junglehrer, nachdem er es zwei Jahre lang mit allerhand bürgerlichem Broterwerb versucht hatte, jener schweren Depression verfiel, die ihn in das eigentliche Inferno seines Lebens stürzte. Da begannen die Jahre seiner kriminellen Verfehlungen, von nagender Not aber auch grimmigem Rachegelüst gegen eine


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ihn ausstoßende Gesellschaft entbunden, und es kamen für ihn die Jahre des Verfolgtwerdens und der Gefängnishaft. Und genau diese sechs Jahre sind es, die nun der polizeilich Befragte kurzerhand hat unter den Tisch fallen lassen. Zweiundzwanzig Jahre alt! Wunschtraum eines Geschundenen! Und man versteht vielleicht schon, meine verehrten Zuhörer, warum ich den scheinbar so nebensächlichen Umstand hier so hervorgehoben habe. Er ist ja so charakteristisch. Im selben Augenblick, da in ihm aus so dringend-bedrängendem Anlaß seine Phantasie sich anschickte, ihm das exotisch schillernde Tarngespinst zu spinnen, einen Roman zu erfinden, im selben Augenblick schaltete sich auch schon der Mechanismus ein, der späterhin auf Jahrzehnte sein literarisches Schaffen bestimmen sollte. Schriftstellerei, Erzählen, Phantasieren, das hieß ihm vor allem: Auslöschen, Bereinigen, Annullieren, Tabula-rasa-machen mit dem, was gewesen und  f a l s c h  gewesen war. Es wegstoßen ins Niegewesene und es ersetzen durch ein ganz anderes, durch das  r i c h t i g e  Leben, das niemals war noch sein wird, das aber das seine hätte sein sollen.

Es hätte so sein sollen! Und kaum geboren in seiner Phantasie, nimmt dieser Albin Wadenbach auch schon die genauesten Konturen an, ist gleichsam plastisch vorhanden, ist Figur, ist dramatis persona genug, um ganz und mit Haut und Haaren hineinzuschlüpfen und in ihm zu verschwinden. Niemals, wir wissen das schon, hat auch späterhin der Schriftsteller, der Erzähler Karl May davon lassen können, wenigstens in der literarischen Fiktion als das große »Ich« selber zu sein, was er aus Tiefen der Traumkraft hervorbrachte: Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi. Hier freilich, in der Amtsstube von Bensen, war dies, sich identisch zu erweisen mit seinem Traumgebilde, das dringendste Gebot der Stunde, war es gewiß noch mehr Hochstapelei als Literatur.

Aus Orby ist er gekommen, weit über das Meer, von der Insel Martinique, und wir verstehen es wohl schon, was diese Insel bedeutet: Sie ist soviel wie Otahaiti, wie die Insel der Glückseligen, die Goldinsel der alten Sagen, die Insel Utopia des Thomas Morus. Und Orby (das man auf keiner Landkarte von Martinique hat auffinden können), dieses Orby ist vielleicht auch nichts anderes als jenes »Orplid, mein Land, das ferne leuchtet«, was dem gewesenen Seminaristen Karl May gewiß aus Mörikes Gedichten im Kopf rumort haben kann.

Exotische Ferne, Märchenland steigt herauf, und wer dem Werden eines zentralen Motivs in der Erzählwelt Karl Mays näher nachspüren


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wollte, käme wohl auch darauf, daß dieser Insel-Mythos, der am Anfang steht, und der Mythos von Sitara, der das Ende kennzeichnet, ausgesponnen im Epos von Ardistan und Dschinnistan, aus gleichem Ursprung kommen, ja, daß sie ein und dasselbe sind. Dort jedenfalls, im Jenseits, im Garten Eden, liegt seine wahre Heimat, das glückselige Idyll seiner Kindheit und Jugend. Nichts darin von den Kümmernissen und Nöten von Ernstthal, dem ernsten Tal seiner wirklichen Herkunft. Zwar die Mutter ist schon lange tot, aber der Vater war ein reicher Mann. Tabak, Vanille und Hanf wuchsen auf seinen Plantagen, und er, Heinrich Wadenbach, konnte es sich leisten, seinem ältesten Sohn Albin eine ausgezeichnete Erziehung und Bildung mitzugeben. Nicht auf einer gewöhnlichen Schule wurde er unterrichtet, nein, er hat immer seinen Hauslehrer gehabt und Privatunterricht genossen. Die Landwirtschaft hat er als Praktikant erlernt, aber auch - nebenher - bei einem berühmten Arzt namens Legrand practische Kenntnisse in der Medicin erworben. Die Sache mit den praktischen Kenntnissen in der Medizin mag uns hier ja besonders ins Auge springen: es ist die eine große Versagung seiner Jugend. Es muß ihn zutiefst frustriert haben, daß sein Lebenswunsch, Medizin zu studieren, nicht in Erfüllung gegangen war. Hier hat eine seiner Hochstaplerrollen, der Doktor Heilig, ihren Ursprung; aber auch durch sein ganzes Erzählwerk zieht es sich als ein Leitmotiv in hundert Varianten hindurch: seine »praktischen Kenntnisse in der Medizin« brillieren, wo immer sich im Fluß seiner Geschichten ein Anlaß bietet, so daß wir ja nun sogar seit kurzem schon eine medizinische Doktorarbeit über dieses Thema bekommen haben.(3)

Albin Wadenbach hat noch einen jüngeren Bruder namens Franz Friedrich. Der war Kaufmann geworden und hatte es auch schon zu etwas gebracht. Aber nun war der reiche Vater gestorben, das Schicksal hatte auch hier zugeschlagen. Albin Wadenbach mußte Grundbesitz und Ökonomie übernehmen, nun selber ein Mann von 20000 Dollar Vermögen. Das hätte wohl ein behagliches Leben versprochen, aber die beiden jungen Leute litt es nicht länger in Orby. Die Ländereien wurden zur Verwaltung dem Monsieur Marligny übergeben, und man trat die große Reise über den Ozean an. War es eine Suche nach der verlorenen Liebe? Jedenfalls suchten die beiden in der alten Familienheimat Deutschland - wie herzig! - nach zwei lieben alten Tanten, von denen sie außer den Namen nichts wußten, nicht


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einmal ihre Adressen: Malwine Wadenbach die eine, Wirtschafterin beim Rittergutsbesitzer Oberamtmann Poppel in der Nähe von Halle, Frau Ulrich auf einem Rittergut in der Gegend von Görlitz die andere. Im Dezember 1869 reisten also Friedrich und Albin durch Deutschland und nahmen dabei, nach Amerikanerart, allerhand Sehenswürdigkeiten in Augenschein. Im Fürstentum Coburg-Gotha schließlich faßten sie den Plan, getrennt auf die Suche zu gehen, jeder nach einer Tante, Friedrich nach der bei Halle, Albin nach der bei Görlitz. Faßt man ihre Lage ins Auge, so muß füglich am gesunden Menschenverstand der beiden jungen Herren gezweifelt werden, zumal sich Albin beim Abschied von den 800 Dollar Reisegeld, die Friedrich, der Kaufmann, bei sich hatte, nur das nöthigste Geld aushändigen ließ, Friedrich aus Versehen auch die Ausweispapiere seines Bruders mit sich nahm und beide ganz vergessen hatten, einen Treffpunkt oder eine Postanschrift zu verabreden. So nahm denn das Schicksal seinen Lauf. Albin Wadenbach wollte von Coburg nach Görlitz, aber es muß wohl auch mit seinen Geographiekenntnissen nicht gut bestellt gewesen sein, denn er reiste, wie er minutiös zu Protokoll gab, statt durch Sachsen, wie es näher gewesen wäre, durch Bayern nach Böhmen über Eger, Carlsbad, Teplitz, Aussig und Tetschen. Dann aber war sein Geld zur Neige gegangen, und da war er denn, nachdem er schon drei volle Tage ohne Geld und Verpflegung und zu Fuß seinen Weg nach Görlitz weiter verfolgt hatte, schließlich in Niederalgersdorf angekommen. Ich wollte, so versicherte er, im Dachboden nur ausruhen, vor Erschöpfung schlief ich ein und erwachte erst früh.

Da haben wir die Geschichte, und wenn man weiß, daß der Mann, der sie erzählte, nach Pseudologen-Manier im selben Augenblick, in dem er sie produzierte, an ihre Wahrheit beinahe selber zu glauben vermochte, kann es uns nicht wunder nehmen, daß er auch seine Verhörer zu überzeugen wußte. So wurde der Diebstahlsverdacht gegen ihn fallen gelassen und eigentlich nur noch einiges routinemäßig in die Wege geleitet, um die vermeintliche Identität zu überprüfen. Albin Wadenbach selber zeigte sich eifrig, die Beamten in ihrer Nachforschungsarbeit zu unterstützen. Er ließ sich Papier, Tinte und Feder geben und schrieb zwei schön stilisierte Briefe.(4) Den einen an das Bankhaus Plaut und Comp. in Leipzig, Katharinenstraße 13, in dem es hieß: Meine erste Bitte an Sie ist um Verzeihung, daß ich Sie mit einem Schreiben von meinem gegenwärtigen unfreiwilligen Aufenthalt incom-


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modire; aber, bitte werfen Sie die Schuld auf meine unangenehme Lage. Ich habe ohne Legitimation Böhmen durchreist, um meine Verwandten in der Lausitz zu besuchen, bin von der Polizei aufgegriffen worden und muß mich ausweißen, um meine Freiheit wieder zu erhalten. Diese Ausweißung kann nur durch meinen Bruder Frederico Wadenbach, Kaufmann aus Orby auf Martinique, geschehen, welcher bei unserer Trennung die betreffenden Legitimationspapiere bei sich behalten hat. - Da nun derselbe einen Wechsel zur Präsentation auf Ihr Haus bei sich führte, sich Ihnen jedenfalls schon vorgestellt hat, so wage ich es, an Sie die ergebene Bitte auszusprechen, ihm umgehend Nachricht von meiner Lage zu geben und ihn zu veranlassen, mich durch seine Gegenwart und Vorzeigung der betreffenden Papiere zu erlösen. - Indem ich Ihnen schon im Voraus meinen Dank für die freundliche Bemühung ausspreche, behalte ich mir vor, später bei meiner Gegenwart in Leipzig demselben noch mündlichen Ausdruck geben zu dürfen. Achtungsvoll Albin Wadenbach, Plantagenbesitzer in Orby auf Martinique. Den anderen Brief richtete er an den Ökonomen Emil Wettig in Ellersleben bei Cölleda: Entschuldigen Sie gefälligst, wenn ich Sie mit Gegenwärtigem auch einmal von einem europäischen Orte aus ennuyire. Ich bin nämlich auf meiner Reise zu meinen Verwandten begriffen und befinde mich hier in Haft, weil ich die Unvorsichtigkeit begangen habe, dem Bruder unsere Legitimationspapiere zu lassen. Jetzt muß ich mich ausweißen und muß mich deshalb an Sie wenden. Mein Bruder Friedrich ist bei Ihnen gewesen, um mit Ihnen die amerikanischen Verhältnisse zu besprechen, welche die Mündel Ihres Herrn Vater berühren. Sie stehen deshalb mit ihm in brieflichem oder wohl gar in persönlichem Verkehr, und deshalb spreche ich die ergebenste Bitte aus, ihn sofort von meiner Lage zu benachrichtigen, damit er mit den nöthigen Papieren und Geldmitteln komme und mich aus meiner unangenehmen Lage erlöße. Die Gewißheit meines Dankes brauche ich Ihnen nicht erst zu versichern.

Elegant stilisiert, das muß man sagen; und ich habe diese beiden Dokumente aus alten Akten hier vorgeführt, weil sie für jenes Umschlagen aus dem Kriminellen ins Literarische, von dem wir gesprochen haben, so symptomatisch sind. Daß die gleiche Phantastik, die eine Hochstaplerrolle konzipiert, auch imstande wäre und bald imstande sein wird, erzählende Literatur zu produzieren, wird an dieser Stelle ganz einsehbar, indem wenigstens ein Teilstückchen der Wadenbach-Geschichte sich in Form von  T e x t e n  niedergeschlagen hat. Auch was


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wir als die spezifische Kunst des späteren Autors Karl May, als sein »Gütezeichen« kennen, ist in diesen Phantasien aus der böhmischen Gefängniszelle schon virtuos ausgebildet, nämlich die Fähigkeit, »erfundene Wahrheit« glaubwürdig zu machen, indem er sie mit anekdotisch genauen und scharf konturierten Details so auszustatten weiß, daß man nicht mehr zweifelt, es könne sich nur so und nicht anders verhalten haben.


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Die schön schillernde Seifenblase zerplatzte bald. Die bösen Folgen sind uns bekannt. Das freilich unterscheidet untersuchende Polizeibeamte von einem gläubigen Lesepublikum, soviel Verwandtschaft der Hochstapler mit dem Poeten auch haben möge. Was diese betrifft, die Verwandtschaft zwischen Kriminalität und Literatur, so beruht sie ja übrigens unter anderem darauf, daß beide, der Übeltäter und der schöpferische Geniale, jeder auf seine Weise, der bürgerlichen Gesellschaft als Outsider gegenüberstehen, als Asozialer der eine, als Nichtintegrierter (und eigentlich auch Nichtintegrierbarer) der andere. Ich will hier, meine Damen und Herren, keineswegs in das billige und heute so vielstimmig gesungene Lied von der repressiven Gesellschaft einstimmen, auch nicht modisch Begriffe wie Bürgertum und Bürgerlichkeit als eine Art von Schimpfworten gebrauchen. Im Gegenteil, ich sehe den Bürger (den mündigen, wenn Sie so wollen) als den soliden Träger der Zivilisation, in der wir leben. Ich verstehe ihn als den Typus, der mit gesundem Menschenverstand und nüchterner Einschätzung des Möglichen die berufliche Funktion und die soziale Rolle, die ihm zukommen, bejaht und optimal auszufüllen strebt, und der, im großen und ganzen, denn auch mit sich selber im reinen ist. Mit einem anderen - und nun doch modischen - Wort: den Menschen, der seine  I d e n t i t ä t  a n g e n o m m e n  hat.

Was aber ist, dem gegenüber, ein  D i c h t e r ?

Thomas Mann hat auf diese Frage eine Antwort gegeben, die ich in unserem Zusammenhang zu Gehör bringen möchte: »Ich weiß, was ein Dichter ist, denn bestätigtermaßen bin ich selber einer. Ein Dichter ist, kurz gesagt, ein auf allen Gebieten ernsthafter Tätigkeit unbedingt unbrauchbarer, einzig auf Allotria bedachter, dem Staate nicht nur


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nicht nützlicher, sondern sogar aufsässig gesinnter Kumpan, der nicht einmal sonderliche Verstandesgaben zu besitzen braucht, sondern so langsamen und unscharfen Geistes sein mag, wie ich es immer gewesen bin, - übrigens ein innerlich kindischer, zur Ausschweifung geneigter und in jedem Betrachte anrüchiger Scharlatan, der von der Gesellschaft nichts anderes sollte zu gewärtigen haben - und im Grunde auch nichts anderes gewärtigt - als stille Verachtung. Tatsache aber ist, daß die Gesellschaft diesem Menschenschlage die Möglichkeit gewährt, es in ihrer Mitte zu Ansehn und höchstem Wohlleben zu bringen. Mir kann es recht sein; ich habe den Nutzen davon. Aber es ist nicht in der Ordnung. Es muß das Laster ermutigen und der Tugend ein Ärgernis sein.«(5)

»Ein auf allen Gebieten ernsthafter Tätigkeit unbedingt unbrauchbarer Kumpan«! Sehen wir ab von der Clownerie und Koketterie, mit der dies alles gesagt ist, so ist doch ganz ernsthaft das Entscheidende angesprochen, das wir hier meinen. Der Dichter, der Künstler, der geniale Phantasieschöpfer - für ihn gibt es in der Welt bürgerlicher Wirklichkeit keine Stelle. Wer mit der so seltenen Fähigkeit, Kunstwerke zu produzieren, begabt ist, der ist auch zugleich damit geschlagen. Er paßt nicht hinein in unsere hermetische Berufswelt. Dichter ist kein Lehrberuf. Und es gibt kaum einen unter den namhaften Gestalten unserer Literaturgeschichte, dessen Jugend und frühe Mannesjahre nicht zutiefst überschattet gewesen wären durch tragische Erfahrung einer Unbrauchbarkeit im Sinne bürgerlicher Berufsqualifikation. Ob sie nun Hölderlin oder Hebbel, Schiller oder Kleist, Gerhart Hauptmann oder Thomas Mann, Karl May oder Hermann Hesse heißen: gescheitert in einem bürgerlichen Beruf sind sie  a l l e , und mancher sogar mehr als einmal.

Es mag vielerlei Ursachen geben, die ein solches Phänomen jeweils zeitigen; hier will ich aber auf dasjenige eingehen, auf das uns der Fall Karl May - seit jeher ein Muster und Modell für Exkurse in Literaturpsychologie, wie Sie wissen - so eindeutig hinweist. Es heißt, mit einem Wort gesagt: das Problem der  I d e n t i t ä t .

Was ist gemeint?

Sie werden bemerkt haben, meine verehrten Zuhörer, daß ich den Titel, den ich meinem Vortrag gegeben habe, angeähnelt habe einem Romantitel von Max Frisch: »Mein Name sei Gantenbein«. Nicht ohne tiefere Absicht ist das geschehen. Max Frisch hat ja, nicht nur in dem


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hier apostrophierten Roman, sondern recht eigentlich in seinem gesamten Erzählwerk, immer wieder diejenige Problematik angeschnitten, um die es sich hier handelt. Und wer etwa Frischs Roman »Stiller« gelesen hat, der wird mit einigem Erstaunen bemerken, daß zwischen der dort erzählten Begebenheit, daß nämlich ein von der Polizei Festgenommener Stein und Bein schwört, er sei nicht der, der er ist, sondern ein ganz anderer -, und der Episode aus dem Leben Karl Mays, die ich einleitend dargestellt habe, auf eine verblüffende Weise Übereinstimmung besteht. Auch dort geht es um einen, der seine Identität verwischt, der sie auslöschen und durch eine ganz andere Personalität und eine andere Biographie ersetzen möchte. Max Frisch hat die Problematik bis in alle Einzelheiten durchgespielt und die Wurzeln freigelegt, aus denen das Phänomen, das wir mittlerweile als ein spezifisch modernes erkannt haben, zu erwachsen scheint.

Nun bedarf es der Definition dessen, was unter dem Begriff »Identität« in dem Sinne, wie er hier verwendet werden soll, gemeint ist. Hiernach begreifen wir unter Identität des Menschen sein Mit-sich-selbst-identisch-sein; und das heißt zweierlei: die bejahende Übereinstimmung mit dem, was man als Individualität nach Charakter und Fähigkeiten, und das sich selber bescheidende Einverstandensein mit dem, was man als Glied der Gesellschaft in Staat, Beruf und Familie nun einmal i s t. Wer aus der inneren Harmonie mit seinem Wesen und seiner Funktion, seiner wie Goethe sagt: »geprägten Form« und seiner gesellschaftlichen Rolle lebt und wirkt, der ist das, was wir den »bürgerlichen Menschen« nennen, oder, wie frühere Zeiten sich ausdrückten: er ist der  b i e d e r e  Mann, der  B i e d e r m a n n . Daß auf der Solidität und Nützlichkeit dieses Menschentyps der Bestand unserer gesamten Zivilisation beruht, ist so richtig wie die Tatsache, daß es, je unübersehbarer und differenzierter diese Zivilisation sich entfaltet, um so schwieriger, konfliktreicher für namentlich junge, heranwachsende Menschen wird, sich mit sich selber abzufinden und sich in das oft so rätselhafte und problematische Gesellschaftsgefüge auf angemessene Weise zu integrieren. Daß daher der Identitätskonflikt eine spezifisch m o d e r n e Erscheinung ist und zunehmend das Interesse aller nachdenklichen Geister findet, liegt auf der Hand.

Allerdings ist das Problem auch wieder nicht so neueren Datums, wie man zuweilen meint. Schon Goethe hat es gleich in vierfacher Variante in die Literaturgeschichte eingebracht: Im »Werther«, im


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»Tasso«, im »Wilhelm Meister« und im »Faust« -, jeweils geht es um Lebenskonflikte, die darauf beruhen, daß ein wie immer ausnahmehafter Mensch den Zugang zur Welt bürgerlicher Nützlichkeit und die Selbstbeschränkung in einer beruflichen Funktion und Rolle nicht findet oder nur nach langen Umwegen »ein Organ aus sich zu machen« weiß, wie es im Wilhelm-Meister-Roman formuliert wird. Ein Organ aus sich machen, das eben heißt die dem Individuum eingepflanzte Maßlosigkeit eines Lebenswillens, der das Ganze und Unbeschränkte, Unendliche und Absolute zu sein strebt, einzugrenzen, sich abzufinden mit dem Schicksal, das uns aufbürdet, ein dienendes Teilchen eines großen Ganzen zu sein. So wird Wilhelm Meister ein Wundarzt und Faust ein Kolonisator. Werther aber und Tasso gehen zugrunde: an der Maßlosigkeit seiner Liebe der eine, an der Maßlosigkeit seiner Phantasie der andere. Es ist im Hinblick hierauf, das heißt auf ebensolche Identitäts-Diffusionen, wie sie der junge Goethe natürlich an sich selber zu durchleben gehabt hatte, daß der Klassiker Goethe die Maxime prägte, nur in der  B e s c h r ä n k u n g  zeige sich der  M e i s t e r . Das war bürgerliche Lebensregel und klassizistisches Formprinzip in einem. Und wenn Antonio dem in die Maßlosigkeit seines Lebensgefühls und seiner poetischen Phantasien versunkenen Tasso zuruft: »Vergleiche dich! Erkenne, was du bist!«, so hat er damit aufs genaueste die Problematik der Identitäts-Diffusion angesprochen, in diesem Falle diejenige, wie sie dem Dichter, dem Künstler, dem Phantasieschöpfer zuzustoßen pflegt.


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Maßlosigkeit der Phantasie -, damit ist, so meine ich, das Stichwort gefallen, uns von unserem Umblick in weitläufigere Zusammenhänge wieder dem Autor Karl May und seinen Lebensnöten zuzuwenden.

Wir haben ihn, wie Sie gesehen haben, mit seiner Wadenbach-Camouflage in seinem allertiefsten Ardistan, seinem schlimmsten Inferno erlebt. Wie und warum er hineingeriet, das will ich hier nicht aufs neue in aller Breite untersuchen, zumal uns der innere und äußere Druck, der ihn traumatisierte, schon von Berufenen dargelegt worden ist. Ich erinnere vor allem an die Arbeiten von Roxin, Wollschläger und Plaul, aber auch an die vieler anderer aus unserem Arbeitskreise.


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Was ihn, Karl May, verletzte und schädigte, empörte und frustrierte, verfolgte und unterdrückte, all dies lasse ich hier einmal beiseite, und ebenso geht es mir nicht darum, deutlich zu machen, inwiefern wir es in seiner Person etwa mit einer reduzierten Individualität, einem Fehlbestand, einem charakterlichen oder intellektuellen Defekt zu tun haben. Das alles lasse ich dahingestellt; behaupte dagegen, daß auch ohne alles, was an Negativem sein Leben beschattete, der Konflikt mit der bürgerlichen Gesellschaft ihm nicht erspart geblieben wäre. Nicht so sehr, was ihm das Schicksal vorenthalten oder verweigert hatte, brachte ihn in sein Inferno, als vielmehr das, womit ihn eine Laune der Natur so reichlich, ja überreichlich begabt hatte. »Traumkraft«, so nannte es treffend mein Lehrer Arthor Witte.  P h a n t a s i e , der Stoff, aus dem die Dichtungen sind, eine ins Exzessive gesteigerte Vorstellungskraft, die Fähigkeit, tagträumend die Welt des Wirklichen zu überschreiten, das bloß Mögliche plastisch-anschaulich zu beschwören und das Unmögliche an sich zu reißen: das war sein Teil, seine Begabung, sein Glück, seine Gefahr und sein Inferno. Es war sein Genie. Und wir können nur vage versuchen, uns in eine Seele, einen Geist hineinzuversetzen, in dem sich die Welt so ganz anders spiegelt als in unserem normalen, unserem bürgerlichen Denken. Was da in einem solchen Gehirn an Bildern und Gestalten träumerisch umgeht, das kombinierende Figurenspiel, kaleidoskopisch wechselnd, visionär sich steigernd, zu eidetischen inneren Wahrnehmungen zusammenschließend -, das alles ist nicht die rechte seelische Verfassung für einen jungen Menschen, um damit nüchtern und umsichtig den geradesten Weg ins Berufsleben, ins Leben überhaupt zu gehen und ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden. »Träumere nicht!« das war die ständig wiederholte Mahnung, eine vergebliche, wie man weiß, die auch der kleine Gerhart Hauptmann bis zum Überdruß zu hören bekam; was nicht hinderte, daß er schon im Rollenzwang eines Quartaners kläglich scheiterte. Daß wir anderen, wir biederen und bürgerlichen Geister, am Ende so sicher und unserer Rolle gewiß in unserem abgezirkelten Leben stehen, daran hat ein gewisses Manko an Phantasie (gemessen an einem Karl May) sicherlich ebensoviel Anteil wie unsere Klugheit. Gewiß, auch der in seiner Individualität und seiner sozialen Rolle befriedigte Mensch wird manchmal - falls er überhaupt als Denkender sich selbst zu reflektieren vermag - für Augenblicke der Frage nachsinnen: Warum bin ich, der ich bin? Warum gerade der? Warum nicht ein


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anderer, was doch möglich oder denkbar wäre? Aber er wird über solche Irritation unbeschädigt hinwegkommen. Nicht so jene proteushaften Geschöpfe, die, von wunschhaften Phantasien besessen, sich immerfort über das, was ist, hinwegträumen müssen in das, was nicht ist, aber doch sein könnte. Sie sprengen, und sei es nur »im Geiste«, den Zwang und die Beschränkung einer Rolle, identifizieren sich mit fremdem Leben, weil ihre lebhafte, vielleicht neurotische Einbildungskraft es ihnen ermöglicht, jeweils leibhaftig zu  s e i n , was sie sich vorstellen. Sie zerbrechen den Rollenz w a n g, sie betreiben, wie Kinder, das Rollenspiel. Sie sind die Scharlatane der Gesellschaft, unbrauchbare Kumpane, wie Thomas Mann sagt; sie sind, wenn es schlimm kommt, Hochstapler, und wenn es gut geht, Poeten. Und daß dies, sich proteushaft in wechselnde Figuren und Schicksale bis zur völligen Identifizierung einstimmen zu können, zu s e i n, was man träumt, das Genie vor allem des E r z ä h l e r s ausmacht, ohne das nichts Bedeutendes an erzählender Dichtung entstehen kann, das ist gewiß.


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Was nun  u n s e r e n  Fall betrifft, den Fall Karl May, so muß man es wohl zu den stärksten und ganz ununterdrückbaren Triebkräften in der Natur dieses Menschen rechnen, daß er der infantilen Lust des Rollenspiels mit der ganzen Potenz seiner blühenden Phantasie verfallen war. Ein Proteus, der sich immerfort zu verwandeln strebt; ein Chamäleon, das in immer anderen Farben zu erscheinen vermag. Dem Rollenspiel hat er sein Leben lang wie ein Süchtiger gefrönt. Lustgewinn war im Spiele, selbst noch in den düstersten, leidvollsten Zeiten seines Infernos. Wer vermöchte nicht in den Namen, die er sich zu]egte, wenn er als  H e i l i g  oder  H e r m e s  auftrat, noch im nachhinein das Quentchen Euphorie und Schelmerei zu verspüren, das diesen Tunichtgut beflügelte? Und auch die Wadenbach-Komödie, die so vollkommen töricht war und von vornherein zu gar nichts führen konnte, macht ja den Eindruck, als sei sie vor allem spaßeshalber, der eigenen Triebbefriedigung und Lustgewinnung wegen inszeniert worden.

Vier Jahre nach seiner Wadenbach-Eskapade trat derselbe Mann aus dem Zuchthaustor geradewegs in seine Existenz als Schriftsteller ein. Betrachten wir das Phänomen rein äußerlich als ein solches beruf-


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licher Resozialisation, so möchte man vermuten, der Mann habe nun endlich und endgültig seine Identität angenommen. Das gilt aber freilich nur, wenn man damit meint, daß er in der Tat in den dreieinhalb Jahrzehnten, die ihm geblieben waren, als ein fleißiger Arbeiter redlich an seinem Schreibtisch gesessen und jene Million Druckzeilen produziert hat, die ihn so berühmt gemacht haben. Es gilt weniger, wenn man ins Auge faßt, was sich hinter dem bürgerlich-biederen Äußeren verbarg. War er ein anderer geworden als der, der als Heilig oder Hermes oder Wadenbach sein Wesen getrieben hatte? Im Gegenteil! Beflügelt von seiner Phantasie wie eh und je, im Freiraum poetischer Lizenz, trieb er es eigentlich bunter und toller als zuvor. Daß der Protagonist seiner Bücher, der reisige Held Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi, ein solches Rollenspiel ist, in das der literarische Proteus hineinschlüpfte zu herrlichstem Lustgewinn, das muß nicht erst erläutert werden. Aber ich möchte hier vorführen, daß über die Stereotype solcher Heldenpose hinaus die Identitätsdiffusion des Autors und seine süchtige Lust am Versteck- und Verwandlungsspiel auch die Struktur seiner Werke bis in Einzelheiten bestimmt, ja, die Behauptung erhärten, daß dies überhaupt das tragende Movens seiner Erzählkunst gewesen ist.

Ich greife dazu ein einzelnes Werk heraus, das mir seit jeher als für diesen Autor besonders typisch und eben auch als besonders gelungen erschienen ist: den Roman »Am Rio de la Plata«. Er gehört ja mit der Fortsetzung »In den Cordilleren« zu einer größeren Einheit zusammen, und es trifft sich, daß mir schon während meiner Untersuchung eine noch ungedruckte Arbeit von Walther Ilmer zur Kenntnis gekommen ist, in der auch dieser darauf aufmerksam gemacht hat, daß der Doppelroman - im Widerspruch zu sonst geläufigen Meinungen - ein sehr zentrales Werk Karl Mays zu sein scheint; daß er beispielsweise in seiner Handlungsführung von den sumpfigen Flußniederungen hinauf in die Gebirgsregionen die Konstruktion von »Ardistan und Dschinnistan« vorwegnimmt. Hier beschränke ich mich auf den ersten Teil, weil mein Material, das ich vorzeigen möchte, sonst zu umfangreich geworden wäre.

Unter dem Aspekt, den wir umrissen haben, erscheint »Am Rio de la Plata« allerdings als  d e r  Roman der Identitätsverwirrung, als ein geradezu klassisches Modell dieses Genres. Da setzt schon die erste Episode das Thema. Kaum ist der Held, der Ich-Erzähler, in Montevideo


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angekommen und in sein Hotelzimmer gelangt, da erhält er den Besuch eines Herrn, der ihn ohne Umschweife mit »Herr Oberst« tituliert.

»Ich bringe Ihnen meine Verbeugung, Herr Oberst!« Er wiederholte seinen tiefen Bückling noch zweimal in demonstrativ hochachtungsvoller Weise. Wozu dieser militärische Titel? Hatte man hier in Uruguay vielleicht dieselbe Gepflogenheit wie im lieben Österreich, wo die Kellner jeden dicken Gast »Herr Baron«, jeden Brillentragenden »Herr Professor« und jeden Inhaber eines kräftigen Schnurrbartes »Herr Major« nennen? Der Mann hatte so ein eigenartiges Gesicht. Er gefiel mir nicht. Darum antwortete ich kurz: »Danke! Was wollen Sie?« Er schwenkte den Hut zweimal hin und her und erklärte: »Ich komme, mich Ihnen mit allem, was ich bin und habe, zur geneigten Verfügung zu stellen.«(6)

Da ist denn nun schon die schönste Identitätsgaukelei im Gange, und wer des alten Gottfried Keller Novelle vom Schneiderlein Wenzel Strapinski, das bei seiner Ankunft im Gasthof für einen Grafen gehalten wird, gelesen hat, der weiß ja auch, was für schöne Geschichten aus einem solchen Motiv hervorgesponnen werden können. Denken wir an Wadenbach zurück, oder an Dr. Heilig und Hermes, so begreifen wir zugleich etwas von der kathartischen List literarischen Schaffens: das Hochstaplermuster wird gleichsam auf den Kopf gestellt. Während der famose Albin Wadenbach alle Mühe aufwendete, um sein Lügengespinst dichter und dichter zu weben, ist hier, in Montevideo, der sehr ehrenwerte Herr aus Deutschland, ebenso nach Kräften bemüht, die Mystifikation, die sich um ihn gebildet hat, zu zerreißen und zu beweisen, daß er, zum Teufel, eben nicht mit diesem Herrn Oberst Latorre, dem Anführer einer Revolutionspartei und Aspiranten auf das Präsidentenamt, identisch ist. Daß er keine Geldspenden annehmen, keine Gewehre kaufen, keine Revolte anzetteln will, ja, soweit kommt es am Ende, daß er auch nicht für ein märchenhaftes Honorar wenigstens als eine Art Double jenes Politikers aufzutreten bereit ist. Alles doch wunderschöne Sachen, die das Herz eines Hochstaplers müßten höher schlagen lassen. Aber allem entzieht sich unser Held, denn er gibt stets nur der Wahrheit die Ehre. Die Identitätstäuschung aber reicht aus, ihn ins politische Intrigengeschlinge zu ziehen und einen Hauptstrang der Romanhandlung zu nähren. Und dieser epische Kern bildet nun, je weiter die Geschichte fortschreitet, die mannigfaltigsten Metastasen aus. Das Motiv von der Identitätstäuschung verdoppelt, verdreifacht,


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verzehnfacht sich. Das nächste ist gewissermaßen das negative Pendant zu der ihm aufgezwungenen Starrolle als Oberst Latorre, nämlich daß ihn ein paar Gauner für »stockdumm und vertrauensselig«(7) halten, wie er das denn sogar schriftlich in die Hände bekommen hat. Nun, daß der Held ihnen diese Identitätstäuschung alsbald gründlich auszutreiben vermag, ist wohl ganz selbstverständlich.

Und was soll man, meine Damen und Herren, von der sogleich einsetzenden Geschichte mit dem Yerbatero Mauricio Monteso halten? Steht da dieser arme, arme kleine Teesammler, ein zerlumpter und verhärmter Proletarier, vor dem reichen Boß und Ausbeuter und bittet um das bißchen Geld, das ihn vor dem äußersten Elend retten soll.(8) Eine Szene wie aus Gerhart Hauptmanns Weber-Drama - aber Karl May hat um drei Jahre die Priorität -, und so elend ist der Mann, daß ihm unser Ich-Erzähler aus Mitleid zweihundert Taler anbietet. Doch was geschieht? Der armselige Hungerleider entpuppt sich - nun, als was wohl? Als reicher Grundherr, der da weit hinten im Lande eine märchenhafte Estanzia besitzt, ein fürstliches Reich, das von seinem Bruder bewirtschaftet wird, während er selber so spaßeshalber als Teesammler durch die Urwälder abenteuert. Sie haben es schon verstanden, nicht wahr? Daß dies nichts anderes ist als eine Variante der alten abgelebten Wadenbach-Geschichte und daß der Erzähler Karl May sein Gold aus den Schlacken seines Vorlebens zu schmelzen versteht. Zwei Brüder, der Jammermensch im Elend und sein reicher Landbesitz im Hintergrund - aus diesen Ingredienzien läßt sich eben immer wieder etwas machen.

Identitätstäuschungen, wohin man blickt! Wenn von den Schlacken des Vorlebens die Rede ist, so gehört natürlich auch der Herr Kriminalkommissar Carrera hierher, der unseren Helden so hartnäckig und bösartig verfolgt, der aber in Wirklichkeit ein übler Dieb und Betrüger ist. »Sie sind«, sagt ihm der Erzähler auf den Kopf zu, «jener Dieb, welcher sich jetzt vielleicht auf noch weit schlimmerem Wege befindet, als damals«. - »Hüten Sie sich! Sie wissen ganz genau, was ich bin!« -»Das weiß ich allerdings sehr genau. Sie sind ein Lügner, ein Schwindler!«(9) Nun, auch wir, die wir dieses vernehmen, wissen es wohl inzwischen ganz genau: der Kriminalkommissar Carrera ist das getreuliche Abbild jenes Geheimpolizisten, der im Jahre 1869 in sächsischen Landen als Falschgeldfahnder den Leuten ihre Taler wegkonfiszierte und dann als der ehemalige Schullehrer May identifiziert wurde. Wie


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heißt es so schön in unserem Roman: »Sie geben sich für einen andern aus, als Sie sind. Die Gründe, infolge deren Sie dies thun, können keine lobenswerten sein.«(10)

So geht es fort, und mehr und mehr erscheint uns die Welt in diesem Roman wie verwünscht unter einem magischen Fluch. Da ist der Kavallerieleutnant, der in Wahrheit kein Offizier, sondern ein Freibeuter ist; da ist der geistliche Herr in der Kutte, Frater Hilario, der in Wahrheit unter dem Namen »Bruder Jaguar« Furcht und Schrecken bei allen Gangstern in diesem Lande erregt als ein gewaltiger Kraftmensch; da sind die Soldaten, die in Wahrheit Mordbrenner und Pferdediebe sind; da gibt es den »Sendador«, den die Yerbateros als ihren weisen und gütigen Freund verehren, der aber in Wahrheit ein Mörder ist. Da sind die Gastfreunde, die eigentlich Feinde, Heerführer, die eigentlich Putschisten, ehrbare Kaufleute, die eigentlich Waffenschieber sind, und so fort und so fort. Die Figuren sind ambivalent, und der Erzähler zieht die Spannung, die er produziert, mit Vorliebe aus diesem Umstand.

Alles dies aber wird verdunkelt von dem, was im Laufe der Geschichte mit ihrem Protagonisten, dem Ich-Erzähler geschieht. Mit ihm blüht das Rollenspiel zu seinen üppigsten Variationen auf. Das Chamäleon verwandelt unaufhörlich seine Farben, wird immer wieder für etwas anderes gehalten und genießt (mit seinem Schöpfer zusammen natürlich) die Wonnen tiefster Genugtuung, angestaunt zu werden bald als dies, bald als das, ja sogar, wie es gerade kommt, auch für dumm oder töricht gehalten zu werden, weil es noch immer das schönste Spiel bleibt, wenn sich das vermeintlich häßliche Entlein als stolzer Schwan erweist.

Für einen Oberst gehalten zu werden, das war nur der Anfang. Alle Leute, mit denen der Held zu tun hat, geben einer nach dem anderen ihr Urteil über ihn ab. »Man merkt es, daß Sie ein Bücherwurm sind«, sagt milde lächelnd der Yerbatero.(11) Schon fünf Seiten später, nachdem er in der Kirche im Orgelspielen brilliert hat, staunt ihn der Organist als einen ihm überlegenen Fachkollegen, seinen Bruder in organo an.(12) »Sie sind ein Gelehrter«, so urteilt wiederum der Yerbatero alsbald, da sich der Held als genauer Kenner der Indianersprachen und der Inkasprache erweist.(13) Und wie staunen nicht lange darauf die Yerbateros, als ihnen dieser Herr ganz in Leder gekleidet wie ein echter Westmann entgegentritt. »Das ist«, so belehrt er sie, »ganz


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genau der Anzug eines nordamerikanischen Westmannes.«(14) Das Lachen vergeht ihnen, nachdem ihnen die Vorteile dieser Montur erklärt worden sind, und noch mehr, als sie sehen, mit welcher Bravour sich der Ledermann als Lassowerfer, Pferdebändiger und kühner Reiter betätigt. »Sie sind ein sehr tüchtiger Reiter, Sennor!« - »Und wie ist es mit dem Lasso?« - »Nun, den werfen Sie ausgezeichnet . . . «(15) Er will es immer wissen, und es wird ihm immer aufs neue gesagt, als was ihn das Rollenspiel so in buntem Wechsel erscheinen läßt. Und er läßt nichts aus, um seine Pfauenfedern zu spreizen, und wenn es der zerbeulte Hut einer spinnigen Dame ist, den er perfekt zu reparieren versteht. »So sind Sie wohl zufälligerweise ein Modisto? . . . Oder ein Hutmacher?«(16) Es geht ja fast zu wie beim bekannten Beruferaten im Fernsehen. »Alle Ihre Worte«, so vermutet die Dame weiter, »legitimieren Sie als einen Poeta!«(17) Nun ja, diesmal streitet er das nicht ab, unser Poeta, hat sie doch, die gute Dame, mitten ins Schwarze getroffen; darüber geht man ein wenig schamhaft hinweg, kann sich aber die triumphale Bemerkung nicht verkneifen: Sie hielt mich in der That für einen Dichter.(18) Derselben Dame gegenüber erweist sich der Wundermann als ganz besonders vielfältig: »Würden Sie mir jetzt gestatten, mich als Ihren Arzt zu betrachten? Sie sind leider im Gesicht von den Splittern der Fensterscheibe verwundet worden.«(19) Auch noch Arzt, natürlich, das war seit jeher unsere Lieblingsrolle, und schon haben wir ihn wieder, den wohlbekannten Doktor Heilig von Anno dazumal.

Es kommt aber auch schlimmer, denn in dem Gewirr von marodierenden Desperados und putschenden Generälen kann man leicht in unangenehmen Verdacht geraten: »Sie sind ein Aufrührer und Verschwörer, der das Land in Unglück bringen will«(20), so heißt es, und in dieser Rolle steht der Held sogar vor einem Gericht, das ihn zum Tode verurteilt, einem Gericht freilich, das natürlich selbst aus Kriminellen, Aufrührern und Verschwörern besteht. Und als ihm die Flucht gelungen ist, muß selbst der übertölpelte Major Cadera, mit dessen Identität es seinerseits nicht stimmt, sein bösester Feind, ihm das Lob spenden: »Dann sind Sie ein Kerl . . . Sennor, Sie sind ein Teufel!«(21) Das scheint nun allerdings eine Rolle zu sein, die dem Ich-Erzähler, nein, dem Autor selber vorzüglich behagt haben muß, denn vielfach läßt er es im weiteren Verlauf der Geschichte wiederholen: »Sennor! Alle Wetter! Sie sind in Wirklichkeit ein Teufel!«(22) oder: »Sennor, ich schwöre es Ihnen jetzt zu, daß Sie ein Tenfel sind, der wirkliche, leibhaftige Teu-


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fel!«(23) Und wieder: »Sie sind ein Tenfel, ja ein wirklicher, wahrhaftiger Teufel!«(24) Und ähnlich erklingt es: »Sennor, dann sind Sie ja ein ganz gefährlicher Mensch! Sie haben alles Talent zu einem Einbrecher.«(25) Oder, in der Steigerungsform: » . . . dieser Germano ist ein Mörder, Dieb und Räuber!«(26) Und fast möchte man an die Zeitungsstimmen denken, die seinerzeit gewisse Rollenspiele in Sachsen und anderswo begleitet haben, wenn man liest: »Ich halte Sie für einen außerordentlich scharf geschliffenen Schurken!«(27) oder: »Mensch, Sie sind entweder ein ganz verrückter Kerl, der nicht weiß, was er thut, oder der Major hat recht, indem er Sie einen Teufel nennt! In beiden Fällen aber sind Sie ein hochgefährliches Subjekt.«(28) Und ähnlich heißt es vom Helden und seinen Gefährten: »Wenn meine Vermutung richtig ist, so sind sie die niederträchtigsten Schwindler, welche es nur geben kann.«(29) Oder: »Ich hielt sie nur für Vagabunden.«(30)

Man mag es vielleicht auffällig finden, daß unter den zahlreichen Rollenbezeichnungen, die dem Helden von anderen zugeteilt werden, die ausgesprochen kriminellen wie Schwindler, Vagabund, Schurke, gefährliches Subjekt, Einbrecher, Dieb, Räuber, Mörder und ähnliches so verhältnismäßig stark vertreten sind. Eine Erklärung dafür mag sein, daß in diesem literarischen Spiel sich alle solche Anwürfe mit Leichtigkeit und von vornherein als Identitätstäuschungen durchschauen lassen und daß der Autor, indem er dergleichen gestaltet, damit irgendwie zu verstehen geben will: so leicht kann ein Ehrenmann in falschen Verdacht geraten; weniger seinen Lesern zum Gewinn als sich selbst zum Troste über vergangenes Ungemach. Wie lindernd und schmerzstillend muß es ihm gewesen sein, daß wenigstens sein Roman-Ich aus allem schwärzenden Verdacht weiß und rein wie ein Erzengel hervorgehen kann.

Noch mancherlei anderes in der Skala der Möglichkeiten, so zwischen Hutmacher und Teufel, hat der Autor an Rollen zu finden gewußt, um sie seinem Protagonisten anzudienen. Einmal wird er zwangsweise zum Soldaten gemacht(31), ein andermal spielt er aus freien Stücken den Superkargo eines Handelshauses.(32) Er glänzt als Kunstschütze(33), der alle Konkurrenten aussticht, vermag als Schiffahrtssachverständiger selbst den Kapitän Turnerstick über Flußschiffahrt auf dem Parana zu belehren.(34) Er bewährt sich als Seelsorger am Sterbebett, der die Beichte abnimmt(35), aber auch als scharfsinniger Detektiv, der den Sendador als Mörder entlarvt; denn, wie er sagt: »Es ist gar


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mancher äußerlich ein Ehrenmann, im stillen aber ein Schelm.«(36) Und weiter: »Sind Sie vielleicht Naturforscher?« - »Ja«, antwortete ich, um ihn zu überzeugen, daß ich keine landesgefährlichen Absichten verfolge.(37) Das alles sind so die Rollenspiele und die Mutmaßungen über Old Shatterhand, wir könnten die Beispiele noch vermehren. Der literarische Befund ist, daß der Held des Romans zwar das getreuliche Spiegelbild seines Autors ist, indem er alle seine Wunschvorstellungen, das eigene Ich betreffend, als gleichsam realisiert nach außen projiziert, daß er aber dennoch - oder vielmehr eben deshalb - recht eigentlich eine  U n p e r s o n  darstellt. Eine Unperson, denn was als Fülle übermenschlicher Allround-Befähigung den Wundermann ausmacht, ist doch eben nichts als der sinnbildliche Ausdruck einer verlorenen Identität.


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Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren, indem ich Ihre Aufmerksamkeit von der Betrachtung eines einzelnen Romanwerks auf die Gesamtheit der literarischen Produktion dieses Autors zu lenken versuchen möchte. Es scheint mir, das könnte man über die beiden großen Zyklen der Mayschen Reiseerzählungen als ein gemeinsames Generalthema setzen: »Die Suche nach der verlorenen Identität.« Und hierbei ergibt sich, daß dieser Prozeß geradezu diametral dem entgegengesetzt verlaufen ist, was, wie wir erwähnten, Goethe als das Persönlichkeitsideal klassischer Lebensauffassung formuliert hat: sich in der Beschränkung als Meister seiner Existenz zu erweisen. Das »Ich« des Reiseerzählers ist demgegenüber ein Wesen, das alle Beschränkungen, selbst die der planen realen Wahrscheinlichkeit, durchbricht und sich gewaltig zu überdimensionalen Erscheinungsformen ausweitet. Er ist, dieser Protagonist, Hutmacher und Seelsorger, Gelehrter und Boxmeister, Dichter und Bärentöter, Detektiv und Missionar, Teufel und Heiliger, und so in nicht abreißender Folge durch die Bücher hindurch alles das, was so die Ereignisse an Rollenspiel möglich machen. Es liegt nahe, dies Phänomen für eine pure Albernheit zu halten und solchen Büchern eben darum einen eigentlichen literarischen Wert abzusprechen, wenn man nämlich einen klassischen Wertmaßstab anlegt. Hier möchte ich aber auf etwas ganz anderes hinaus.


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Auf das Übermaß an Phantasie in diesem Menschen und Dichter haben wir schon hingewiesen und darauf, daß solche Disproportion einer Psyche sich nur so und nicht anders habe äußern können. In der Maßlosigkeit und Ausuferung des sich durch Tausende von Druckseiten hindurchwuchernden Rollenspiels, in dem das »Ich« sich unaufhörlich mit allen möglichen und unmöglichen Formen menschlicher Existenz zu  i d e n t i f i z i e r e n  strebt, steckt von vornherein ein Zug ins Universale. Fast möchte man an die Worte Fausts bei seinem Teufelspakt erinnern: »Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, will ich in meinem innern Selbst genießen.« Was solcherart die hohe Literatur in so glasklarer Sentenz zu formulieren weiß, gibt uns der Volksschriftsteller in  s e i n e r , einer  n a i v e n  und, wenn Sie so wollen, auch  p r i m i t i v e n  Darstellung zu verstehen. Naiv ist diese Ausdrucksform, das heißt: der Autor folgt hierbei durchaus nichts anderem als seinem übermächtigen proteushaften Trieb, der ihn, sobald er die Feder ergreift, wie einen Süchtigen ins überdimensionale Rollenspiel hinausträgt. Er reflektiert nicht, was er in Wahrheit tut, gibt sich nicht selber Rechenschaft darüber, welche tiefere Bedeutung seine Spiele haben außer der spannender Unterhaltung gutgläubiger Leser. Er treibt das, was in der ersten Phase seines Lebens  k r i m i n e l l  gewesen ist, in der zweiten Phase, der der Reiseerzählungen,  l i t e r a r i s c h . Aber sonst hat sich nichts geändert. Er ist auch jetzt noch der kindhafte, vielleicht kindische Mann, der ja sogar auch versuchte, maskiert als Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi, noch ein letztes Mal das Rollenspiel in sein wirkliches Leben zu übertragen. Rührende Eskapade eines Verwirrten, der seine Identität nicht zu finden vermocht hat.

Nun aber, meine verehrten Zuhörer, ereignet sich das, was wie ein Wunder in dieses verworrene Leben eingebrochen ist. Es ereignet sich eine Verwandlung von so erstaunlicher Art, daß wir darin, wie Hans Wollschläger mit Akribie bereits nachgewiesen hat, das eigentlich wichtigste Phänomen in dieser Biographie zu sehen haben. Mit einem Male sehen wir, bei Gelegenheit seiner Orientreise, den alten Zauberbann, unter dem er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hat, von ihm abfallen. Unter Schmerzen und Krämpfen erwacht der Träumer zur hellen Klarheit über sich selbst. Dahinschmelzen sieht man das ganze Brimborium seiner Illusionen, die künstlichen Kulissen seiner Abenteuerwelt stürzen zusammen, das Maskenspiel ist zu Ende, frierend steht sein eigentliches, sein wirkliches Ich, ein alter Mann, von


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hämischen Gegnern gehetzt, im kahlen, nüchternen Tageslicht, in seine eigene, echte Identität geworfen. Und jetzt sieht er zurück auf das gewaltige Erzählwerk, das er geschaffen hat, in einem Rausch und Traum geschaffen, und fragt sich, welchen Sinn, welchen Wert denn das alles gehabt haben könnte. Zum ersten Male steht er dem allen reflektierend gegenüber. Muß er das alles verwerfen und von sich abtun, ehe er daran gehen wird, sein  e i g e n t l i c h e s  Werk zu schreiben? Nein, so sinnlos kann sein Leben und Wirken nicht gewesen sein. All die Reisen und Abenteuer - wenn sie schon nicht wirklich geschahen, so sind sie doch nicht Lüge, sie sind vielmehr  M ä r c h e n , sind Sinnbild und Gleichnis. Das gewaltige Wesen, das »Ich« heißt in diesen Geschichten - wenn es schon nicht das wahre und wirkliche Ich ist, so doch die Idee eines Über-Ich, das mehr umfaßt, sich mit mehr Existenz zu identifizieren strebt, als dem einzelnen möglich wäre, vielmehr mit dem - wie es im »Faust« heißt - »was der ganzen Menschheit zugeteilt ist«.

Und damit rückt, ein erstaunlicher Vorgang allemal, in dieser dritten Phase seines Schaffens, das proteische »Ich« der Reiseerzählungen gewissermaßen in die letzte und äußerste Bedeutung, in die universale Rolle ein, die aber, wie wir sagten, von Anfang an in ihm angelegt war. In seiner sogenannten »Beichte« hat es der alte Mann folgendermaßen formuliert:

Sie nennen mich einen Aufschneider und wohl gar noch anderes und schlimmeres. Du lieber Gott! Kein Mensch hat so wenig Grund und Lust aufzuschneiden wie gerade ich. Das »Ich«, in dem ich schreibe, das bin doch nicht ich selbst, sondern das ist die Menschheitsfrage, die ich personifiziere, um sie beantworten zu können. In meinen Büchern identifiziere ich mich mit der Menschheit, der es genau ebenso ergeht, wie es damals mir ergangen ist: sie hat ihre Seele verloren . . . Darum braucht die Literatur einen einfachdenkenden Menschen, der in seinen Büchern auf alle künstlichen Geisteleien verzichtet und nur allein nach der Seele suchen geht, um sie der Menschheit zurückzugeben.(38)

Gewiß, meine Damen und Herren, wir werden einige Mühe haben, das, was der Autor hier gewissermaßen als die entschlüsselnde Formel für sein Erzählwerk anbietet, mit seinen Reisezyklen zur Deckung zu bringen Was immer man unter jener Menschheitsfrage verstehen soll, mag dahingestellt bleiben. Daß aber das mythische »Ich« der Romane alle Grenzen individueller Personalität überschreitet, ist so auffällig,


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daß die Behauptung, es identifiziere sich mit der Menschheit, in gewisser Weise zutreffend erscheint. Betroffen und zutiefst angerührt aber stehen wir vor der Tatsache, wie klarsichtig Karl May in dieser seiner letzten Lebensphase die Identitätsproblematik seiner Existenz und seines literarischen Schaffens begriffen hat, wenn er, wie es heißt: ohne alle künstlichen Geisteleien in seiner ihm eigenen schlichten Sprache sagt, dies alles sei nichts anderes als  d i e  S u c h e  n a c h  d e r  v e r l o r e n e n  S e e l e . Die Quintessenz jenes psychischen Prozesses, der ihm die Ablösung, die Befreiung aus dem Zauberkreis seiner Traumspiele gebracht hatte, hat er in ein paar Versen paradox ausgedrückt:

Ring dich nieder, um zu zeigen,
    Daß du deine Psyche kennst.
Du kannst dich nur dann erreichen,
    Wenn du von dir selbst dich trennst.
(39)



1 Zu dieser Episode vergleiche man: Klaus Hoffmann, Zeitgenössisches über ein »unwürdiges Glied des Lehrerstandes«. Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864-1870, in: Jb-KMG 1971, 110-121; ders., Karl May als »Räuberhauptmann« oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870, 1. Teil, in: Jb-KMG 1972/73, 215-247

2 Akten dieses Prozesses sind enthalten in der bisher ungedruckten Abhandlung »Karl Mays Inferno« von Erich Wulffen (Archiv des Karl-May-Verlages, Bamberg), die mir im Manuskript bekannt ist.

3 Gert Asbach, Die Medizin in Karl Mays Amerika-Bänden, Diss. Düsseldorf 1972

4 Jb-KMG 1971, 119f.

5 Aus Thomas Mann, Im Spiegel, zitiert nach: Autobiographisches, Fischer-Bücherei. Frankfurt a. M. 1969, 25f.

6 Karl May, Am Rio de la Plata, Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XII. Freiburg (1894), S. 5. Der Erstdruck erschien unter dem Titel »Lopez Jordan« im »Deutschen Hausschatz«, Jg. XVI, 1889/90.

7 Ebd. 15

8 Ebd. 19ff.

9 Ebd. 149

10 Ebd. 148f.

11 Ebd. 35

12 Ebd. 40

13 Ebd. 87

14 Ebd. 111

15 Ebd. 118

16 Ebd. 139

17 Ebd. 142

18 Ebd. 153

19 Ebd. 143

20 Ebd. 175

21 Ebd. 241

22 Ebd. 323


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23 Ebd. 324

24 Ebd. 420

25 Ebd. 283

26 Ebd. 370

27 Ebd. 485

28 Ebd. 487

29 Ebd. 578

30 Ebd. 580

31 Ebd. 438f.

32 Ebd. 448

33 Ebd. 540f.

34 Ebd. 542f.

35 Ebd. 273ff.

36 Ebd. 656

37 Ebd. 555

38 Gesammelte Werke, Bamberger Ausgabe, Bd. 34, 28. Aufl., 18f.

39 Karl May, Himmelsgedanken. Freiburg o. J. (1900), 83


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