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HEINZ STOLTE

Das achte Jahrbuch



Das Jahrbuch 1978 wird seinen Lesern nicht nur seines bedeutenden äußeren Umfangs wegen auffallen, sie werden auch bemerken, daß sich in ihm dokumentiert, wie inzwischen die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Karl May aus einer intellektuellen Liebhaberei einzelner zu einem quasi offiziell legitimierten Forschungsvorhaben amtlich vertretener Wissenschaften geworden ist. Nicht, als ob die Weisheit auf Universitäten beschränkt wäre, aber das Auftreten einer stattlichen Reihe graduierter Hochschullehrer in diesem Jahrbuch ist doch ein Symptom dafür, daß sich ein Ziel unserer Gesellschaft, nämlich den Autor Karl May als Erkenntnisobjekt ernsthafter wissenschaftlicher Bemühungen auch im akademischen Raum zu qualifizieren, zu verwirklichen beginnt. So eröffnen wir dieses Jahrbuch mit dem Vortrag über »Karl May, das Strafrecht und die Literatur«, den Claus Roxin im Sommer 1977 auf Einladung der dortigen juristischen Fakultät in der Universität Bern gehalten hat; er bringt darin Überlegungen, wie er sie als vorläufig schon im Jahrbuch 1971 skizziert hatte, zu einem Abschluß, der die inzwischen gewonnenen Forschungsergebnisse verwertet. Weiterhin steht uns die reiche Ernte, die die Freiburger Tagung unserer Gesellschaft im Oktober 1977 erbracht hat, zur Verfügung. Mein dortiger Vortrag über das Identitätsproblem bei Karl May behandelt als ein literaturpsychologischer Versuch das Verhältnis zwischen Biographie und Werk dieses Autors, indem er von einem seiner gravierendsten schicksalsbestimmenden Erlebnisse ausgeht. Gert Ueding hat mit seinem Vortrag »Der Traum des Gefangenen - Geschichte und Geschichten im Werk Karl Mays« bewiesen, was Philologie sein kann, wenn sie weltoffen genug aufgefaßt wird: die Kunst, in der kleinsten Facette eines literarischen Motivs (hier des Freiheitstraums in der Kerkerzelle) die Spiegelung einer ganzen geschichtlichen Epoche wahrzunehmen und zu deuten. »Zur Konstruktion und Anziehungskraft von Karl Mays Elends-Roman« hat


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Volker Klotz eine stupende, reich aus dem Detail schöpfende Analyse von Mays Kolportagewerk »Der verlorene Sohn« beigesteuert, in der er über das gegebene Objekt hinaus Einsichten in das Wesen der Kolportage gewinnt: May »rühre« seine Leser, indem er ihnen ermögliche, sich »ihre eigenen beklemmenden Lebensumstände«, entrückt in einen verfremdeten Spielraum, »zeitweilig vom Hals zu lesen«. Ekke Guenther hat in seinem Freiburger Vortrag, aus der eigenen Familiengeschichte schöpfend, unsere biographische Kenntnis bereichert, indem er das Verhältnis Mays zu Friedrich Ernst Fehsenfeld, dem Verleger der ersten Gesamtausgabe seiner Werke, darstellte.

Der Interpretation des Mayschen Erzählwerks widmen sich auch zwei Arbeiten, die in schon im Gang befindliche Diskussionen eingreifen: Martin Lowsky untersucht die »Problematik des Geldes in Karl Mays Reiseerzählungen« und deren Bedingtheit aus biographischen und gesellschaftlichen Umständen; Helmut Schmiedt hat im Zusammenhang mit seiner Bonner Dissertation über Karl May (vgl. Literaturbericht) einen amüsanten Beitrag zur »Dialektik der Aufklärung in Mays Kolportageroman "Deutsche Herzen - Deutsche Helden"« verfaßt. Ebenfalls zu der hierin angeschnittenen Frage einer Rezeption der Aufklärungsideen durch Karl May äußert sich Franz Cornaro in einer kritischen Auseinandersetzung mit von mir im Jahrbuch 1977 (»Auf den Spuren Nathans des Weisen«) vorgetragenen Thesen.

Nachdem die vielfachen Deutungen des Phänomens Karl May immer wieder so eigenartige Züge einer abnormen Persönlichkeit sichtbar gemacht haben, war es wohl an der Zeit, auch eine speziell psychiatrische Diagnose zu wagen; eine solche hat jetzt Kurt Langer vorgelegt: eine »psychiatrisch-tiefenpsychologische Untersuchung« über den psychischen Gesundheitszustand Karl Mays, die durch Besonnenheit und Ausgewogenheit überzeugend wirkt. In Hainer Plauls Untersuchung über May im Urteil der Publizistik seiner Zeit ist der darin geführte Nachweis bemerkenswert, wie sehr der Presseaufruhr um May, dessen Opfer der alternde Schriftsteller wurde, Teil und Folge sehr viel weitläufigerer politisch-gesellschaftlicher Auseinandersetzungen gewesen ist. Abschließend zeigen auch der fällige Literaturbericht und Erich Heinemanns Bericht über die Tätigkeit der Karl-May-Gesellschaft noch einmal den Wandel auf, der sich in der Einstellung der wissenschaftlichen Welt zur sogenannten Karl-May-Frage vollzogen hat.


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