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VOLKER KLOTZ

Woher, woran und wodurch rührt
»Der verlorene Sohn«?
Zur Konstruktion und Anziehungskraft von Karl Mays Elends-Roman*



I  V o r b e m e r k u n g

Der Titel meines Vortrags stellt drei Fragen, die etwas herausfinden sollen über die Konstruktion dieses Romans von Karl May. Und über seine Anziehungskraft auf zahlreiche Leser.

Die erste Frage -  w o h e r  rührt der »Verlorene Sohn«? - zielt auf die literarische Tradition einer bestimmten Spielart von Abenteuerroman im 19. Jahrhundert. Die reicht von Eugène Sue, über Alexandre Dumas, Gabriel Ferry, Sir John Retcliffe bis zu Karl Mays Kolportageromanen. (Seine Reiseromane stehen auf einem andern Blatt.)

Die zweite Frage -  w o r a n  rührt der »Verlorene Sohn«? - zielt auf die sozialpsychologischen Wunden sowie auf die sozialpsychologischen Heilungssehnsüchte, die in diesem Roman verarbeitet wurden. Und zwar zunächst einmal ganz persönliche Nöte und Wünsche des vormals kriminalisierten Autors, aber auch überpersönliche der verelendeten Unterschicht, aus der er stammt.

Die dritte und wichtigste Frage -  w o d u r c h  rührt der »Verlorene Sohn«? - zielt schließlich aufs poetische Ergebnis dieser Verarbeitung. Auf das abenteuerliche Bild von der Welt, das der Roman entwirft: durch den Zusammenhang bestimmter Begebenheiten und Situationen, Themen und Motive, Erzählweisen und Personenkonfigurationen. Ein abenteuerliches Weltbild, wodurch er seine Leser, offenbar, betroffen und bewegt hat.

Diese drei Fragen vereinigen sich in dem Sachverhalt, der gezeigt

* Vortrag, gehalten auf der 4. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Freiburg am 23. Oktober 1977.


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werden soll: daß und wie Karl May empfindliche persönliche Erfahrungen - die gleichwohl bezeichnend waren für viele seiner Zeitgenossen - mit Hilfe überlieferter Erfolgsschemata des Abenteuerromans erzählbar gemacht hat. Dergestalt, daß sie eine massenhafte Leserschaft in Spannung halten konnten und großenteils heute noch können.

A und O ist mir die Erkenntnis des Texts und seiner Attraktivität für die Leser. Mich interessiert nicht der Roman als Auskunftquelle für die Psyche des Autors oder für die sozialen Verhältnisse seiner Zeit. Mich interessieren vielmehr, umgekehrt, die Psyche des Autors und die sozialen Verhältnisse seiner Zeit, soweit sie Auskunft geben über die Art und Anziehungskraft des Romans.


II  S t i c h w o r t e  z u m  a l l g e m e i n e n  Z u s a m m e n h a n g  d e r  R o m a n - A n a l y s e

Die Analyse des »Verlorenen Sohns« steht in engem Zusammenhang mit einer umfassenderen Abhandlung über populäre europäische Abenteuerromane im 19. Jahrhundert, die demnächst erscheint. Welche Art von Werken dort untersucht wird, unter welchen Gesichtspunkten und mit welchen Zielen; vor allem aber: was ich unter Abenteuerroman verstehe -dazu scheinen mir hier einige Stichworte angebracht. Sie sollen nicht nur das Verständnis der folgenden Roman-Analyse fördern. Sie können eventuell auch die Diskussion des oft recht wacklig gebrauchten Begriffs »Abenteuerroman« erleichtern.

G e g e n s t a n d:

Untersucht werden folgende Romane: E. Sue, »Die Geheimnisse von Paris« und »Der ewige Jude«; A. Dumas, »Der Graf von Montecristo« und »Die Mohikaner von Paris«; J. Verne, »Mathias Sandorf«; G. Ferry, »Der Waldläufer«; Sir John Retcliffe, »Puebla«; K. May, »Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends«.

Grundlegende Gemeinsamkeit dieser Romane: die deutlich ausgespielte, mitunter ebenso deutlich überspielte Unstimmigkeit zwischen bürgerlichem Alltag und exotischem Abenteuer. Und zwar dermaßen zugespitzt, daß sich aus ihrer jeweils akuten Reibung weitere Beträge von Abenteuer ergeben. Damit übernehmen und entstellen die neuen Abenteuerromane ein wesentliches Merkmal aus dem jahrhundertelang überlieferten Schema von Abenteuer-Literatur: die Polarität von Heimat und Fremde als Bedingung abenteuerlichen Handelns. Sie aktualisieren es im 19. Jahrhundert mit dem Ergebnis, daß jetzt als Inhalt der erzählten Begebenheiten erscheint, was früher einmal deren Voraussetzung war. Früher: Odys-


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seus, Sindbad, Artusritter, Amadis (und dessen parodistischer Nachzehrer Don Quichote) müssen weg von zuhaus, um Außerordentliches zu bewältigen, bis sie am End zuhaus emeritiert werden. Jetzt: Montecristo, Sandorf (Verne), Brandt (May) werden zuhaus zum Abenteuer vergewaltigt, schöpfen draußen Kräfte, kehren zurück, um das versteckte kriminelle Potential der bürgerlichen Heimat abenteuerlich zum Vorschein zu zwingen und zur Strecke zu bringen.

Z i e l e:

- diese Abenteuerromane des 19. Jhs. als eine eigenartige literarische Untergattung zu beschreiben: in ihrer durchgängigen Anlage wie in deren individuellen Abwandlungen durch die einzelnen Autoren.

- ihre Entstehung und Entwicklung zu erläutern aus den sozialgeschichtlichen Erfahrungen von Autor und Leser.

- aus ihrer Eigenart und Funktion (für die mutmaßlichen Leserbedürfnisse), im Vergleich zu Tendenzen des gleichzeitigen bürgerlich psychologischen Romans, Erklärungen zu finden für die viel erörterte Spaltung in »hohe« und »niedere« Literatur seit dem späten 18. Jh.

- die vorrationale Faszination dieser Romane für ihre zeitgenössische - aber auch für ihre spätere - Leserschaft zu bedenken und womöglich zu erklären.

M e t h o d e  u n d  A b l a u f:

Ausgegangen wird von zwei idealtypischen Skizzen.

1. Vom Schema des althergebrachten Abenteuerromans. Das Schema beruht auf drei - jeweils zu konkretisierenden - Merkmalkonstanten: Polarität von Heimat und Fremde; Charisma und Tätigkeit des Helden; Art und Zusammenhang der Begebenheiten.

2. Von einer idealtypischen Skizze der gesellschaftlichen Erfahrungswirklichkeit. Diese Erfahrungswirklichkeit - als das, was die Fantasieleistungen der fraglichen Autoren und Leser weitgehend bestimmt - mache ich an einigen Schwerpunkten aus, die durchweg bestimmte Auswirkungen der kapitalistischen Verkehrsformen bezeichnen. Die Auswahl gerade dieser Schwerpunkte aus einer sehr viel größeren Menge rührt daher: der erste Durchlauf der Romananalysen hat bestimmte Befunde erbracht, die ich mir nur als Antwort auf eben jene Erfahrungsschwerpunkte erklären konnte.

Solche Erfahrungsschwerpunkte sind unter anderm:

- die Fortentwicklung des kapitalistischen Prinzips von einer ursprünglichen freiheitlichen Theorie zu einer zunehmend freiheitsberaubenden Praxis.

- die Selbstzweifel der bürgerlichen Klasse angesichts dieser Entwicklung.

- das Mißverhältnis zwischen wirtschaftlicher und politischer Rolle des Bürgertums - samt seinem mangelnden Selbstdarstellungsstil.

- die Unansehnlichkeit der kapitalistischen Verkehrsformen; d. h. die


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Unmöglichkeit, unter ihren Bedingungen sinnlich wahrzunehmen, was es mit Personen und Dingen, ihren Handlungen und Beziehungen auf sich hat.

B e f u n d e:

Beim Lesen bin ich auf gewisse  S t e r e o t y p e n  gestoßen, die mir genügend markant erscheinen, um sie für Hauptanziehungsfaktoren der Romane zu halten.

Beispielsweise:

- Modellierung des charismatischen Helden nach heilsmythologischen und paternalistischen Vorbildern der christlichen Vorstellungswelt.

- genealogische, Familien- und Freundschaftsbande als Höchstwert. Gewaltsame Trennung oder Usurpation dieser Bande (durch Mord, Verschleppung, Kindsunterschiebung usf.) als schlimmstes Vergehen; ihre ebenso gewaltsame Wiederherstellung als Hauptgeschäft des Helden.

- massiver Einsatz von Elementarsituationen wie: Fesselung und Befreiung, »Wasser am Hals«, »Ins Gedränge kommen«; »Sich hineinreiten«, »Abbruch von Beziehungen«, körperliche Überlegenheit als räumliche Überlegenheit. Indem da gängige Redewendungen sinnfällig ins Buchstäbliche inszeniert erscheinen, rühren sie vorrational an extreme Jedermannserfahrungen.

- Reduktion von verwickelten gesellschaftlichen Widersprüchen auf simple Schuld-Strafe-Mechanismen. Verlagerung von sozialen Mängeln auf charakterliche, von ökonomischer Gewaltanwendung auf kriminelle.

- der Prozeß der Dekuvrierung, Geheimnislüftung: von Vergangenem in Gegenwärtigem, von Verborgenem an die unmittelbare Evidenz, von Unterirdischem ans Tageslicht.

- möglichst umfassende Physiognomik: umweglose Ablesbarkeit des Wesens aus der Erscheinung (Charakter aus Gesicht und Haltung, Tat aus Spuren und Indizien, zwischenmenschliche Verhältnisse aus dem Inflagranti).

Aus diesen und noch weiteren Stereotypen lassen sich gemeinsame, übergreifende Tendenzen ableiten. Ich bringe sie auf einige  T h e s e n , die meine Fragestellung akzentuieren:

1.  S o z i a l g e s c h i c h t l i c h  machen diese Abenteuerromane das Rennen im gleichen Augenblick, wo die arbeitsteilige, marktorientierte Gesellschaft deren Haupteigenschaften objektiv durchkreuzt: eigenständiges Handeln; vollständige Unternehmungen vollständiger Einzelner, sichtbare Erfolge unter sichtbaren Bedingungen; persönliche Haftung; erkennbare Ursachen von Übelständen und deren probate Behebung usf. Mithin bieten die Romane malerische Ersatzhandlungen und Scheinerklärungen für etwas, das der gesellschaftliche Alltag vorenthält.

2.  L i t e r a t u r g e s c h i c h t l i c h  besetzen die Abenteuerromane eine Stelle und entsprechen einer Nachfrage, die von der anspruchsvollen Literatur weitgehend ausgeschlagen werden. Während der bürgerlich-psycholo-


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gische Roman sich zunehmend auf verinnerlichte Konflikte und Vergeblichkeitsgefechte handlungsbehinderter Einzelpersonen verlegt, halten sich die Abenteuerromane an handfest-faßliche Aktion. Interessanterweise greifen sie dabei Konzepte und Parolen und Verfahren auf, die aus der feudal-normativen Poetik stammen und von der fortschrittlichen bürgerlichen Individualästhetik verschmäht werden: insbesondere Höhenregeln, Anagnorisis, Peripetie, Katharsis. Damit offerieren sie dem enttäuschten kleinbürgerlichen Publikum - nicht nur in der Gestalt des Helden - einen plebejisierten Aristokratismus als Traumweg nach rückwärts. Gleichzeitig schenken sie ihm die schöne Illusion von unverfälschter Augenscheinlichkeit, von erfülltem Leben in kühnen, wirksamen Taten, das sich rückhaltlos preisgibt in sinnlicher Anschauung.


III  A n a l y s e  v o n  K a r l  M a y s  R o m a n

Der vollständige Titel des Romans lautet: »Der verlorene Sohn oder: Der Fürst des Elends«. Mit diesem Titel müssen wir uns ausführlicher befassen. Denn er bündelt bereits die wichtigsten Bewandtnisse dessen, was dann in 6 Bänden ausgebreitet wird. Erstens den Vorfall, der die ganze abenteuerliche Handlung auslöst: der verlorene Sohn. Zweitens den Haupthelden in seiner abenteuerlichen Rolle: der Fürst des Elends. Drittens die ideologischen Hauptwerte, die abenteuerlich umkämpft und letztlich zum Sieg geführt werden: Familienbande und Adel. Viertens das abenteuerliche Gelände der unheimlichen Heimat: soziales und kriminelles Elendsmilieu. Fünftens die christlich mythologische Bedeutungsfracht, womit entscheidende Personen und Ereignisse dieses Romans beladen sind: im angespielten biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn.

Zunächst fällt auf: was diese Titelwinke anzeigen, ist aus den Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts wohlbekannt. Auch dort bewegen gewaltsam zerrissene und hernach wieder geflickte Familienbande die Bösen wie die Guten. Auch dort bezieht der Hauptheld Macht und Kredit aus feudalen und gottähnlichen Eigenschaften. Auch dort rückt das Vater-Sohn-Modell in den Vordergrund, wenn es gilt, dem chaotischen Weltzustand beizukommen und ihn zu bereinigen.

Unverkennbar haftet der Maysche Roman also am Ausdrucksrepertoire seiner Vorläufer und Vorbilder.

Worin liegt nun aber seine Eigenart? Was macht der Autor aus diesem Repertoire für sich und seine Leser? Was bringt er Neues?


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Rafft man den Roman auf seine schiere Story zusammen, dann hat man den Eindruck, er sei lediglich epigonal. Auf den ersten Blick nämlich erscheint der rote Faden der Handlung wie ein neugeflochtener alter Zopf aus »Montecristo« und »Waldläufer«. Jedenfalls im Verhältnis zwischen traumatischer Vorgeschichte und abenteuerlicher Gegenwartshandlung der beiden Hauptpersonen des Romans. Denn das charismatische Schicksal des Förstersohnes Gustav Brandt entspricht dem von Dumas' Edmond Dantès. Und das charismatische Schicksal des 20 Jahre jüngeren Robert von Helfenstein entspricht dem von Ferrys Fabian de Mediana.

Dem Gustav Brandt, der wie Edmond Dantes vor einer aussichtsreichen (aber keineswegs außerordentlichen) Berufslaufbahn steht, wird aus dem Hinterhalt ein Verbrechen angelastet: hier ein Doppelmord. Zum Tod verurteilt, kann er mit fremder Hilfe fliehen und kehrt eine Generation später unerkannt und mächtig als reicher Fürst von Befour in seine Heimat zurück. Uberragende Machtmittel und Fähigkeiten dienen seinem Ziel, den wahren Schuldigen von einst herauszufinden, zu verfolgen und zu strafen, indem er auch dessen mannigfache Gegenwartsverbrechen aufdeckt. Dieser Hauptschurke - Baron Franz von Helfenstein - hat sich auch an der andern positiven Hauptperson vergangen, und zwar aus gleichem Grund und auf gleiche Weise wie in Ferrys »Waldläufer« der ehrgeizige Onkel Don Antonio an seinem Neffen. Nur daß diesmal nicht die Mutter, sondern der Vater des Kleinkinds auf der Strecke bleibt. Abermals also geht es um Usurpation des begehrten Vermögens und Titels durch eine Seitenlinie der Adelsfamilie. Und abermals auch entgeht das Kind auf abenteuerlichen Wegen dem Mordanschlag, wächst unter exotischen (hier sozial elenden) Verhältnissen heran, und wird viel später erst seiner wahren Identität inne. Unter der Obhut des gottähnlichen Helden Gustav Brandt, der den jungen Mann schließlich in seine alten Rechte wieder einsetzt.

So gesehen, liegt die Eigenart von Mays Roman gewiß nicht in der Story. Nicht in der Verflechtung von »Montecristo« und »Waldläufer«, die Karl May übrigens bestens kannte. (Den letzteren Roman hat er sogar in seiner frühen Zeit bearbeitet.)

Um hinter diese Eigenart zu kommen, empfiehlt es sich, noch einläßlicher den Hinweisen nachzugehen, die der bedeutungsträchtige Doppeltitel des Romans liefert. Denn er entwirft nicht nur den Rah-


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men des insgesamten abenteuerlichen Geschehens. Er präludiert zugleich das  H a u p t t h e m a  des Romans. Es setzt sich zusammen aus den beiden Motiven, die in den beiden Titeln formuliert sind. Erstes Motiv: »Der verlorene Sohn«. Zweites Motiv: »Der Fürst des Elends«. Beide wecken bei den Lesern bestimmte Vorstellungsbilder. Miteinander verbunden, werden sie sich im Lauf des Romans sensationell entfalten.

Der erste Titel beruft das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn, der das Elternhaus verläßt, sich in Elend und Verbrechen verstrickt, reumütig heimkehrt und vom gütigen Vater, sogar mit einem Freudenmahl, wieder aufgenommen wird.

Bezogen auf einen Abenteuerroman, dem dieses Gleichnis vorausgeht, ruft es beim Leser folgende Vorstellungsbilder wach: psychologisch: die spannungsvolle, letzten Endes aber versöhnliche Beziehung zwischen Vater und Sohn;  g e s e l l s c h a f t l i c h : das paternalistische System, das von der Kleinstgruppe der Familie bis hin zur Großgruppe des Staats reicht;  m y t h o l o g i s c h : Auszug und rettende Rückkehr; Entzweiung und Vereinigung; Sünde und Vergebung.

Durch den biblischen Gehalt dieses ersten Titelmotivs wird der Leser geneigt sein, auch das zweite entsprechend zu füllen. So wird er hinterm Fürst des Elends vielleicht den Fürst der Finsternis und der Hölle wittern. Bis die Romanhandlung den Leser eines Besseren belehrt: es ist kein Fürst, der das Elend hervorruft und anführt, sondern im Gegenteil einer, der es überwindet. Es ist der Hauptheld Gustav Brandt, der sich hinter diesem geheimnisvollen Namen verbirgt. Zugleich bezeichnet der geheimnisvolle zweite Titel eine beträchtliche soziale Spanne zwischen einem erhabenen feudalen Einzelnen und den allgemeinen Niederungen des Elends.

Mehr noch geht aus dem Zusammenhang der beiden Titelmotive hervor. Sie verbinden sich zu einem gemeinsamen Thema, das den Fürst des Elends mit dem verlorenen Sohn verschränkt. Solchermaßen: Der Fürst entspricht dem erlösenden Vater. Und das Elend ist der Zustand, aus dem der Vater den Sohn befreit. Es ist die Sphäre, worin der Sohn befangen war, und die der Vater, alias Fürst, wieder gut macht. Dieses Elend ist dann - in der ganzen Breite und Fülle des Romans - ein allgemeiner Zustand, der zum Ende hin behoben wird. Wobei der Hauptheld, sprich: der Fürst des Elends, allen, denen er begegnet, zum rettenden Vater wird. (Wir werden später weiterhin zu fragen haben, worin denn die Ursachen des Elends namhaft gemacht


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werden, und wie es behoben wird.) Doch zurück zum Rahmen und dem Thema, das der Doppeltitel ins Spiel bringt.

Dies Thema läuft in zwei Variationen ab. Beide Variationen lassen interessante Abweichungen erkennen gegenüber dem aufgerufenen biblischen Gleichnis.

I. Variation des verlorenen Sohns ist der verschleppte und verschollene Knabe Robert von Helfenstein, der unter kümmerlichen Verhältnissen heranwächst zum armen Dachstubenpoeten und zeitweise in den falschen Verdacht eines Gewaltverbrechens gerät. Als Fürstenkind wird er von seinem angestammten Vaterhaus vertrieben und um sein Erbe gebracht, bis er schließlich wieder dorthin gelangt. In bezeichnenden Zügen, die ich noch näher begründen werde, weicht sein Schicksal vom biblischen Muster ab. Passiv als Kleinkind wird Robert vom Elternhaus getrennt und wird auch später fast ebenso passiv - als schutzbedürftiger Sozialfall - heimgeholt. Dieser verlorene Sohn wird zum gefundenen. Und der ihn letztlich findet, ist, anstelle des ermordeten leiblichen Vaters, sein geistiger Vater Gustav Brandt. Geistig insofern, als Brandt ihm noch vor seiner Identifizierung als Fürstenkind die eigenständige Identität eines genialen Dichters sichert.

2. Variation des verlorenen Sohns ist Gustav Brandt, der aufgrund einer hinterlistigen Indizienfälschung öffentlich zum Doppelmörder abgestempelt wird. Er ist leiblicher Sohn des Försters, geistiger Sohn des Königs, die als einzige - der Justiz zum Trotz - an seine Unschuld glauben. Auch er verschwindet von seinem angestammten Ort, dem Vaterhaus und dem Vaterland, und kehrt später, um sich zu rehabilitieren, dorthin zurück.

Brandts Schicksal weicht ebenfalls in bestimmten Zügen vom biblischen Muster ab. Er wird ins Elend getrieben. Er wird zu Fall gebracht, um dann desto höher zu steigen: vom unbescholtenen Bürger, hinunter zum vermeintlichen Kriminellen, und dann hinauf zum Fürsten und Retter. Zwar genießt er die Huld des försterlichen wie des königlichen Vaters. Doch er schafft es aus eigener Kraft, sich zu rechtfertigen, die Bösen zu strafen, die Guten zu retten und selber zum Fürsten zu werden.

In Gustav Brandt vereinigen sich die beiden Titelmotive und machen eindeutig  i h n  zum Haupthelden des Romans. Denn den abenteuerlichen Prozeß, den er durchläuft, ficht er selbständig aus. Dieser Prozeß, den er sich und der Umwelt macht, führt vom bedürftigen


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verlorenen Sohn zum Vater, der anderen Bedürftigen beisteht; vom Ohnmächtigen zum schier Allmächtigen; vom bürgerlichen Stand über den exotischen Adelsstand (Fürst von Befour) bis zum heimatlichen, offiziell bekräftigten Adelsstand; vom Fürsten des Elends zum Fürsten des Glücks.

Abweichend vom biblischen Muster, geraten die beiden verlorenen Söhne bei Karl May nicht aus freien Stücken ins Elend. Sie werden von außen hinterrücks hineingezwungen. In soziales Elend der eine, in moralisches Elend der andere. Sie selber begehen kein Unrecht. Unrecht wird an ihnen begangen, das wieder gut zu machen ist. So bleibt zwar die äußere Begebenheit des biblischen Musters erhalten, nicht aber dessen Bedeutungsgehalt.

Der verlagert sich vom Innenraum des individuellen Gewissens in den Außenraum gesellschaftlicher Beziehungen. Vom innerpersönlichen Prozeß mit den Etappen: Sünde, Reue, Gnade zum Prozeß abenteuerlicher Auseinandersetzungen mit den Etappen: Unrecht, Vergeltung, öffentliche Rechtfertigung.

Diese einschneidende Veränderung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn rührt nicht nur her vom Gattungsbedürfnis des Abenteuerromans nach äußerer Aktion. Hier spielen auch allgemeine sozialgeschichtliche Erschütterungen hinein. Und erst recht die damit verbundenen persönlichen Erschütterungen des Autors Karl May, der sich einst für geringe Vergehen zu Unrecht oder doch unverhältnismäßig strafverfolgt sah. Was er und andere Angehörige der Unterschicht in Deutschlands wirtschaftlichen Gründerjahren auszustehen hatten, waren vorrangig keine innerpersönlichen Gewissenskämpfe. Es waren die Auswirkungen von Klassenkämpfen, die über die individuellen Nöte des Einzelnen - soweit er nicht zu den Großeigentümern gehörte - achtlos hinweggingen.

Von daher liegt es für den Autor nur nah, nicht allein bei den beiden traumatisierten Hauptpersonen, sondern auch bei den abervielen sozialen Elendsfällen, die ihren Weg säumen, den immer gleichen Sachverhalt abenteuerlich auszumalen. Nämlich: die Vergewaltigung von außen, die Schädigung aus dem Hinterhalt, den Schrecken der Fremdbestimmung.

Lauter verlorene Söhne, die nach dem Gnadenglück des Vaters lechzen. Der Fürst des Elends, märchenhaft, beschert es ihnen. Von Fall zu Fall.


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Die Durchführung des Themas, der eigentliche Romanverlauf, bringt darin in turbulenten Abenteuern die Korrektur der Unrechtshandlungen aus der Vorgeschichte. Dabei ändert auch das zweite Motiv - das vom Fürst des Elends - seinen Bedeutungsgehalt. Und zwar, nicht anders als beim Motiv vom verlorenen Sohn, unterm Druck der realgeschichtlich erfahrenen wie der erzählten sozialen Verhältnisse. Entgegen seiner Macht und seinem Titel, ist der Fürst des Elends von Geburt her bürgerlich. Er ist kein Angehöriger des Adels, doch er verkörpert das adelige Prinzip besser und wirksamer als sämtliche sonst im Roman auftretenden Aristokraten. Diese merkwürdige antifeudale Rechtfertigung des Feudalismus wird besonders augenfällig im Verhältnis der beiden Haupthelden Gustav Brandt und Robert von Helfenstein.

Unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Gegenwart fordert die Romankonstruktion, daß die beiden Helden die sozialen Rollen tauschen. Der Fürstensohn ist angewiesen auf den Beistand des omnipotenten Bürgersohns, der durch Kraft und Leistung seine Macht erworben hat. So kehrt sich das Verhältnis einstiger Feudalepochen um: wo die abhängigen niederen Stände dem willkürlichen Schutz des Fürsten anheimgegeben waren.

Es sind also praktisch zwei klassenspezifische Familiengeschichten, die in diesem Roman den Handlungsrahmen der mannigfachen abenteuerlichen Begebenheiten bilden. Die aristokratische der Helfensteins und die bürgerliche der Brandts. Sie wechseln im Lauf von zwei Generationen die herkömmlichen sozialen Plätze, ohne doch das vorwaltende paternalistische Gefüge infrage zu stellen. In der Vorgeschichte dient Vater Brandt in Treue als Förster seinem Herrn, dem alten Baron von Helfenstein. Das Arbeitsverhältnis ist weniger ökonomisch als familiär begründet: in Ergebenheit. Wie denn auch der junge Gustav Brandt und die Baronstochter Alma Jugendgespielen sind, die sich, herangewachsen, ihre gegenseitige Liebe vorerst verbieten müssen.

Im weiteren Verlauf stellt sich heraus: das Helfensteinsche Fürstenhaus ist entweder schwach (Vater ermordet, Sohn verschollen, Tochter schutzbedürftig) oder verbrecherisch (die Seitenlinie des usurpatorischen Vetters Franz). Demnach ist das Fürstenhaus in sich zerfallen und dadurch erlösungsbedürftig. Genau diese Erlösung vollbringt der vorher abhängige, zudem dann völlig verfemte Gustav Brandt. Um das


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aristokratische Prinzip aufrecht zu halten und zu regenerieren, bedarf es des noch besseren Bürgers. Er holt den Erben Robert heim, und er heiratet Alma, nachdem er ihr das einst niedergebrannte väterliche Schloß - in haargenauer Imitation - wieder aufgebaut hat. Schlußtableau: in diesem Schloß, wo alle versammelt sind, denen Gustav Brandt als Fürst des Elends zum Vater wurde, schlägt ihn der noch höhere Landesvater - namens des Allerhöchsten - zum Adeligen.

Das Fazit des biblischen Gleichnisses, das die Lebensläufe und die Familiengeschichten der beiden Haupthelden variieren, lautet: »Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden.«

Diesen Sachverhalt spielt Karl May auch in den unabsehbar zahlreichen Schicksalen durch, die praktisch die Füllung des Brandt-Helfensteinschen Roman-Rahmens ausmachen. Ob es sich um ausgebeutete Weber und Bergleute handelt, die durch Not zur Schmuggelei erpreßt werden; oder um arme, ahnungslose Mädchen, die listig ans Bordell und an sonstige anrüchige Etablissements verkauft werden; oder um Handwerker, die verlockt werden, sich am Material ihrer Meister zu vergreifen; oder um redliche Verwalter, die aus Loyalität einstehen für den finanziellen Unterschleif ihrer Herren -: sie alle sterben und werden wieder lebendig, gehen verloren und werden wieder gefunden. Und zwar in der gleichen Zwischenzone von Sinnbildlich und Tatsächlich, wo sich auch die beiden Haupthelden bewegen. Sie sind abenteuerlich bedroht vom physischen Mord oder vom gesellschaftlichen Rufmord, um ebenso abenteuerlich durch den Fürst des Elends wiederbelebt zu werden. Sie gehen leibhaftig (durch Verschleppung, Gefangenschaft, Flucht) oder psychisch (in zeitweiligem Wahnsinn) verloren, um ebenso abenteuerlich durch den Fürsten des Elends wieder gefunden und an den gehörigen Ort verbracht zu werden.

Was ist das für eine Welt, wo so viele vom gewaltsamen Tod bedroht sind und verschütt gehen?

Es ist die unheimliche Heimat, die exotische Kehrseite der bürgerlichen Sekurität. Es ist das kriminalisierte Souterrain der Gegenwartsgesellschaft. Mithin das gleiche Abenteuergelände wie bei Eugène Sue und Alexandre Dumas. Allerdings in einem Zustand, der sozialgeschichtlich um vierzig Jahre weiter fortgeschritten ist. Von den vierziger zu den achtziger Jahren des 19. Jhs. Denn wo jene ihr gewalttätiges Elendsmilieu lediglich mit Lumpenproletariat bevölkerten, bringt Karl


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May neben der verbrecherischen Unterwelt der Großstadt auch zahlreiche proletarisierte Weber, Bergleute, Handwerker und Angestellte der verelendeten Provinz in den Blick.

Bei dem Bild, das Karl May sich und seinen Lesern von dieser aufgewühlten und zerrütteten Welt macht, ist nochmals zu berücksichtigen, daß hier zweierlei zusammenkommt. Einmal die allgemeine Erfahrung übelster sozialer Mißstände vor, während und nach den Gründerjahren, gesehen aus der Erlebnissicht von einem, der selber als Sohn armer erzgebirgischer Weber aufgewachsen ist. Sodann die persönliche Erfahrung eines vormals kriminalisierten und deklassierten Zuchthäuslers, in dem mindestens zwei gegensätzliche Empfindungen miteinander streiten: einerseits Wut und Schmerz gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, die ihn Unrecht leiden ließ; andrerseits ängstliche Beflissenheit, die erlittene Strafe zu verinnerlichen, eigene Schuld anzuerkennen und gut zu machen, um nur ja von dieser - scheinbar alternativlosen - bürgerlichen Gesellschaft wieder aufgenommen zu werden. Gerade so wie jener verlorene Sohn.

Dieser Zwiespalt nötigt den Autor zu einem Balanceakt zwischen Wirklichkeitstreue und apologetischer Trugbildnerei. Wovon nun allerdings der Roman als abenteuerliche Konstruktion eines abenteuerlichen Geschehens bestens profitiert.

Wodurch wird Karl Mays Deutschland - genauer: das Land Sachsen - abenteuerlich? Wie kriegt er es hin, in einer ordentlichen Gesellschaft außerordentliche Gewaltakte, Unrechtstaten, Notstände episch aufzurühren, ohne diese Gesellschaftsordnung von Grund auf infrage zu stellen?

Er setzt einen guten, väterlichen König an die Spitze, der nicht ganz so kann, wie er möchte (etwa dem unschuldigen Gustav Brandt öffentlich beistehen). Dieser König ist konstitutionell gefesselt an Gesetze, die das Unrecht nicht verhindern. Und er ist bürokratisch gefesselt durch Behörden, die ebenso anmaßend wie untauglich sind. Von der Rechtssprechung über die Kriminalpolizei bis zum Strafvollzug: eine Brutstätte von Mißgriffen und Justizirrtümern, deren ebenso hervorragender wie beispielhafter Fall der des Gustav Brandt ist.

Karl Mays Kritik zielt also - ähnlich wie die von Dumas, Sue, Verne, aber deutlicher noch - auf die bestehenden bürgerlichen Verhältnisse aus der Sicht eines legendär verklärten Feudalabsolutismus. Das Romangeschehen deutet an: die industriekapitalistische Entwicklung hat


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nicht nur zu sozialer Verelendung geführt, sie hemmt auch die Machtmöglichkeit eines weisen Herrschers, der scheinbar über den Klassengegensätzen steht. Karl May sieht sehr wohl, daß die bürgerlichen Ordnungskräfte die Notleidenden nicht vor der Willkür der Ausbeuter schützen. Er sieht jedoch nicht, daß da ein gemeinsames Interesse von Staat und Kapital zum Zug kommt. Darum bezichtigt er nirgends die Behörden der Korruption oder gar der Klassenjustiz, sondern immer nur der Unfähigkeit.

Desto griffiger modelliert er die Willkür der Ausbeuter heraus, auf die letzten Endes sämtliche sozialen und kriminellen Schrecknisse dieses Romans zurückgehen. Wem immer hier Schlimmes widerfährt, oder wer immer hier unfreiwillig genötigt wird, sich an schlimmen Handlungen zu beteiligen: durchweg ist er Opfer erpresserischer Ausbeutung. Genau genommen, einer doppelten Ausbeutung, die in zwei Etappen abläuft.

Die Bösewichte greifen zu bei Abhängigen, die sie ohnehin in ihrer Gewalt haben: als Bergbau- und Webereiunternehmer ihre Arbeiter, als Hausbesitzer ihre Mieter, als Pfandleiher ihre Schuldner, als Vormund ihre Mündel, als Zirkusdirektor ihre Angestellten, als Stellenvermittler ihre eingeschriebenen Dienstmädchen, als Theaterintendant ihre Balletteusen. Diese Abhängigen beuten sie in abgefeimtester Weise aus bis aufs physische und psychische Existenzminimum. Bis zu dem Punkt, wo die Zermürbten beinah alles zu tun bereit sind, um nur aus ihrer momentanen Qual herauszukommen. An diesem Punkt werden ihnen erst leichtere, dann schwerere illegale Verrichtungen abverlangt. Kriminalisiert, sind sie nunmehr schutzlos dem Druck ihrer Peiniger preisgegeben. Doppelte Ausbeutung: sie werden erpreßt durch das, zu dem sie bereits erpreßt worden sind. Treffend - wenn auch im rüden Sensationsstil der Kolportage - erfaßt Karl May den Mechanismus zeitgenössischer Ausbeutung. Aber eben nur den Mechanismus - als eine grausame Wechselbeziehung zwischen Täter und Opfer. Dieser Mechanismus erscheint, als kreise er eigenzwecklich in sich selbst. Als unentwegt spannendes und empörendes Geschehen fesselt er Autor und Leser dermaßen, daß seine Funktion im gesellschaftlichen Getriebe gar nicht weiter beobachtet und bedacht wird. Daß solche Ausbeutung ja nur unter bestimmten Voraussetzungen der politischen Ökonomie erfolgt und auf ebenso bestimmte wirtschaftliche Ziele ausgerichtet ist, bleibt im Dunkel.


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Woher das kommt, wird begreiflich, wenn man einmal die ausbeutenden Bösewichte näher betrachtet. An der Spitze steht Baron Franz von Helfenstein, der unerkannte Täter des gewaltigen Initialverbrechens in der Vorgeschichte. Die Gegenwartshandlung des Romans zeigt ihn - wie Sues Notar Ferrand und Dumas' Pseudoehrenmänner -in einem getarnten Doppelleben. Hinter der Fassade eines angesehenen Unternehmers (Bankier, Grubenbesitzer, Textilfabrikant) verbirgt er seine kriminellen Unternehmungen. Er leitet eine mächtige Verbrecherorganisation in der Hauptstadt; und in der Provinz ist er ein geheimer und anonymer Gewaltherrscher über eine weitverzweigte Schmugglerbande. Beim offiziellen wie beim inoffiziellen Geschäft hat er seine Untergebenen gleichermaßen fest im Griff.

Verglichen mit den bösen Charaktermasken bei Sue und Dumas, ist hier bei May paradoxerweise eins im andern zu verzeichnen: mit zunehmender Annäherung an die soziale Wirklichkeit überschlägt und entfernt sich der Abenteuerroman ins aberwitzig Irreale.

Das heißt, er bringt zwar in diesem Oberschurken Helfenstein den objektiven Zwang der Großbourgeoisie zum Doppelleben auf eine ebenso triftige wie krasse Pointe. Und er macht auch die gesellschaftsfeindlichen Auswirkungen eines rücksichtslosen Manchesterkapitalismus überdeutlich durch die polemische Gleichsetzung jener Unternehmungen mit Kapitalverbrechen. Trotzdem lenken die Figur und das Treiben des Barons von Helfenstein alias Hauptmann alias Waldkönig (so seine geheimnisvollen Unterweltstitel) ab von den wirklichen Verhältnissen. So nämlich, wie Karl May den einzelnen Kapitalisten Helfenstein belastet, entlastet er die kapitalistische Gesellschaftsform. Denn die Personalunion von legalem und illegalem Ausbeuter besagt nicht etwa, private Aneignung gesellschaftlicher Produktion sei ein Verbrechen an der Gesellschaft. Der Leser muß vielmehr aus der Art dieser Personalunion schließen, Helfenstein pervertiere nur die grundsätzlich richtige private Aneignung, weil er eben ein Verbrecher ist. Er mißbrauche seinen berechtigten Besitz und seine berechtigte Macht im offiziellen Fabrikbetrieb, um seinen inoffiziellen Raub- und Mordbetrieb zu fördern. Dieser Eindruck wird noch dadurch bestärkt, daß Helfenstein als Geschäftsmann keinerlei Umriß gewinnt, während er als Unterweltsboß und Lebemann desto schärfer konturiert ist.

Hierin liegt die Absonderlichkeit dieses Ausbeutungsmonopols. Gerade auch ökonomisch. Ich gebe ein Beispiel für viele. Wider alle


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Regeln von finanziellem Einsatz und Gewinn wird der brave Heimarbeiter Wilhelmi - ein genialer Musterzeichner - planvoll ruiniert, um als Schmuggler stumpfsinnige Botendienste zu verrichten. Ausgerechnet ein hochqualifizierter, unersetzlicher Mann, der als Spezialist im Webereigeschäft einen mehrfachen Wert erarbeitet hätte.

Doch solche ökonomischen, auch psychologischen Unstimmigkeiten - die auf Schritt und Tritt vorkommen - zu sammeln und dem Autor vorzurechnen, wäre ein müßiges Geschäft. Es würde an der Konstruktion seines Romans insgesamt und seiner Schurkenpartei völlig vorbeigehen. Denn weder Helfenstein, der das Monopol der bösen Ausbeutung innehat, noch seine bösen Filialen (die Brüder Seidelmann, die in seinem Namen die Fabrik und den Schmuggel leiten; der Hehler Levi; der Giftmischer und der üble Akrobat Bormann): keiner von ihnen ist auf restlose soziale und psychologische Stimmigkeit hin angelegt.

Sie sind eher so etwas wie geschäftige Sinnbilder des Bösen. Weniger Personen als Personifikationen. Das äußert sich nicht nur in Eigenschaften und Verhaltensweisen dieser Bösewichte selber. Es ist auch daraus ersichtlich, wie sich der Hauptheld Gustav Brandt ihnen gegenüber verhält. Denn es muß zunächst wunder nehmen, warum Brandt nicht gleich zugreift, obwohl er bereits am Ende des ersten Bands alle Anhaltspunkte beisammen hat für die Identifizierung des Verbrecherhauptmanns mit dem Baron. Das darf und kann nicht geschehen, weil der Umfang und die Vielfalt sozialer und krimineller Ausbeutung auf allen Gebieten durcherzählt werden muß. Also die Ausbeutung durch Mieten, im Bergbau, auf sexuellem Gebiet und, mittelbar, in der Falschmünzerei.

Die Übel der zeitgenössischen Gesellschaft, wie Karl May sie sieht, werden somit gebunden an eine Person und deren Satelliten. Solche Personalisierung und Mythisierung erlaubt, Kritik zu üben, ohne weh zu tun. Sie bürdet das systembedingte Übel der kapitalistischen Sozietät der übergroßen Bosheit eines üblen Kerls auf. Sie führt Mängel des Gemeinwesens zurück auf persönliche Charaktermängel. Deshalb muß auch Helfenstein (wie die Seidelmanns) zusätzlich ein sexueller Unhold sein. Das heißt: die, nach gängiger bürgerlicher Norm, ärgste Verwerflichkeit zeichnet den aus, der für Ausbeutung zuständig ist. Danach - ist er einmal aus dem Feld geräumt - kommt alles in Ordnung.


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Erwirkt wird diese Ordnung durch die feudal-paternalistische Sorgehaltung von einem, der moralisch so gut ist wie der andere böse. So setzt Gustav Brandt den redlichen Weber Eduard Hauser als neuen Fabrikleiter ein, nachdem Helfenstein und die Seidelmanns ausgespielt haben. Eduard wird zu einem quasi paradiesischen Prokuristen vorm kapitalistischen Sündenfall. Pro cura, rückübersetzt in Für-Sorge, soll da walten zugunsten der Arbeiter, vongnaden eines Unternehmers, der nicht von dieser Welt - der Marktwirtschaft - ist. Eduards soziale Leistungen werden gespeist aus dem Vermögen, das im Ausland den Gustav Brandt zum Fürst von Befour gemacht hat.

Aber, wie hat er selber es gemacht?

Zumal an diesem bedenklichen Punkt läßt sich greifen, wie den niederschmetternden sozialen Erfahrungen Karl Mays und seiner Zeitgenossen der gefährliche - weil systemgefährdende - Stachel gezogen wird. Es geschieht wiederum mithilfe des bewährten literarischen Schemas vom Abenteuerroman. Genauer, das bewährte Modell des Dumasschen Montecristo ermöglicht Karl May, seinen Neo-Montecristo so auszustatten, daß er einerseits abenteuerlicher Held und allmächtiger Retter sein kann; andrerseits aber nicht der zwiespältigen bürgerlichen Gesellschaftsform in die Quere kommt. Folgendermaßen:

Gustav Brandt hat wie Montecristo und dessen französische Nachfolger eine tiefe Kerbe in seinem Lebenslauf. Es ist just die Generationsspanne, wo er sich jenseits der bürgerlichen Gesellschaft aufhält und in exotischer Ferne zum abenteuerlichen Übermenschen wird. Es ist eine beträchtliche Erzähl-Lücke, von deren doch so wichtigem Inhalt der Leser nur spurenweise und indirekt etwas erfährt. Jene Zone ist genügend dunkel und weit weg, daß sie sich weder den Wahrscheinlichkeitsregeln noch den Moralregeln des hiesigen Alltags aussetzt. Genau dort aber nimmt der Held den gewaltigen Anlauf, den er unbedingt braucht, um mit atemberaubendem Schwung den bürgerlichen Alltag aus den Angeln zu heben. Dort haben Edmond Dantès und Gustav Brandt ihren unermeßlichen Reichtum her und, daraufhin, auch ihren exotischen Adelstitel. Edmond Dantès aus einem jahrhundertelang abgelagerten Schatz, für den kein Mensch der zeitlichen Gegenwart hat bluten müssen. Gustav Brandt aus einer Diamanten-Mine, für die kein Mensch der räumlichen (deutschen) Gegenwart hat bluten müssen.


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Da für den Abenteuerroman allererst und allgemein das zählt, was hier und jetzt greifbar geschieht, gelten jene abgelegenen, nur mittelbar erwähnten Fragwürdigkeiten nichts. Fazit: Gustav Brandt ist, wie Montecristo, märchenhaft reich, ohne sich dabei die Finger beschmutzt zu haben. Er ist ein imaginärer Kapitalist. Weder Unternehmer noch Wegnehmer von Mehrwert, sondern unerschöpflicher Geber. Mit dieser außerordentlichen Heldenfigur lassen sich die - wirklichkeitsnah erzählten - sozialen Wunden heilen. Allerdings auf ebenso unwirkliche Weise, wie sie zuvor aus dem abartigen Charakter einer außerordentlichen Schurkenfigur abgeleitet wurden.

Es wäre indes zu kurz geschlossen, wollte man solche naive Begründung von Gut und Bös allein aufs kleinbürgerliche Weltbild des Autors Karl May zurückführen. Was hier ebenso merklich zum Zug kommt, ist der innerliterarische Gattungszwang des Abenteuerromans. Ich habe schon betont: der Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts zielt auf strikte Versinnlichung; er bindet wirkungsvolles Handeln an außerordentlich herausragende (edle und üble) Personen; er soll lückenlos den Hergang zwischen Täter, Tat und Ergebnis augenscheinlich machen. Mit dem Ziel, die bürgerliche Gegenwart, die diese handfest greifbaren Verhältnisse getilgt hat, via Fantasie zu widerlegen.

Je getreuer nun der Abenteuerroman, wie hier im »Verlorenen Sohn«, sich auf die Auswirkungen proletarischer Verelendung einläßt, desto stärker muß er deren unanschauliche Ursachen verfälschen. Notwendigerweise. Denn die sind zu abstrakt und zu unpersönlich, als daß sie einem abenteuerlichen Geschehen entsprächen, das vom leibhaftigen Tun handlungsfähiger Einzelner lebt.

Wenn wir zumal diesem Gesichtspunkt des anschaulich abenteuerlichen Geschehens folgen, dann zeichnet sich Karl Mays Eigenleistung noch schärfer ab. Ich meine: die besondere Konstruktion und die Anziehungskraft dcs »Verlorenen Sohns« - aufgrund dessen, wie der Autor das überkommene Schema des Abenteuerromans in seinem Sinn ummodelt. Wir können es feststellen an bestimmten  E l e m e n t a r s i t u a t i o n e n , die aus dem anschaulichen Vordergrundsgeschehen heraus allmählich ein ebenso anschauliches Weltbild vorm Leser entwickeln.

Elementarsituationen, was ist das? Ich verstehe darunter auffällige erzählte Ereignisse, die vorrational extreme Jedermannserfahrungen bildhaft aufrufen. Es sind hartnäckige Schreck- und Wunschvisionen aus


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Traum und wachem Alltagsleben, die derart Gemeingut sind, daß populäre Autoren sie als gängige Redewendungen nur ins Buchstäbliche zu inszenieren brauchen.

Aus dem »Verlorenen Sohn« will ich drei besonders aufschlußreiche Elementarsituationen herausgreifen:

1. Die unterirdische Verfolgung des Waldkönigs (hier: Seidelmann junior) durch Brandt und den Kommissar im Bergwerkstollen. Schon als schiere Aktion ist dieses Abenteuer packend, weil der sonst überlegene, vorwegplanende Hauptheld sich diesmal auf ein unabsehbares Geschehen in ebenso unabsehbarem Raum einläßt. Es gewinnt jedoch noch zusätzliches Gewicht, indem May es zur Elementarsituation ausweitet. Mehrere sinnträchtige Erfahrungen, besiegelt durch geläufige Redewendungen, ballen sich in dieser Szene. Die heimliche Wühlarbeit; ferner die Unterminierung des menschlichen Zusammenlebens durch lichtscheue Banden der Unterwelt; ferner die schlimmen Folgen für den, der andern eine Grube gräbt. Denn Seidelmann junior wird Opfer der Explosion, die seine Verfolger treffen sollte.

2. Elementarsituation: Exhumierung auf dem Friedhof, was im Lauf des Romans gleich zweimal nachdrücklich ausgespielt wird. Beidemal geht es darum, einstige Verbrechen wiederum buchstäb]ich aufzudecken und dem Vergessen zu entreißen. Die gesuchten Kinderleichen sind Indiz für die zurückliegenden Untaten. Hier inszeniert Karl May die sprichwörtliche Vorstellung, daß etwas aus dem Dunkel ans Tageslicht gebracht wird. Zeit durchdringt sich mit Raum, wenn, was vergraben und verscharrt war, aus dem Schoß der Erde und der Vergangenheit heraufgeholt wird; wenn mit einem Mal schweigsame Gräber anfangen zu reden.

Die 3. Elementarsituation, die ich hier anführen will, wirkt noch schockierender auf den Betroffenen im Roman, aber auch auf den Leser. Es handelt sich um die großangelegte Verbrecherfalle im fünften Band (S. 1782). Aufgestellt hat sie Brandt im eigenen Palast des Fürsten von Befour, um den Hauptmann, alias Baron Franz, an der Spitze seiner Bande zu fangen. Als Köder dient die fürstliche Juwelensammlung. Genau genommen ist es eine Doppelfalle, die wiederum eindrucksvoll Räumliches mit Zeitlichem verschränkt. Die Gegenwartsfalle ist der Palast insgesamt, wo Baron Franz als jetziger Bandenchef in flagranti gestellt und entlarvt werden soll. Die Vergangenheitsfalle ist ein Raum innerhalb des Palastes, wo Baron Franz als


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einstiger Mörder am alten Baron durch Erinnerungsschock gestellt und entlarvt werden soll. Es glückt. Denn Franz trifft dort nicht nur auf eine peinlich genaue Rekonstruktion des Mordzimmers. Er trifft auch auf die Leiche seines Opfers (markiert durch dessen ahnungslosen Sohn Robert) und auf den verschollenen Brandt, dem er damals das Verbrechen angelastet hatte. Franz bricht zusammen unter der Wucht der Elementarsituation (auch wenn sie nur künstlich vom Helden herbeigeführt wurde): der Verbrecher, wiederum hingezogen zum Ort des Verbrechens, auf frischer Tat ertappt und zugleich eingeholt durch die leibhaftig auferstandenen Schandtaten der Vergangenheit.

In diesen und auch in noch anderen Elementarsituationen gibt Karl Mays abenteuerliche Vordergrundshandlung hintergründige Bedeutung frei, die sich - weil eng vertraut und scharf umrissen - dem Leser gleich einer Brandmarke einprägt. Es ist keine einmalige, punktuelle Bedeutung, die nach Ablauf ihrer Szene jeweils erledigt wäre. Sie verbindet sich vielmehr mit dem Bedeutungsgehalt sowohl anderer Elementarsituationen als auch sonstiger Vorgänge, Verhältnisse und Verhaltensweisen in dem Roman zu einem thematischen Zusammenhang. Dieser thematische Zusammenhang soll jetzt näher bestimmt werden. Dabei werden wir besonders darauf zu achten haben, wie er verbunden ist mit dem anfangs erörterten Rahmenthema, das bereits der Doppeltitel des Romans anschlägt. Daraus nämlich lassen sich Schlüsse gewinnen über die Konstruktion und die Anziehungskraft dieses ungefügen Erzählgebildes.

Worin besteht nun der thematische Zusammenhang?

Bringt man die drei beschriebenen Elementarsituationen - Verfolgung im Stollen, Graböffnung, Verbrecherfalle - auf ihren allerallgemeinsten Bedeutungsnenner, so läßt sich sagen: jedesmal wird gewaltsam Schein und Sein zur Deckung gebracht. Der wahre Charakter des Unternehmersohns Seidelmann - als ein verbrecherischer Unterminierer - wird schlagartig offenbart. Der wahre Sachverhalt einer bislang vertuschten Kindsleichenunterschiebung, der zu falschen Schlüssen geführt hatte, wird ans Tageslicht befördert. Der wahre Mörder wird genötigt, seine vergangene wie seine gegenwärtige Untat einzugestehen.

Das heißt, Schein und Sein, Gesicht und wirklicher Charakter, von der Schurkenpartei des Romans bösartig gespalten und vertauscht, werden von der guten Partei zusammengezwungen und damit wieder


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kongruent gemacht. Die vorgetäuschten Ehrenmänner Seidelmann und Baron Franz sind, weil eben dabei erwischt, jetzt auch leibhaftig an ihre Taten geheftet. Und der Inhalt des Grabs berichtigt die jahrelang getäuschte Einschätzung folgenreicher Ereignisse der Vergangenheit.

Gemeinsamer Bedeutungsnenner also ist (vorerst noch reichlich abstrakt gefaßt): die gewaltsame Wiedervereinigung von Schein und Sein. Sie erfolgt nicht bloß in den drei beschriebenen Elementarsituationen. Sie erfolgt allenthalben in diesem Roman. Wie das geschieht, ist dabei nicht minder entscheidend, als  d a ß  es geschieht. Nämlich: nicht auf dem Weg einer gedanklichen Ableitung und Schlußfolgerung (nach Art der detektivischen Arbeit von Sherlock Holmes, Hercule Poirot oder Sir Henry Merrivale). Sondern in einem sinnfälligen abenteuerlichen Handlungsakt.

Just dieser Akt gibt den Ausschlag. Denn durch ihn und in ihm wird der heimtückische Sinnentrug der Schurken gleich doppelt wettgemacht. Mit ihren Machenschaften, aber auch mit ihrer eigenen Person, haben sie durch falschen Schein auch ein falsches Sein vorgegaukelt. Im Verborgenen operierend, aus dem Untergrund und Hinterhalt. Die gute Partei nun zwingt in offenem Angriff, den Sinnentrug rückgängig zu machen. Und zwar genau auf dem Feld der Offensichtlichkeit und Augenscheinlichkeit. Solchermaßen wird die Einheit von Schein und Sein, die Verläßlichkeit der sinnlichen Wahrnehmung doppelt bekräftigt und rehabilitiert.

Ist man einmal auf diesen gemeinsamen Bedeutungsnenner gestoßen, dann wartet der Roman an allen Ecken und Enden mit Anhaltspunkten auf, die in die gleiche Richtung weisen. Ich will nur einige Momente nennen:

Die vielfältigen  M a s k i e r u n g e n , unter denen die Schurken ihrem finsteren Treiben nachgehen - was Gustav Brandt, um ihnen das Handwerk zu legen, mit ebenso vielen Maskierungen konterkariert. Weiter: die  P h y s i o g n o m i k , die dem geübten Blick (vom Autor über den Haupthelden bis zum geschmeichelten Leser) auf Anhieb den Charakter einer Person aus Gesicht und Haltung ablesen läßt. Weiter: die gewichtige Rolle von  S p u r e n  und  I n d i z i e n , die gewährleisten, auf dem ersehnt sicheren Boden sinnlicher Wahrnehmung unsichtbare Handlungen zu erschließen und letztlich sichtbar zu machen. Weiter: die Versessenheit aufs  I n f l a g r a n t i , das dem abgefeimten Pseudoehrenmann die Charaktermaske runterreißt. Schließlich, auf der Seite


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der Schurken, die sadistische Lust, ihre Opfer zu  ö f f e n t l i c h e r  E n t b l ö ß u n g  zu zwingen: im Ballett, beim Modellstehen, im Zirkus als Dame ohne Unterleib. In Lagen also, wo nun umgekehrt, zur Augenweide, an besonders schamhaften Mädchen der falsche Anschein von Schamlosigkeit entfacht wird.

Letzten Endes vollführen sämtliche abenteuerlichen Handlungen des »Verlorenen Sohns« den Kampf um die notwendige und wahre Evidenz. Die Schurken stören und verletzen diese Evidenz gewaltsam. Woraufhin die positiven Helden, ebenso gewaltsam, sie wieder herstellen. Zieht man nämlich aus der wüsten, kaum absehbaren Fülle all der verbrecherischen Aktionen gleichsam die Wurzel, kommt man auf einen einzigen, aber fundamentalen Akt: FÄLSCHUNG. Fälschung freilich in einem weitgreifenden und vielfältigen Ausmaß.

Das geht einem dort erst so richtig auf, wo man herumrätselt, was denn die umfangreichen, beinah selbständigen Episoden der Falschmünzerei zu schaffen haben mit der Hauptgeschichte des Romans. Um lediglich im Fall des Leutnants Scharfenberg auch noch eine miese Variation vom verlorenen Sohn durchzuspielen, dazu scheint der erzählerische Aufwand doch zu groß. Angemessen wirkt er indes, sobald man dahinter kommt, was er in der Gesamtthematik ausrichtet. Falschmünzerei nämlich veranschaulicht am entscheidenden Antrieb der bürgerlichen Gesellschaft, am Geld: was dem Elend zugrunde liegt, dessen der Fürst des Elends Herr wird. Es geht um Fälschung als eine Verletzung von Evidenz. Wodurch unbefangenes menschliches Zusammenleben tödlich bedroht wird.

Was tun denn Helfenstein und seine bösen Handlanger? Immer das gleiche. Seis durch unmittelbare Ausbeutung, seis durch hinterhältige Ränke: sie bringen allemal Menschen in Lagen, die deren wahrem Wesen widersprechen. Sie vergewaltigen sie zu unlauteren Taten, zum Verlust ihrer Unschuld, zur Zerstörung ihres sauberen Leumunds. Sie giften ihnen Krankheiten und Wahnsinn an Leib und Seele. Sie berauben, fesseln, verschleppen, morden sie. Biologisch, psychisch, sozial, moralisch verfälschen sie so die authentische Persönlichkeit ihrer Opfer.

Die Fälschung reicht noch weiter. Sie richtet sich ebenso verheerend auf Dinge und Sachverhalte, was wiederum zurückwirkt auf die Menschen. Helfenstein fälscht Indizien, die den Verdacht von ihm auf Gustav Brandt wälzen. Der Hehler Levi fälscht Roberts Erbkette, um


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die Spuren seiner Herkunft zu tilgen. Aber nicht nur die Fälschungsaktionen an sich, sondern auch deren Beweggrund und Ziel laufen darauf hinaus, wahres Sein durch falschen Schein zu entstellen. Die Schurken wollen sich selber in soziale Rollen und Besitzverhältnisse hieven, die ihnen nicht zustehen. Baron Franz, aus der Nebenlinie, macht sich über Vermögen und Erbtitel derer von Helfenstein her. Die künstlerisch mangelhafte Tänzerin Leda will mit Buhlerei und Trugspiel sich die Stellung einer Primaballerina erschleichen. Und so fort.

Aus solchermaßen heilloser Elendswelt erwächst dem Haupthelden Gustav Brandt sowohl der Anstoß wie die Richtung seiner heilbringenden Aktionen. Sein abenteuerlicher Auftrag ist eindeutig entschieden. Er muß die tückisch verfälschten Verhältnisse wieder entfälschen. In eigener Sache muß er die Makellosigkeit seiner Person öffentlich durchsetzen. Und den übervielen andern Opfern der Bösewichte muß er ihre wahre Identität zurückgewinnen.

An diesem Punkt vereinigt sich das durchgängige Thema vom auseinanderklaffenden Schein und Sein mit dem Rahmen-Thema vom verlorenen Sohn, der für sich und die andern zum Fürst des Elends wird. Abenteuerlich avanciert der vormals verlorene Sohn Gustav Brandt zum Fürsten des Elends, indem er beides bekämpft und überwindet: das  s o z i a l e  Chaos der Unterdrückung und das  e l e m e n t a r e  Chaos einer trügerisch entstellten Wahrnehmungswelt. Beides ist Ausdruck der kapitalistischen Verkehrsformen. Denn soziales Chaos herrscht, wo wenige Gewinn erzielen, indem sie viele auspressen. Und elementares Chaos herrscht, wo keiner mehr so recht auf seine Sinne sich verlassen kann, weil das arbeitsteilige, marktgeregelte Zusammenleben so undurchsichtig wie unanschaulich geworden ist.

Karl May hat seinerzeit diese gesellschaftlichen Bedingungen seines deutschen Abenteuergeländes weder ergründen noch gar im Erzählen aufdecken können. Doch er hat sie schmerzlich am eigenen Schicksal und am Schicksal seiner Umwelt erfahren. Man merkt es auch daran, daß er das so beschaffene Abenteuergelände ausgerechnet von einem Helden bestehen und meistern läßt, der den sozialen Antitypus dazu bildet.

Gustav Brandt - vormals verlorener Sohn, hernach Gottvater für die vielen andern, nicht nur verlorenen, sondern auch vaterlosen Söhne -: er ist, wie schon gesagt, nicht von dieser Welt des Kapitals. Er ist sozusagen sozialer Hermaphrodit. Zwar hat er maßlos Geld, aber er


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hats nicht aus andern herausgepreßt. Zwar handelt er kraft bürgerlicher Tüchtigkeit, aber er setzt sie nicht ein für ökonomischen Gewinn. Vielmehr zur Auffrischung und Verherrlichung adeligen Verhaltens, das ebensowenig von dieser Welt des tatsächlichen zeitgenössischen Feudalismus in Deutschland ist.

Wenn im gleißenden Schlußbild des Romans der Fürst des Elends all seine Schntzbefohlenen um sich versammelt, unter der gigantischen Mandorla des neuerrichteten Schlosses Helfenstein; wenn er gottähnlich sich offenbart als der er war und der er geworden ist; und wenn er gar vom König nunmehr auch hierzuland in den Adelsstand erhoben wird: dann ist dies eher eine legendarische Vision als ein ernst gemeintes politisches Rezept für die sozialen Gebrechen der Gründerjahre. Karl May hatte kein so schlichtes Gemüt, zu meinen, es könne die kapitalistische Industrialisierung rückgängig und eine Art neuen Feudalismus irgend wieder flott gemacht werden.

Es ist abermals die Gesamtkonstruktion des Romans, die solchen restaurativen Vorstellungen widerspricht. May schließt sich auch darin ans bewährte Schema des Abenteuerromans seit Dumas, bekräftigt es aber noch auf seine eigene Weise. Flüchtig betrachtet, möchte man zwar schließen: das Schema des Abenteuerromans und somit auch des »Verlorenen Sohns« ist ein Paradebeispiel für Restauration. Denn allemal geht die Handlungsinitiative von der bösen Partei aus, die den Status quo verletzt, woraufhin die gute Partei diese Verletzungen wieder behebt. Also: Wiederherstellung, Restauration der Ausgangslage? Und demnach, geschichtlich konkret - wenn die Verletzung, wie gezeigt, durch kapitalistische Machenschaften erfolgt ist - ein Zurück zur Feudalordnung?

Diese flüchtige Rechnung geht nicht auf. Denn die Endlage ist nicht gleich mit der Ausgangslage. Und der Umstand, daß Bösewichte den Status quo verletzen, macht den noch nicht gut. »Der verlorene Sohn« zeigt unverkennbar, daß der Status quo nicht so bleiben darf, wie er ist. In ihm brächte es Gustav Brandt nicht weiter als zum überdurchschnittlichen Kriminalinspektor; dürfte er an keine Verbindung mit Alma denken; wäre Alma dem standesdünkelhaften Vater ausgeliefert, der sich übers Glück der Seinen hinwegsetzt.

Von daher gesehen, ist die Initiative der bösen Partei häßlich, aber notwendig. Denn sie setzt nicht nur das abenteuerliche Geschehen überhaupt in Gang, sie schafft damit auch die Voraussetzung, daß etwas


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Gutes dabei herauskommt. Sie gibt der guten Partei Anlaß und Gelegenheit, schrankenlos aktiv zu werden, indem sie bestimmte Schranken des Status quo beseitigt. Hier: indem Franz von Helfenstein den alten Baron ermordet, den Erben verschwinden läßt, Alma in eine schutzbedürftige Lage versetzt und Gustav Brandt moralisch einen Todesstoß beibringt. Hätte das Super-Crimen des Super-Schurken nicht ein Feld und eine Umgangsform des Außerordentlichen eröffnet, Gustav Brandt wäre nie zum Super-Helden und damit zum Retter aller Verelendeten geworden.

Daß da so etwas wie dialektische Geschichtsbewegung sogar im Abenteuerroman durchschlägt, kann ich hier nur andeuten, nicht aber weiter ausführen. So viel jedenfalls scheint mir unbestreitbar: in den »Verlorenen Sohn« sind mehr und heftigere epochale Erschütterungen eingegangen als in manche anspruchsvollen sozialkritischen Romane von Spielhagen bis Kretzer, von Raabe bis Sudermann.

Wenn Karl May darauf mit der verklärten Aktion eines verklärten gottähnlichen Selfmade-Feudalen geantwortet hat, so spricht daraus nur der Wunschtraum dieses und anderer Abenteuerromane im 19. Jahrhundert. Der Wunschtraum von überschaubaren, greifbaren Verhältnissen; vom Handlungsspielraum für die guten starken Helden und Schutz für die Schwachen; von einer sinnlich, aber nicht politisch aristokratischen »Herrschaft des Besten«. Karl May hat heftig verspürt, was ihm und seinen Zeitgenossen die gesellschaftliche Wirklichkeit vorenthält. Er hat nicht gewußt, ob und wie es ihr abzuzwingen wäre.

W o h e r  »Der verlorene Sohn« und  w o r a n  er rührt, wird aus der erläuterten Romankonstruktion unmittelbar einsichtig geworden sein: Er rührt her vom verbreiteten Schema des europäischen Abenteuerromans und rührt, mit dessen Hilfe, an bestimmte sozialpsychologische Erfahrungen des Autors und seiner Zeitgenossen.

Mittelbar deutlich wurde zugleich,  w o d u r c h  er die Leser rührt, massenweise damals und manche auch heute noch. Er rührt sie, indem er ermöglicht, ihre eigenen beklemmenden Lebensumstände, entrückt in einen aufregenderen, bunteren und faßlicheren Spielraum, auszukosten und sich zeitweilig vom Hals zu lesen. Leidend und triumphierend mit einem Helden, der, obwohl er ebenso entrechtet und gepeinigt ist wie sie, noch höher steigt, als er zuvor gestürzt worden ist. Aus eigenem Stand und eigener Kraft, wenngleich unter außerordentlichen Voraussetzungen und mit außerordentlichen Resultaten.


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