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EKKEHARD KOCH

Zwischen Rio de la Plata und Kordilleren

Zum historischen Hintergrund von Mays Südamerika-Romanen



I


Niemals ist Südamerika für Karl Mays Erzählungen ein größerer Schauplatz geworden. Richtig zu Hause fühlte er sich eigentlich nur in Nordamerika und im Orient. Die Niederschrift seiner zwischen Rio de la Plata und Kordilleren spielenden Erzählungen(1) bildete nicht mehr als ein kurzes Intermezzo in seinem so ergiebigen schriftstellerischen Schaffen. Nur in drei Jahren seines Lebens: 1889 bis 1891 hat er sich diesem Schauplatz intensiv zugewandt, danach war er - abgesehen von der Erstellung der Buchfassungen - nicht mehr interessant für ihn.

So nimmt es auf den ersten Blick nicht weiter wunder, daß die Erzählungen bei Beurteilern nicht besonders gut weggekommen sind. Wollschläger meint zu dem zweiteiligen »Sendador«, er wuchere dem Schriftsteller »unter der unlustigen Hand«; etwas besser veranschlagt er »Das Vermächtnis des Inka«, das Karl May »frischer und ungezwungener« geraten sei.(2) Dennoch: das Motiv - die Jagd nach einem Schatz - ist nicht neu oder ungewöhnlich für Karl May; zur selben Zeit entstand auch »Der Schatz im Silbersee«. Und die Gestalten, die in den Erzählungen vorkommen, muten teilweise recht sonderbar an. Da ist der streitbare Frater Jaguar, der nur wenig Ähnlichkeit mit einem Manne Gottes hat, dessen Name dafür aber in Uruguay ebenso berühmt und legendär ist wie im Gran Chaco oder in Bolivien - typisch Maysche Glorifizierung seiner Helden, wird man denken. Oder da ist der Einsiedler bei den Toba-Indianern, der zunächst etwas an Klekihpetra gemahnt, aber sich dann als ein Mann herausstellt, der den Indianern fast die ganze weiße Zivilisation einschließlich des Wurst-Räucherns(3) gebracht hat - nun scheinen die Übertreibungen schon überhandzunehmen. Ferner tritt da noch die Königin der Toba, Unica,


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auf, der es allen Ernstes eingefallen ist, ein Frauen-Bataillon aufzustellen.(4) Und so könnte man wohl noch einige Gestalten anführen, die den im Lauf der Erzählung möglicherweise »unlustig« werdenden Leser nur in seiner Meinung bestärken werden, daß zwar May schon bei seinen sonstigen Erzählungen manche Märchen aufgetischt habe, aber im Falle Südamerikas die Phantasie gänzlich mit ihm durchgegangen sei. Scheinbar hat er von Südamerika ebenso wenig Ahnung gehabt wie die meisten seiner Landsleute.

Tatsächlich ist der Schauplatz Wilder Westen der deutschen Leserschaft in hohem Grad vertraut, und so war das auch schon im vorigen Jahrhundert. Die Eroberung Nordamerikas ist in der deutschen Öffentlichkeit ungewöhnlich bekanntgeworden; die Grundzüge dieser Geschichte, ihre Helden und Sujets, sind teils klischeehaft, teils romantisiert, teils wahrheitsgetreu seit langem beinahe Allgemeingut geworden. Wenige wohl werden mit den Namen Apachen oder Dakota nichts anzufangen wissen, und Häuptlinge wie Sitting Bull, Crazy Horse, Geronimo oder Tecumseh, Generale wie Custer, Crook oder Sheridan sind auch einer breiteren Öffentlichkeit schon einmal untergekommen.

Ganz anders verhält es sich mit der Geschichte Südamerikas. Was man darüber hierzulande weiß, beschränkt sich in erster Linie auf vage Kenntnisse über die Eroberung Perus und Mexikos durch grausame Konquistadoren sowie auf etwas Wissen über Gaucho-Romantik und brasilianische Urwald-Kopfjäger. Aber wer kennt die Geschichte der Araukaner in Chile, der »Apachen Südamerikas«, die von den Spaniern nie völlig unterworfen wurden; wem ist ihr Freiheitsheld Lautaro ein Begriff, der 1557 im Kampf gegen die Spanier fiel, oder der französische Advokat und Abenteurer Antoine Tonnens (1820-78), der sich in den sechziger Jahren an ihre Spitze im Krieg gegen Chile stellte und schließlich des Landes verwiesen wurde? Wem ist die Geschichte der Pampa-Indianer bekannt, die nicht minder blutig war als die der Dakota; wer weiß mit den Namen ihrer Kaziken Catriel oder Calfucora etwas anzufangen, die im 19. Jahrhundert in Argentinien genauso viel Schrecken erregten wie Sitting Bull oder Geronimo im Norden? Oder wer hat schon etwas von ihren Bezwingern, den Generalen Roca oder Alsina gehört? Wer allerdings Karl Mays »Am Rio de la Plata« gelesen hat, der ist schon einmal auf Alsina gestoßen.

Vielleicht lohnt es sich also doch, die Südamerika-Erzählungen


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Mays nicht einfach als ein im ganzen gesehen nicht besonders gut gelungenes Zwischenspiel abzutun! Möglicherweise täuscht auch hier wieder einmal der erste Eindruck, wie es bei May ja häufig der Fall ist! Die folgende Darstellung wird erweisen, daß Mays Südamerika-Erzählungen einen historischen Rahmen haben, einen realen Hintergrund, was um so erstaunlicher wird, je mehr man ihn aufdeckt.

II

Die Niederschrift der Erzählungen bildete, wie gesagt, nur ein kurzes Intermezzo in Mays Leben. Natürlich drängt sich hier die Frage auf: Warum überhaupt Südamerika, warum gerade Argentinien und warum gerade zu dieser Zeit? Selbstverständlich können diese Fragen nicht endgültig beantwortet werden. Aber eine Erklärung, die wohl in die richtige Richtung zielt, liegt nahe.

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts rückte Argentinien in den Blickpunkt der deutschen Öffentlichkeit. Wohl hatte es schon vorher deutsche Auswanderer an den Rio de la Plata gegeben, aber erst jetzt nahm die Emigration größere Ausmaße an. Von 1853 bis 1880 waren nur etwa 200000 Europäer nach Argentinien ausgewandert; dabei handelte es sich in erster Linie um Spanier und Italiener. Aber in den folgenden sechs Jahren kamen allein 300000, und eine große Anzahl davon waren Deutsche. Um 1850 lebten etwa 2000 Deutsche in Buenos Aires. Nachdem 1878 in Argentinien ein Gesetz verabschiedet worden war, das »die Beschaffung von Einwanderern, Bezahlung ihrer Überfahrt und wirksame Hilfe nach ihrer Ankunft« vorsah(5), strömten die Emigranten massenweise nach Argentinien, und die deutsche Kolonie in Buenos Aires vergrößerte sich rasch. Die Zahl der Deutschen, die May für Ende der sechziger Jahre in Buenos Aires angibt(6), nämlich 4000, trifft etwa zu.

Gleichzeitig wurde Argentinien auch von deutschen Unternehmern entdeckt. Krupp lieferte Kanonen nach Buenos Aires, und die erste Filiale der Deutschen Überseeischen Bank wurde 1887 in der Stadt gegründet. Viele Geschäftsleute errichteten Vertretungen und begannen den Engländern Konkurrenz zu machen.

Wichtiger aber als die Tätigkeit der deutschen Kaufleute war das Wirken deutscher Wissenschaftler in Argentinien. Der bedeutendste


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von ihnen war der Pommeraner Hermann Burmeister (1807-92), der Ende der fünfziger Jahre Forschungen am Rio de la Plata unternahm.(7) Er ließ sich in Argentinien nieder und wurde mit der Leitung des Naturwissenschaftlichen Museums in Buenos Aires betraut. Die Gründung der ersten naturwissenschaftlichen Fakultät an der alten Universität Córdoba war sein Plan und Werk, und als 1876 die Fakultät entstand, waren ihre ersten drei Dekane und fast alle Lehrkräfte Deutsche. Sie waren auf Anregung Burmeisters nach Argentinien gekommen. Als er starb, nannte ihn die Zeitung »La Prensa« »einen der größten Gelehrten seiner Zeit«, der mit seinen Gaben »zum Ruhm und Glanz Argentiniens in der Welt der Wissenschaften beigetragen« habe.(8) Wilfried von Oven schreibt mit Recht, die Bemühungen der argentinischen Präsidenten Mitre und Sarmiento, »ihr Land auf die Höhe der Zeit zu bringen, wären erfolglos geblieben, hätten sie es nicht verstanden, außer (vorwiegend englischem) Kapital und (vorwiegend lateinischen) Einwanderern auch (vorwiegend deutsche) Wissenschaftler an den Rio de la Plata zu locken«.(9) Mitre und Sarmiento sind die Präsidenten, die im »Vermächtnis des Inka« erwähnt sind.

Burmeister war außerordentlich vielseitig, gleichzeitig Geograph und Zoologe, Botaniker, Geologe und Paläontologe. In letzterer Eigenschaft befindet sich mit ihm in guter Gesellschaft der skurrile Dr. Morgenstern, den Karl May - offensichtlich in Kenntnis der aktuellen Lage - an dem Wissenschaftler-Run nach Argentinien teilnehmen läßt. Als Morgenstern seinen späteren Diener Fritz Kiesewetter anheuern will, sagt er zu ihm: »Ich suche nach Knochen von vorweltlichen Tieren, wie man sie im hiesigen naturhistorischen Museum findet.« - »Ah, ick verstehe! Von Professor Burmeistern jesammelt?«(10) Dieser letzte Satz, in dem Professor Burmeister vorkommt, wurde leider von den Bearbeitern gestrichen, so daß er sich in der heutigen Ausgabe nicht mehr findet. Möglicherweise wurde der Satz von ihnen für einen Witz Kiesewetters gehalten, von dem sie meinten, seine Pointe sei nicht zu verstehen. Aber, wie man sieht: es war kein Witz! Daß May Dr. Morgenstern in der Pampa nach vorsintflutlichen Fossilien suchen läßt, ist übrigens auch kein Scherz, den er sich in einer heiteren Stunde hat einfallen lassen; sondern Argentinien ist tatsächlich überaus reich an solchen Funden. Schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts waren Skelette von riesenhaften Urtieren gefunden worden: Riesenfaultiere, Ameisenbären und Gürteltiere. Zu Ende des Jahrhunderts


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wurde ein geradezu sensationeller Fund zutage gefördert: ein völlig erhaltenes Fell eines Mylodons (eines elefantengroßen Riesenfaultieres) mit Knochensplittern. Da man dazu auch noch Überreste von Menschen und ein Pferdeskelett fand, begann die Gelehrtenwelt über die Deutung zu wetteifern.(11) Jedenfalls bildete die Pampa ein wahres Paradies für den Paläontologen, eine Tatsache, die May in netter Weise karikiert hat, wobei er allerdings auch sehr viel Wissenswertes vermittelte. Die Angaben über das Megatherium(12), die er geschickt in ein lustiges Gespräch einfließen läßt, stimmen bis in jedes Detail.

In den achtziger Jahren richtete Deutschland das Augenmerk auf Argentinien, und deutsche Forscher, Wissenschaftler, Handwerker, Geschäftsleute, Bauern und Arbeiter machten sich dorthin auf. So hatte May sogar eine gewisse Berechtigung, in diesen Erzählungen so viele Deutsche auftreten zu lassen. Er schrieb ja für ein deutsches Publikum. Und daß es sich nicht um Chauvinismus, sondern eher um einen »noch akzeptablen Patriotismus« handelt, wurde schon früher bemerkt: »Der Vorwurf der nationalen Uberhebung muß im ganzen verneint werden.«(13) In diesem Fall konnte sich May sogar auf die aktuelle Lage berufen. Schon Jahrzehnte zuvor hatte man in Argentinien versucht, in erster Linie deutsche Einwanderer zu gewinnen. Zwar sind es unaufrichtige Schmeicheleien, wenn Señor Tupido erklärt: »Zunächst besitze ich im allgemeinen eine große persönliche Vorliebe für alles, was deutsch heißt. . .« Und: »Ich weiß sehr gut, durch welche rühmenswerte Bescheidenheit der Deutsche so vorteilhaft vor andern sich auszuzeichnen pflegt.« Und: »Wahrhaftig, die Deutschen sind ein höchst ideales Volk!«(14) Aber es war immerhin der große argentinische Präsident Sarmiento, der einmal schrieb: »Die deutschen Einwanderer sind uns ganz besonders willkommen, und zwar ihrer sprichwörtlichen Ehrenhaftigkeit, ihrer Arbeitsfreude und ihres friedfertigen, ruhigen Charakters wegen.«(15)

Karl May war mit seinen Südamerika-Erzählungen am rechten und gerade aktuellen Schauplatz. Damals hat es von Propagandaschriften, Reiseberichten und Zeitungsberichten über das Land am Silberstrom gewimmelt. Die meisten seiner zeitgenössischen Leser haben den kleinen Satz über Professor Burmeister sicherlich verstanden - May hatte eine erklärende Fußnote ebenso wenig nötig wie bei der Erwähnung des Diktators von Paraguay, Francisco Lopez, der in der bearbeiteten Ausgabe heute erläutert ist. Und wir werden sehen, daß Gestalten wie


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der Frater Jaguar, Unica oder der alte Desierto Mays zeitgenössischen Lesern gar nicht so unwahrscheinlich zu erscheinen brauchten wie uns heute. Karl May war klug genug, ebenfalls auf der »Argentinien-Welle« zu reiten, um zusätzlich Aufmerksamkeit bei der Leserschaft zu wecken. Wie im »Kanada-Bill«(16) sind es aktuelle Geschehnisse und Gestalten, die als Hintergrund genommen und um die dann bunte Abenteuer gesponnen werden. Natürlich ist das Niveau jetzt höher, aber die Art und Weise stellt sich ähnlich dar.

III

Es war ein sehr turbulentes Land, in das May diesmal seine Gestalten versetzte. »Wissen Sie, wie es bei uns aussieht? Gegenwärtig giebt es zahlreiche politische Parteien, welche sich gegenseitig bekämpfen, und zwar mit allen Mitteln und ohne zu fragen, ob dieselben verwerflich sind oder nicht«, erläutert Tupido dem Nenankömmling.(17) »Kein Parteigänger ist hier seines Lebens sicher.«(18) Bei solchen Verhältnissen nützt es auch dem Ich-Erzähler wenig, wenn er erklärt: »Mich interessieren die allgemein geagraphischen und ethnographischen Verhältnisse eines Landes. Auf andere Betrachtungen lasse ich mich niemals ein.«(19) Er wird sofort in den Strudel der Revolten hineingezogen. Und daher soll in diesem Zusammenhang auch von einer genaueren Analyse Mayscher Landschaftsschilderungen abgesehen werden. Es mag die Feststellung genügen, daß man sich auf Mays Bemerkungen über den Pampero oder die Luftverhältnisse in Buenos Aires ebenso verlassen kann wie auf seine allgemein gehaltenen Ausführungen über die Landschaften von Uruguay, Gran Chaco oder Kordilleren. Seine Angaben über Rinderzucht, Fleischexport und Haciendas halten einer Nachprüfung ebenfalls stand. Und wer bisher nichts über die Gewohnheiten der Gauchos, ihre Kleidung einschließlich ihrer sonderbaren Stiefel oder über die Art, in Argentinien Mate-Tee zu trinken, gewußt hat, kann sich darüber getrost im »Vermächtnis des Inka« informieren - es wird ihm dort kein Bär aufgebunden.

Im »Vermächtnis des Inka« ist der politische Hintergrund nur ganz knapp gehalten. Gewissermaßen als Einführung wird erwähnt: Der Krieg, in welchen Lopez, der Diktator von Paraguay, die argentinische Konföderation gezogen, hatte der letzteren bis jetzt vierzig Millionen


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Dollar und fünfzigtausend Menschenleben gekostet, ganz abgesehen von den zweimalhunderttausend Opfern, welche die infolge des Krieges eingeschleppte Cholera noch forderte . . . Das argentinische Heer befand sich gegen Lopez stets im Nachteile; in voriger Woche aber hatte es einen bedeutenden Erfolg errungen . . . und um sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen, ergriff der neu erwählte Präsident Sarmiento diese Gelegenheit, die Erlaubnis zu einem Stiergefechte zu erteilen.(20)

May schob die Schuld an dem Krieg Lopez in die Schuhe, und man kann ihm das nicht übelnehmen; denn die Historiker haben sich jahrzehntelang in dieser Form geäußert. Nach seiner schließlichen Niederlage 1870 wurde Lopez mit Schmähungen überhäuft und in einer Weise verunglimpft, die sicher durch die Tatsachen in keiner Weise mehr gerechtfertigt war. Noch in der »Encyclopedia of Latin-American History« und in Bartlett/Millers Buch »The People and Politics of Latin America« wird er als wahrer Unhold hingestellt. Differenzierter äußerte sich von Schoen in seiner »Geschichte Mittel- und Südamerikas«, und Bailey und Nasatir räumen schon ein: »Die Historiker beeilen sich gewöhnlich, alle Schuld an dem . . . Krieg Lopez anzulasten, das aber hieße die Tatsachen falsch interpretieren.«(21) Und bei W. v. Oven liest sich die Geschichte ganz anders.(22)

Wohl waren Lopez napoleonische Machtgelüste nicht abzusprechen, und er wollte die Bedeutung seines Landes sicherlich vergrößern, aber die tieferen Ursachen für den Krieg lagen in der Expansion von Brasilien und Argentinien, die Paraguay gern unter sich aufgeteilt hätten, sowie in der brasilianisch-argentinischen Intervention in Uruguay. Die Vereinigten Staaten vertraten damals ganz eindeutig den Rechtsanspruch von Lopez, aber geholfen haben sie dem kleinen Lande nicht. Heute wird der Krieg gern mit wenigen Worten übergangen, weil er für die verbündeten Staaten Argentinien, Uruguay und Brasilien alles andere als ruhmreich war. Diese Konföderation verübte einen wahren Völkermord. Von etwa 1, 2 Millionen Bewohnern von Paraguay blieben nach fast sechs Jahren Krieg 1870 nur noch 200000 Frauen und 28 000 Knaben, Greise und - meist verwundete - waffenfähige Männer.

Die Bewohner Paraguays bildeten eine eigene, ziemlich homogene »Rasse«, die aus der Vermischung der Spanier mit den hier lebenden Indianern hervorgegangen war und die sich auch noch der Indianersprache Guarani bediente. Sie waren hervorragende Kämpfer und


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folgten ihrem Diktator in den Tod. Am Schluß des Krieges wurde sogar ein Frauen-Bataillon (!) aufgestellt, das die ungekrönte »Königin der Guarani« persönlich anführte. Über Elisa Lynch, eine Dame der Pariser Halbwelt von irischer Herkunft, gehen die Ansichten weit auseinander. Lopez hatte sie während seines Parisaufenthaltes kennengelernt und als seine Geliebte mit nach Paraguay gebracht. Einigen Historikern war sie die Wurzel allen Übels, für andere spielte sie eine den Staatsgeschäften eher förderliche Rolle. Wie dem auch sei - sie scheint jedenfalls eine romantisierte Wiedergeburt in Mays Königin der Toba, Unica, erlebt zu haben, und weiter unten werden wir sehen, daß alles, was May über die Toba schreibt, von den Guarani entlehnt ist. Aber während Unica ihren Geliebten wiederfindet und mit ihm nach Europa geht, mußte Elisa den ihrigen mit eigenen Händen begraben, wurde ins Gefängnis geworfen und durfte erst später nach Frankreich zurückkehren, wo sie bitterarm gestorben ist. Währenddessen mußte in Paraguay die Mehrehe gestattet werden, weil es kaum mehr Männer gab. Das Land war grauenvoll verwüstet. »Gründlicher und erbarmungsloser ist ein Land nie, selbst nicht im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel, heimgesucht worden.«(23)

Befehlshaber im Krieg war auf argentinischer Seite der damalige Präsident Mitre (1862-68), der sich aber 1868 nicht mehr zur Neuwahl stellte. Noch während des Krieges wurde an seiner Stelle Sarmiento gewählt, der bis 1874 regierte. Beide Männer gehören zu den hervorragendsten Präsidenten Argentiniens. Der Vater Jaguar stellt auch entsprechend fest: »Sie (die Aufrührer) wollen sich gegen Mitre empören, einen General, den ich achte und sehr wertschätze. «(24)

In der bearbeiteten Fassung des »Inka« heißt es, die Erzählung spiele Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Sie kann aber, wie man leicht sieht, frühestens 1868 spielen, und zwar im letzten Drittel, weil Sarmiento am 16. August 1868 gewählt wurde. Nimmt man die -von den Bearbeitern gestrichene - Angabe hinzu, daß sich der junge Engelhardt in den Herbst- und Wintermonaten in Buenos Aires aufgehalten habe(25), wobei man davon ausgehen kann, daß May die Jahreszeiten der Südhalbkugel gemeint hat, die umgekehrt zu denen der Nordhalbkugel liegen(26), so kann sie frühestens in den letzten Monaten des Jahres 1868 spielen. Will man aber in dem bedeutenden Erfolg der argentinischen Armee die Einnahme der Hauptstadt Paraguays, Asuncion, sehen, die nach verlustreichen Kämpfen endlich am 1. Januar


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1869 erfolgte, ein Sieg, der wahrlich geeignet war, in Buenos Aires Illumination und festliche Umzüge(27) auszulösen, so beginnt die Erzählung Mays etwa Mitte Januar 1869.

IV

Ein folgenschwerer Fehler von Lopez hatte darin bestanden, daß er sich zu sehr in die Verhältnisse in Uruguay eingemischt hatte, eines Staates, wo eine Revolution die andere jagte und Argentinien und Brasilien öfter die Hand im Spiele hatten. Kaum ist der Erzähler in Montevideo eingetroffen, wird er auch schon in die Wirrnisse verwikkelt. ... zu meinem großen Erstaunen trat ein fein nach französischer Mode gekleideter Herr ein. Er trug eine schwarze Hose, eben solchen Frack, weiße Weste, weißes Halstuch, Lackstiefel und hielt einen schwarzen Cylinderhut in der Hand, um welchen ein weißseidenes Band geschlungen war. Dieses Band, von welchem zwei breite Schleifen herabhingen, brachte mich unerfahrenen Menschen auf die famose Idee, einen Kindtaufs- oder Hochzeitsbitter vor mir zu haben.(28)

Natürlich stellt sich zwölf Seiten später im Buch heraus, daß es sich nicht um einen Hochzeitsbitter handelt, sondern um einen Angehörigen der Blanco-Partei. Als 1828 die Unabhängigkeit Uruguays von Brasilien und Argentinien anerkannt wurde und das Land 1830 seine erste Verfassung erhielt, entstanden die beiden Parteien, die in Uruguay noch heute bestimmend sind. Die »Colorados« (Roten) waren eher liberal eingestellt, die »Blancos« (Weißen) nationalistisch. Ursprünglich waren die Bänder der Blancos nicht weiß, sondern blau, aber da sie unter der sengenden Sonne mit der Zeit ihre Farbe verloren, hat sich die weiße Farbe zur Kennzeichnung der Nationalisten erhalten. Bis in neuere Zeit trugen die Parteien ihre Kämpfe nicht mit Stimme und Feder aus, sondern mit den Waffen, und erst seit 1904 hat man sich zu besonneneren Auseinandersetzungen durchgerungen.

Allerdings hat es über dreißig Jahre vorher schon einmal Hoffnungen auf mehr Ordnung und Versöhnlichkeit im Lande gegeben. Damals kam ein Mann in Uruguay ins Gespräch, »an welchem sich gewisse Zukunftshoffnungen zu knüpfen scheinen«(29); es war bekannt, »daß es eine Partei giebt, welche große Hoffnungen auf ihn setzt«. - »Er hält zwar sehr mit seiner eigentlichen Meinung zurück, denn er ist nicht nur


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ein kühner, sondern auch ein vorsichtiger Mann; aber man weiß doch ziemlich genau, daß er zu den Roten hält und nicht zu den Weißen«(30), wobei die Partei der Roten »das wirkliche Wohl des Landes im Auge (habe). Sie will Ordnung, Gerechtigkeit und Wohlstand schaffen, während die andere Partei das Gegenteil, die Verwirrung wünscht, um im Trüben fischen zu können. « » Unser späterer Präsident hat seine Dispositionen in tiefster Verborgenheit zu treffen.« »Wir wissen, daß wir siegen werden.«(31)

Der Mann, von dem hier im »Rio de la Plata« die Rede ist, ist Oberst Lorenzo Latorre, derselbe Latorre, dem es 1875 tatsächlich gelang, Präsident und ein Jahr später Diktator in Uruguay zu werden, ein Amt, das auch er nicht ohne einen gewissen Terror gegenüber seinen Widersachern behalten konnte. Doch versuchte er, die in ihn gesetzten Hoffnungen zu erfüllen. Er bemühte sich um eine Versöhnung der Parteien, um die Ordnung im Lande und eine Bildungs- und Heeresreform, scheiterte dann aber an dem Versuch, die zerrütteten Staatsfinanzen zu sanieren. 1880 mußte er zurücktreten und erklärte verbittert, Uruguay sei ein unregierbares Land. Immerhin gehörte er zu den bedeutenderen lateinamerikanischen Staatsmännern; May hat sich jedenfalls keine geringe Persönlichkeit ausgesucht, mit der der Erzähler im »Rio de la Plata« anfangs ständig verwechselt wird.(32)

Daß die in diesem Buch erwähnten oder auftretenden Gestalten Latorre, Lopez Jordan und Alsina historisch sind, ist schon lange bekannt; daß man über sie in jedem größeren Konversationslexikon nachschlagen könne(33), ist allerdings eine leicht zu widerlegende Behauptung. Schon die Tatsache, daß die Bearbeiter auch diese Erzählungen falsch datiert haben, zeigt, daß man über die Gestalten nicht so leicht etwas findet. Nicht einmal in der - nicht so ohne weiteres für jedermann zugänglichen- argentinischen Geschichts-Enzyklopädie ist eine vollständige Biographie Jordans enthalten. Die Frage, warum Karl May ausgerechnet Latorre, Jordan und Alsina für seine Erzählungen ausgewählt hat, läßt sich indes durchaus beantworten. Alle drei Personen waren es wert, daß in der Alten Welt über sie berichtet wurde. Von Jordan wird dies auch deutlich gesagt: Auf den Mord an dem ehemaligen Präsidenten Urquiza angesprochen, antwortet Jordan(34): »Spricht man auch im Auslande davon« ? - » Ja. « - » Wo? Auch draben in Europa?« - »Auch dort.« Das Jahr, in dem Urquiza ermordet wurde, hätte sich allerdings durchaus mittels eines größeren Kon-


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versationslexikons ermitteln lassen, so daß von hier aus gesehen die falsche Datierung nicht nötig gewesen wäre.

Jordan war - wie übrigens auch General Mitre - ein typisch lateinamerikanischer Revolutionär; außerdem war er ein für Mays Erzählungen passender »Bösewicht«, der seinen eigenen Stiefvater (nach May; nach gewissen Quellen war Urquiza Jordans Schwiegervater) umbringen ließ. Jordan machte mehr als einmal von sich reden, so daß seine ganze Bewegung sogar einen eigenen Namen - Jordanismus -erhielt. Latorre andererseits war zwischen 1870 und 1880 wohl der bedeutendste Kopf in Uruguay, und Alsina schließlich ging als der Bezwinger der wilden Pampa-Indianer in die Geschichte ein, was ihn weit über die Grenzen Argentiniens hinaus bekanntgemacht hat. Mays zeitgenössische Leser hatten demnach ihnen geläufige »Helden« vor sich, was natürlich den Spannungswert erhöhte, zumal die erste Erzählung ursprünglich sogar den Titel »Lopez Jordan« hatte.

V

»Es ist Lopez Jordan, dter Stiefsohn des früheren Präsidenten Urquiza. . . Es ist aller Grund vorhanden, anzunehmen, daß er vor einer Carriere stehe, welche ihn zur höchsten Stelle der öffentlichen Gewalt bringen wird.«(35) So wird der Erzähler über den berühmten Offizier informiert, zu dem er in einer geheimen Mission reisen soll. An anderer Stelle heißt es über ihn: »Er hat ja das ungeheure Vermögen seines Stiefvaters, des Präsidenten Urquiza.« - »Den er ermorden ließ, eben um sich in den Besitz dieses Geldes zu setzen!«(36) Als ihm der Erzähler endlich begegnet, ist für ihn die Situation alles andere als angenehm: Ich stand dem in Civil gekleideten Manne gegenüber. Er betrachtete mich mit durchbohrendem Blicke. Ich ließ meine Augen rundum laufen und suh auf jedem Gesichte mein Todesurteil verzeichnet.(37) Zum Glück entkommt der Erzähler und kann Lopez Jordan noch ein Schnippchen schlagen. Der General wird im weiteren Verlauf der Erzählung gar nicht mehr erwähnt, weshalb sich die Bearbeiter bemüßigt fühlten, folgenden Satz noch einzufügen: »Über Jordans Schicksal erfuhr ich nichts Genaues. Sein Aufstand wurde niedergeschlagen, und er selbst ist wohl irgendwie und irgendwo als gestrandeter Abenteurer verdorben und gestorben.«(38) Wer war nun dieser Lopez Jordan wirklich?


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Ricardo Lopez Jordan, wie sein voller Name lautete(39), war ein ehrgeiziger und skrupelloser Offizier in der Armee seines Schwiegervaters Urquiza, der insgesamt acht Jahre (1852-60) an der Spitze Argentiniens gestanden hatte. Auch nach seiner Amtszeit hielt sich Urquiza der Politik nicht fern. Als Sarmiento zum Präsidenten gewählt wurde, war er Gouverneur der Provinz Entre Rios, und in Buenos Aires fürchtete man, er würde Sarmiento nicht anerkennen und gegen ihn revoltieren. Urquiza aber war des ewigen Kriegführens mode und entschloß sich zu einer freundlichen Haltung. Als ihn Sarmiento im Januar 1870 besuchte, veranstaltete er zu seinen Ehren ein Fest, zu dem auch eine Truppenparade gehörte. Urquiza ließ seine 15000 Mann aufmarschieren, um Sarmiento zu demonstrieren, er dürfe die halb unabhängige Stellung der Provinz nicht antasten. Ansonsten zeigte er sich dem neuen Präsidenten gegenüber loyal und freundlich. Aber das paßte verschiedenen Offizieren nicht. Hier waren die »Föderalen« in der Mehrheit, die den »Unitariern« in Buenos Aires ablehnend gegenüberstanden. Jahrzehntelang hatten sich beide Parteien erbitterte Bürgerkriege geliefert. Die Unitarier öffneten Argentinien für ausländisches Kapital und fremdes Ideengut, während die Föderalen ähnlich wie die Blancos in Uruguay eine nationalistische Politik verfolgten und die weitgehende Unabhängigkeit der einzelnen Provinzen anstrebten. Die plötzliche Freundschaft Urquizas mit Sarmiento wurde als Verrat ausgelegt. An die Spitze der Empörung stellte sich Lopez Jordan.

Im nationalen Generalarchiv Argentiniens befindet sich ein Bild von Jordan, das in der »Historia Argentina« veröffentlicht ist. Danach hatte er eine hohe Stirn und sah intelligent aus. Er trug einen gepflegten Backenbart, der sich oberhalb des Mundes zum Schnauzbart verlängerte und auch unterhalb des Kinnes auslief, während das Kinn beinahe bartlos war. Das gab ihm ein hoheitsvolles, gebieterisches Aussehen. Insgesamt macht aber das Antlitz einen kalten, gefährlichen Eindruck, und das liegt an den abweisend blickenden Augen.

Jordan wurde am 30. August 1822 in Arroyo de la China, dem heutigen Concepcion del Uruguay geboren. Mit 19 Jahren trat er in die Armee der Föderalen ein und nahm an den blutigen Kämpfen in den Bürgerkriegen zwischen Föderalen und Unitariern teil. Er führte bald ein eigenes Kommando und zeichnete sich derart aus, daß ihm General Rosas nach einem entscheidenden Sieg die Erfüllung einer Bitte ge-


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währte - Jordan bat den späteren Diktator um die Freilassung seines Vaters, der als politisch Verfolgter hinter Gittern saß.

Jordans Aufstieg ging schnell vonstatten. 1849 wurde er Militärkommandeur in seiner Heimatstadt und errang bei der Verteidigung der Stadt drei Jahre später großen Ruhm. Als Urquiza Präsident von Argentinien war, wurde er 1858 Abgeordneter zum Nationalkongreß, und als Urquiza nach seiner Amtszeit Gouverneur der Provinz Entre Rios wurde, machte er Jordan zu einem seiner Minister. 1862 wurde er sogar Militärinspekteur in Entre Rios und bald danach Oberbefehlshaber in den Grenzgebieten der Provinz Corrientes. Gern wäre er Gouverneur von Entre Rios geworden, als Urquizas Amtsperiode vorbei war; er genoß auch eine gewisse Popularität, aber da Urquiza nicht ihn, sondern einen Gegenkandidaten unterstützte, wurde er bei den Wahlen geschlagen.

Mittlerweile war der Krieg gegen Paraguay in vollem Gang, in dem anfangs die verbündeten Staaten nicht besonders gut wegkamen. In Basualdo rebellierten mehr als 10000 Soldaten und setzten ihre Offiziere ab. Einzig und allein die Truppen, die Jordan organisiert hatte, zeigten sich loyal; mit ihnen brachte er Urquiza in Sicherheit. 1868 schlug er an der Nordgrenze von Entre Rios einen Aufstand nieder.

Jordans große Stunde kam 1870, als Urquiza - mittlerweile erneut Gouverneur in Entre Rios - auf die Seite Sarmientos und damit der Unitarier neigte. Am 11. April dieses Jahres drang eine Bande Mörder in den Gouverneurspalast ein. Mit den Worten »Es sterbe der Tyrann und Verräter Urquiza! Es lebe Lopez Jordan! « brachte sie den siebzigjährigen Urquiza und eine Reihe seiner Familienmitglieder um. Ob Jordan tatsächlich die Bande angeführt hat, ist nicht restlos geklärt, aber daß er der Anstifter zu dem Mord war, sprach sich schnell herum (obwohl - vgl. Anm.39 - sich heute die Gelehrten auch darüber nicht mehr einig sind). Schon drei Tage später hatte Jordan - dank des Druckes und der Macht derer, die ihn auf den Schild gehoben - den Provinzrat überzeugt, daß mit der Tat die Provinz Entre Rios vor unitarischer Tyrannei bewahrt worden sei, und wurde entsprechend zum neuen Gouverneur anstelle des Ermordeten gewählt.

Damals waren politische Morde nicht mehr so populär in Argentinien wie noch wenige Jahre vorher, und in den übrigen föderalistisch gesinnten Provinzen wurde das Verbrechen verabscheut. Deshalb brachte Sarmiento rasch seinen Antrag für den Kampf gegen Jordan


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durch den Kongreß, und schon im Herbst war der Krieg gegen ihn im vollen Gang. Die Provinz Entre Rios wurde regelrecht belagert. Die Truppen führten die Generale Gelly y Obes und Roca, den Oberbefehl hatte Mitre, und im Februar 1871 mußte Jordan mit 1700 Mann nach Uruguay und weiter nach Brasilien flüchten.

Aber noch gab Jordan nicht auf. Im Mai 1873 fiel er erneut in Entre Rios ein, und die Regierungstruppen gerieten derart unter Druck, daß sich der Minister für Krieg und Marinewesen, Oberst Martin Gainza, persönlich ins Feld begeben mußte. Erst nach erbittertem Widerstand ergaben sich Jordans Streitkräfte, während Lopez Jordan selbst in die Provinz Oriente flüchtete.

Noch einmal machte Jordan im November 1876 von sich reden, als er abermals versuchte, die Macht in Entre Rios an sich zu reißen. Es gelang ihm auch diesmal nicht, im Gegenteil, er geriet in Gefangenschaft und wurde in Ketten nach Rosario de Santa Fe gebracht. Doch war ihm das Schicksal wieder einmal gnädig - als Frau verkleidet konnte er entkommen, während seine Frau im Gefängnis seinen Platz einnahm. Jordan begab sich nach Oriente und konnte sich dort von da ab unbehelligt seinem Familienleben widmen.

Später wurde ihm Amnestie gewährt, und 1888 kehrte Jordan in seine Heimat zurück und bemühte sich auch darum, sein früheres Ansehen und seinen Generalsrang wieder zu gewinnen. Doch ereilte ihn nun das Schicksal, das seinerzeit Urquiza bereitet worden war. Am Morgen des 23. Juni 1889 lief er entlang der Calle Esmeralda in Buenos Aires, als plötzlich ein Mann auf ihn zuschoß und schrie: »Du hast meinem Vater die Kehle durchgeschnitten, und ich werde dich töten!« Im nächsten Moment hatte der Mann, ein gewisser Aurelio Casas, eine Pistole in der Hand und feuerte zwei Schuß auf Lopez Jordan ab, die ihm durch den Kopf drangen und ihn auf der Stelle töteten.

Jordan ist also nicht »irgendwie und irgendwo als gestrandeter Abenteurer verdorben und gestorben«, sondern als durchaus geachteter Offizier, der seinem Vaterland in den ersten fünfzig Jahren seines Lebens manchen Dienst erwiesen hatte. Es ist nun auch klar, daß die Abenteuer nicht Ende der sechziger Jahre spielen, sondern im Jahre 1870, wobei May selbst ergänzt: Wir befanden uns im Oktober, also im südamerikanischen Frühlinge (vgl. Anm. 26). Zwar könnte theoretisch auch die zweite Revolution gemeint sein,


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was die Zeit um zwei Jahre verschieben würde, doch erscheint das unwahrscheinlich. »Generalissimo« war Jordan nur 1870. Die dritte Revolution kann schon deshalb nicht gemeint sein, weil Latorre zu der Zeit schon Diktator in Uruguay war und Alsina seine Kampagnen gegen die Pampa-Indianer begann.

VI

Er saß auf dem Hinterdecke in der Nähe des Steuermannes und hatte seinen Platz so gewählt, daß er das ganze Deck überblicken konnte, ohne selbst viel bemerkt oder gar belästigt zu werden . . . Gekleidet war er sehr fein und nach französischem Schnitte. Den Bart trug er nach der hiesigen Mode. Seine Züge, sein dunkles, scharf blickendes Auge ließen auf ungewöhnliche Intelligenz und Willenskraft schließen. Die sonnverbrannte Farbe seines Gesichtes gab nicht zu, ihn für einen Salonhelden zu halten.(40) Nun, ein Salonheld war Alsina nicht, im Gegenteil: »Meinen Sie vielleicht Rudolio Alsina, den berühmten argentinischen Obersten, welcher so siegreich im Süden gewesen ist?«(41) - Tatsächlich: »Himmel! Sennor Alsina, der Indianerbezwinger?«(42)

Als Indianerbezwinger ist Alsina wohl auch in Deutschland bekanntgeworden - die Bemerkung genügte offenbar, dem Leser mitzuteilen, um wen es sich hier handelte. Daß Alsina zu der Zeit, da die Erzählung spielt, noch keine Indianer besiegt hatte, hat May allerdings nicht bedacht.

Auch von Alsina befindet sich in der »Historia Argentina« ein Bild. Er trug einen dichten, nicht gestutzten Vollbart, die Stirn war hoch, und die Züge des Gesichtes sind durchaus edel zu nennen. Es macht -um diesen subjektiven Eindruck wiederzugeben - den Eindruck eines intelligenten und gebildeten Mannes. Alsinas Bedeutung beschränkte sich auch nicht auf die Befriedung der Indianer.(43) Um sie in ihrem vollen Umfange würdigen zu können, müssen wir uns etwas näher mit den Zuständen an der Indianergrenze von Argentinien befassen. Am besten lassen wir Karl May zu Worte kommen, der sich darüber seine Gedanken gemacht hat: Er ging und ließ mich in Gedanken zurück, welche den Schlaf noch längere Zeit fern von mir hielten. Es war wieder das alte Thema gewesen, das Thema über die Berechtigung der weißen Rasse, die rote von der Erde zu verdrängen. Wenn wir dieses Recht


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wirklich besitzen, so wird es uns doch nie gelingen, die Indianer von demselben zu überzeugen.(44)

Hatte nicht der Indianer vorher zu ihm gesagt: »Das ganze Land gehörte uns. Was darauf lebt und wächst, ist also unser Eigentum. Wenn ich mir ein Rind, ein Pferd fange, so stehle ich nicht etwa, sondern ich nehme mir nur das, was mir gehört. « - So sagen alle südamerikanischen Indianer, ergänzt May dazu. Sie sind überzeugt, ganz in ihrem Rechte zu sein, und niemand kann ihnen das Gegenteil beweisen.(45)

Tatsächlich war hier der Kern des Problems angesprochen: der Streit um die Besitzverhältnisse. Und wie genau May ins Schwarze getroffen hat, zeigt ein Bericht des Generals Mansilla über ein Gespräch, das er 1870 mit dem Kaziken Mariano Rosas führte(46), als er eine militärische bzw. politische Mission im Süden Argentiniens leitete: »Er (Mariano Rosas) fragte mich, mit welchem Recht wir den Quinto-Fluß überquert hätten; er sagte, dieses Gebiet habe immer den Indianern gehört, ihre Väter und Großväter hätten in der Gegend der Lagunen von Chemeco, La Brava und Tarapenda, im Hügelland von La Plata und Langhelo gelebt; er fügte hinzu, die Christen, mit dem allem noch nicht zufrieden, wollten noch mehr Land anhäufen (er bediente sich dieses Wortes).« Daraufhin antwortete der General: »Das Land gehört nicht den Indianern, sondern denen, die es durch ihre Arbeit produktiv machen.« Und er fügte hinzu: »Ihr fragt mich, mit welchem Recht wir das Land nehmen. Ich frage Euch, mit welchem Recht Ihr uns überfallt, um Vieh zu rauben.« Eine ähnliche Vorhaltung macht auch der Erzähler dem Indianer, den er an Raub, Mord und Entführungen durch einzelne Stämme erinnert. Dem General erwiderten in dem historischen Gespräch einige Indianer: »Das ist nicht dasselbe; wir können nicht arbeiten; niemand hat es uns gelehrt, zu arbeiten wie die Christen, wir sind arm, wir müssen auf Raubzüge gehen, um leben zu können.« Und der Erzähler wird belehrt: »Die Weißen haben uns das gute Land weggenommen, so daß wir weder Estanzias noch Ranchos besitzen. Wir können uns nichts verdienen. Darum nehmen wir, wenn sich uns Gelegenheit dazu bietet, die Frauen und Töchter der Weißen gefangen und geben sie ihnen gegen ein Lösegeld zurück, für welches wir uns dann kaufen, was wir brauchen.«(47)

Der Erzähler gibt zu bedenken: »Ich glaube nicht, daß Sie ahnen, welchen Schaden nur in den La Plalastaaten die Indianer anrichten. Die Indianer dieses Landes haben während der letzten fünfzig Jahre


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ungefähr elf Millionen Rinder, zwei Millionen Pferde und ebensoviele Schafe gestohlen. Dabei sind dreitausend Häuser zerstört und fünfzigtausend Menschen getetetet worden.«(48)

Es waren immerhin 1500 weiße Frauen und Kinder, die General Rosas in den Jahren 1832/33 aus den Händen der Pampa-Indianer befreite.(49) Und W. v. Oven berichtet: »Statistiker haben errechnet, daß bis zu diesem Zeitpunkt ( 1880!) von den Indianern zwei Millionen Schafe, ebensoviel Pferde und elf Millionen Rinder geraubt, 3000 Gebäude zerstört und 50000 Menschen getötet wurden, ganz zu schweigen von den statistisch nicht erfaßten unsagbaren Grausamkeiten, die sie begingen.«(50) v. Oven dürfte wohl kaum von Karl May abgeschrieben haben. Tatsächlich war die Statistik schon vor 1890 in Europa bekanntgeworden.(51) Möglicherweise auch das Gespräch zwischen General Mansilla und den Indianern - der Bericht des Generals zählt heute zu den »klassischen Reiseberichten« über die La-Plata-Länder.

Im Unterschied zu v. Oven zieht allerdings Karl May die Statistik durch die Aussage des Indianers Gomez in Zweifel: »Das haben die Indianernichtgethan. Die Weißen sind die größten Spitzbuben. Was sie selbst thun, dafür klagen sie uns an. Wenn ein Weißer Pferde stiehlt, so sind wir es gewesen. Wenn ein Weißer den andern ermordet, so sind wir die Mörder. Die Hälfte, wenigstens die Hälfte dessen, wovon Sie jetzt sprachen, haben Weiße verschuldet . . . Man sendet Soldaten gegen uns aus, angeblich um die Ansiedler gegen unsere Raubzüge zu schatzen. Aber ich sage Ihnen, daß die größten Räuber sich unter den Grenzsoldaten befinden. Und wenn die Zahlen, welche Sie vorhin brachten, die volle Wahrheit enthielten, so wäre der Schaden, welchen die Weißen uns verursacht haben, doch viel größer. Das ganze Land gehörte uns.«(52) An anderer Stelle heißt es dazu(53): »Es giebt mehr weiße Spitzbuben als rote! Es giebt Leute, welche behaupten, daß die Roten das Stehlen erst von den Weißen gelernt haben, und ich werde mich hüten, diesen Menschen ihre Ansicht zu rauben.«

Hören wir auch zu diesem Punkt noch einmal v. Oven, der May im Grunde bestätigt: »Die »frontera«, die Indianergrenze . . . war zu einem einzigen Skandal geworden. Korrupte Politiker und Offiziere machten sie zu einem glänzenden Geschäft. Die Gelder für Ausrüstung und Verpflegung der Truppe versickerten auf dem Weg von Buenos Aires bis zu dem Mann an der Front, für den sie doch eigentlich


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bestimmt waren. Statt die Indianer an ihren »malones«, den gefürchteten Raubzügen, zu hindern, drückten sie ein oder auch beide Augen zu und halfen lieber dem jeweiligen Kaziken hinterher, seine Beute zu Geld zu machen. . . So kam es, daß die nur etwa 15000 Indianer jahrzehntelang von ihren Uberfällen auf grenznahe Siedlungen und von dem blühenden Geschäft mit ihrem »Gegner« leben konnten.«(54)

Verbrecher wie der Sendador oder der Gambusino waren an der Grenze von Argentinien keine Seltenheit. Sie sind wohl typisch Maysche Bösewichter, aber es waren auch typische Gestalten dieser Zeit und dieser Gegend.

Es war das Werk Adolfo Alsinas (1829-77), der in Argentinien ungewöhnlich populär war, diese Zustände weitgehend zu beseitigen. Er wurde 1874 unter dem neuen Präsidenten Avellaneda Kriegsminister und bekämpfte erfolgreich die haarsträubende Korruption an der Front. Damit schuf er die Basis für die Niederzwingung der Indianer zwischen 1876 und 1880. Er selbst starb an den Strapazen während des Beginns der Kampagne, konnte aber den Triumph des ersten bedeutenden Sieges noch erleben. Sein Werk führte General Roca zu Ende, der später Präsident in Argentinien wurde. Er besiegte die Kaziken Namuncura, Catriel und Pincén; Calfucura, der in den Pampas ein regelrechtes Indianerreich gegründet hatte, war schon 1873 gestorben. Zu Rocas Offizieren gehörte auch ein Deutscher, General Lorenzo Winter, nach dem in Patagonien ein See benannt wurde. Als Vorbild für den Einsiedler im Band »In den Cordilleren«, den May ebenfalls Winter (in der bearbeiteten Fassung: Herbst) nennt, hat er aber sicher nicht gedient. Das Urbild des Desierto, der als weiser Vater und Erzieher unter den Toba wirkt, ist anderswo zu suchen.

»Warum hat man uns nicht gelehrt, zu arbeiten, nachdem man uns unsere Tiere gestohlen hat?« haben die Indianer in der historischen Beratung General Mansilla gefragt. Und zu dem Erzähler sagt der Indianer auf den Vorwurf, die Indianer seien Wilde, nicht etwa hochgebildete Völker: »Aber wer ist schuld daran, daß wir nicht mehr das sind, was wir früher waren? Wer hat uns aus unsern früheren Wohnsitzen vertrieben, so daß wir nun in den Wildnissen leben müssen . . . ?«(55)

Wenden wir uns nun diesen »Wilden« im einzelnen zu!


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VII

»Legen Sie überhaupt den Maßstab eines Sioux oder Apachen nicht an die Indianer des Gran Chaco«, wird der Erzähler belehrt. »Rauben und stehlen, auch morden können sie; aber der Gefahr weichen sie stets aus. Es ist ein verächtliches und verkommenes Geschlecht(56) Wahr ist allerdings, daß die Gran-Chaco-Stämme ausgesprochen kriegerisch waren, aber als Gesindel konnte man sie denn doch nicht bezeichnen. Die Indianerstämme, die in den Erzählungen vorkommen, sind die Camba und Mojo im »Vermächtnis des Inka« und die Mbocovis, Chiriguano, Aymara und Toba im Band »In den Cordilleren« sowie die Abipones, die in beiden Büchern eine bedeutende Rolle spielen. Alle diese Stämme hat es gegeben, aber nicht jede Einzelheit, die May über sie erzählt, entspricht der Wirklichkeit. Das ist auch weiter nicht verwunderlich. Auch heute ist es schließlich nicht ganz einfach, Informationen über die südamerikanischen Stämme zu erhalten.(57)

Gänzlich in der Wahl vergriffen hat sich May aber nur bei den Camba (Kampa), die sehr weit hätten wandern müssen, um den Gran Chaco zu erreichen. Man zählt sie zu den Montana-Völkern, d. h. zu den Völkern des tropischen Waldgebietes, die in den Andenausläufern bis zu etwa 1000 m Höhe lebten. Dagegen hat May die Mojo ungefähr an die richtige Stelle gesetzt, sie leben in Nordost-Bolivien und sind heutzutage Rinderzüchter. Völlig richtig treten die Aymara im bolivianischen Hochland im Band »In den Cordilleren« auf. Und auch Mays Bemerkung über die Chiriguano(58) kann man gelten lassen: »Sie leben nicht bloß hier im Gran Chaco, sondern ziehen sich bis in die Cordilleren hinauf und nach Bolivia hinein.« Tatsächlich waren die Chiriguano ein Tupi-Stamm, der während der Kolonialzeit auf weiten Wanderungen unter großen Verlusten an Menschenleben bis an den Ostabhang der bolivianischen Anden gelangte.

Eine wesentliche Rolle spielen in den Erzählungen allerdings nicht diese Stämme, sondern die Abipones, Toba und Mbocovis (heutzutage ist die Form Mocovi gebräuchlich). Alle drei Völkerschaften sind eng verwandt und gehören zur Familie der Guaicur£. Mays allgemein gehaltene Ausführungen über die Chaco-Stämme sind durchaus informativ. Seine Darstellung eines Indianerdorfes(59) mit den dazugehörigen Äckern und Herden ist treffend. Daß die Chaco-Indianer sehr gern tanzten, ist wahr, und auffällig sind auch mehrere Bemerkungen Mays


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über die indianischen Kinder: Die Kinder waren, hier wie allerwärts, die schlimmsten.(60) Natürlich war auch die hoffnungsvolle Jugend in voller Thätigkeit(61) - es folgt hier eine kleine spaßhafte Szene mit einem vierjährigen Jungen, die die Bearbeiter weggelassen haben. Schließlich wird noch eine Beobachtung der Kinder beim großen Siegesfest geschildert.(62) Ist es Zufall, oder hat May gewußt, daß die Kinder bei den Chaco-Stämmen ein wahrhaftes Paradies gehabt haben? Mays Bearbeiter haben es offenbar nicht gewußt.

Mays Angabe, daß die Chaco-Völker sehr kriegerisch waren, stimmt. Die Abipones und Mbocovis waren im Gegensatz zu den Toba, die Fußindianer blieben, gefürchtete Reiter geworden. Sie kannten die Bola; Blasrohre waren allerdings im Chaco nicht oder nur selten gebräuchlich. Die Kriegshäuptlinge übten eine große Macht aus; in der Klassen-Gesellschaft, die sich bei einigen Stämmen bildete, standen die Häuptlinge an der Spitze. Bei den Toba gab es sogar Häuptlingsfamilien. Die Sitte, daß bei den Kriegszügen oft alle Männer getötet und die Frauen und Kinder mitgeschleppt und in den Stamm aufgenommen wurden, gibt May richtig wieder - bei den Abipones und Mbocovis herrschte sie allerdings nicht. Kriegsgründe waren in Grenzverletzungen, Blutrache oder Beutezügen zu suchen.

Nur die Toba zählen heute noch ein paar tausend Menschen. Sie leben mit anderen Stämmen (Matacos, Churupíes) in ihren althergebrachten Gemeinschaften in Nordost-Argentinien, führen allerdings als Jäger und Fischer nur ein sehr ärmliches Dasein. Ansonsten gibt es in Argentinien kaum mehr reinblütige Indianer. Die Mbocovis und Abipones sind so gut wie ausgestorben. Am Ende des 18. Jahrhunderts lebten noch an die 5000 Abipones, doch schmolzen sie dann rasch dahin. Die letzten 800 von ihnen wurden 1824 in der argentinischen Provinz Santa Fé angesiedelt.(63) Keinesfalls konnten sie um 1870 noch 800 Krieger stellen, wie May behauptet.(64) Um diese Zeit gab es nur noch wenige Abipones und fast nur Mestizen, die als Bauern, Jäger, Fischer und mitunter als Händler lebten. Die Rolle, die ihnen May zukommen läßt, hätten eher die wilden Horden des Kaziken Catriel übernehmen können. Er machte nicht nur einmal die Gegenden unsicher, in denen die Erzählungen spielen. Der Gerechtigkeit halber muß aber hinzugefügt werden, daß Catriel öfter von General Mitre gegen Revolutionäre oder unbotmäßige Provinzen (wie Santa Fé) eingesetzt wurde.


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Daß May die Abipones trotz dieser Verhältnisse, die ihm nicht unbekannt gewesen sein können, mehrfach auftreten läßt, muß einen anderen Grund haben. Er liegt auch nahe: die Abipones gehörten zu den südamerikanischen Völkern, die in Deutschland besonders bekanntgeworden sind. Und damit begeben wir uns nun auf die Spur des alten Desierto und des Frater Jaguar.

VIII

Merkwürdigerweise treten viele Padres in den Erzählungen auf. Da ist der Pater, der ursprünglich das Geheimnis des Inka-Schatzes kannte, bevor ihn der Sendador ermordete und beraubte. Oder der Frater Jaguar, von dem man nicht recht weiß, was man von ihm halten soll. Auch der alte Einsiedler bei den Toba-Indianern betätigt sich als Priester: ». . . ich übersetze ein Evangelium oder eine Epistel und lese aus der Postille eine Erklärung.«(65) Eine Kirche dafür ist vorhanden. Man muß aber beinahe den ganzen Band durchlesen, um auf die entscheidende Stelle zu stoßen: Das Dorf der Mbocovis sei von den Jesuitenpadres angelegt worden und einige Mbocovis seien Christen.(66) Schon vorher ist eine in diesem Zusammenhang außerordentlich wichtige Stelle zu lesen. Der Desierto möchte die feindlichen Mbocovis mit friedlichen Mitteln zur Übergabe bewegen. Er klopfte an seine Ledertasche und zog seinen zusammengewickelten Talar aus derselben. Dann erklärt er: »Ich stehe bei allen Roten des Gran Chaco in einem solchen Rufe, daß keiner es wagen wird, sich an mir zu vergreifen, falls ich diesen Rock trage. «(67)

Es ist beinahe tragisch zu nennen, daß Mays Bearbeiter eine Fülle von Stellen gestrichen haben, die einen geschichtlichen oder zeitgeschichtlichen Bezug haben und daher geeignet wären, Mays Arbeitsweise zu dokumentieren. Vielleicht war die eben zitierte Stelle den Bearbeitern zu religiös - jedenfalls fehlt sie heute. Dem Kenner der Verhältnisse aber wird allmählich ein Licht aufgehen: Karl May hat hier das »Heilige Experiment« der Jesuiten in Paraguay nachgedichtet. Nun wird plötzlich alles klar.

In Paraguay und seinen Grenzgebieten, die heute zu Brasilien, Argentinien und Bolivien gehören, gründeten die Jesuiten-Missionare zu Beginn des 17. Jahrhunderts ihre erfolgreichsten »Reduktionen«:


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autonome, abgeschlossene und eingezäunte indianische Gemeinwesen, in denen 1767, als die Jesuiten aus Amerika vertrieben wurden, 140000 christliche Indianer lebten. Die Leistungen der Missionare auf zivilisatorischem und kulturellem, wirtschaftlichem und militärisch-politischem Gebiet konnten nicht einmal durch den Völkermord in Paraguay endgültig vergessen gemacht werden, auch wenn damals die Missionen schon hundert Jahre verlassen waren.

Am meisten Erfolg hatten die Jesuiten bei den Guarani-Indianern. Und was Karl May über die Toba schreibt, trifft für die Guarani zu. Diese waren mächtig und selbstbewußt, intelligent und fleißig, friedfertig, aber jederzeit zur Verteidigung bereit, Erben einer höher entwickelten präkolumbianischen Tupi-Guarani-Kultur. »Diese letzteren (die Toba) sind friedfertiger Natur und den Weißen freundlich gesinnt; es giebt sogar welche unter ihnen, die sich seßhaft gemacht haben und einen kleinen Acker bauen . . . Aber wenn sie angegriffen werden, so stellen sie ihren Mann. Sie sind der schönste Schlag der Indianer.«(68) Unica hätte sich, obwohl Halbblut, mit Mays Worten mit jeder weißen Porteña messen können.(69) In der Tat waren die Guarani-Frauen für ihre Schönheit bekannt, auch den spanischen Siedlern fiel das auf - sie vermischten sich mit der Zeit mit den Guarani bis zur Entstehung einer eigenen »Rasse« in Paraguay.

Allein in Paraguay gab es mehr als zehn Reduktionen, die durch Straßen miteinander verbunden waren. Über sie sind uns viele Berichte überliefert. Danach befand sich im Mittelpunkt der Gemeinwesen ein großer Platz mit der Kirche und den Jesuiten-Gebäuden. Um ihn herum war gleichmäßig das Indianerdorf angelegt. Die Häuser bestanden aus Stein und waren mit Gras gedeckt. Sie waren sehr sauber und liebevoll gebaut. Die ersten Häuser des Dorfes (der Toba!) bildeten eine breite Straße. Die Gebäude waren aus Holz, Lehm und Ziegeln errichtet und meist mit Schilf gedeckt. Sie hatten ein sauberes Aussehen. Es gab kein einziges, neben, vor oder hinter welchem nicht ein Gärtchen gelegen hätte. Am Ende der Straße traten die Häuser weiter auseinander. . . und (bildeten) eine Art Ring oder Marktplatz.(70)

Die Jesuitenpater brachten den Guarani nicht nur das Christentum, sondern fast die gesamte Zivilisation. Aus den »Wilden« wurden Schreiner, Metzger und Maurer, Gerber, Weber und Tischler, Gärtner, Bauern und Viehzüchter. All dies vollzog sich ohne Waffengewalt, nur mit Güte, Liebe und patriarchalischer Autorität. Die Padres zerstörten


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auch nicht die Sozialordnung bei den Indianern. Nach wie vor stand der Kazike an der Spitze, der zugleich gewissermaßen die rechte Hand des Jesuitenpaters, des eigentlichen Oberhauptes der Reduktion, war. So auch bei May: »Die Herrscherin über alle bin ich«, sagt Unica, »und der Tio (der Desierto) regiert sie an meiner Stelle(71) Auch lernten die Missionare die Eingeborenensprache und zwangen ihren Schützlingen nicht Spanisch auf. Deutsche Missionare allerdings haben ihnen deutsche Weihnachtslieder und ein paar deutsche Brocken beigebracht - wie ja auch Unica Deutsch gelernt hat. Geld gab es in den Ansiedlungen nicht. Produktionsüberschüsse wurden von den Padres verkauft; die Erlöse waren für andere Waren bestimmt oder wurden an den Orden abgeführt. Wie der alte Desierto übernahmen sie die Geschäfte für ihre Indianer.

Nachdem die Voraussetzungen für ein friedliches Leben geschaffen waren, brachten die Padres den Indianern auch Kulturgüter. Kleidungs- und Schmuckstücke stellten die Indianer bald selber her, später dann sogar Musikinstrumente und Uhren, Portraits und Holzschnitzereien. Die großartigen Kathedralen im Urwald wurden unter Anleitung der Jesuiten von Guarani gebaut.

Nach 1674 wurde auch nicht-spanischen Missionaren die Tätigkeit in Südamerika gestattet. Viele Deutsche kamen nun nach Paraguay. »Was sie dort vollbrachten, wurde mit Recht . . . »die größte Kulturleistung der Deutschen in Südamerika im 17. und 18. Jahrhundert« . . . genannt.«(72) Auch der alte Desierto ist ein Deutscher namens Alfred Winter. Zwar wird er, der weiße Häuptling der Toba, zunächst mit allerlei Geheimnissen umgeben. Er soll ein Nachkomme der Inkaherrscher sein und über große Schätze verfügen. »Ihm soll es zuzuschreiben sein, daß die Toba-lndianer den Weißen und der Civilisation freundlich gesinnt sind(73) Aber es stellt sich bald heraus, daß es kein Inka-Abkömmling ist, sondern ein Büßer, der sich für einen Mörder hält und es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Indianern Kultur zu bringen. Seine Leistung kann sich mit der der Jesuiten durchaus messen: » Ja, da wundern Sie sich wohl«, sagt der alte Desierto zu seinen Besuchern, »Wein und Cigarren im Gran Chaco! Der erstere ist natürlich gekauft und per Maultier hierher gebracht worden. Die Cigarren aber sind eigenes Gewächs und auch eigenes Fabrikat. « - » Wenn Sie einige Zeit hier bleiben, was ich natürlich sehr hoffe und wünsche, werden Sie sehen, was ich meine Indianer gelehrt habe . . . Meine Tobas rauchen


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ihre Cigarren wie die feinsten Gentlemen, und zwar eine Sorte, um welche sie mancher Kenner beneiden würde. Und was die Hauptsache ist, sie bauen den Tabuk selbst und machen sich auch die Cigarren selbst.« »Wir haben jetzt sogar angefangen, Wein zu bauen, und auf einigen Inseln der Lagune . . . ziehen wir Kartoffeln und eine Menge Gemüse und Küchengewächse.«(74) »Sie bekommen Mehl. . . Außerdem darf es Sie nicht überraschen, wenn ich Ihnen die schönste Wurst anbiete. Ich habe meinen Roten das regelrechte Schlachten, Wurstmachen, Pöckeln und Räuchern gelernt . . . und ebenso können Sie einige Steinkrüge voll der besten Butter haben. Sie sehen, daß wir hier in leidlich civilisierten Umständen leben.«(75)

Die Zustände in den Reduktionen waren nicht nur leidlich zivilisiert. Zu den Deutschen, die nach Paraguay kamen, gehörte Pater Andreas Feldmann, ein Landwirtschaftsfachmann; Heinrich Peschke war Apotheker und Arzt; als Gärtner machte sich Thalhammer einen Namen, und es gab weitere deutsche Padres, die Gerber, Eisengießer, Chirurgen, Geigen- und Harfenbauer und Architekten waren.(76) Der alte Desierto beherrschte fast alle Künste auf einmal. Die erste Druckerei am Rio de la Plata wurde von Guaranis unter der Anleitung zweier Deutscher und eines Spaniers gebaut, und das erste Buch, das am Silberstrom damit gedruckt wurde, erschien 1705 in der Guarani-Sprache. »Der aus Tirol stammende Pater Anton Sepp von Seppenburg (1655-1733), der, am Ort seines vierzigjährigen Wirkens eingetroffen, als erstes ein riesiges Holzkreuz mit der Inschrift »Germania« mitten im Urwald errichtete, brachte seinen Guaranies nicht nur das Musizieren auf selbstgebauten Flöten, Schalmeien und Bässen, Violinen, Harfen und Trommeln, bayerische Volkstänze und deutsche Weihnachtslieder, sondern auch die Anfertigung von Wand- und sogar Taschenuhren bei.«(77)

Was hier geschah, war so unglaublich, daß man eher meinen könnte, es sei von May erfunden, als anzunehmen, er habe auf Berichte über die Jesuitenmissionen zurückgegriffen.

Leider konnten sich die Gemeinwesen nicht ungestört entfalten. Vor allem von seiten des portugiesischen Brasiliens kam es bald zu Übergriffen. Sklavenjäger entführten immer wieder Indianer, um sie für gutes Geld zu verschachern. Feindliche Indianer griffen an. Weiße Banditen machten den friedlichen Stämmen zu schaffen. Nach einigem Hin und Her wurde den Jesuiten endlich 1640 die Erlaubnis erteilt,


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ihre Guaranis zur Abwehr der Angriffe zu bewaffnen. Die Padres selber stellten sich an ihre Spitze. Der Frater Jaguar war entstanden.

IX

Der Frater war ein Mann von hohem, knochigem Körperbaue. Er trug einen breitrandigen, schwarzen Filzhut, einen Rock mit langen, bis auf die Knöchel reichenden Schössen aus schwarzem Stoffe, einreihig geknöpft und mit einem Stehkragen, über welchem die weiße Perlenreihe der Halsbinde zu sehen war. An den Füßen hatte er hohe Stiefel mit den landesüblichen großräderigen Sporen. Fast hätte ich mich gewundert, daß in dem ledernen Gürtel, welcher seine schlanke Taille umschloß, neben dem Messer auch die Griffe zweier Revolver großen Kalibers zu sehen waren. Sein Gesicht war trotz seines knochigen Körperbaues fast zart geschnitten und von ungewöhnlich sanftem Ausdrucke, wozu seine großen, blauen Augen prächtig paßten. Wie stimmte die kriegerische Ausrüstungmitdiesem kinderfreundlichen Gesichtsausdrucke?(78)

Nun, das war der Bruder Jaguar, Frater Hilario, eine Neuauflage der militanten Jesuitenpater aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Die Art und Weise, in welcher er mit den Kavalleristen sprach, hatte etwas so Furchtloses, Selbstbewußtes, ja Kriegerisches. Und als er sich zu mir herumgedreht hatte, war ein so eigentümliches Leuchten in seinen Augen gewesen, als ob er sich zutraue, den stärksten und gefährlichsten Feind zu bezwingen.(79) Viel kann der Erzähler über ihn nicht in Erfahrung bringen: »Er gehört eigentlich zu den Mönchen von Tucaman, befindet sich aber stets auf Reisen. Er geht zu den Indianern des Urwaldes, der Pampa und der Cordillera. Er fürchtet keine Gefahr; er greift den Jaguar mit dem Messer an und flieht vor keinem Bravomanne. Man fürchtet ihn, obgleich er kein Blut vergießt, denn er steht jedem Bedrängten bei und besitzt eine ungeheure Körperkraft, die ihresgleichen sucht. «(80)

In dem Bruder Jaguar sind offensichtlich sämtliche historischen Jesuitenmissionare auf einmal verkörpert - zur Zeit der Reduktionen in Paraguay hat es mehrere beachtenswerte Padres gegeben. Josef Oberbacker gilt als der Apostel der Gran-Chaco-Indianer. Julian Knogler ging zu den Mbocovi (!), José Klein zu den Chiquitos in Bolivien. Die Pampa-Indianer vertrauten besonders José Masner. Flo-


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rian Baucke (geb.1719) kam dreißigjährig nach Paraguay und schrieb ein hervorragendes Werk über die Mbocovi (!), das er mit zahlreichen Illustrationen versah. Ein anderer Pater gründete eine Reduktion bei den Mojo (!), und dem Buch von Pater Martin Dobrizhoffer (1718-91) verdanken wir alles Wissenswerte über die Abipones. Ein Landsmann von ihm wurde nach zwanzigjähriger Tätigkeit von den Abipones erschlagen; ihm aber gelang es, den kriegerischen Stamm zu befrieden. Achtzehn Jahre lebte er bei ihnen als ihr »Apostel«, sein Werk über diese Indianer wurde in Deutschland sehr bekannt, vor allem auch dadurch, weil sich seine Gönnerin, Kaiserin Maria Theresia, viele Abende lang daraus vorlesen ließ. Was er darin über sich selbst berichtet, hätte einem Frater Jaguar alle Ehre gemacht: »Pater Martin Dobrizhoffer wurde, während er sein Haus und die Kapelle in der Stadt des Rosenkranzes gegen sechshundert Wilde verteidigte (bei May sind es Soldaten, die der Frater zurückweist), der rechte Arm mit einem Widerhakenpfeil durchschossen, der Muskel seines Mittelfingers verletzt und eine Rippe verwundet, und zwar durch einen wilden Toba, um vier Uhr morgens am 2. August im Jahr 1765.«(81)

Vor allem gegen die Übergriffe aus Brasilien setzten sich die Jesuitenpater zur Wehr. Als die Portugiesen am Ostufer des Rio de la Plata den befestigten Stützpunkt Colonia errichteten, war es »das Verdienst der militanten Jesuitenpater und ihrer dunkelhäutigen Soldaten, mit denen sie Colonia nicht weniger als viermal zurückeroberten, wenn es die Spanier auf dem Schlachtfeld oder auf dem Parkett der Diplomatie verloren hatten«(82), daß die Portugiesen schließlich ganz aus dem Gebiet vertrieben wurden. Zum letzten Mal eroberten sie Colonia, kurz bevor die Jesuiten infolge verschiedener Intrigen Amerika verlassen mußten. Damals leitete Pater Matthias Strobel (1696-1768) sämtliche Reduktionen in Paraguay, so daß er sogar »Vizekönig von Paraguay« genannt wurde, und die deutschen Padres Bauer und Henis hatten die Angriffe auf Colonia angeführt. 1767 wurden die Jesuiten des Landes verwiesen. Strobel starb an gebrochenem Herzen, die Reduktionen verfielen, und die Indianer zerstreuten sich und trauerten noch lange ihren »weißen Vätern« nach.


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X

Ein Frater Jaguar par excellence aber war der deutsche Jesuitenpater Samuel Fritz, der sogar in der »Encyclopedia Americana« erwähnt ist. Er kam 1654 in Trautenau in Böhmen zur Welt und betrat im Alter von etwa dreißig Jahren südamerikanischen Boden. Nicht die La-Plata-Länder wurden seine neue Heimat, sondern das Amazonasgebiet, wo er vor allem unter den Omagua-Indianern tätig wurde. Schon bald war er eine legendäre Gestalt.

Fritz trug zwar keine Stiefel, sondern Hanfsandalen, keinen langen Rock, sondern eine kurze Soutane, und seine einzige Waffe bildete ein Kreuz aus schwarzem Chontaholz. Aber in seiner Statur hatte er durchaus Ähnlichkeit mit dem Frater Jaguar: Er wird uns als kräftig und hochgewachsen geschildert, und seinen Zeitgenossen fielen seine strahlenden blauen Augen auf.(83) Im Gegensatz zu Frater Hilario hatte er einen Bart, aber er galt wie dieser als absolut furchtlos und nahm alle Gefahren des wilden Dschungels auf sich. Im Umgang mit den Indianern besaß er sehr viel Geschick; seine Ausstrahlungskraft und seine faszinierende Persönlichkeit ebneten ihm stets den Weg.

Längs des Amazonas legte er mit den ihm unterstellten Padres 28 Missionssiedlungen an. Der Amazonas wurde durch ihn so reisesicher, daß man ohne größere Schwierigkeiten von Quito bis an seine Mündung gelangen konnte. Man kann sich heute kaum vorstellen, welche gewaltige Leistung das in jener Zeit bedeutete. Fritz war den meisten Indianerstämmen zwischen der Küste und den Kordilleren ein Begriff, und selbst der Vizekönig in Lima fühlte sich durch seinen Besuch geehrt.

Zweiundvierzig Jahre verbrachte Fritz im Dschungel, der seine Kräfte verzehrte und ihn 1728 ins Grab brachte. Von ihm stammt die erste akkurate Karte des Amazonas. Er und die anderen Jesuitenpater haben bewiesen, daß die Indianer nicht die »barbarischen Wilden« waren, als die sie immer hingestellt wurden, sondern bei richtiger Führung gelehrige und friedfertige Menschen. Nicht nur die Guarani, sondern auch andere Stämme widerlegten die These, die Indianer seien primitiv, faul und verkommen. »Wilde«, »unvernünftige Tiere« hatte Papst Paul III. in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Indianer genannt(84), und trotz der Erfolge der Jesuiten tauchten im 19. Jahrhundert ähnliche Behauptungen auf. Rassentheoretiker traten


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mit pauschalen Abwertungen der Indianer an die Öffentlichkeit. Sie verunglimpften den roten Mann als minderwertig, faul und degeneriert, nur weil er dem Wettbewerbssystem und Profitstreben des weißen Mannes gleichgültig gegenüber stand. So schrieb um 1880 J. Martinet über die Verhältnisse in Peru: »Seit der Tribut abgeschafft wurde, überließ sich der Indianer seinem Hauptvergnügen, der Faulheit . . . Er lebte also nun ohne ein Ziel vor Augen, in Müßiggang, Laster, Unwissenheit und Aberglauben.« Anläßlich des Baues des Panamakanals behauptete M. Verbrugghe (1879): »Der Indianer beugt sich ungern der Notwendigkeit einer regelmäßigen Arbeit; es fehlt ihm die physische und moralische Kraft.« Und der Reisende Grandidier hatte 1861 allen Ernstes geschrieben: »Die Indianer . . . sind genau wie die Neger im Grunde ihres Wesens faul.« Ihre »Indolenz« sei »angeboren«.(85)

Natürlich gab es auch Gegenstimmen, Forscher, die nicht in dieses Rassendenken verfielen. »Der Rote ist bei weitem nicht der lernfaule Mann, für den er gehalten wird. Stellen Sie ihn nur unter die richtige Leitung, und zeigen Sie ihm, daß Sie seine Menschenrechte achten; dann werden Sie bald sehen, daß er bildungsfähig ist. Wenn Sie ihm allerdings das sogenannte Glück mit Messern und Flinten aufzwingen wollen, so wird er starrköpfig, und das kann ich ihm nicht übelnehmen.«(86) Aber nicht ein Forscher hat diese Zeilen geschrieben, sondern Karl May, und daß er diesen humanen Standpunkt in einer Zeit in einer breiten Öffentlichkeit vertrat, als die gelehrte Welt zum Teil ganz anders dachte, wird ihm immer zur Ehre gereichen.

XI

Der vorstehende Bericht behandelt Erzählungen, die scheinbar phantasievolle Märchen, in Wahrheit aber die mehr oder weniger geglückte dichterische Verarbeitung von Geschichte und Zeitgeschichte sind -behandelt ein scheinbar seltsames und merkwürdiges, in Wahrheit aber hintergründiges und denkwürdiges Intermezzo in Mays schriftstellerischem Schaffen. Er hätte schon vor fünfzig Jahren geschrieben werden können, das Material war damals größtenteils schon vorhanden. Daß er unterblieb, lag wohl mit daran, daß May in erster Linie für einen Phantasten und Träumer gehalten worden ist. Aber Karl May


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war nicht nur ein Träumer, wie er sich ja auch im Umgang mit seinem Verleger Fehsenfeld als sehr geschäftstüchtig erwies. Er verstand es sehr gut, aktuelle Geschehnisse für seine Werke auszunutzen. Er verfügte über ein außerordentliches Wissen und besaß in hohem Maß die Fähigkeit, Tatsachenmaterial zu sammeln, zu ordnen und bei Bedarf geschickt in seine Erzählungen zu verweben. Diese - sprechen wir es ruhig aus - außergewöhnlichen Fähigkeiten haben sein schriftstellerisches Talent vorteilhaft ergänzt. Was sich hier schon andeutet, hat May dann beim Alterswerk ausreifen lassen. Aus Zeitgeschichte ist bei ihm Dichtung geworden.

Unsere Darstellung hat in Argentinien begonnen und über Uruguay, Paraguay, den Gran Chaco und die Kordilleren bis in die Niederungen des Amazonas geführt. Hier soll sie auch enden und über eine Referenz berichten, die dem Schriftsteller posthum erwiesen wurde: In den Jahren 1935 bis 1937 durchquerte eine deutsche Forschergruppe als erste Brasilianisch-Guayana von Süd nach Nord auf dem Rio Jary. Das schönste Erlebnis nach dem Aufbruch in die Wildnis war das Zusammentreffen mit einem Waldindianer: »Ein prächtiger Waldmensch! Bis auf Hüftschurz und Schambinde nackt. Gebaut wie ein olympischer Athlet. Nicht groß, doch ebenmäßig, breite Schultern, schmale Hüften, stolze Haltung, wie eine Bronzestatue von Künstlerhand modelliert.« Der Indianer schließt sich zur Freude der Forscher der Gruppe an, und nach ein paar Tagen »hat sich bereits ein freundschaftliches Band um uns gesponnen. Durch stetes Zeigen und Fragen lernt er mit erstaunlichem Gedächtnis portugiesische Vokabeln. In gleicher Art lernen wir Indianisch. Er heißt Pitoma. Aber er wollte von seinen weißen Freunden einen neuen Namen in ihrer Sprache haben. Wir haben ihn »Winnetou« getauft«.(87)

Ich widme diese Arbeit meinen Eltern in Dankbarkeit.

Herrn Prof. Dr. Claus Roxin danke ich herzlich für verschiedene Anregungen, desgleichen Herrn Dr. Wilhelm Vinzenz, der mir die Mayschen Originalausgaben zur Verfügung stellte.

1 Die Erzählungen sind: »Am Rio de la Plata«, »In den Cordilleren« und »Das Vermächtnis des Inka«. Die beiden ersteren waren ursprünglich unter dem Gesamttitel »El Sendador« erschienen: Lopez Jordan (El Sendador I, Deutscher Hausschatz, 16. Jahrgang, Heft 3-50 (1889); Der Schatz der Inkas (El Sendador II), Deutscher Hausschatz, 17. Jahrgang, Heft 1-52 (1890). Die Buchfassungen, auf die hier zurückgegriffen wird, erschienen 1894. »Das Vermächtnis des Inka« wurde zuerst veröffentlicht in: Der Gute Kamerad, 6. Jahrgang 1-52 (1891). Am Rio de la Plata«


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und »In den Cordilleren« werden im folgenden als Band 12 und Band 13 derGesammelten Reiseerzählungen zitiert, »Das Vermächtnis des Inka« nach der ersten Buchausgabe, Stuttgart 1895; Reprint Bamberg-Braunschweig 1974.

2 Hans Wollschläger: Karl May, Zürich 1976, S.75

3 13, 420

4 13, 255

5 zit. in: H.M. Bailey u. A.P. Nasatir: Lateinamerika von Iberischen Kolonialreichen zu autonomen Republiken. Magaus Kulturgeschichte. Essen 1975, S.557

6 Vermächtnis, 19

7 Wilfried von Oven: Argentinien-Paraguay-Uruguay. Nürnberg 1969. (Bibliothek Kultur der Nationen XXV), S.275 f.

8 zit.in:W.v.Oven, a.a.0.275

9 a.a.O.276

10 Vermächtnis, 15

11 Gerda Theile-Bruhns: Chile. Nürnberg 1971. (Bibliothek Kultur der Nationen XXVI), S.68ff.

12 Vermächtnis, 453f.

13 Rainer Jeglin: »Das Vermächtnis des Inka« und »Der Ölprinz«. Eine ideologiekritische Studie. M-KMG Nr.9/1971, S. 7f.

14 12, 47ff.

15 zit.in:W.v.Oven, a.a.O.259

16 vgl. Ekkehard Koch: Der »Kanada-Bill«. Variationen eines Themas bei Karl May. Jb-KMG 1976, S.29ff.

17 12, 49

18 12, 35

19 12, 157

20 Vermächtnis, 2

21 H.M. Bailey u. A.P. Nasatir, a. a. O.593

22 vgl. Michael Rheta Martin u. Gabriel H. Lovett: An Encyclopedia of Latin-American History. New York 1956; Ruhl J. Bartlett u. Russell E. Miller: The People and Politics of Latin America. Boston 1955, 4. Auflage, Wilhelm Freiherr von Schoen: Geschichte Mittel- und Südamerikas. München 1953; W. v. Oven, a. a. O. (vgl. Anm. 7). Eine ausführliche Geschichte des Krieges befindet sich in der Historia Argentina (vgl. Anm.39).

23 W.v.Oven, a.a.0.267

24 Vermächtnis, 185

25 Vermächtnis, 33

26 Zwar fehlt hier der entsprechende Hinweis, aber er findet sich in: 12, 163

27 Vermächtnis, 2

28 12, 5

29 12, 23

30 12, 35

31 12, 157ff.

32 Lorenzo Latorre wurde am 28. Juli 1840 in Montevideo geboren und starb als reicher Landbesitzer am 18. Januar 1916 in Buenos Aires im Exil, nachdem ihm eine Rückkehr nach Uruguay versagt geblieben war. Seine detaillierte Lebensgeschichte findet sich in: Dr. Jose M. Fernandez Saldana: Fichas Para un Diccionario Urugayo de Biografias. Montevideo: Universidad de la Republica Oriental del Uruguay, 1945. Informationen über ihn befinden sich auch in: Enciclopedia Universal Ilustrada, Europeo-Americana. Barcelona 1908-1930 (70 Bde.); An Encyclopedia of Latin-American History (vgl. Anm. 22) und H.M. Bailey u. A.P. Nasatir, a. a. O. (vgl. Anm. 5). Im Hinblick auf Mays Darstellung seien noch folgende Einzelheiten erwähnt: In dem Zeitraum, in dem Mays Erzählung spielt, wurde Latorre aufgrund seiner ausgezeichneten soldatischen Fähigkeiten zum Oberstleutnant befördert nämlich am 6. Oktober 1870. Doch wurde er im Juni des nachfolgenden Jahres seines Kommandos wieder enthoben, weil er mit Recht verdächtigt wurde, im Untergrund geheime Vorbereitungen für regierungsfeindliche Aktivitäten zu tref-


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fen. Im Hinblick auf den Umstand, daß May ausgerechnet Latorre für seine Erzählung ausgewählt hat, sei im Anschluß an die von B. Kosciuszko genannten Fakten noch darauf verwiesen, daß Latorre all sein Lebtag als sehr lebenslustiger Mensch galt, der vor allem Gefallen an sprühendem Witz fand.

33 Dr. E.A. Schmid: Wahrheit und Dichtung, in: »ICH«. Karl Mays Leben und Werk. Bamberg 1958/63, S. 342

34 12, 486f.

35 12, 50f.

36 12, 446

37 12, 471

38 gleich zu Beginn des Bandes »In den Cordilleren«.

39 Eine ausführliche Schilderung der Jordan-Revolutionen findet sich in der »Historia Argentina« vonDiego Abad De Santillan. Buenos Aires 1965, 3 Bde. Auf S.192, Bd. 3, ist ein Bild von ihm eingeschaltet. Einen Abriß seiner Bewegung bringt das »Diccionario Historico Argentino« (Hrg.: Ricardo Piccirilli, Francisco L. Romay, Leoncio Gianello), Ediciones Historicas Argentinas, 6 Bde. 1953-54, unter dem Artikel »Jordanismo«; eine kurze Darstellung seiner Revolte 1870 findet sich in Bart1ett/Miller: The People and Politics of Latin America (vgl. Anm. 22). Seine gesamte Lebensgeschichte ist austührlich dargestellt in: Gran Enciclopedia Argentina. Vol. IV. Buenos Aires 1958, S.462 463. Hier wird Jordan wesentlich positiver geschildert als in den übrigen Quellen. Auch eine unmittelbare Beteiligung oder Anstiftung im Zusammenhang mit Urquizas Ermordung ist dieser Darstellung nicht zu entnehmen, während es in Meyers Lexikon, 12. Auflage, unter dem Stichwort Urquiza heißt: »Sein Schwiegersohn Lopez Jordan ließ ihn ermorden.« Von Urquiza ist bekannt (W. v. Oven, a. a. O. 248), daß er allein als Gouverneur der Provinz Entre Rios 128 illegitime Kinder durch Regierungsdekret als eigene anerkennen ließ. Ohne weiteres Wissen wäre deshalb die Möglichkeit nicht auszuschließen gewesen, daß Jordan gleichzeitig sein Schwiegersohn und sein Stiefsohn gewesen ist. Doch da die Einzelheit bekannt ist, daß - siehe S. 149 - Jordan um die Freilassung seines gefangenen Vaters bat, bleibt nur die Möglichkeit, daß Jordan Urquizas Schwiegersohn gewesen ist.

40 12, 534

41 12, 559

42 12, 572

43 Über Alsina vgl.: Historia Argentina (vgl. Anm.39), hierin das Bild auf S. 183, Bd.

3, Enciclopedia Universal llustrada (vgl. Anm.32), Diccionario Historico Argentino (vgl. Anm.39) sowie W. v. Oven, a. a. O. (vgl. Anm. 7)

44 13, 13

45 13, 12

46 Die folgenden Auszüge aus dem Gespräch sind zit. in: Gustavo Beyhaut: Süd- und Mittelamerika II, Fischer Weltgeschichte Bd.23. Frankfurt a.M., S.160f.

47 13, 10

48 13, 11

49 Hugo A. Bernatzik (Hrg.): Neue Große Völkerkunde. Einsiedeln 1974, S.890

50 a.a.O.298

51 Die Statistik ist z. B. veröffentlicht in der Zeitschrift »Aus allen Welttheilen«. Leipzig. 4. Jahrgang, 1873, S.319, und nocheinmal 5. Jahrgang, 1874, S.63. May bezieht die Statistik gemäß der Quelle nur auf den Zeitraum von etwa 1820 bis 1870, v. Oven dagegen auf die gesamte Zeit der Eroberung Argentiniens bis etwa 1880. Außerdem besagt die Notiz in »Aus allen Welttheilen«, daß 50000 Weiße gefangen oder getötet worden seien, während sowohl May als auch v. Oven nur von »getötet« sprechen. - Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Herrn B. Koscinszko.

52 13, 11f.

53 13, 179

54 a. a. O.297

55 13, 9

56 13, 174


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57 Die hier gemachten Angaben beruhen vor allem auf Bernatziks Völkerkunde (vgl. Anm.49).

58 13, 420

59 Vermächtnis, 313, besonders 332

60 13, 399

61 13, 413

62 13, 422

63 vgl. dazu z. B. Enciclopedia Universal Ilustrada, Art. Abipones (s. Anm.32)

64 Vermächtnis, 350

65 13, 254

66 13, 429

67 13, 383

68 13, 173

69 13, 219

70 13, 255

71 13, 224

72 W.v.Oven, a.a.0.198

73 13, 178f.

74 13, 242f.

75 13, 419f.

76 vgl. Victor W. v. Hagen: Der Ruf der Neuen Welt. Deutsche bauen Amerika. München-Zürich 1970, S.108

77 W.v.Oven, a.a.O.199

78 12, 249

79 12, 252

80 12, 296f.

81 zit.in:V.W.v.Hagen, a.a.O.110f.

82 W.v.Oven, a.a.O.198

83 V.W.v.Hagen, a.a.0.114

84 zit. in: W. v. Oven, a. a. O. 195

85 alle drei Zitate bei Gustavo Beyhaut a. a. O. (vgl. Anm.46) S. 156f.

86 13, 243

87 Schulz-Kampfhenkel: Rätsel der Urwaldhölle. Ein Expeditionsbericht von der ersten Süd-Nord-Durchquerung Brasilianisch-Guayanas auf dem Rio Jary. Berlin


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