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CLAUS ROXIN

Das neunte Jahrbuch




Das neunte Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, das wir zu ihrem zehnjährigen Bestehen vorlegen, ist nicht nur das umfänglichste der bisherigen Reihe, sondern präsentiert sich auch inhaltlich als besonders reichhaltig.

Wir beginnen diesmal mit einer biographischen Arbeit. Hainer Plaul liefert über die Kindheit Karl Mays den ersten Teil einer langerwarteten Untersuchung, die als grundlegend gelten darf. Er hat die heute noch erreichbaren Quellen, soweit ich sehe, lückenlos ausgewertet, überraschend viel neues Material aufgefunden und die biographischen Einzelheiten in ein sorgfältig dokumentiertes sozialgeschichtliches Gesamtbild eingetragen, das seiner Studie auch über den Umkreis der May-Forschung hinaus Beachtung sichern wird. Daneben hat Plaul die Diskussion um Mays frühe Kindheitsschicksale und seine Charakterentwicklung durch neue Hypothesen bereichert, die manche unserer bisherigen Arbeitsergebnisse in ein etwas anderes Licht rücken und vermutlich zu weiteren und fruchtbaren Erörterungen Anlaß geben werden. Die Arbeit soll in den nächsten Jahrbüchern fortgesetzt werden. Damit läßt sich schon heute sagen, daß durch die teilbiographischen Studien, die wir Hainer Plaul und Klaus Hoffmann verdanken, die ersten Lebensjahrzehnte Mays (bis zu seinem 35. Jahre), deren exakte Erforschung besonders schwierig ist und lange als fast aussichtslos galt, bald so vollständig rekonstruiert und dokumentiert sein werden, wie dies überhaupt noch möglich ist.

Der Kindheitsbiographie Plauls haben wir zu unserer besonderen Freude die genealogischen Tafeln beigeben können, die Karl Streller und Hainer Plaul in langjährigen Mühen unmittelbar aus den noch erhaltenen Kirchenbüchern und Archiven erarbeitet haben. Sie reichen bis zum Dreißigjährigen Krieg und teilweise noch hinter ihn zurück und übertreffen bei weitem alles, was auf diesem Gebiet bisher (von Zesewitz sowie in den letzten Jahren von Huschke) vorgelegt worden war.


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Die zweite Abteilung des Jahrbuchs ist überwiegend der Werkinterpretation gewidmet und umfaßt gleichermaßen und in repräsentativer Auswahl das Spätwerk, die Reiseerzählungen und das frühe Romanwerk Karl Mays aus dem Umfeld der Kolportage.

Hans Wollschläger beschäftigt sich in einer hochbedeutsamen Arbeit mit den Schlußbänden des Silberlöwen«, die Mays literarisch ambitionierteste Leistung darstellen und seinen Durchbruch« zum Symbolismus in besonders augenfälliger Weise zur Erscheinung bringen. Die ersten drei Abschnitte der Abhandlung unterziehen denn auch Mays Symbolik« einer klärenden Analyse, die mit ihrer Unterscheidung von Symbolik im engeren Sinne, Allegorie und Verschlüsselung und dem Nachweis, daß alle drei Bedeutungsschichten noch wieder in zwei Zeitsträngen strukturiert« sind, weithin Neuland betritt. Wenn die ältere Forschung vielfach meinte, mit der Enträtselung der biographischen Verschlüsselungen im Spätwerk Mays - die bisher erst zum Teil gelungen ist - genug getan zu haben, so wird nunmehr erkennbar, daß die verschlüsselten Aussagen dieser Werke deren tieferen Bedeutungsgehalt nicht enthüllen, sondern geradezu verbergen, so daß also die Arbeit dort erst beginnen muß, wo man sie bisher vielfach schon am Ende glaubte. Auch der Aufweis, daß Mays Dichtung in sehr exakter Weise den Gesetzen der Traumarbeit« gehorcht, und Wollschlägers These von der Symbolik als eines Mediums vorsprachlicher Verständigung zwischen Autor und Leser und ihrer Bedeutung als »Treib-Satz« dichterischer Kreativität eröffnen der May-Forschung - und nicht nur ihr! - ganz neue Perspektiven. Im vierten Abschnitt seiner Arbeit gibt Wollschläger schließlich eine detaillierte Entstehungsgeschichte des Silberlöwen-Romans; sie ist den entsprechenden Untersuchungen an die Seite zu stellen, die Ekkehard Bartsch über Friede auf Erden« und Ardistan und Dschinnistan« früher veröffentlicht hat (in Jb-KMG 1972/73 und 1977).

Etwas Neues versuchen wir auch mit den Abhandlungen von Koch, Kosciuszko, Botschen und Ilmer, die als ein aus vier Stücken zusammengesetztes Aufsatz-Mosaik zu Mays Südamerika-Romanen und speziell zu »El Sendador« (Am Rio de la Plata/In den Cordilleren) gelesen werden wollen. Wir wollen auf diese Weise einen Anfang mit der systematischen Erforschung und Deutung der einzelnen Reiseerzählungen Mays machen und haben uns dafür einen der weniger bekannten und von der Kritik bisher vernachlässigten Romane dieses


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Genres herausgesucht. Das Ziel war, die historischen (Koch) und völkerkundlichen (Kosciuszko) Grundlagen der Schilderung Mays sowie die psychologisch-autobiographische Substanz des Romans (Botschen, Ilmer) herauszuarbeiten und zu zeigen, daß die Reiseerzählungen nur als ein keineswegs kunstlos geschichtetes Ineinander von Abenteuerroman, völkerkundlich-historischer Erzählung und Handlung gewordenem Seelenprotokoll verstanden werden können. Dabei wird deutlich, daß May bei Ausmalung der zeitgeschichtlichen und geographischen Kulisse dieser Werke weit sorgfältiger gearbeitet und mehr Quellenmaterial verwertet hat, als man bisher annahm. Ebenso deutlich wird aber auch, daß es seine Richtigkeit hat mit Mays viel belächelter Behauptung, schon seine Reiseerzählungen seien nicht beliebige Erfindungen, sondern Schilderungen eigenen Erlebens in exotischem Gewande. Gewiß haben die biographischen Spiegelungen im »Sendador« noch etwas Vor-Bewußtes, halb Verwischtes, so daß die Deutung manchmal auf unsicherem Boden tastet und der Gefahr subjektiver Überinterpretation ausgesetzt ist. Doch haben sich mir bei einer eigenen Analyse des Romans, die dem gleichzeitig von unserer Gesellschaft herausgegebenen Reprintdruck von »El Sendador« als Einführung vorangestellt ist und die hier veröffentlichten Abhandlungen ergänzen soll, die Befunde von Botschen und Ilmer in wesentlichen Punkten bestätigt. Die beiden Abhandlungen sind außerdem aufschlußreiche Zeugnisse dafür, wie weitgehend die Resonanz, die Mays Reiseerzählungswerk bei erwachsenen Lesern heute noch und immer wieder findet, auf der ganz ungebrochenen psychischen Suggestivkraft seines Dichtens beruht. May hatte nicht unrecht, wenn er sagte: In meinen Büchern lebt eine ganz, ganz eigene Seelenwelt, und wem diese entgangen ist, der hat sie umsonst gelesen (Brief vom 4. April 1901, in: M-KMG Nr. 2/1969, S. 16).

Bemerkenswert ist auch, daß neuere Forschungen, die wir in absehbarer Zeit vorlegen zu können hoffen, die Annahme nahelegen, daß May schon bei seinem folgenden Roman, dem »Mahdi«, zu jener Technik bewußter Verschlüsselung übergegangen ist, die man bisher meist ausschließlich als ein Charakteristikum des Spätwerks betrachtet hat. Wenn man weiter bedenkt - was in den hier vorgelegten Sendador-Abhandlungen nicht thematisiert wird, was aber Helmut Schmiedt in seiner soeben als Buch erscheinenden preisgekrönten Dissertation »Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschrift-


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stellers« umfassend belegt - daß die Reiseerzählungen außerdem die ganze Dialektik ihrer Epoche, Aufklärung und Kirchenchristentum, kosmopolitischen Humanismus und gründerzeitlichen Wilhelminismus, Freiheitstraum und Bürgerlichkeit, Rebellion und Anpassung unaufgelöst in sich tragen, so wird man die klischeehafte These von der leeren »Trivialität« dieser Romane allmählich zugunsten einer differenzierteren Beurteilung aufgeben müssen. Es handelt sich auch bei den Reiseerzählungen in Wirklichkeit um recht vielschichtige Gebilde, deren adäquate wissenschaftliche Aufarbeitung gerade erst begonnen hat.

Volker Klotz veranstaltet eine erste Besichtigung von Mays frühem Doppelroman »Scepter und Hammer« / »Die Juweleninsel«, der jahrzehntelang nur in einer einschneidend bearbeiteten Form vorlag und den die Karl-May-Gesellschaft durch einen Reprintdruck der Zeitschriften-Urfassung im Jahre 1978 der Forschung endlich in seiner Originalgestalt zugänglich gemacht hat. Er hat dabei so viel Bemerkenswertes, Nie-Gesehenes entdeckt, daß sich seinen Anregungen mindestens ein Dutzend gehaltvoller Studien wird abgewinnen lassen. Klotz weitet denn auch seine einfallsreichen Lese-Notizen zur Skizze eines methodenpluralistischen, alle Aspekte von Mays Werk umfassenden Forschungsprogrammes aus, das auf der Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Hannover (26.-28.10.1979) weiter zu diskutieren sein wird und reichen Ertrag verspricht.

Die dritte Abteilung unseres Jahrbuches bringt kommentierte Dokumentationen zur Biographie Mays und zu den zeitgeschichtlichen Bezügen seines Lebens. Klaus Hoffmann schildert eines der (nicht seltenen) Liebesabenteuer des jungen May, soweit es sich aus der erhalten gebliebenen Disziplinarakte rekonstruieren läßt. Gleichzeitig wirft seine Darstellung Licht auf die soziale Situation Mays zur Zeit seines kurzen Lehrerdaseins. Aus der Feder Karl Mays veröffentlichen wir eine Zusammenstellung sämtlicher von ihm an die deutsche Presse gerichteter Flugblätter (mit Erläuterungen von Ekkehard Bartsch) sowie seine (von Gerhard Klußmeier interpretierte) Auseinandersetzung mit Ansgar Pöllmann in der Radolfzeller »Freien Stimme«. Die Publikation solcher Texte entspricht dem Ziel der Karl-May-Gesellschaft, alle schriftlichen Äußerungen Mays aufzubewahren und der Forschung zugänglich zu machen. Speziell die hier abgedruckten Polemiken liefern wichtiges Ergänzungsmaterial zu Mays Selbstbiographie


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und haben auch zeit- und sozialgeschichtliche Bedeutung. Sie zeigen im Spiegel der verzweifelten Abwehrversuche Mays, mit welcher Erbarmungslosigkeit die Publizistik jener Zeit den alten Mann guten Gewissens zugrunde gerichtet hat. Ihre Bedeutung für die Forschung liegt aber vor allem auch darin, daß diese Auseinandersetzungen, wie Hans Wollschlägers Arbeit im vorliegenden Jahrbuch noch einmal besonders deutlich zeigt, für das Spätwerk auslösend und formbildend gewirkt haben; angesichts dessen gewinnen selbst scheinbare Nebensächlichkeiten der Tagespolemik literaturwissenschaftliches Interesse.

Der letzte und kürzeste Abschnitt des Jahrbuches behandelt schließlich Tätigkeit und Probleme der gegenwärtigen Karl-May-Forschung. Helmut Schmiedt setzt sich mit sekundärliterarischen Bemühungen auseinander, die außerhalb unserer Gesellschaft in Verbindung mit dem Karl-May-Verlag unternommen worden sind, und Erich Heinemann berichtet über die jüngsten Arbeiten der Karl-May-Gesellschaft. Sie haben im letzten Jahr so reiche Früchte getragen wie noch nie zuvor. Auch das vorliegende Jahrbuch legt davon Zeugnis ab und zeigt zugleich, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit Karl May ihren Stoff im Laufe der Jahre nicht erschöpft hat, sondern im Gegenteil immer neue Arbeitsbereiche zu erschließen beginnt. Möge die unermüdete Energie, mit der unsere Gesellschaft in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens die Karl-May-Forschung auf ihren heutigen Stand gebracht hat, auch das nun beginnende zweite Dezennium überdauern!


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